Kracauer Ornamnet Der Masse
Kracauer Ornamnet Der Masse
Kracauer Ornamnet Der Masse
Konstruktionen
Die Gruppe als Ideenträger 123
Die Hotelhalle 157
Perspektiven
Die Bibel auf Deutsch 173
Katholizismus und Relativismus 187
Die Wissenschaftskrisis 197
Georg Simmel 209
Zu den Schriften Walter Benjamins 249
Franz Kafka 256
Kino
suhrkamp taschenbuch 371 Kalikowelt 271
Erste Auflage 1977 Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino 279
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1963
Suhrkamp Tasdienbuch Verlag
Film 1928 295
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des Kult der Zerstreuung 311
öffentlichen Vertrags, der Übertragung durch
Rundfunk oder Fernsehen und der Ausklang: Zum Fluchtpunkt
Übersetzung, auch einzelner Teile. Langeweile 321
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany Abschied von der Lindenpassage 326
Umschlag nach Entwürfen
von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Nachwort 335
Das Ornament der Masse gen, in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen
von gleicher geometrischer Genauigkeit. Das kleinste Örtchen, in
das sie noch gar nicht gedrungen sind, wird durch die Film-
wochenschau über sie unterrichtet. Ein Blick auf die Leinwand
belehrt, daß die Ornamente aus Tausenden von Körpern beste-
Die Linien des Lebens sind verschieden,
hen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßig-
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen,
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
keit ihrer Muster jubelt die durch die Tribünen gegliederte
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden. Menge zu.
Hölderlin Längst sind diese Schaustellungen, die nicht nur von Girls und
Stadionbewohnern veranstaltet werden, zur festen Form ge-
diehen. Sie haben internationale Geltung errungen. Das ästhe-
tische Interesse ist ihnen zugewandt.
Träger der Ornamente ist die Masse. Nicht das Volk, denn wann
Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus immer es Figuren bildet, hängen diese nicht in der Luft, sondern
der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schla- wachsen aus der Gemeinschaft hervor. Ein Strom des organischen
gender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich Lebens wälzt sich von den schicksalhaft verbundenen Gruppen
selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bün- zu ihren Ornamenten, die als magischer Zwang erscheinen und
diges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewäh- so mit Bedeutung belastet sind, daß sie sich zu reinen Linien-
ren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu gefügen nicht verdünnen lassen. Auch die aus der Gemeinschaft
dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist um- ausgeschiedenen Menschen, die sich als Einzelpersönlichkeiten
gekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche mit einer eigenen Seele wissen, versagen bei der Bildung der
und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig. neuen Muster. Gingen sie in die Veranstaltung ein, so ginge
das Ornament nicht über sie hinweg. Es wäre eine farbige Kom-
position, die nicht bis zu Ende berechnet werden könnte, da ihre
Spitzen sich wie die Zinken eines Rechens in die seelischen
Zwischenschichten einsenkten, von denen ein Rest noch ver-
Auf dem Gebiet der Körperkultur, die auch die illustrierten bliebe. Die Muster der Stadions und Kabarette verraten von
Zeitungen bedeckt, ist in der Stille ein Geschmackswandel vor solcher Herkunft nichts. Sie werden aus Elementen zusammen-
sich gegangen. Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Pro- gestellt, die nur Bausteine sind und nichts außerdem. Zur Er-
dukte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine ein- richtung des Bauwerkes kommt es auf das Format der Steine
zelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, und ihre Anzahl an. Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als
deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. Wäh- Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her
rend sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten, ereignen sich geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer
auf australischem und indischem Boden, von Amerika zu schwei- Figur.
Das Ornament ist sich Selbstzweck. Auch das frühere Ballett säße nicht die Zuschauermenge vor dem Ornament, die sich
ergab Ornamente, die kaleidoskopartig sich regten. Aber sie ästhetisch zu ihm verhält und niemanden vertritt.
waren nach der Abstreifung ihres rituellen Sinnes immer noch Das von seinen Trägern abgelöste Ornament ist rational zu
die plastische Gestaltung des erotischen Lebens, das sie aus sich erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie in den
hervortrieb und ihre Züge bestimmte. Die Massenbewegung der Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden; auch die
Girls dagegen steht im Leeren, ein Liniensystem, das nichts Elementargebilde der Physik, Wellen und Spiralen, bezieht es
Erotisches mehr meint, sondern allenfalls den Ort des Erotischen mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organischer For-
bezeichnet. So auch haben die lebendigen Sternbilder in den men und die Ausstrahlungen des seelischen Lebens. Die Tiller-
Stadions nicht die Bedeutung militärischer Evolutionen. Wie girls lassen sich nachträglich nicht mehr zu Menschen zusam-
regelmäßig immer diese ausfielen, ihre Regelmäßigkeit ward als mensetzen, die Massenfreiübungen werden niemals von den ganz
Mittel zum Zweck erachtet; patriotischen Gefühlen entstammte erhaltenen Körpern vorgenommen, deren Krümmungen sich dem
der Parademarsch, der wiederum in Soldaten und Untertanen rationalen Verständnis verweigern. Arme, Schenkel und andere
Gefühle erweckte. Die Sternbilder meinen nichts außer sich Teilstrecken sind die kleinsten Bestandstücke der Komposition.
selbst, und die Masse, über der sie aufgehen, ist nicht wie die Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegenwärti-
Kompanie eine sittliche Einheit. Sogar als Schmuckbeiwerk der gen Gesamtsituation wider. Da das Prinzip des kapitalistischen
turnerischen Disziplinierung sind die Figuren nicht anzuspre- Produktionsprozesses nicht rein der Natur entstammt, muß es
chen. Die Girleinheiten trainieren vielmehr, um eine Unzahl die natürlichen Organismen sprengen, die ihm Mittel oder
paralleler Striche zu erzeugen, und die Ertüchtigung breitester Widerstände sind. Volksgemeinschaft und Persönlichkeit ver-
Menschenmassen wäre zur Gewinnung eines Musters von unge- gehen, wenn Kalkulabilität gefordert ist; der Mensch als Mas-
ahnten Dimensionen erwünscht. Am Ende steht das Ornament, senteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern
zu dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich ent- und Maschinen bedienen. Das gegen Gestaltunterschiede indiffe-
leeren. rente System führt von sich aus zur Verwischung der nationalen
Das Ornament wird von den Massen, die es zustandebringen, Eigenarten und zur Fabrikation von Arbeitermassen, die sich an
nicht mitgedacht. So linienhaft es ist: keine Linie dringt aus allen Punkten der Erde gleichmäßig einsetzen lassen. - Der kapi-
den Massenteilchen auf die ganze Figur. Es gleicht darin den talistische Produktionsprozeß ist sich Selbstzweck wie das Mas-
Flugbildern der Landschaften und Städte, daß es nicht dem senornament. Die Waren, die er aus sich entläßt, sind nicht
Innern der Gegebenheiten entwächst, sondern über ihnen er- eigentlich darum produziert, daß sie besessen werden, sondern
scheint. Auch die Schauspieler ermessen das Szenenbild nicht, des Profits wegen, der sich grenzenlos will. Sein Wachstum ist
doch sie nehmen bewußt an seinem Aufbau teil, und noch bei an das des Betriebs gebunden. Der Produzent arbeitet nicht für
den Ballett-Figurinen ist die Figur gegen ihre Darsteller hin offen. den Privatgewinn, den er nur in geringem Umfang nutznießen
Je mehr ihr Zusammenhang zu einem bloß linearen sich ent- kann - die Überschüsse werden in Amerika geistigen Horten wie
äußert, um so mehr entzieht sie sich der Bewußtseinsimmanenz Bibliotheken, Universitäten usw. zugeführt, in denen man In-
ihrer Bildner. Aber darum wird sie nicht von einem Blick ge- tellektuelle zur Reife bringt, die durch ihre spätere Tätigkeit
troffen, der entscheidender wäre, sondern niemand erblickte sie, das vorgestreckte Kapital mit Zinseszinsen wieder zurückzahlen
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- der Produzent arbeitet für die Vergrößerung des Unterneh- angesetzt werde, es steht seinem Realitätsgrad nach über den
mens. Daß es Werte herstellt, geschieht nicht um der Werte künstlerischen Produktionen, die abgelegte höhere Gefühle in
willen. Mochte ihrer Erzeugung und ihrem Verbrauch die Arbeit vergangenen Formen nachzüchten; mag es auch nichts weiter be-
früher bis zu einem gewissen Grade gelten, so sind sie jetzt deuten.
Nebenwirkungen geworden, die dem Produktionsprozeß dienen.
Die in ihn eingegangenen Tätigkeiten haben sich ihrer substan-
tiellen Gehalte entäußert. - Der Produktionsprozeß läuft öffent-
lich im Verborgenen ab. Jeder erledigt seinen Griff am rollen- Der Prozeß der Geschichte wird von der schwachen und fernen
den Band, übt eine Teilfunktion aus, ohne das Ganze zu Vernunft gegen die Naturmächte ausgefochten, die in den My-
kennen. Gleich dem Stadionmuster steht die Organisation über then Erde und Himmel beherrschten. Nach der Götterdäm-
den Massen, eine monströse Figur, die von ihrem Urheber den merung haben die Götter nicht abgedankt, die alte Natur in
Augen ihrer Träger entzogen wird und kaum ihn selbst zum und außer dem Menschen behauptet sich fort. Aus ihr sind die
Betrachter hat. - Sie ist nach rationalen Grundsätzen entworfen, großen Kulturen der Völker gestiegen, die wie irgendein Natur-
aus denen das Taylor-System nur die letzte Folgerung zieht. gebilde sterben müssen, ihrem Grunde entwachsen die Über-
Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der bauten des mythologischen Denkens, das die Natur in ihrer All-
Fabrik. Über das Manuelle hinaus werden auch seelische Dispo- macht bestätigt. Bei aller Verschiedenheit seiner Struktur, die
sitionen durch die psychotechnischen Eignungsprüfungen zu er- mit den Epochen sich wandelt, hält es die von der Natur gezo-
rechnen gesucht. Das Massenornament ist der ästhetische Reflex genen Schranken stets inne. Es erkennt den Organismus als
der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Ratio- Urmodell an, es bricht sich an der Gestalthaftigkeit des Seien-
nalität. den, es beugt sich dem Walten des Schicksals; in sämtlichen Sphä-
Die Gebildeten, die nicht alle werden, haben den Einzug der ren strahlt es die Naturgegebenheiten wider, ohne zu rebellieren
Tillergirls und der Stadionbilder übel vermerkt. Was die Menge gegen ihren Bestand. Die organische Gesellschaftslehre, die den
unterhält, richten sie als Zerstreuung der Menge. Entgegen ihrer natürlichen Organismus zum Vorbild der gesellschaftlichen
Meinung ist das ästhetische Wohlgefallen an den ornamentalen Gliederung erhebt, ist nicht minder mythologisch als der Natio-
Massenbewegungen legitim. Sie in der Tat gehören zu den ver- nalismus, der um eine höhere Einheit als die schicksalhafte der
einzelten Gestaltungen der Zeit, die einem vorgegebenen Mate- \ Nation nicht weiß.
rial die Form verleihen. Die in ihnen gegliederte Masse ist aus \ Nicht in dem Zirkel des natürlichen Lebens bewegt sich die
den Büros und Fabriken geholt; das Formprinzip, nach dem sie j Vernunft. Ihr geht es um die Einsetzung der Wahrheit in der
gemodelt wird, bestimmt sie auch in der Realität. Wenn große > Welt. Vorgeträumt ist ihr Reich in den echten Märchen, die keine
Wirklichkeitsgehalte aus der Sichtbarkeit unserer Welt abge- Wundergeschichten sind, sondern die wunderbare Ankunft der
zogen sind, so muß die Kunst mit den übrig gebliebenen Bestän- Gerechtigkeit meinen. Es hat seinen tiefen historischen Sinn,
den wirtschaften, denn eine ästhetische Darstellung ist um so daß Tausendundeine Nacht den Weg gerade in das Frankreich
realer, je weniger sie der Realität außerhalb der ästhetischen der Aufklärung fand, daß die Vernunft des 18. Jahrhunderts
Sphäre enträt. Wie gering immer der Wert des Massenornaments die Vernunft der Märchen als ihresgleichen erkannte. In den
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Frühzeiten der Geschichte schon ist im Märchen die bloße Natur Zerfallstätten der natürlichen Einheiten das Märchen ver-
um des Sieges der Wahrheit willen aufgehoben. Die natürliche wirklicht.
Macht geht an der Ohnmacht des Guten zugrunde, Treue trium- Doch die Ratio des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist nicht
phiert über magische Künste. die Vernunft selber, sondern eine getrübte Vernunft. Von einem
Im Dienste des Durchbruchs der Wahrheit wird der Geschichts- bestimmten Punkte ab läßt sie die Wahrheit im Stich, an der sie
prozeß zum Prozeß der Entmythologisicrung, der den radikalen einen Anteil hat. Sie begreift den Menschen nicht ein. Weder
Abbau der immer wieder neu besetzten Positionen des Natür- wird durch die Rücksicht auf ihn der Ablauf des Produktions-
lichen bewirkt. Die französische Aufklärung ist ein großes Bei- prozesses geregelt, noch baut sich die wirtschaftliche und soziale
spiel für die Auseinandersetzung zwischen der Vernunft und den Organisation auf ihm auf, noch ist überhaupt an irgendeiner
bis in das religiöse und politische Gebiet hinein vorgeschobenen Stelle der Grund des Menschen der Grund des Systems. Der
mythologischen Blendwerken. Diese Auseinandersetzung schrei- Grund des Menschen: denn nicht darum handelt es sich, daß
tet fort, und im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung mag das kapitalistische Denken den Menschen als ein historisch ge-
die mehr und mehr ihres Zaubers entkleidete Natur gegen die wachsenes Gebilde pflegen solle, daß es ihn als Persönlichkeit
Vernunft hin stets durchlässiger werden. unangefochten lassen und die von seiner Natur gestellten An-
sprüche befriedigen müsse. Die Vertreter dieser Auffassung wer-
fen dem Kapitalismus vor, daß sein Rationalismus den Menschen
vergewaltige, und sehnen die erneute Heraufkunft einer Ge-
meinschaft herbei, die besser als die kapitalistische Gesellschaft
Die kapitalistische Epoche ist eine Etappe auf dem Weg zur das vermeintlich Menschliche berge. Von der verzögernden Wir-
Entzauberung. Das dem heutigen Wirtschaftssystem zugeordnete kung solcher Rückbildungen abgesehen: sie verfehlen das Ge-
Denken hat eine Beherrschung und Benutzung der in sich ge- brechen des Kapitalismus im Kern. Er rationalisiert nicht zu
schlossenen Natur ermöglicht, wie sie keiner früheren Zeit noch viel, sondern zu wenig. Das von ihm getragene Denken wider-
beschieden war. Entscheidend ist aber nicht, daß dieses Denken strebt der Vollendung zur Vernunft, die aus dem Grunde des
zur Ausbeutung der Natur befähigt - wären die Menschen nur Menschen redet.
Ausbeuter der Natur, so hätte Natur über Natur gesiegt - son- Das Zeichen des Orts, an dem sich das kapitalistische Denken
dern daß es von den natürlichen Bedingungen immer unabhän- befindet, ist seine Abstraktheit. Durch ihr Vorherrschen heute
giger macht und so Raum schafft für das Eingreifen der Ver- wird ein geistiger Raum gesetzt, der sämtliche Äußerungen um-
nunft. Seiner zum Teil aus der Märchenvernunft stammenden fängt. Der gegen die abstrakte Denkweise gerichtete Einwand,
Rationalität, wenn auch ihr nicht allein, sind die bürgerlichen daß sie die eigentlichen Gehalte des Lebens nicht zu fassen ver-
Revolutionen der letzten hundertfünfzig Jahre zu danken, die möge und darum einer konkreten Betrachtung der Erscheinun-
mit den naturalen Gewalten der in die Welt verstrickten Kirche, gen zu weichen habe, deutet gewiß auf die Grenze des Abstrak-
der Monarchie und des Feudalwesens abgerechnet haben. Die ten hin, wird aber voreilig erhoben, wenn er zu Gunsten jener
unaufhaltsame Zersetzung dieser und anderer mythologischer falschen, mythologischen Konkretheit erfolgt, die in dem Orga-
Bindungen ist das Glück der Vernunft, da sich nur an den nismus und der Gestalt das Ende erblickt. Durch die Rückkehr
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zu ihr wäre die einmal erworbene Fähigkeit zur Abstraktion mehr sich aber die Abstraktheit verfestigt, um so unbewältigter
preisgegeben, nicht aber die Abstraktheit überwunden. Sie ist durch die Vernunft bleibt der Mensch zurück. Er wird der Ge-
der Ausdruck einer Rationalität, die sich verstockt. Die in ab- walt der Naturmächte von neuem Untertan, wenn sein auf
strakter Allgemeinheit getroffenen Bestimmungen von Sinn- halber Strecke ins Abstrakte abbiegendes Denken dem Durch-
gehalten - so die Bestimmungen auf wirtschaftlichem, sozialem, bruch der echten Erkenntnisgehalte sich verweigert. Statt jene
politischem, moralischem Gebiet - geben der Vernunft nicht, Gewalten zu unterdrücken, ruft das verfahrene Denken ihren
was der Vernunft gehört. Die Empirie bleibt durch sie unbedacht, Aufstand selber hervor, indem es über die Vernunft hinweg-
aus den inhaltsleeren Abstraktionen kann jede Nutzanwendung gleitet, die allein sich mit ihnen auseinandersetzen und sie beu-
gezogen werden. Hinter diesen absperrenden Abstraktionen erst gen könnte. Nur eine Folge der ungehemmten Machterweiterung
liegen die einzelnen Vernunfterkenntnisse, die der Besonderheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist, daß die dunkle
der jeweils gemeinten Situation entsprechen. Trotz der Inhalt- Natur drohender stets aufbegehrt und die Ankunft des Men-
lichkeit, die von ihnen zu fordern ist, sind sie nur in einer schen verhindert, der aus der Vernunft ist.
abgeleiteten Bedeutung konkret; nicht konkret jedenfalls im
vulgären Sinne, der mit dem Ausdruck konkret die in dem natür-
lichen Leben befangenen Anschauungen belegt. - Die Abstrakt- 5
heit des heutigen Denkens ist mithin doppeldeutig. Von den
mythologischen Lehren aus gesehen, in denen die Natur sich naiv Zweideutig wie die Abstraktheit ist das Ornament der Masse.
behauptet, ist das Abstraktionsverfahren, wie es etwa die Na- Auf der einen Seite ist seine Rationalität eine Reduktion des
turwissenschaften üben, ein Gewinn an Rationalität, der dem Natürlichen, die den Menschen nicht verkümmern läßt, sondern
Prangen der Naturdinge Abbruch tut. Aus der Perspektive der im Gegenteil, wenn sie nur ganz durchgeführt wäre, das Wesen-
Vernunft erscheint das gleiche Abstraktionsverfahren als natur- hafte an ihm rein herausstellte. Gerade darum, weil der Träger
bedingt; es verliert sich in einem leeren Formalismus, der unter des Ornaments nicht als Gesamtpersönlichkeit figuriert, als eine
seiner Decke dem Natürlichen freien Spielraum gewährt, da er harmonische Vereinigung von Natur und »Geist«, in der jene
die Vernunfterkenntnisse nicht durchläßt, die das Natürliche zu zu viel und dieser zu wenig erhält, wird er transparent gegen
treffen vermöchten. Die herrschende Abstraktheit zeigt an, daß den Menschen, den die Vernunft bestimmt. Die im Massenorna-
der Prozeß der Entmythologisierung nicht zu Ende gebracht ist. ment eingesetzte menschliche Figur hat den Auszug aus der
Das gegenwärtige Denken steht vor der Frage, ob es der Ver- schwellenden organischen Pracht und der individuellen Gestalt-
nunft sich erschließen oder ungeöffnet gegen sie weitertreiben haftigkeit zu jener Anonymität angetreten, zu der sie sich ent-
solle. Es kann die selbstgesetzte Grenze nicht überschreiten, ohne äußert, wenn sie in der Wahrheit steht und die aus dem mensch-
daß das Wirtschaftssystem wesentlich gewandelt wird, das sein lichen Grund herausstrahlenden Erkenntnisse die Konturen der
Unterbau ist; dessen Fortbestand zieht den seinen nach sich. Die sichtbaren natürlichen Gestalt auflösen. Daß in dem Massen-
ungebrochene Entwicklung des kapitalistischen Systems bedingt ornament die Natur entsubstantialisiert wird: dies genau ist ein
also das ungebrochene Wachstum des abstrakten Denkens (oder Hinweis auf den Zustand, in dem das allein von der Natur sich
nötigt das Denken, in falsche Konkretheit zu versinken). Je behaupten kann, was der Erhellung durch die Vernunft nicht
widersteht. So sind auf alten chinesischen Landschaftsbildern die In dem Massenornament ist sie nicht durchgedrungen, seine
Bäume, Teiche, Berge nur als dürftige ornamentale Zeichen noch Muster sind stumm. Die Ratio, die es hervorbringt, ist groß
getuscht. Die organische Mitte ist herausgenommen und der genug, um die Masse aufzurufen und aus den Figuren das Leben
unverbundene Restbestand nach den Gesetzen komponiert, die zu streichen. Sie ist zu gering, um in der Masse die Menschen zu
ein zeitlich wie immer bedingtes Wissen um die Wahrheit gege- finden und die Figuren durchscheinend gegen Erkenntnisse zu
ben hat; nicht nach denen der Natur. Reste nur des menschlichen machen. Da sie vor der Vernunft ins Abstrakte flieht, wächst
Komplexes gehen auch in das Massenornament ein. Ihre Auslese die unkontrollierte Natur unter dem Deckmantel der rationalen
und Zusammenfassung im ästhetischen Medium erfolgt nach Ausdrucksweise gewaltig herauf und benutzt die abstrakten
einem Prinzip, das die gestaltsprengende Vernunft reiner als Zeichen zur Darbietung ihrer selbst. Sie kann sich nicht mehr
jene anderen Prinzipien vertritt, die den Menschen als organische wie bei den primitiven Völkern und in den Zeiten der religiösen
Einheit bewahren. Kulte in Gestaltungen umsetzen, die als Symbole mächtig sind.
Wird das Massenornament von der Seite der Vernunft her er- Solche Kraft der Zeichenrede ist aus dem Massenornament unter
blickt, so offenbart es sich als mythologischer Kult, der in ein dem Einfluß der gleichen Rationalität gewichen, die das Auf-
abstraktes Gewand sich hüllt. Die Vernunftgemäßheit des Orna- brechen seiner Stummheit verwehrt. So gibt sich denn die bloße
ments ist mithin ein Schein, den es im Vergleich mit körperlichen Natur in ihm, die Natur, die sich auch wider die Aussage und
Darstellungen von konkreter Unmittelbarkeit annimmt. In Fassung ihrer eigenen Bedeutung sträubt. Es ist die jedes aus-
Wirklichkeit ist es die krasse Manifestation der unteren Natur. drücklichen Sinnes bare rationale Leerform des Kultes, die im
Sie kann um so freier sich regen, je entschiedener die kapitalisti- Massenornament sich darstellt. Damit erweist es sich als ein
sche Ratio von der Vernunft abgeschnürt wird und am Menschen Rückschlag in die Mythologie, wie er größer kaum gedacht
vorbei in die Leere des Abstrakten sich verflüchtigt. Der Ratio- werden kann - als ein Rückschlag, der seinerseits wieder die Ab-
nalität des Massenmusters ungeachtet erhebt sich mit ihm das gesperrtheit der kapitalistischen Ratio gegen die Vernunft verrät.
Natürliche in seiner Undurchdringlichkeit. Gewiß, der Mensch Daß es eine Ausgeburt des bloß Natürlichen ist, wird durch die
als organisches Wesen ist aus den Ornamenten geschwunden; Rolle bestätigt, die es im sozialen Leben spielt. Die geistig Gut-
aber darum tritt nicht der menschliche Grund hervor, sondern situierten, die, ohne es wahr haben zu wollen, der Anhang des
das verbleibende Massenteilchen schließt sich gegen ihn ab wie herrschenden Wirtschaftssystems sind, haben das Massenorna-
nur irgendein formaler Allgemeinbegriff. Gewiß, die Beine der ment noch nicht einmal als Zeichen dieses Systems gesichtet. Sie
Tillergirls schwingen parallel, nicht die natürlichen Einheiten verleugnen die Erscheinung, um sich weiter an Kunstveranstal-
der Leiber, und gewiß auch sind die Tausende im Stadion ein tungen zu erbauen, die unberührt geblieben sind von der im
einziger Stern; aber der Stern leuchtet nicht und die Beine der Stadionmuster gegenwärtigen Realität. Die Masse, bei der es
Tillergirls sind die abstrakte Bezeichnung der Leiber. Wo die sich spontan durchgesetzt hat, ist seinen Verächtern unter den
Vernunft den organischen Zusammenhang zerfällt und die wie Gebildeten insofern überlegen, als sie im Rohen die Fakten
immer kultivierte natürliche Oberfläche aufreißt, dort redet unverschleiert anerkennt. Mit derselben Rationalität, mit der
sie, dort zerlegt sie nur die menschliche Gestalt, damit die un- die Träger der Muster im wirklichen Leben gemeistert werden,
verstellte Wahrheit von sich aus den Menschen neu modelliere. versinken sie im Körperlichen und verewigen so die derzeitige
Wirklichkeit. Preislieder auf die Körperkultur werden heute gehalten wird; das heißt, die Überhöhung des Körperlichen mit
nicht nur von einem Walter Stolzing gesungen. Sie sind als Bedeutungen, die ihm entstammen und zwar vielleicht seelisch
Ideologien leicht zu durchschauen, mag immerhin der Begriff sind, aber von Vernunft keine Spur in sich tragen. Das Massen-
der Körperkultur zwei ihrem Sinne nach zusammengehörige ornament stellt die stumme Natur ohne jeden Überbau dar, die
Worte durchaus rechtmäßig miteinander verkoppeln. Die un- rhythmische Gymnastik beschlagnahmt ihrer Ansicht nach auch
begrenzte Bedeutung, die dem Körperlichen beigemessen wird, noch die mythologischen Oberschichten und befestigt so die
ist aus dem begrenzten Wert, der ihm zukommt, nicht abzu- Natur nur um so mehr in ihrer Herrschaft. Sie ist ein Beispiel
leiten. Sie erklärt sich allein aus der Bundesgenossenschaft, die für viele andere ebenso hoffnungslose Bemühungen, aus dem
das Körperbildungswesen, seinen Vorkämpfern teilweise unbe- Massenwesen zum gehobenen Leben zu gelangen. Von ihnen in
wußt, mit dem Bestehenden unterhält. Die körperliche Ertüchti- ihrer Mehrzahl gilt, daß sie echt romantisch auf Formen und
gung beschlagnahmt die Kräfte, Produktion und gedankenloser Gehalte sich besinnen, die der zum Teil berechtigten Kritik der
Konsum der ornamentalen Figuren lenken von der Verän- kapitalistischen Ratio längst verfallen sind. Sie wollen den
derung der geltenden Ordnung ab. Der Vernunft wird der Menschen wieder fester mit der Natur verketten, als er ihr heute
Zutritt erschwert, wenn die Massen, in die sie eindringen sollte, angehört, sie finden den Anschluß an das Obere nicht durch den
den Sensationen sich hingeben, die ihnen der götterlose mytho- Bezug auf die in der Welt noch unverwirklichte Vernunft, son-
logische Kultus gewährt. Seine soziale Bedeutung ist nicht zum dern durch den Rückzug auf mythologische Sinngehalte. Ihr
wenigsten die der römischen Zirkusspiele, die von den Macht- Schicksal ist die Irrealität; denn wenn an einer Stelle der Welt
habern gestiftet worden sind. die Vernunft hindurchschimmert, so muß die erhabenste Gestalt
vergehen, die gegen sie abblendet. Unternehmungen, die unter
Nichtachtung unseres geschichtlichen Orts eine Staatsform, eine
Gemeinschaft, eine künstlerische Gestaltungsweise zu rekon-
struieren trachten, deren Träger ein von dem gegenwärtigen
Die Versuche sind zahlreich, die um der Gewinnung einer Denken schon angetasteter Mensch ist, ein Mensch, den es von
höheren Sphäre willen die von dem Massenornament erreichte Rechts wegen nicht mehr gibt - solche Unternehmungen halten
Rationalität und Wirklichkeitsstufe wieder aufgeben wollen. dem Massenornament in seiner Niedrigkeit nicht stand, und die
So setzen sich die körperkulturellen Anstrengungen der rhyth- Hinwendung zu ihnen ist keine Erhebung über seine leere und
mischen Gymnastik über die Privathygiene hinaus das Ziel, äußerliche Flachheit, sondern eine Flucht vor seiner Realität. Der
schmucke Seelengehalte auszudrücken, zu denen von den Kör- Prozeß führt durch das Ornament der Masse mitten hindurch,
perkulturdozenten nicht selten noch Weltanschauungen mit- nicht von ihm aus zurück. Er kann nur vorangehen, wenn das
geliefert werden. Diese Veranstaltungen, von deren ästhetischer Denken die Natur einschränkt und den Menschen so herstellt, wie
Unmöglichkeit ganz abgesehen werden mag, erstreben genau er aus der Vernunft ist. Dann wird die Gesellschaft sich ändern.
das zurück, was das Massenornament glücklich hinter sich ge- Dann auch wird das Ornament der Masse hinschwinden und das
bracht hat: die organische Verbindung der Natur mit etwas, menschliche Leben selber die Züge jenes Ornaments annehmen, zu
das von den allzu bescheidenen Naturen für Seele oder Geist dem es in den Märchen angesichts der Wahrheit sich ausprägt.