Heiner Müller
Heiner Müller
Heiner Müller
Dissertation
EINLEITUNG ........................................................................................................................................... 1
Nachdem Heiner Müller (1929–1995) im Laufe der achtziger Jahre als Dramatiker völlige
Anerkennung zuteil wurde 1 , rückte er spätestens mit der Verleihung des Büchner-Preises
1985 auch als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens ins Rampenlicht. In zahlreichen
Interviews, Gesprächen, Lesungen und Talkshows präsentierte sich der »Finsternisexperte«
Müller als Medienstar. Ein Produkt des zunehmenden Interesses der Öffentlichkeit an der
Person des Dichters ist auch Müllers vom Cheflektor des Verlags Kiepenheuer & Witsch in
Köln, Helge Malchow, angeregte und im Gespräch entstandene Autobiografie KRIEG OHNE
SCHLACHT LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN. Auf den ersten Blick scheint KRIEG OHNE
SCHLACHT nichts anderes zu sein, als die typische Erwerbs- und Erfolgsbiografie eines
1929ers. Privates, wenn es vorkommt, spielt höchstens am Rande eine Rolle. Das
Hauptaugenmerk liege, so vermuten Müller nahe stehende Personen, in der Begründung des
»Nachruhmes«. Doch der Schein trügt. Die Biografie ist unauflösbar verbunden mit dem
Scheitern eines historischen Auftrags, dem Verschwinden der DDR, des ersten sozialistischen
Staates auf deutschem Boden, wie Müller zu betonen pflegte. Der »Dinosaurier nicht von
Spielberg« (W 1 292) war ohne dieses »Gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und
Gesang« (W 2 87 / W 2 492) nicht lebensfähig. Zurückgeworfen auf sich selbst, starb er an
einer Wucherung des Selbst. Der Krebs – zentrale Metapher aus den Stücken der siebziger
Jahre, die von der Unfähigkeit zum Sterben Zeugnis ablegt 2 – holte den Dichter heim ins
Reich der Indifferenz.
Unter formalen Gesichtspunkten fällt an KRIEG OHNE SCHLACHT zunächst die
Heterogenität ins Auge, die sich zum einen aus dem Interviewcharakter des Textes ergibt, der
auch nach der Überarbeitung der Tonbandprotokolle beibehalten wurde, vor allem jedoch
durch das umfangreiche, weitgehend kommentarlose Material im Anhang des Buches. Die als
»Eine Autobiografie« gekennzeichnete Lesart eines Lebens erhebt insofern »keinen Anspruch
auf Kohärenz, weder für das autobiografische Ich, noch für seine Repräsentation« 3 . Die
Verankerung der Gesprächsform im Text lässt die Medialität des autobiografischen Ichs
sichtbar bleiben, das auf der »Bühne des Textes« 4 agiert. Weil Müllers Gedächtnisarbeit
darauf abzielt, »das Autor-Ich von seinem biografisch-sozialen Umfeld weitgehend abzulösen
und es wie eine dramatische Figur zu inszenieren«, schlägt Pickerodt daher vor, Müllers Text
nicht »primär historisch, psychologisch oder sozial« zu lesen, »sondern dramaturgisch«. 5 Es
falle auf, dass »Müller den Gedächtnisstoff nicht gleichsam nachträglich dramatisiert, dass er
ihn vielmehr als Drama vergegenwärtigt.« 6 Den Hauptgrund für die Beibehaltung des
1
Im Jahr 1989 gibt es beinahe fünfhundert Inszenierungen seiner Texte in beiden deutschen Staaten.
2
Baudrillard beschreibt im Anschluss an Freuds These vom Todestrieb alles Lebendigen den Krebs als
Lebenstrieb der Zellen, der zum Untergang des Subjekts führt. Die Krebszelle »vergisst zu sterben, sie
vergisst, wie man stirbt. Sie wird sich selbst zu Milliarden identischer Kopien klonen, die einen Tumor
bilden. In der Regel stirbt das Subjekt daran und die Krebszellen sterben mit ihm.« (Baudrillard 2000, 42)
3
Wagner-Engelhaaf 2000, 198
4
Wagner-Engelhaaf 2000, 199
5
Pickerodt 1995, 65
6
Pickerodt 1995, 66
1
Interviewcharakters im gedruckten Text formuliert Müller selbst: »Über sich selbst kann man
reden. Die gesprochene Lüge ist eine Wahrheit, die geschriebene nicht.« (HMA 4480) Dass
Müller die Lüge als kohärente Ausdrucksform der eigenen Lebensgeschichte der Confessio
vorzog, korrespondiert seinem Verständnis vom Gespräch als Performance, die es dem
Dichter erlaubte, Widersprüchliche Aussagen unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen (s.
a. GI 1 155).
Das »Beziehungsdrama zwischen einem Staat und seinem bestgehassten und
meistgefürchteten Stückeschreiber« 7 wird vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der
DDR inszeniert. Da dieser Antagonist in der Jetztzeit Müllers Erzählung nicht mehr existiert,
wird die Autobiografie zum Ausdruck einer Schaffenskrise. »Ich war immer auf beiden
Seiten« (GI 3 106), betonte Müller im Interview, auf Seiten der befestigenden Macht ebenso
wie auf der Seite der kolonisierten Bevölkerung. Der Riss ging – wie bei der Bildzerreißung
des Autorenporträts in der HAMLETMASCHINE – durch den Autor mitten hindurch.
Müllers Texte sind Dialog, »ein Sich-Reiben an Macht« (KOS 113), zuletzt »die Suche nach
einer Macht, an der man sich noch reiben kann« (ebd.). Die Suche blieb nach dem
Verschwinden der DDR von der politischen Landkarte und dem damit einhergehenden
Verlust der Projektionsfläche für eine Perspektive historisch-gesellschaftlicher Emanzipation
vergeblich – aber beschreibbar. In dem Gedicht VAMPIR, einem Müllers letzter Texte, heißt
es: »Zerstoben ist die Macht an der mein Vers / Sich brach wie Brandung regenbogenfarb […]
/ Statt Mauern stehen Spiegel um mich her / Mein Blick sucht mein Gesicht Das Glas bleibt
leer« (W 1 317). Die Spiegel zeigen den Vers lediglich in einem neuen Licht, befreien ihn aus
dem Gefängnis seines ursprünglich intendierten Bedeutungszusammenhangs. Zugleich ist der
›ergraute‹ Vers Indiz für den objektiven Verlust sinnvoller Gestaltungsmöglichkeiten wie
Zeichen erfahrungsbedingter Reife. »Vielleicht ist der Bruch die Reife: Was nicht gebrochen
wird, kann nicht geerntet werden.« (W 5 221) Für das Einbringen der Ernte macht der
gebrochene Autor freilich die Nachwelt verantwortlich. Der Bruch bedeutet das ENDE DER
HANDSCHRIFT (s. a. W 1 322). Die Schreibmaschine, die dem Körper ihre Male eingraviert
hat, spuckt den geschundenen Leib aus. Der Rest ist Schweigen. In der Stille wird die
Mechanik hörbar, die hinter der nun verstummten Stimme zum Vorschein kommt. Als höhere
Gesetzmäßigkeit perforiert sie gleich Kafkas strafkolonialer Schreibmaschine, die Müller in
die eigene Autorschaft überführt (s. a. W 2 132–135), den individuellen Körper und führt das
Subjekt als Summe der an ihm vorgenommenen Gravuren vor. Müller hatte diese Erfahrung
bereits in einem frühen Gedicht mit dem denkwürdigen Titel ALTES GEDICHT niedergelegt:
»Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick / Der dich in Frage stellt Es gibt
keinen andern mehr / Endlich die Wahrheit Dass du nur ein Zitat bist / Aus einem Buch das
du nicht geschrieben hast / Dagegen kannst du lange anschreiben auf dein / Ausbleichendes
Farbband Der Text schlägt durch« (W 1 42).
Das späte Interesse Müllers an der eigenen Biografie erstaunt nur dann, wenn man vergisst,
dass Müller die Bedingungen seines Schreibens zeitlebens poetologisch wie poetisch
reflektierte. »Ich habe ein paar Mal versucht, über mich zu schreiben, und das hat mich immer
ganz schnell gelangweilt, weil es mir nicht wichtig genug erschien. Das mag ein Fehler sein.«
(GI 1 14) Das Interesse an der eigenen Person allein reicht als Schreibimpuls nicht aus.
Müllers Äußerung bezieht sich unter anderem auf Prosaversuche, denen er autobiografisches
7
Sigrid Löffler: Feind im Spiegel. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 17. 7. 1992
2
Material zugrunde legte. Sie heißen BERICHT VOM GROSSVATER, DER VATER oder
TODESANZEIGE. Die Titel haben die Possessiva bereits eliminiert. Persönliches ist
geronnen zu Literatur, die Müller später dennoch als zu selbstgewiss anzweifeln wird 8 . Die
Texte kreisen um die Themen Verrat, Verlust und Versagen und zeugen von Müllers
Obsession, die Traumata der eigenen Lebensgeschichte in Kunst zu verwandeln, was, so
Deleuze, nur dann gelingen kann, wenn die persönlichen Erinnerungen transformiert werden
»zum kollektiven Ursprung und Ziel eines kommenden Volkes, das noch dort, wo es verraten
und verleugnet wurde, verborgen liegt« 9 . Offenbar wähnte Müller dieses kommende Volk
nach Kriegsende bereits näher, als in seinen letzten Lebensjahren. Nach dem Mauerfall
bezeichnete er die Texte als ungerecht und schrieb in neuen Versuchen, die – bewusst – ohne
Titel blieben und erst aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, gegen die alten Texte an10 :
eine der zeitgenössischen Rezeption vorenthaltene poetische Selbstverständigung, die nach
dem Tod des Autors der öffentlichen Wahrnehmung jedoch durchaus zur Verfügung stehen
sollte. Andernfalls wären diese Texte nicht auffindbar gewesen und es existieren keine
Vorgaben Müllers, Teile seines schriftlichen Nachlasses der Öffentlichkeit vorzuenthalten.
Gerade das »Ausgelassene«, »Ungenutzte«, »Verworfene« (HMA 4951) sollte, seiner Bloch
entliehenen Treue gegen das Verdrängte gemäß, ins Zentrum des Interesses rücken.
Bereits 1991 beschrieb Müller das Interesse an seiner Person aus der Perspektive seiner
Nachwelt: »Mir ist nur wichtig, was ich schreibe und was von mir übrig bleibt. Meine Person
ist da sekundär.« (GI 3 136) Um Interesse für die eigene Person aufbringen zu können, redet
Müller über sich als einen anderen: »Ich ist ein anderer« (KOS 218), zitiert die Autobiografie
Rimbaud. Im Nachwort heißt es: »Bis zu meinem Tod muss ich mit meinen Widersprüchen
leben, mir selbst so fremd wie möglich.« (KOS 366) Die Fremdheit, respektive Verfremdung
des lebensgeschichtlichen Materials ist Bedingung der autobiografischen Produktion. Die
Konstitution eines ›Erzähler-Ich‹ vollzieht sich im Prozess sozialer Interaktion. 11 Der
lebensgeschichtliche Zusammenhang dient dabei lediglich als Material, dem der Autor
misstrauisch bis feindlich gesinnt gegenübersteht. Programmatische Aussagen, welche die
Fremdheit gegenüber der eigenen Subjektivität thematisieren, evozieren ein performatives
Gedächtnismodell. Kontext ist der Guerillakrieg eines Dichters, dessen Sprache den Druck
der Diktatur benötigt. Der Text Müllers Autobiografie verweigert die Identifikation mit einer
Kunstfigur ›Heiner Müller‹, die im Antagonismus zu den Diktaturen des Jahrhunderts
heimisch geworden ist. Die Verweigerung generiert das »Drama der Lebensgeschichte«
(Löschner). Auf der Bühne des Textes arrangiert der Autor den Konflikt mit der von ihm
aufgerufenen Geschichte. Der eigentliche Konflikt ist die »Schlacht ohne Krieg« 12 , der
Kampf ohne festes Bezugssystem, die permanente Krise – auch Lebenskrise, wenn man so
will – die Müller dem Kontinuum der Normalität entgegensetzte. In diesem Zusammenhang
8
Das Gedicht SELBSTKRITIK, später integriert in den Zyklus FERNSEHEN (W 1 232f.), dokumentiert
diese Haltung.
9
Deleuze 2000, 15
10
Exemplarisch hierfür ist neben zahlreichen Gedichten der im Band 2 der Werkausgabe erschienene
Prosatext [Im Herbst 197.. starb …] (W 2 177–188).
11
Das selbstbestimmte Subjekt ist bloße Fiktion: »Die revolutionäre Einsicht für die Neurowissenschaften
liegt darin, dass die Kommunikation und Interaktion das Gehirn formen, oft in Minutenschnelle. Das Ich
entsteht aus dieser Interaktion, genauso wie die Gene durch Umwelteinflüsse aktiviert werden.« (Gerhard
Roth im Gespräch mit Harald Welzer, Ulrich Schnabel und Elisabeth von Thadden: Die Seele gehört nicht
mir. In: Die Zeit vom 23. 2. 2006)
12
Pickerodt 1995, 71
3
stellt KRIEG OHNE SCHLACHT nur eine spezielle von vielen möglichen Formen dar, mit
autobiografischem Material umzugehen. In keinem Fall ist sie die kohärenteste. In einer
handschriftlichen Notiz aus dem Entstehungsumfeld der Autobiografie heißt es: »Die
eigent[liche] Biografie [sind] die Texte[.] Deshalb [ist das Leben ] kein Gegenstand von
Literatur[.] Banalität der Fakten macht mir bewusst, dass meine Texte der Traum von einer
Sache (function of art)« (HMA 4480). Müllers Äußerung steht im Zusammenhang einer
Reihe ähnlicher Aussagen, die das autobiografische Projekt als gescheitert beschreiben. Doch
das Scheitern nimmt in Müllers spätem Schaffen einen poetologisch wichtigen Stellenwert
ein. In den von Krankheit und körperlichem Verfall geprägten letzten Lebensmonaten gerann
die Erfahrung der Selbstauflösung zu ebenso artifiziellen wie mitreißenden Gedichten,
Prosatexten und Gesprächen, in denen Müller mehr und in weniger unverstellter Form von
seiner Person preisgab, als in seinen explizit autobiografischen Äußerungen. Veranlasste die
intensive Beschäftigung mit der eigenen Biografie im Zusammenhang mit der Arbeit an
KRIEG OHNE SCHLACHT Müller dazu, sich die Masken abzureißen? Oder ist die
Nacktheit eine neue Maske – seine letzte?
4
liegt. 13 Aus diesem Grund zielt der Fokus der vorliegenden Arbeit eher auf die Medialität der
Erinnerung als auf deren vermeintliche Teleologie.
Einen wichtigen Bestandteil der Auseinandersetzung mit KRIEG OHNE SCHLACHT bildet
die Untersuchung der Textgenese und formaler Besonderheiten im zweiten Teil der
vorliegenden Arbeit. Aufgrund des lückenhaften Materialbestandes ist die Rekonstruktion
einer Fassung ›erster Hand‹ nicht mehr möglich. 14 Die Arbeit – vom unrevidierten Gesprächs-
Typoskript über die von Müllers Lektoren und schließlich von ihm selbst überarbeiteten
Manuskripte – ist zwar aus Gesprächen mit den Mitarbeitern an KRIEG OHNE SCHLACHT
nachvollziehbar, aber nur in begrenztem Ausmaß dokumentiert. Das lückenhaft erhaltene
Material im Archiv der Akademie der Künste Berlin15 , im Verlag Kiepenheuer & Witsch
sowie aus dem Privatbesitz enger Mitarbeiter Heiner Müllers erlaubt nur punktuell Einblicke
in den Entstehungsprozess. Die Untersuchung bezieht dieses bisher nur in Teilen
dokumentierte Archivmaterial (s. a. Bd. 9 der Werkausgabe) mit ein und stützt sich in diesem
Punkt auf die Magisterarbeit David Beikirchs, die sich mit spezifischen Problemen der
Textgenese von KRIEG OHNE SCHLACHT auseinandersetzt. Die zahlreichen Äußerungen
zur eigenen Person und Biografie in Interviews, poetologischen, respektive poetischen Texten
Heiner Müllers können in diesem Zusammenhang nur eine nebengeordnete Rolle spielen.
Im Zentrum meiner Arbeit steht die kritische Hinterfragung der disparaten Selbstexplikation
Müllers in KRIEG OHNE SCHLACHT, die eine literarische Autobiografie nicht sein will
und doch geworden ist. 16 Im Anschluss an Gerhart Pickerodts Aufsatz von 1995, der Müllers
›Erinnerungsarbeit‹ als ›Schlachtbeschreibung‹ liest – eine dramatische Schlacht die sich im
Medium der Schrift selbst vollzieht, inszeniert als »Konflikt des Ich mit seiner ihm fremden
Geschichte« 17 –, sollen im dritten Teil meiner Arbeit die strukturellen Wirkungsmechanismen
untersucht werden, die Müllers Autobiografie zum Auto-Drama werden lassen. Andere
Lesarten sind möglich. Was Deleuze für Kafkas Werk feststellt, gilt in gleicher Weise für das
literarische Schaffen Heiner Müllers: es besitzt zu viele Eingänge, »als dass ein Königsweg
ins Zentrum eines dezentrierten, polyzentrischen Denkens führen könnte« 18 . Die Rückführung
der Bedeutungsgeneration auf die strukturästhetischen Wirkungsmechanismen scheint jedoch
insofern am geeignetsten, als sie durch Textnähe Müllers Strategie der Selbst-Dekonstruktion
sehr nahe kommt, zumal Müller seine Lebenserzählung nach ähnlichen Strukturprinzipien
aufbaut, wie seine ›poetischen‹ Texte. 19 Aus der Beschreibung der Äußerungsformen des
13
Freuds Begriff der »Nachträglichkeit« sowie wie Deleuzes Wiederholungsbegriff beschreiben solche
performativen Modelle des Erinnerns.
14
Dieses Problem stellt sich generell für Müllers Texte: »Der Nachlass ist zu großen Teilen atomisiert, die
ursprünglichen Entstehungszusammenhänge sind zerschnitten, die Genese der Texte ist nicht mehr
erkennbar.« (Volker Kahl: Vor dem Wegwerfen habe ich Angst. Zum Nachlass Heiner Müllers. In:Stiftung
Archiv der Akademie der Künste. Heiner-Müller-Archiv. Berlin 1998, 9–14, hier 10)
15
Das Material ist im Nachlass Müllers in der Berliner Akademie der Künste unter der Signatur »01.02.03.
Autobiografie [Krieg ohne Schlacht] 4470-4491« registriert.
16
Müller selbst bezeichnet KRIEG OHNE SCHLACHT als »disparate[n] Text«. (KOS 366) »Der Text wird
als problematisch eingeschätzt, weil er sich als disparater präsentiert, als Resultat eines von vier Personen
zusammengestrichenen Gesprächstexts, den Müller zwar überarbeiten, nicht jedoch zu Literatur hat werden
lassen können.« (Pickerodt 1995, 63)
17
Pickerodt 1995, 71. Im Schlusswort Müllers Autobiografie heißt es polemisch: »Bis zu meinem Tod muss
ich mit meinen Widersprüchen leben, mir selbst so fremd wie möglich.« (KOS 366)
18
Jäger 1997, 11
19
Insbesondere sei auf die Collage- und Schnitttechniken verwiesen. Auch liest sich die von Müller für sein
Schreiben reklamierte Programmatik wie ein Kommentar zu seiner Autobiografie, etwa die Bezeichnung
5
autobiografischen Ichs in ihrer Performativität ergeben sich die textimmanenten Strategien
der Selbstinszenierung Müllers. Den stofflichen Kontext der vorliegenden Untersuchung
bildet die Auseinandersetzung mit Müllers autorisierter Textfassung unter Einbeziehung der
im zweiten Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse zur Textgenese sowie des dadurch
bereitgestellten Materials aus dem Nachlass des Dichters.
des Textes als »Stellplatz der Widersprüche« (W 8 260): »Ein Text lebt aus dem Wiederspruch von
Intention und Material, Autor und Wirklichkeit.« (W 8 176) oder die Berufung auf die »Kollision der
Zeitebenen« (W 8 259).
6
TEIL I: DER AUTOBIOGRAFISCHE DISKURS
1. Forschungsstand
Kunst will natürlich den Tod der Wirklichkeit, das ist der Impuls von Kunst.
(Heiner Müller)
1.1. Rezeptionssituation
Die Rezeption Heiner Müllers ist geprägt von (politischen) Grenzen und durch Brüche
gekennzeichnet. Bedingt durch Publikations- und Aufführungsverbote im Ostteil
Deutschlands wurden eine Vielzahl der Texte Müllers zuerst in der Bundesrepublik rezipiert.
Seine Sicht auf die Dinge war im eigenen Land unerwünscht, seine Stücke tauchten im
Schnitt erst fünfzehn Jahre nach ihrer Entstehung auf ostdeutschen Bühnen auf. Während im
Westen seit Mitte der siebziger Jahre eine elfbändige Mülleredition 20 entstand, blieben viele
Texte einem breiteren Publikum in der DDR bis zu ihrem Zusammenbruch – Müllers
Wahlheimat – verschlossen. Aufgrund der Affäre um Müllers/Tragelehns UMSIEDLERIN im
Jahr des Mauerbaus 1961, kam es zur systematischen Ausgrenzung Heiner Müllers aus dem
literarischen Leben der DDR 21 . Mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR
war Müller stigmatisiert und den staatlichen Zensurbehörden fortan suspekt. Erst ab Mitte der
siebziger Jahre erschienen mit großer Verspätung ausgewählte Stücke Müllers 22 . Die späte
Rehabilitierung – die Verleihung des Nationalpreises Erster Klasse der DDR durch Erich
Honecker 1986 – las Müller selbst als Zeichen nahenden Untergangs des Staates 23 , in dem zu
leben ihm so wichtig, weil für sein Schreiben Bedingung war. 24 Eine Kompilation mit
Stücken, die erstmals auch diejenigen Dramen enthielt, die Müllers internationalen Ruhm
begründetet hatten, erschien in der DDR erst 1988 25 . Im Jahr des Mauerfalls, 1989, gab Frank
Hörnigk eine Sammlung mit Texten Heiner Müllers heraus 26 , die neben seinem dramatischen
20
Im Rotbuchverlag erscheinen von 1974-1989 11 Bände mit Texten Müllers.
21
s. a. Streisand 1991 u. Braun 1995. Den Regisseur B. K. Tragelehn trifft das Schicksal noch härter: Er muss
für ein halbes Jahr ›auf Bewährung‹ in die ›Produktion‹ in die Kohleförderung bei Klettwitz.
22
1975 erscheint in Berlin ein Band »Stücke«, der DER LOHNDRÜCKER, DIE BAUERN, DER BAU,
HERAKLES 5, PHILOKTET, DER HORATIER, WEIBERKOMÖDIE, MACBETH und ZEMENT enthält.
Zwei Jahre später erscheinen DIE SCHLACHT, TRAKTOR und LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON
PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI.
23
s. a. KOS 349 u. 356
24
Heiner Müller im Interview 1983: »Die DDR ist mir wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses
Land gehen. Das ist der wirkliche Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer. In
der DDR herrscht ein viel größerer Erfahrungsdruck als hier [im Westen], und das interessiert mich ganz
berufsmäßig: Erfahrungsdruck als Voraussetzung zum Schreiben.« (GI 1 135, s. a. GI 1 85 u. 135; GI 3 77
u. 85; N 41)
25
Heiner Müller: Stücke. Herausgegeben von Joachim Fiebach. Berlin 1988. Der Band enthält die bis dato im
Osten unpublizierten Texte MAUSER, GERMANIA TOD IN BERLIN und HAMLETMASCHINE.
26
Heiner Müller Material. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Leipzig 1989
7
Schaffen entstanden waren und dennoch in ihrer poetischen Sprengkraft seinen Stücken in
nichts nachstehen. Die in diesem heterogenen Material-Band versammelten Prosatexte,
Essays, Briefe, Gedichte und Reden zeigen die Gestaltungsvielfalt müllerschen Schreibens
und spiegeln zugleich seine Tendenz zur Zertrümmerung der traditionellen Gattungsnormen
unter Beibehaltung absoluter Genauigkeit in der Formulierung wider. Mit der von Frank
Hörnigk bei Suhrkamp herausgegebenen zwölfbändigen Werkausgabe 27 liegt heute eine
Publikation des gesamten müllerschen Œuvres vor, die zwar keinen Anspruch auf
Vollständigkeit erhebt, jedoch erstmals in großem Umfang Nachlassmaterial in die Edition
einbezieht und so einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Werk- und Auswahlausgaben
erschienen darüber hinaus in vierzehn europäischen Ländern sowie in Israel, Japan, Brasilien
und den USA u. a. Seine Stücke sind auf den Bühnen der ganzen Welt zu Hause.
Die Sekundärliteratur zu Heiner Müller ist mittlerweile ins Uferlose gewachsen. Die Beiträge
zur literaturwissenschaftlichen Forschung fallen jedoch sowohl was die wissenschaftlichen
respektive ideologischen Ansätze betrifft, als auch hinsichtlich ihrer stofflichen Qualität
äußerst unterschiedlich aus. Seit der ersten deutschsprachigen Überblicksdarstellung zum
Werk Heiner Müllers von Genia Schulz 1980 ist die Zahl der Exegeten und damit der
Publikationen exponentiell gewachsen. Im Jahr 1982 gab Heinz Ludwig Arnold im Rahmen
der Edition »Text+Kritik« (Nr. 73) eine Aufsatzsammlung zu dramatischen Texten Heiner
Müllers heraus. Es folgten zahlreiche Einzeldarstellungen zu literatur-, theater- und
kulturwissenschaftlichen Aspekten insbesondere Müllers Dramatik, von denen durch
Originalität und Einfluss auf die wissenschaftliche Müllerrezeption die Arbeiten Joachim
Fiebachs 28 , Richard Herzingers 29 , Frank Michael Raddatz’ 30 sowie Hendrik Werners 31
hervorstechen. Von 1993 bis 1996 legten Ingo Schmidt und Florian Vaßen zwei Bände einer
umfangreichen Bibliografie vor, die nicht nur alle Ausgaben Müllers Texte und der
einschlägigen Sekundärliteratur festhalten, sondern auch kommentieren und so den
Forschungsstand bis dato adäquat wiedergeben. Am Ende des Jahrtausends erschien in
»Reclams Universal-Bibliothek« erneut eine Überblicksdarstellung von Norbert Otto Eke 32
und schließlich bei Metzler das HEINER MÜLLER HANDBUCH von Lehmann/Primavesi
(Hrsg.) im Jahr 2003. Es mag auf den ersten Blick natürlich anmuten, dass sich die Exegeten
eines berufenen Dramatikers wie Heiner Müller fast ausschließlich mit seinem dramatischen
Werk auseinander setzen, zumal andere Textsorten bis vor kurzem nur verstreut publiziert
vorlagen. 33 Erst mit der Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag hat sich die Ausgangssituation
auch für die Rezeption anderer Textsorten im Schaffen Müllers grundlegend geändert. Dieser
veränderten Rezeptionssituation soll die vorliegende Arbeit Rechnung tragen, indem sie das
27
Heiner Müller. Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. 12 Bde. Ffm. 1998ff. Erschienen sind bisher die
Bände 1–9 (Gedichte, Prosa, Stücke, Eine Autobiografie). Die abschließenden Bände 10–12 (Gespräche)
erscheinen in Kürze.
28
Joachim Fiebach: Inseln der Unordnung. Berlin 1990
29
Frank Michael Raddatz: Dämonen unterm roten Stern. Zur Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner
Müllers. Stuttgart 1991
30
Richard Herzinger: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in
Texten Heiner Müllers. München 1992
31
Hendrik Werner: Im Namen des Verrats. Heiner Müllers Gedächtnis der Texte. Würzburg 2001
32
Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart 1999
33
Eine Ausnahme bilden drei Bände, die eine Auswahl Interviews und Gespräche versammeln. Sie erschienen
zwischen 1986 und 1994 unter dem Titel GESAMMELTE IRRTÜMER 1–3 im Frankfurter Verlag der
Autoren.
8
bislang nur marginal von der Literaturwissenschaft bedachte autobiografische Werk Heiner
Müllers näher beleuchtet und hier wiederum ganz speziell die Autobiografie KRIEG OHNE
SCHLACHT LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN.
Von der einschlägigen Forschung wurde KRIEG OHNE SCHLACHT zumeist als gültiger
Beleg der Intention müllerschen Schreibens herangezogen und erlangte damit einen
unzulässigen Grad an Deutungshoheit. Die poetische Dimension des Textes wurde dabei nur
unzureichend reflektiert oder gänzlich missachtet. Daraus ergibt sich die Fehlrezeption des
Textes als Protokoll eines Lebens. Einer solchen Sichtweise muss die grundsätzliche
poetische wie poetologische (Müllers Texte sind immer beides zugleich) Neuausrichtung der
Selbstreflexion beziehungsweise Selbstästhetisierung im Spätwerk Heiner Müllers entgehen,
zumal die Selbstanalyse bei Müller nie unabhängig von den historisch-gesellschaftlichen
Prädispositionen des Individuums stattfindet. Die vorliegende Arbeit stellt insofern auch den
Versuch dar, dieser Fehlrezeption entgegenzuwirken.
Prägendes Strukturmerkmal und Qualitätsausweis des Textes KRIEG OHNE SCHLACHT ist
die ›Distanz‹, mit der Autor Heiner Müller dem eigenen Gedächtnismaterial gegenübertritt.
Die »Verdrängungsapparate« (KOS 72), die zu Müllers ›Gefühlskälte‹ geführt haben (»…
mich hat eigentlich nichts erschüttert. Das war für mich alles als Erfahrung interessant. […]
Ich kann mich nicht erinnern, dass mich da etwas besonders betroffen gemacht hat«, KOS
68), entsprechen seiner Arbeit als Dramatiker: Die Konflikte werden schreibend ausgetragen.
Müllers Drama ist kein geschlossenes Kommunikationssystem. Es findet statt als Kollision
aller Ebenen: »Die Epochenkollision greift tief, auch schmerzhaft, in den Einzelnen, der ein
Autor noch ist und nicht mehr sein kann. Der Riss zwischen Text und Autor, Situation und
Figur, provoziert/zeigt an die Sprengung der Kontinuität.« (W 8 176f.) Während demzufolge
die ›Distanz‹ als dramatisches Strukturmerkmal Müllers Arbeit gelten kann, sieht die
Mehrheit der Rezensenten darin lediglich eine zur Schau gestellte Kaltblütigkeit, welche »die
dünne Haut hinter dem Pokerface« 34 verbergen helfen soll. Müllers »autobiografische
Materialsammlung« 35 , so Elisabeth Grote, die sich »in defätistischem Hochmut, in Eitelkeit
und koketter Anekdotentümelei gefällt, wirkt wie eine einzige Selbstschutzmaßnahme.« Die
suggerierte Überlegenheit solle lediglich den Mangel an durchdachten Zusammenhängen
verbergen, mutmaßt György Dalos. 36 Sie sei die Maske hinter welcher »seine wahren
Konflikte spielten« 37 : Nämlich »in ihm selbst; […] zwischen Engagement und
Arrangement«. 38 Wolfgang Paulsen spricht Müller die behauptete Distanz sogar rundweg ab
und unterstellt ihm blinde Egozentrizität, welche die ›Erzählung‹ einer Aufzählung, einem
»Chaos von Fakten« 39 , opfere.
34
Martin Linzer: Die dünne Haut hinter dem Pokerface. In: Neue Deutsche Literatur 11/1993, 132–135
35
Elisabeth Grote: Muss Vaclav Havel wirklich an den Pranger ? In: Die Presse vom 22. 8. 1992
36
s. a. György Dalos: [Rezension]. In Wespennest 90 (1993), 129f.
37
ebd.
38
ebd.
39
Wolfgang Paulsen: [Rezension]. In: German Quarterly 1/1994, 125f., hier 125
9
Als »unbeteiligter Beobachter« 40 bleibe das personelle Ich vom eigentlichen
gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, mutmaßt Marieke Krajenbrink. Aus diesem
Umstand erfolge, so Hans-Edwin Friedrich, ein Mangel an persönlichem Engagement:
»Leben und Politik werden zum Material für Kunst.« 41 Müllers »spezifisches Desinteresse an
der eigenen Person« 42 sowie seine »kühle Distanz« 43 gegenüber einschneidenden Erlebnissen
beschreibt der »Spiegel«-Rezensent als »abwehrende Kälte, die ihn selbst wundert« 44 . Im
Gegenteil macht dieser von allem unberührte »Kern« (KOS 64) gerade die Causa Müllers
Kunst aus: Der (asoziale) Bereich des Schreibens als Reich der Freiheit. Hans Jansen vermag
in dieser Tatsache die poetische Funktionsweise von Müllers Text zu erkennen: »Der Künstler
absorbiert Vorgefundenes emotionslos und filtert es durch seine ästhetische Brille.« 45 Der
»Strukturalist« Müller, stellt Joachim Kaiser in der »SZ« fest, »scheint süchtig zu sein nach
Einblicken in Strukturzusammenhänge« 46 . Müllers Interesse an den Dingen sei jenseits von
Gut und Böse vor allem dramaturgischer Natur. »Rückhaltlose Künstlersätze über Material
und den Zwang des Werkes, jenseits von allem Moralischen oder Subjektiven oder gar
Politischen.« 47 Moralische Urteile scheinen ihm im Gegenteil »verdächtig […], weil sie die
Strukturen verschleiern« 48 . Beatrice von Matt hält die »selbstauferlegte Distanz« 49 gegenüber
dem »Rohstoff« 50 , den das eigene Leben darstellt, zutreffend für eine dem Material gegenüber
angemessene Schreibhaltung. »Er ist sich selbst sein Material. […] Müller hat die Welt […]
als einen Scherbenhaufen vor sich. Und da interessiert ihn nun jedes Trümmerteil, die Farbe,
die Form.« 51 Sie sieht in der »vielzitierte[n] Kälte Heiner Müllers […] eine Art
Imprägnierung gegen die Willkür der Macht zum Zweck der Rettung seines
Schreibvermögens« 52 . Hielt sich Müller Zeit seines Lebens in einem Material auf, das er
schreibend für uns bewahrte, sei er, befindet Frank Schirrmacher in der »FAZ« zynisch, samt
seiner (auch autobiografischen) Schriften nunmehr selbst zu einem Material geworden. »Aus
diesem Material kann man Dramen schreiben. Die Rollen der Helden, Opfer und Täter sind
noch nicht besetzt.« 53
Keiner der Rezensenten hinterfragt ernsthaft die Problematik der in einen poetisch dichten
Text eingestellten Behauptung, das Interesse an seiner Person reiche zum Schreiben einer
Autobiografie nicht aus (s. a. KOS 366). Diese Behauptung ist eher struktureller Natur, denn
inwiefern das ›Interesse an seiner eigenen Person‹ zum gelingen einer Autobiografie beiträgt
sei dahingestellt. Immerhin führt Fritz J. Raddatz »Müllers unentwegte Betonung ›Es geht
mich alles nichts an‹« 54 auf eine (bewusste) Fehlübersetzung Rimbauds zurück. Denn Müller
selbst bezeichnet das Einverständnis mit dem Gegenstand der Beschreibung als notwendige
40
Marieke Krajenbrink: [Rezension]. In: Deutsche Bücher 1/1993, 62–65, hier 63
41
Hans-Edwin Friedrich: [Rezension]. In: Arbitrium 1/1994, 123–125, hier 124
42
ebd.
43
ebd.
44
Anonym: Der Katastrophenliebhaber. In: Der Spiegel vom 25/1992, 127–132, hier 130
45
Hans Jansen: Unter zwei Diktaturen. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 9. 7. 1992
46
Joachim Kaiser: Grandiose Trümmer eines rachsüchtigen Ichs. In: Süddeutsche Zeitung vom 20./21. 6. 1992
47
ebd.
48
Klaus Kreimeier: Die Fahne an die Wolken nageln. In: Frankfurter Rundschau vom 11. 7. 1992
49
Beatrice von Matt: Rohstoff. In: Neue Zürcher Zeitung vom 18. 9. 1992
50
ebd.
51
ebd.
52
ebd.
53
Frank Schirrmacher: Kommunismus als Rollenspiel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 7. 1992
54
Fritz J. Raddatz: Ich ist ein anderer. In: Die Zeit vom 3. 7. 1992
10
Voraussetzung für seine Arbeit (s. a. KOS 289f.). So hält Raddatz gerade die Passagen aus
KRIEG OHNE SCHLACHT für gelungen, in denen Müller scheinbar unverstellt hinter
seinem »Rauchvorhang« 55 hervortritt und zeigt, dass er zu einer Regung wie Mitleid durchaus
fähig ist, ja, dass das Mit-Leiden eine existenzielle Bedingung seiner Dramatik ausmacht.
Müller strafe hier die »Mär vom großen Unberührbaren Lügen« 56 . Dies geschehe etwa im
Zusammenhang mit der Beschreibung der Verbotsaffäre um DIE UMSIEDLERIN – eine
Episode, die beinahe alle Rezensenten aufgreifen – oder auf den letzten fünfundzwanzig
Seiten des Buches, auf denen Müller seinen »Abschied von der DDR« (KOS 351) ›in Szene‹
setzt. Es sei kein Zufall, so Raddatz »dass Müller da meist szenisch arbeitet« 57 , schließlich ist
Müllers Interviewkunst – Müller selbst nennt seine Interviews Performances (s. a. GI 1 155) –
dem Theater näher als der Literatur. Die Stücke seien ohnehin »das genauere Erzähl-
Gedächtnis des Autors« 58 . Heinz Klunker schlägt sinnvoller Weise vor, Müllers Texte
»parallel zu dieser Autobiografie zu lesen« 59 .
»Wenn es eine Verschleierung der Motive durch Offenlegung, eine Verschattung des
Charakters durch Überbeleuchtung gibt – diese autobiografischen Erinnerungen gäben ein
Beispiel dafür.« 60 Die Anmerkung Sigrid Löfflers sei der gesamten Rezensenten-Zunft ins
Stammbuch geschrieben, die in Müllers listenreiches autobiografisches Spiel hineinstolpert
wie in einen Irrgarten und das Labyrinth der Hecken für endlosen Wald hält. Insbesondere die
Aussagen zur Form von KRIEG OHNE SCHLACHT zeigen, wie oberflächlich die
Auseinandersetzung mit dem Text insgesamt ausfällt. Ausschließlich alle Rezensenten
verweisen auf die Besonderheit der Kommunikationsform, nämlich die Entstehung des
Buches aus dem Gespräch. Dabei reflektieren die wenigsten von ihnen, dass das
autobiografische Interview nur einen Teil des Materials – wenngleich zweifellos das
umfangreichste – für die Entstehung des Textes darstellt. So bezeichnet Raddatz, der Müller
beim Redigieren des Manuskriptes jegliches Gespür für Dramaturgie abspricht, KRIEG
OHNE SCHLACHT als »eine zu weiten Teilen unerträgliche Geschwätzigkeitssammlung« 61 ,
die stilistisch nichts zu tun hat »mit der metallfedernden dialektischen Sprache des
Schriftstellers Heiner Müller« 62 . Stattdessen werde »der Leser konfrontiert mit einem
retardierenden Interviewdeutsch« 63 . Frank Schirrmacher spricht in diesem Zusammenhang
ebenfalls von einem »stellenweise unerträglich geschwätzige[n] Interview« 64 , hält Müllers
›Erinnerungen‹ jedoch »bei aller Geschwätzigkeit und allem Ungenügen [für ein]
unentbehrliches Material für die intellektuelle Geschichte der zweiten Jahrhunderthälfte« 65 .
Neben der Motivationslosigkeit der müllerschen Erzählung beklagt Martin Linzer vor allen
Dingen die »editorische Schlamperei« 66 , die sachliche Fehler, ungesicherte Daten und
55
ebd.
56
ebd.
57
ebd.
58
Klaus Völker: Der Thesenritter. Heiner Müllers Memoiren. In: Theater heute 8/1992, 53f., hier 54
59
Heinz Klunker: Heiner Müller, groß … und einsam … auf deutscher Flur … In: Die deutsche Bühne
8/1992, 11
60
Sigrid Löffler: Feind im Spiegel … a. a. O.
61
Fritz J. Raddatz: Ich ist ein anderer … a. a. O.
62
ebd.
63
ebd.
64
Frank Schirrmacher: Kommunismus als Rollenspiel … a. a. O.
65
ebd.
66
Martin Linzer: Die dünne Haut hinter dem Pokerface … a. a. O. 133
11
Falschschreibung nicht beseitigt habe, weil das Buch aus ökonomischem Kalkül
schnellstmöglich auf den Markt geworfen worden sei. Als eine »Art Autobiografie« 67
beschreibt ein »Spiegel«-Rezensent, der es bevorzugt anonym zu bleiben, das Buch des
»DDR-Dramatikers« 68 : »Es ist kein literarisches Werk und will es nicht sein.« 69 Auch Klaus
Völker sieht in der ›abgefragten Autobiografie‹ das »oft nur zu glatt gebügelte und gestutzte
Konzentrat allzu weitläufiger Interview-Monologe« 70 . Dabei belegen seiner Ansicht nach die
Fragen der Interviewer, »dass sie nur Zuhörer waren, […] aber nie wirklich nachfragten« 71 ,
weshalb man sie im Buch getrost hätte »streichen können« 72 . Joachim Kaiser ist der Ansicht,
dass dem Interview keine ›Kunstprosa‹ – ein Begriff vor dem sich Müller sicherlich verwahrt
hätte – entspringen könne, »denn aufmunternde Fragen stören die Eigenbewegung der
Sprache« 73 . Auch er geht dem Dichter auf den Leim, wenn er die Gesprächsform für das
Scheitern ›ästhetischen Gelingens‹ 74 verantwortlich macht, denn das literarische
Konstruktionsprinzip des Textes besteht gerade in der fragmentarischen Offenheit des Textes,
im demonstrierten Scheitern der geschlossenen Form. Beinahe Weise erscheint in diesem
Zusammenhang die Einschätzung Hans-Edwin Friedrichs, KRIEG OHNE SCHLACHT sei
zwar »ein autobiografischer Text, aber keine Autobiografie.« 75 Auch Frank Schirrmacher
nennt den Text eine »Pseudo-Autobiografie« 76 und kommt damit der Intention Heiner
Müllers sehr nahe, den ästhetische Formen bevorzugt in ihrer Auflösung interessierten, weil
sie an den Bruchstellen durchlässig werden für Realität. »Diese Form der Formlosigkeit trägt
der Faszination Heiner Müllers vor dem ›Material‹ Rechnung.« 77 Dass die zynische Anekdote
die historische Klarheit verdrängt, wie György Dalos bedauert, ist dabei durchaus als Qualität
des müllerschen Textes zu verstehen. Der »Zynismus als stilistisches Mittel« 78 verhält sich
dabei zur »historischen Wahrheit« wie die Komödie zur empirischen Realität. Sie hebt sie in
der Zuspitzung auf. In den Augen Elisabeth Grotes spiegelt dieser Zynismus irrtümlicher
Weise »doch bloß die düstere Essenz einer zwanghaften Übereinstimmung mit einem System
wider, dem das Individuum als Schmeißfliege erscheinen musste.« 79 Treffender ist Sigrid
Löfflers Wort vom »zynische[n] Abgesang auf die DDR« 80 in Form eines
›Beziehungsdramas‹.
Neben dem Gros der Rezensenten, welche in der Form Müllers Autobiografie im günstigsten
Fall den verunglückten Versuch kommunikativer Lässigkeit sehen, melden sich auch jene
Stimmen zu Wort, die in Müller den »Meister der Interviewkunst« 81 wiederzuerkennen
67
Anonym: Der Katastrophenliebhaber … a. a. O. 127
68
ebd.
69
ebd.
70
Klaus Völker: Der Thesenritter … a. a. O. 53
71
Klaus Völker: Der Thesenritter … a. a. O. 54. Müller hatte sich im Vorfeld der Gespräche solche
Nachfragen grundsätzlich verbeten. Er verweigerte sich verständlicherweise einer Form der
Geständnisliteratur, die dem Sensationshunger der Öffentlichkeit geschuldet sein sollte.
72
ebd.
73
Joachim Kaiser: Grandiose Trümmer eines rachsüchtigen Ichs … a. a. O.
74
ebd.
75
Hans-Edwin Friedrich: [Rezension] … a. a. O. 124
76
Frank Schirrmacher: Kommunismus als Rollenspiel … a. a. O.
77
Beatrice von Matt: Rohstoff … a. a. O.
78
György Dalos: [Rezension] … a. a. O. 129
79
Elisabeth Grote: Muss Vaclav Havel wirklich an den Pranger? A. a. O.
80
Sigrid Löffler: Feind im Spiegel … a. a. O.
81
Thorsten Becker: Je weniger Staat, desto mehr Komödie. In: Die Weltwoche vom 18. 6. 1992
12
glauben, der hier einmal mehr auch ein Meister des Disparaten sei: »… nicht zuletzt deshalb,
weil der Autor seinen Versuch einer Autobiografie nicht literarisch geglättet hat, ist dieser
Band geglückt.« 82 Müllers Erzählduktus habe »das Narrative, Unmittelbare, auch
Ungeschützte der spontanen verbalen Äußerung beibehalten« 83 . »Erinnerung ist lückenhaft,
diskontinuierlich; Lücken werden als solche gekennzeichnet.« 84 Doch allein Klaus Kreimeier
vermag in der hybriden Form des Textes ein Gestaltungsprinzip auszumachen: »Der
Absurdität ins Auge blicken und auf die Unerträglichkeit des Seins eine Antwort suchen: das
teilt sich der Sprache, auch dem Sprechen mit. Es versagt sich die Schnörkel des Narrativen,
verachtet die Metapher, bevorzugt den chirurgischen Schnitt und die harte Montage. Und
doch erhalten in dieser Ökonomie der Aussparung auch die Ambivalenzen, die Aporien, die
Dunkelheiten ihren Raum, der bei Heiner Müller immer ein Spielraum ist: das Denken geht
bei ihm nicht zu Ende, es soll sich entfalten. […] Dieses Denken ist nicht ›sprunghaft‹– es
kontrahiert das Material zu explosiver Dichte: noch das Disparate ist Sprengkörper, noch die
Dunkelheiten sind funkelndes Gestein. Sicher – hier findet sich auch Autobiografisches …« 85
Der Spielraum von Müllers Selbstdarstellung ist nicht das psychische Innenleben des Autors,
sondern die Inszenierung seiner Rolle als Dichter. »Der Titel verweist darauf, dass der
Exorbitanzzustand des Krieges die Normalität des müllerschen Lebens war. Der Autor ist ein
›Krieger‹, der daraus seine poetische Autorität ableitet.« 86
Als großes Lebensthema Heiner Müllers macht die Kritik die Dichotomie von Dichter und
Staat aus. Auch darin folgt sie Müllers eigener Vorgabe vom LEBEN IN ZWEI
DIKTATUREN, wie es im Buchtitel heißt. Die meisten Rezensenten richten ihr Augenmerk
dabei jedoch lediglich auf Müllers Kalamitäten mit der Kulturpolitik der DDR. Diesen Status
verdanke das Buch wohl in erster Linie seinem ȟberaus informativen Dokumentenanhang,
der die Brechungen des Autors mit der Staatsmacht kenntlich macht« 87 . Der Kritik entgeht,
dass die zweite Diktatur eine bewusste, obschon künstliche Setzung gegen die erste darstellt,
eine Qualität, die Müller dem Westen generell abspricht. Die Polemik des westdeutschen
Feuilletons, das offenbar der Ansicht ist, das Bekenntnis zur DDR bedürfe einer besonderen
Rechtfertigung, wurzelt in der Rhetorik des Kalten Krieges. Warum der »DDR-Dramatiker«
Müller, »ewig geprügelt, an einem Land festhielt, mit aller Verbissenheit, mit einer Art
Nibelungentreue bis zum Untergang« 88 , fragt der »Spiegel«. In seiner Antwort folgt er, wie
die meisten Besprechungen, Heiner Müllers eigenem Statement vom für den Dramatiker
notwendigen »Aufenthalt im Material« (KOS 113) und dem »Erfahrungsdruck« (ebd.) der
Diktatur: »Er brauchte die Konfrontation, er wollte ein Stachel im Fleisch dieses Staates sein.
[…] Er brauchte den SED-Staat, weil er Reibung und Risiko wollte, die Präsenz der Macht,
den ›Erfahrungsdruck‹. Der Abschied von der DDR ist ihm schwergefallen, er hat mit ihr
einen Lebensgrund verloren. […] Ein Leben als ›Krieg ohne Schlacht‹ war ihm gemäß, weil
er ohnehin nicht an Frieden glaubte und sich dafür nicht interessierte.« 89 Beatrice von Matt
scheut nicht einmal davor zurück, Zensurmaßnahmen und Verbote der DDR-Behörden als
82
Elisabeth Grote: Muss Vaclav Havel wirklich an den Pranger ? A. a. O.
83
Sigrid Löffler: Feind im Spiegel … a. a. O.
84
Hans-Edwin Friedrich: [Rezension] … a. a. O. 124
85
Klaus Kreimeier: Die Fahne an die Wolken nageln … a. a. O. (Hervorhebungen LDR)
86
Hans-Edwin Friedrich: [Rezension] … a. a. O. 124
87
Wolf Scheller: Von Ideologie und Politik ›unberührt‹. In: Handelsblatt vom 10./11. 7. 1992
88
Anonym: Der Katastrophenliebhaber … a. a. O. 127
89
Anonym: Der Katastrophenliebhaber … a. a. O. 127 u. 132
13
primäre Schreibimpulse Müllers zu bezeichnen. »So habe er ein Drama ums andere schreiben
können, weil das Verbot des einen die Kraft fürs nächste freigesetzt habe.« 90 Eine breit
ausgesponnene »Abrechnung mit den DDR-Bonzen und Müllers dogmatisch festgelegten
Kollegen, in deren Augen er ein ›Verräter‹ ist und die alles daran gesetzt haben, die
Aufführungen seiner Stücke zu boykottieren« unterstellt Wolfgang Paulsen dem Autor von
KRIEG OHNE SCHLACHT.
Jenseits von Ideologie sind andere Lesarten möglich. Wer genauer hinschaut, stellt einen Ton
von enttäuschter Bitterkeit und persönlicher Betroffenheit fest. »Mit dem Ende der DDR ist
das ›Leben in zwei Diktaturen‹ zu Ende. Dieses Leben war der Nerv von Heiner Müllers
Werk. Die Kriege mit und ohne Schlacht finden fortan anders und auch anderswo statt« 91 ,
stellt Karl-Heinz Götze im »Freitag« fest, und folgert aus diesem Tatbestand, Müllers
Autobiografie gehe gut aus: »Ihr Protagonist hat schließlich zwei Diktaturen überlebt, die
mehrere tausend Jahre Geschichte vorhatten.« 92 Der »Dinosaurier, nicht von Spielberg« (W 1
292) ist bis auf weiteres heimatlos. Dass Müllers Erinnerung an einen verschwundenen Staat
in seiner Autobiografie emotional aufgeladen ist, stellt auch Fritz J. Raddatz fest. Sie strafe
die »Mär vom großen Unberührbaren Lügen« 93 , mit der Müller persönliche Erfahrungen als
ästhetisches Material abzutun versuchte. »Man lese die letzten 25 Seiten dieses Buches, und
man wird ein großes Hadern und eine große Trauer erkennen: Eines, der Teil von etwas war,
was er keineswegs kühl, unbeteiligt und lediglich ein Material überprüfend untergehen sah.« 94
Die Enttäuschung, die Raddatz aus den letzten Buchseiten herausliest, ist jedoch bereits
reflektierte Ent-Täuschung, wie Heinz Klunker durchaus richtig feststellt. »Müller scheut kein
Risiko und passt nicht in die Landschaft postsozialistischer Opportunisten und
westfeuilletonistischer Flüchter von jedweder Fahne. Er unterwirft nicht nur seine Stücke den
Säuretests seines Theaterlaboratoriums, er setzt sich auch selbst den Zumutungen der
Zusammenbrüche aus, in denen er Dialektik am Werke sieht. Im Steinbruch leistet Müller
Arbeit an der Enttäuschung, weder ein Jammerlappen realsozialistischer Nostalgie noch ein
Profiteur realkapitalistischer Marktstrategien, während andere, die lieber schwiegen, lauthals
das Maul aufreißen.« 95 Als »persona publica« 96 lieferte sich Heiner Müller der Öffentlichkeit
zunehmend vorbehaltlos aus, ohne seine Persönlichkeit preiszugeben. Als Dichter legte er
sein Leben in seinen Texten nieder. Die ›Person Heiner Müller‹ ist dabei von
untergeordnetem Interesse.
90
Beatrice von Matt: Rohstoff … a. a. O.
91
Karl-Heinz Götze: Endzeit und Karneval. Heiner Müller diktierte seine Biografie. In: Freitag vom 26. 6.
1992
92
ebd.
93
Fritz J.Raddatz: Ich ist ein anderer … a. a. O.
94
ebd.
95
Heinz Klunker: Heiner Müller, groß … und einsam … auf deutscher Flur … A. a. O. 11 (Hervorhebung
LDR)
96
Hans-Edwin Friedrich: [Rezension] … a. a. O. 124
14
1.3. Biografische Darstellungen
97
Bereits ein Jahr vor der großen Biografie erschien Hauschilds Monografie HEINER MÜLLER bei Rowohlt,
Reinbek bei Hamburg 2000
98
Frauke Meyer-Gosau: Da musste wohl ein Westler ran. In: Theater heute 06/2001, 24–29, hier 26
99
Frauke Meyer-Gosau: Da musste wohl ein Westler ran … a. a. O. 27. In einem Interview mit André Müller
für Die Zeit bezeichnet sich Müller als »beste[n] lebende[n] Dramatiker« (Heiner Müller: Dichter müssen
dumm sein. In: Die Zeit vom 14. 8. 1987).
100
Frauke Meyer-Gosau: Da musste wohl ein Westler ran … a. a. O. 26
15
ersten Tochter Regine ein Vater zu sein, stellt Hauschild den liebevollen Papa seiner späteren
Tochter Anna gegenüber, die er in den Probenpausen zu TRISTAN UND ISOLDE im
Kinderwagen durch Bayreuth kutschierte. Dem Ausschluss aus dem DSV im Jahr des
Mauerbaus 1961 folgte 1990 die Präsidentschaft der Akademie der Künste Berlin. Müllers
gescheiterte Bemühungen, Anfang der fünfziger Jahre einen Fuß in die Tür zu Brechts
Berliner Ensemble zu bekommen, hätten 1992 mit Müller als Direktoriumsmitglied am
Brechttheater 101 geendet. Leicht ließe sich diese Liste um weitere Beispiele erweitern.
Hauschilds Lebensroman ist eine Erfolgsstory – wie KRIEG OHNE SCHLACHT mit
Abstand Müllers meistverkauftes Buch ist. Die biografische Literatur trotzt dem kränkelnden
Buchmarkt. Die Krise spiegelt den Zustand der Gesellschaft: Das voyeuristische Interesse fürs
Private nach dem Ende der Utopien.
Dass andere Sichtweisen auf Müllers Biografie möglich sind, zeigen die drei knappen
biografischen Abrisse im einleitenden Teil des 2003 von Lehmann/Primavesi
herausgegebenen HEINER MÜLLER HANDBUCHS. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Müllers
Arbeit in der Geschichte verorten. Der Boden, den der Dichter beackert, ist kontaminiert. Als
Minenräumkommando sprengt Heiner Müller noch fünfzig Jahre nach der letzten großen
Katastrophe die Blindgänger in die Luft 102 . Und, siehe da, die eine oder andere Mine
explodiert – etwa auf dem Balkan – im realen politischen Raum. Im ersten Versuch widmet
sich Norbert Otto Eke Müllers »frühen biografischen Prägungen«. Seine Ausführungen
weichen dabei nur unwesentlich von dem biografischen Abriss ab, den er seiner sich
vornehmlich mit Müllers dramatischen Arbeiten auseinandersetzenden Publikation »Heiner
Müller« 103 voranstellt. Der erste Teil stimmt streckenweise bis in die Formulierungen hinein
überein. Als konstitutive Dispositionen späteren dramatischen Schaffens macht Eke neben
materieller Not und sozialer Ausgrenzung den »Widerspruch zwischen ›privatem‹ und
›öffentlichem‹ Gespräch, das Verbergen politischer Ansichten und das Tragen von Masken im
Alltag« (S. 2) aus; letzteres Erfahrungen, die sich noch nach dem Verschwinden seiner
›Heimat‹ im Jahr 1989 wiederholten, als er prominentes Opfer von – sich als haltlos
erweisenden – Stasi-Verwicklungen wurde. Müllers »kritisch-distanzierter Blick auf die
Verwerfungen der Geschichte« (ebd.) liege in diesen frühen Prägungen begründet. Aus
diesem grundlegenden ›Widerspruch‹ habe Müllers Bekenntnis zur DDR ebenso resultiert wie
zur Berliner Mauer als Bühnenbegrenzung für seinen ästhetischen Lebensraum. Er habe den
»Erfahrungsdruck« (KOS 113) benötigt, wie der Fisch das Wasser. In der Realität habe sich
der zunehmende »Erfahrungsdruck« auf die schriftstellerische Arbeit des jungen Müller
jedoch als ›Überdruck‹ vorerst hemmend ausgewirkt, wie am »bald wieder gestoppte[n]
Durchbruch« (S. 5) als Theaterautor (DER LOHNDRÜCKER und DIE KORREKTUR
werden 1958 erstmals aufgeführt) zu erkennen ist. Infolge des Streits um DIE
UMSIEDLERIN sei Müller »für zwei Jahre aus dem kulturellen Leben der DDR verbannt«
(S. 6) worden. Nach dem zweijährigen »Berufsverbot« durch ideologisch unauffällige
101
Müllers letzte und bei weitem erfolgreichste Inszenierung ist ausgerechnet ein in Müllers Augen nur
mittelmäßiger Brechttext (s. a. KOS 227): Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui wurde bis
Redaktionsschluss der vorliegenden Arbeit etwa fünfhundert Mal aufgeführt.
102
Bis zu seinem Tod im Dezember 1995 arbeitet Müller an der Produktion seines letzten Stückes
GERMANIA 3 GESPENSTER AM TOTEN MANN.
103
Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart 1999. Bereits in seiner zehn Jahre zuvor erschienen Dissertation
Heiner Müller. Apokalypse und Utopie (Paderborn 1989) hatte Eke dafür plädiert, die Prämissen
müllerschen Schreibens in seinem Umgang mit Geschichte zu suchen.
16
Arbeiten notdürftig rehabilitiert, wurde Müller 1964 mit dem Auftragswerk DER BAU erneut
»zum Gegenstand der parteioffiziellen Kritik« (S. 7) Doch obgleich das Stück für die Bühne
bis 1980 gesperrt blieb, »konnte Müller weiter für das Theater arbeiten« (S. 8). Zunächst mit
Übersetzungen und Adaptionen mythologischer Stoffe (einer in der DDR durchaus gängigen
Variante kritischer Zeitdiagnostik unter nicht immer glückender Umgehung staatlicher
Zensur), dann – über den Umweg westdeutscher Bühnen – sei die gradweise Rehabilitierung,
Anerkennung und schließlich Ehrung des ebenso schwierigen wie unverdaulichen Kindes
einer Revolution erfolgt. In seiner Überblicksdarstellung von 1999 diagnostizierte Eke nach
dem Fall der Mauer bei Müller aufgrund des fehlenden ›Erfahrungsdruckes‹ nunmehr
dramatischen ›Unterdruck‹. »Als Dramatiker ist Müller, der die Situation im
wiedervereinigten Deutschland […] als neue Kesselsituation empfunden hat, nach dem Fall
der Mauer weitgehend verstummt. […] Es war, als habe sich mit dem Gegensatz der Systeme,
aus dem seine Theaterarbeit lebte, für Müller auch ein wichtiger Bezugspunkt seines
Schreibens verflüchtigt. […] Was Müller nach 1989 veröffentlicht, sind (lyrische)
Rückblicke, Abrechnungen und Totengespräche als Signaturen des Bruchs, den das Scheitern
des Sozialismus innerhalb seiner Biografie markiert.« 104
Im zweiten Abschnitt nähern sich Alexander Karschnia und Hans-Thies Lehmann Müllers
Wanderschaft »zwischen den Welten«. »Müllers Ort als Autor scheint die Grenze gewesen zu
sein, die nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt für die Zeit von einer Generation in
zwei Lager gespalten hatte.« (S. 10) Sie halten Müllers nomadische Lebensweise zwischen
den (ideologischen) Blöcken für Werkkonstitutiv und spüren dessen Produktivität in den
Dichotomien des Jahrhunderts auf. Reduzieren Lehmann/Primavesi den »›Ost‹-Autor« auf
den Impetus »marxistisch inspirierten politischen Denkens« (ebd.), schlagen sie den Verfasser
der HAMLETMASCHINE im Westen – freilich missverständlich, denn sein Schreiben blieb
einem geschichts- und gesellschaftskritischen Projekt immer treu – der Postmoderne zu. Die
geistige Unabhängigkeit des »Brückenbauers« und »Mauerspringers« (ebd.), der seit Mitte
der siebziger Jahre auch zum Pendler zwischen Alter und Neuer Welt avancierte, rief denn
auch nicht nur die DDR-Staatsicherheit auf den Plan, sondern ebenso jene »westliche[n]
Ideologiepolizisten« (S. 11), die Müllers provokanten Äußerungen »umstandslos als
politische Aussagen« (S. 12) nahmen und ihn demzufolge mal als rechten, mal als linken
Fanatiker geißelten. »Der Widerstand durch den Staat« (S. 15), den Müller laut eigener
Aussage zum Schreiben brauche, habe schon 1984 begonnen wegzubröckeln, als er in die
Akademie aufgenommen wurde, deren Vorsitz er 1990 übernehmen sollte. Der Büchner-Preis
sowie der Nationalpreis Erster Klasse der DDR im Jahr darauf zeigten an, dass der Nomade
Müller in der (»das nächste halbe Jahrhundert« 105 andauernden) Wirkungslosigkeit
angekommen war, was für seine Person fatale Folgen zeitigen sollte. »In den neunziger Jahren
schien Heiner Müller zwischen den Welten zerrissen zu werden.« (S. 15) Zerrissen hatte er
sich bereits als Autor der HAMLETMASCHINE und schrieb sich somit als Material in einen
Diskurs wieder ein, der zunehmend zum Selbstläufer wurde. In diesem Sinne stelle er
schließlich auch sein schleichendes Sterben – insbesondere in einer Serie von Gesprächen mit
Alexander Kluge – öffentlich aus, »entsprechend einem Leitmotiv seiner Arbeit: ›Was zählt
ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts‹ (MAUSER)« (S. 15).
104
Eke 1999, 31f.
105
Bonnie Marranca: Despoiled Shores. Heiner Müller’s Natural History Lessons. In: Performing Arts Journal
13 (1988), 17–24, hier 22
17
Joachim Fiebachs Beitrag ist der »Versuch, einige Aspekte von Müllers Haltung zum Ansatz
einer sozialistischen Transformation von Geschichte nach deren kläglichem Scheitern zu
reflektieren« (S. 16) Auch Fiebach beruft sich auf Müllers zugleich distanziertes und
affirmatives Verhältnis zur DDR, das ihn dazu bewogen habe, in diesem undankbaren
›Material‹ auszuharren, »zwischen geschichtlichem Entwurf und repressiver Praxis, zwischen
verkrusteten Realitäten und der Hoffnung auf Entfaltung sozialistischer Konturen« (ebd.).
Doch statt die ›Wende‹ von 1989 als Aufbruch zu neuen Ufern zu begreifen, sei Müller, der
die Zukunftsstruktur des Westens realistischer einzuschätzen vermochte als mancher
›Westelbler‹, angesichts des postsozialistischen Szenarios skeptisch geblieben. Sein Blick
wendete sich zurück auf den »Zweite[n] Weltkrieg und die Folgen« (GI 3, 87). Eine Folge sei
die aktuelle historische Situation gewesen. Die Arbeit als Präsident der bedrohten Akademie
der Künste stellte Müllers letzten Treueakt gegenüber dem selbst gewählten Gegner dar.
Fiebach beschreibt Müllers Motivation »als zähe Verteidigung einer [der] wichtigen
kulturellen Bestandteile [der DDR] gegen die […] umfassende politisch-ideologisch
motivierte Liquidierung (›Abwicklung‹) und die bereits völlig von Westdeutschland
dominierte Umstrukturierung anderer kultureller Institutionen der damaligen DDR.« (S. 18)
Ähnliche Gründe mögen Müller dazu bewogen haben die Leitung des Berliner Ensembles zu
übernehmen und mit umfangreichen Regiearbeiten »erstmals systematisch und
kontinuierlich« (S. 17) das Potenzial seiner Theaterästhetik zu erproben. Der Text, mit dem
sich Müller am Eindrucksvollsten gegen den Ausverkauf der (sozialistischen) Utopie zur
Wehr gesetzt habe, sei MOMMSENS BLOCK. Das dramatische Gedicht spreche »bitter,
verzweifelt über die kreative Lähmung in der wiederhergestellten (fast) monolithischen
Dominierung der Welt durch den Kapitalismus, in der triumphierenden Restauration seiner
absoluten Weltgeltung vor 1917/18, in der [Müller] jetzt leben und arbeiten musste« (S. 19).
MOMMSENS BLOCK ist Müllers Reaktion auf die von ihm empfundene Geschichtslosigkeit
des blinden Vereinigungstaumels. Das Gedicht kämpfe »gegen die totale Verdrängung der
einen zugunsten der anderen Welt« (S. 15). Müller habe sich geweigert, der
Geschichtsschreiber dieser als leer empfundenen »bekanntlich glücklichen« (W 1, 263) Zeit
zu sein und sei es wider besseres Wissen doch geworden, indem er in GERMANIA 3
GESPENSTER AM TOTEN MANN Europas Gegenwart in der Rückschau schreibend
einholte. Die zitierte »Dunkelheit«, nach Müllers letztem Vorhang 106 inszeniert die
Abdankung eines Propheten, der die an ihn gestellten Erwartungen an sein Publikum
zurückgibt, damit sie erhalten bleiben: »BLEIB WEG VON MIR, DER DIR NICHT
HELFEN KANN« (W 1 145). ›Wendet euren Blick ab!‹, hallt sein stummer Schrei. ›Die
Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts sind mit mir begraben worden. Die Zukunft sucht
woanders.‹
106
Müllers letztes publiziertes Stück, das einer ganz anderen als staatlichen Zensur zum Opfer fallen sollte –
nämlich der der Brechterben – endet mit dem Gagarin-Zitat »[DUNKEL GENOSSEN IST DER
WELTRAUM SEHR DUNKEL]« (W 5 296)
18
1.4. Einzeluntersuchungen zu biografischen und autobiografischen Aspekten
Bereits 1984 hatte Georg Wieghaus 107 versucht, Müllers Schreibimpuls an zwei
Grunderfahrungen festzumachen: »Das Erlebnis der Barbarei [im Faschismus] und das
Versprechen auf […] die humane gesellschaftliche Ordnung« (S. 26) im sozialistischen Teil
Deutschlands. Wieghaus erkennt in Müllers Texten einen »persönliche[n], aus subjektivem
Erleben« (ebd.) geronnenen Kern, dessen jeweils spezifischer, individueller Anlass in der
literarischen Verarbeitung zugunsten eines Anspruchs »geschichtlicher und gesellschaftlicher
Relevanz« (ebd.) aufgehoben sei. Müllers Reserviertheit gegenüber Fragen nach der eigenen
Person führt Wieghaus auf das Spannungsverhältnis zurück, »das Ausdruck der
widersprüchlichen und komplizierten Haltung ist zu seiner eigenen Subjektivität und deren
Vermittlung mit den Ansprüchen einer gesellschaftlich wirksamen Literatur« (ebd.). In den
autobiografisch eingefärbten Prosatexten BERICHT VOM GROßVATER, DER VATER und
TODESANZEIGE erkennt Wieghaus den familiären Hintergrund Müllers »radikalen und
dichotomen philosophischen Weltbildes« (ebd.). Die traumatischen »Grundschocks«, die aus
der frühen Konfrontation mit der (faschistischen) Gewalt resultieren, die Erfahrungen des
Ausgeliefertseins an eine fremde und brutale Macht, münden in dem »Wunsch nach einer
neuen Identität« (S. 27). Müller sei in der Lage, sich diese Identität schreibend zu schaffen,
ohne die ihr zugrundeliegenden Katastrophen und Traumata vergessen zu machen. Trotz, oder
gerade wegen der (auto)biografischen Umschriften, werde Müllers Literatur somit zum
»Medium der Erinnerung« (S. 28).
107
Georg Wieghaus: Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers. Bern/Ffm. 1984
19
als ›erste Szene seines Theaters‹ (s. a. GI 1 90) bezeichnet, ist damit im Grunde weniger über
Traumata seiner Biografie ausgesagt, als vielmehr über die Prinzipien seiner ästhetischen
Produktion. Denn erst a posteriori wird diese angebliche Urszene inszeniert und lediglich in
die Vergangenheit zurückprojiziert. Müllers auf ›subjektiven Traumata‹ bestehenden Texte,
sind in diesem Sinne vielmehr Umschreibungen einer Urszene, die an sich nicht existiert 108 ,
wie die unterschiedliche künstlerische Verarbeitung autobiografischer Motive im Werk
Müllers anzeigt. Man schaue sich nur die unterschiedliche Bewertung des Vaters in frühen
und späteren Texten Heiner Müllers an. 109 Warum Raddatz’ Untersuchung trotz dieser
methodischen Fehlannahme funktioniert und mit Erkenntnisgewinn zu lesen ist, liegt daran,
dass es Raddatz letztendlich selbst nicht um »die Reflexion der Stellung des subjektiven
Materials zur objektiven Intention der Artefakte« (S. 5) geht. Das nämlich würde
voraussetzen, dass Müllers ›autobiografischen‹ Erfahrungen empirisch nachprüfbar so
stattgefunden hätten, wie Müller sie beschreibt. Es geht Raddatz vielmehr darum, sie in ihrer
Beschreibung – und das heißt Verarbeitung – als künstlerische Grundmuster zu behandeln, als
Motive und Motivketten, die in Müllers Werkpartitur in allen möglichen Variationen wieder
auftauchen und eben von der Unmöglichkeit handeln, Realität schreibend einzuholen. Denn
die beschriebene ›Realität‹ selbst ist immer schon Literatur. Stattdessen fasst Raddatz die
Dialektik von Subjektivität und Geschichte ins Auge, die Transformation von im Kunstwerk
objektivierter subjektiver Erfahrung in politisch emanzipatorisches Material durch die
»gesellschaftliche Entfaltung autobiografischer Momente« (S. 8). Das Verhältnis von
Geschichte und Subjektivität stifte Heiner Müllers Literaturkonzept der »Obsession«, das, wie
Raddatz richtig feststellt, starke Bezüge zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins
aufweist. »Im Trauma schlägt Geschichte in Subjektivität um und konstituiert sie zugleich.«
(S. 37) Die Konstitution von Subjektivität vollzieht sich für Raddatz als genuin politischer
Prozess, der die Subjektstruktur letztendlich gänzlich in Frage stellt, weil er Konstitution und
Explosion gleichsetzt. »… die Individuen selbst sind Schauplatz der historischen Konflikte, in
ihnen kollidieren die Epochen« (S. 34).
Raddatz legt seiner Analyse der Stücktexte der siebziger Jahre drei ›autobiografische
Momente‹ zu Grunde, die er den Prosatexten DER VATER und TODESANZEIGE entnimmt.
Zum einen sei das die Erfahrung von Schwäche und Gewalt, von Müller festgehalten im Bild
des sich schlafend stellenden Sohnes im Moment der Verhaftung des Vaters durch SA-
Schergen. Als zweites identitätsstiftendes Moment erkennt Raddatz den Verrat des Vaters, als
er seinem Sohn eine Ergebenheitsadresse an den ›Führer‹ in den Schulaufsatz diktiert: das
Bollwerk Familie – »draußen ist der Feind« (KOS 24) – erweist sich als opportunistisches
Kleinbürgerheim. Das dritte Trauma schließlich löse der Suizid Müllers Frau, der Dichterin
Inge Müller aus, den Müller als Streifzug durch die WÜSTEN DER LIEBE – wie der Titel
einer früheren Textfassung im Rekurs auf Rimbaud heißt – in seiner TODESANZEIGE
poetisch verarbeitet. Raddatz sieht in den drei hier genannten, von Müller selbst als
schockhaft bezeichneten Grunderfahrungen die ›Urszenen‹ für Müllers literarische Produktion
108
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »2.1. ›Eine Autobiografie‹? – Anmerkung zu einem paradoxen
autobiografischen Diskurs“ im ertsen Teil der vorliegenden Arbeit
109
Vergleicht man den frühen Text DER VATER mit den entsprechenden Passagen aus KRIEG OHNE
SCHLACHT und dem aus dem Nachlass veröffentlichten Text [Im Herbst 197.. strab mein Vater], wird
deutlich, dass die Texte nicht eine fixe Urszene reproduzieren, sondern jeweils im Fokus auf eine veräderte
Gegenwart neu inszenieren.
20
der siebziger Jahre. Sie konstituieren »die drei großen Themenkomplexe des Spätwerks« (S.
33), denen sich Raddatz in der Folge mit eingehendem Eifer und zum Teil überraschenden
Ergebnissen zuwendet. So entdeckt Raddatz im »Geschichtskomplex«, dass Müllers
Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte nicht primär seinen biografischen
Erfahrungen geschuldet sei, sondern durch den schonungslosen (voyeuristischen) Blick auf
die historischen Deformationen strukturiert werde. Anhand der Analyse der Stücke DIE
SCHLACHT, GERMANIA TOD IN BERLIN sowie LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH
VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI kann Raddatz nachweisen, dass
Müllers Zivilisationskritik auf ein Geschichtsbild rekurriert, das politische Regression, soziale
Deformation und psychische Selbstverstümmelung als Fortschritt darzustellen pflegt. Einem
ähnlichen Verdikt wird das europäische Revolutionsmodell unterzogen, das Raddatz im
»Revolutionskomplex« untersucht. Der zerstörerischen Todesproduktion des Abendlandes
werde in den Stücken MAUSER und DER AUFTRAG ein produktiver Todesbegriff
entgegengestellt, der Brechts Modell der Lehrstücke mit Artauds »Theater der Grausamkeit«
kurzschließe. Wie für Benjamin stelle sich der abendländische Geschichtsprozess für Müller
als katastrophaler Irrweg dar, »der sich aus den Invarianten des abendländischen Geistes,
insbesondere seinem spezifischen Naturverhältnis und der Abspaltung des Lebens vom Tod«
(S. 3) herleite. Vor diesem Hintergrund bleibe die revolutionäre Todesproduktion, wie sie
insbesondere in MAUSER thematisiert wird, als Praxis der Humanisierung eng an die
Schaffung des gesellschaftlich Neuen gebunden. Die Enteignung des Todes werde zur
notwendigen Voraussetzung gesellschaftlicher Emanzipation. Nur indem das Individuum
lernt, sein Leben nicht als Eigentum zu betrachten, könne es in die Einheit von Leben und
Tod, in die zerstörerisch-schöpferische Dynamik der ›Lebensrevolution‹ 110 vordringen. Den
»Frauenkomplex« begrenzt Raddatz auf die Interpretation der HAMLETMASCHINE,
erweitert ihn jedoch zugleich durch einen Exkurs über Müllers Engelbilder, die von dessen
Affinität zu Benjamins Geschichtsphilosophie zeugen. Zu Recht erkennt Raddatz in der
HAMLETMASCHINE Müllers düsterstes Stück, denn ohne blutige Gewalttaten ist die
Wahrheit dort nicht zu haben. Als Elektra gebiert Ophelia Hass, Verachtung, Aufstand und
Tod (s. a. W 4 554). Die Auflehnung der Frau vollziehe sich jenseits der Grenzen männlicher
Rationalität und speise sich aus dem Affekt, konkret: der dem Hass verpflichteten Rache.
Entgegen den Entwürfen in MAUSER und ZEMENT werde die revolutionäre Arbeit dabei
nicht mehr als Produktion begriffen, der notwendig immer auch die Destruktion immanent
war. Vielmehr, so Raddatz, ersetze die Destruktion gänzlich die positive Arbeit. Davon, dass
sich die HAMLETMASCHINE, wie Raddatz meint, jeglicher Perspektive auf Zukunft
verschließt, kann jedoch keine Rede sein. Denn während der Mann in Müllers Stück dazu
verdammt ist, die Grundmuster patriarchalischer Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren,
gelingt es der Frau – Verkörperung der »Einheit von Geburt und Tod« (W 8 177) – nicht nur
ihr Gefängnis zu sprengen, sondern auch eine qualitativ neue, wenngleich noch stumme
Gewalt zu produzieren. Die in Mullbinden eingeschnürte Ophelia bleibt »reglos in der weißen
Verpackung« (W 4 554) auf der Bühne zurück. Der geschundene Körper besetzt den Raum.
Die Befreiung kann allerdings nur leisten, wer sich mit dieser Rolle identifiziert. »Ich gehe in
den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen meines Lebens.« (W 5 40), heißt es zwei Jahre
später im AUFTRAG. Die Unterdrückung ist die Waffe der Unterdrückten.
110
Richard Herzinger verwendet den Begriff der »Lebensproduktion«, um Müller in eine vitalistische Tradition
zu stellen, die gesellschaftliche Emanzipation nicht mehr zuläßt.
21
Wie Wieghaus und Raddatz leitet Hendrik Werner Müllers subjektive Schreibimpulse aus
einer Handvoll traumatischer Gedächtnisspuren her. Auch ihm dienen die den Prosatexten
DER VATER und TODESANZEIGE zugrunde liegenden literarischen Konstellationen als
Ausgangspunkte einer psychopathografischen Untersuchung – der psychoanalytische Ansatz
scheint ihm die einzig tragfähige Herangehensweise an Müllers Werk (s. a. S. 204). »Im
Namen des Verrats« 111 betrachtet Werner die »autobiografischen Maskenspiele« (S. 7)
Müllers als »verhüllte Bekennerschreiben« (ebd.), die darauf zielen, »die extratextuelle
Referenz durch Gesten der Entstellung zu verbergen.« (S. 34) Die zentrale Rolle in Werners
psychoanalytischem Krimi übernimmt eine mythopoetologisch überkodifizierte Vater-Figur,
die Werner anagrammatisch mit dem Verrat identifiziert, »den die Forschungsliteratur
unisono als Müllers zentrales Thema profiliert« (S. 7) 112 . Werner sieht in Müllers poetischer
Produktion den Kampf des Dichter-Sohns gegen den Vater, der ihm in diesem Kampf stets
die Hand führe. Müllers Versuch, den Vater schreibend abzustreifen, müsse misslingen. In der
(Um-)Schrift bleibe er anwesend. Die ewige Wiederkunft des Verrats sei die
Überlebensgarantie für beide: Vater und Sohn. So habe das »Vatergespenst […] nicht nur
seine Schriften, sondern auch sein Schreiben erzeugt« (S. 9). In sieben Kapiteln untersucht
Werner die Dynamik dieser »Ästhetik des Verborgenen« (S. 7), die Heiner Müllers
»Gedächtnis der Texte« (ebd.) diktiere. Dabei trage der »Spätgeborene« Müller »den Agon
mit dem uneinholbaren Erzeuger der Schrift stellvertretend mit einem maskierten Heer aus,
das sich aus mythischen, politischen und literarischen Vaterfiguren rekrutiert.« (S. 9) Wie
schon Raddatz, widmet sich Werner in seinem teilweise kryptischen Text jedoch nicht
Müllers Autobiografie, sondern in erster Linie seinem dramatischem Schaffen, das er als
Umschreibung, Widerschreibung und Wiederschreibung der traumatischen ›Urszenen‹ liest.
»Die autobiografischen Male geben sich als Reinszenierungen zu lesen, die nicht mimetisch
verfahren können, sondern Neubedeutungen der traumatisierten Erinnerung sind. [Daher]
wird die Lektüre von Müllers intertextuell organisierter Erinnerungsarbeit durch
Nachträglichkeit, Verschiebungen und Monumentalisierungen verstellt.« (S. 193)
Im ersten Teil seiner Arbeit sucht Werner ausgehend vom autobiografischen
Gedächtnisdiskurs nach den Ursachen der »Psychotisierung der Schrift« (S. 10), indem er
Müllers großem literarischen Thema, dem Verrat, einen individualgeschichtlichen Subtext
zuordnet, der »dem frühkindlichen Ungehorsam gegenüber einem Kommandowort des
Vaters« (ebd.) geschuldet sei. Ausgangspunkt ist Müllers Erzählung DER VATER, in der
dem Verrat des Sohnes der Verrat des Vaters am Sohn folgt. Werner zufolge stellt diese
lebensgeschichtliche »Wunde« die Grundlage für die »Schreibmoral Heiner Müllers« (S. 20)
dar, dessen Arbeit es ist, diese Wunde schreibend offen zu halten, um die Urszene durch ihre
»unabschließbare Reinszenierung« (S. 27) zu bewahren. Die Grunderfahrung »Väter verraten
Söhne verraten Väter« (S. 311) konstituiere Heiner Müllers »Gedächtnis der Texte«. Vor
dieser Folie interpretiert Werner Müllers Schriften als Monumente dessen, was sie verdrängt
haben. Mit psychoanalytischer Akribie versucht er anhand der Mechanismen der
Verdrängungsarbeit Müllers Schreiben auf diese eine, alles bestimmende Urszene des
doppelten Verrats zurückzuführen. In dieser Konstellation koinzidieren Vater und Verrat als
111
Hendrik Werner: Im Namen des Verrats. Heiner Müllers Gedächtnis der Texte. Würzburg 2001
112
»Müller hinterlässt uns ein Revolutionspanoptikum über das eine große romantische Thema: die verratene
Revolution. Verrat Verrat Verrat – das ist das immer gleiche Garn, mit dem er alle seine Stoffe
zusammengenäht hat.« (Wolf Biermann: Die Müller-Maschine. In: Der Spiegel vom 8. 1. 1996, 154)
22
Determinanten Müllers Textproduktion. Zwar werde dieser sich dem Diktat des Vaters zu
erwehren versuchen – entkommen werde er ihm nicht. Der zweite Teil Werners Arbeit zieht
eine Verbindungslinie zwischen Müllers manipulierter Linkshändigkeit (›right hand shift‹)
und dem sich im väterlichen Diktat vollziehenden politischen ›right shift‹, die sich in der
Poesie Heiner Müllers als ›Seitigkeitssystem sich gegenseitig kontaminierender Differenzen‹
(S. 11) wiederholen. Zeit seines Lebens kämpfe der Linkshänder Heiner Müller gegen die ihm
auferlegte Rechtshändigkeit an. Indem er seine ›Kastration‹ widerschreibe, monumentalisiere
er sie zugleich. Werner leitet daraus eine literarische Strategie Müllers ab, welche durch
intertextuelle Manöver »die ihm angetane Gewalt an den dramatischen Figuren« (S. 49)
wiederhole, um an sie zu erinnern, zugleich aber gegen sie anzuschreiben. Die Entmachtung
der (deutschen) Linken, die Dichotomie von links – rechts sowie der juridische Diskurs
›Recht‹ und ›Unrecht‹ bilden den politischen Subtext dieses individualgeschichtlichen
Defekts. Im folgenden Kapitel zeigt Werner, wie Müller die »individualhistorischen
Deformationen« (S. 11) in kulturelle Codes übersetzt, »um sie durch Gesten der Überhöhung
mit paradigmatischen Geltungsansprüchen auszustatten« (ebd.) Die gezeichneten Körper
dienen Müller, so Werner, als Agenten ihrer gewaltsamen politischen und körperlichen
Umkodierung. Kulturelles Gedächtnis erscheint vor dieser Folie als Folge körperlicher und
geistiger Verstümmelung. Die Zusammenlegung von Straf- und Gedächtnisapparat in der
»strafkolonialen ›Schreibmaschine‹« (S. 85) lege von dieser (politischen) Manipulation der
Erinnerung Zeugnis ab. Mit einer der kulinarischen Fachliteratur entlehnten Terminologie
wendet sich Werner im vierten Teil seiner Dissertation der »eucharistischen[n] Motivik in
Müllers Texten« (S. 117) zu. Demzufolge zielen Müllers eng mit der Leidensgeschichte eines
»real versagenden Sozialismus« (ebd.) verknüpfte sakralisierte Mahlzeiten »vorgeblich auf
die Stärkung und initiatorische Erneuerung eines sozialistischen Kollektivs, das auf
Selbstversicherung fixiert ist« (ebd.). Das Misslingen dieser heiligen Kommunion führt
Werner am Beispiel der müllerschen Hamletfigur vor (auf die analog verlaufende
Einverleibung Shakespeares durch den Dichtersohn Müller weist Werner wiederholt hin). Das
für das FAMILIENALBUM festgehaltene anthropophage Festmahl »spielt auf den Übergang
vom patriarchalischen System (Stalinismus) zur Herrschaft der Söhne an, die sich vorgeblich
der Egalität (Demokratie) verpflichten« (S. 135). Doch die vaterlose Gesellschaft müsse
scheitern, weil Hamlet sich der Kommunion mit der »Brüderhorde« (Freud) verweigere, das
Inzestverbot breche und schließlich das patrilineare Erbe annehme. Werner meint in diesem
Hamlet eine ›autobiografische Maske‹ Müllers entdecken zu können. In der Folge geht
Hendrik Werner Müllers »Beschwörung der Toten« (S. 154) nach, die der »Nekromant«
(ebd.) und »theatrale Totenführer« (S. 160) Müller als intertextuellen »Dialog mit den Toten«
(W 3 165 u. JN 31) betreibe. Werner spezifiziert hier seinen Ansatz auf Müllers »Mantik« (S.
154) hin. Die Tatsache, dass Müller die marxistische Geschichtsphilosophie widerschreibe,
die »das transgenerationelle Erbe abweist« (S. 176), erlaubt es Werner, »Müllers Archäologie
des Gespenstes als Totenbeschwörung mit futorologischem Impetus zu lesen« (S. 12). Setzte
sich Werner in den vorangegangenen Kapiteln ausschließlich mit Strategien und Motiven
auseinander, welche die Abhängigkeit des Dichtersohns von seinen (biologischen, politischen,
poetischen) Vätern im Namen des Verrats begründeten, wendet er sich im sechsten Teil seiner
Untersuchung einem vordergründig maternalen Erinnerungsdiskurs zu. In seiner
Autobiografie »schaltet Müller den Szenen im Namen des Verrats ein Anfangstableau vor«
(S. 193), das als Müllers erste Erinnerung einen Gang auf den Friedhof mit der Großmutter
darstellt: »Da stand ein Denkmal für Gefallene des Ersten Weltkrieges, aus Porphyr, eine
23
Gewaltige Figur, eine Mutter.« 113 Auch hier macht Werner sogleich die »patriarchalische
Besetzung« (S. 195) aus, »die das Verhältnis der Leibesfrucht zur Mutter zugunsten der
Vater-Sohn-Dyade ausblende, deren Müllers Gedächtnis der Texte bedürfe, um
zeugungsfähig zu sein« (ebd.). Denn Müller verdanke diese seine ›erste Erinnerung‹ einem
Schulaufsatz zu eben diesem Thema und erweist sich somit als Zitat. Müllers »Monumente«
(S. 193) seien bereits »Modellierungen von Weiblichkeit, die sich patriarchalisch verfassen«
(S. 196) und die maternale Urszene einem paternalen Textgedächtnis zuschlagen. Die
»unkündbare Sohnschaft« (S. 204) manifestiere sich im väterlichen Diktat, das den Vater –
noch in seiner Abwehr durch den Sohn – im literarischen beziehungsweise literalen Denkmal
verewige. »Der Sohn vieler Väter widerschreibt zwar Konzeptionen von Urheberschaft,
wiederschreibt jedoch jene Väter, die er zu Erzeugern seiner literarischen Produktivität
monumentalisiert.« (S. 302) Im letzten und umfassendsten Teil seiner Dissertation beschreibt
Werner die Mnemotextualität Müllers Poesie als prospektive intertextuelle Strategie, welche
»die Bodenlosigkeit der akkumulierten Prätexte« (S. 293) profiliere. Müller schreibe jedoch
nicht voraussetzungslos, »sondern im Dialog mit Geschriebenem« (GI 2 67). Aus seiner
»Textophagie« (S. 244) mache er kein Hehl: »Ich schreibe so viel ab, dass kein einzelner es
merken kann …« (GI 1 127) Dabei begreife der »radikale Intertextualist und Ruinierer« (S.
244) das Eigen-/Fremdzitat als politisches und subversives Potenzial. Im »Medium der
rekurrenten Schrift« (S. 245) bleibe die »Erinnerung an die Zukunft« (GI 2 148)
unauslöschbar erhalten. Im Rekurs auf Benjamin profiliere Müller das Zitat als »Mater der
Gerechtigkeit« 114 . Der intertextuelle »Tigersprung« 115 sei der Brückenkopf zwischen noch
unbefreiter Vergangenheit und potenziell revolutionärer Jetztzeit« (S. 248). Zugleich sei
Müllers dialogische »Zitatomanie« (S. 286) als Reflex auf die »monologischen Machtwörter«
(ebd.) der Staatsmacht beschreibbar, die ihn mit »Aufführungsmoratorien, Druckverboten und
Korrekturgeboten« (ebd.) belege. Abschließend greift Werner »das Verhältnis des
Spätgeborenen zu seinen mutmaßlichen Dichter-Vätern Shakespeare und Brecht« (S. 251)
auf, das er als »unabschließbar und agonal« beschreibt. Müllers Vorläufer im Medium der
Schrift seien die »Diktanten und Diktatoren« (S. 311), gegen deren Diktat Müller anschreibt
und dem er dennoch gehorcht. Der Versuch dem väterlichen Diktat schreibend zu entkommen
erweise sich somit als Circulus vitiosus. »Heiner Müller hat sich im Medium der Schrift
geopfert, um stellvertretend Zeugnis über sein Leben als Sohn in mehr als nur zwei Diktaturen
abzulegen.« (S. 313)
113
KOS 18. Jan Christoph Hauschild hat sich die Mühe gemacht, Müllers Erinnerung mit den Fakten
abzugleichen: »Das Denkmal steht heute noch, ein Mahnmal mit der Inschrift ›Stark wie der Tod‹, das 1923
errichtet worden war. Es zeigt einen stilisierten Krieger im Moment der tödlichen Verwundung.« (Hauschild
2001, 23)
114
Benjamin-GS II, 363
115
Benjamin-GS I, 701
24
rezensionsähnlich angelegten Polemik rechnet Jost Hermand Müllers »weit ausholende
Autobiografie« 116 unter »jene Gruppe von Rechtfertigungsbüchern desillusionierter DDR-
Autoren« 117 , bei denen sich die Enttäuschung über die politische Alternativlosigkeit und die
damit verbundene Wirkungslosigkeit gesellschaftlichen Engagements im »Rückzug ins
Private, Eigene, Autobiografische« 118 niederschlage. Hermand stört sich vor allem an der
distanzierten Grundhaltung Müllers gegenüber dem eigenen autobiografischen Material –
einer wesentlichen Qualität des Textes – die einer »jede Möglichkeit eines historischen
Fortschrittsdenkens leugnende Weltanschauung« 119 Folge leiste. KRIEG OHNE SCHLACHT
sei der Versuch, »sich von vornherein als unengagiert hinzustellen, um so seinem Leben –
jenseits aller politischen Umbrüche – wenigstens im Bereich des Ideologischen oder der
menschlichen Haltung eine gewisse Kohärenz zu verleihen.« 120 Exemplarisch für diese
Haltung sei die »betonte Asozialität« 121 des Bohemiens Müller, die den grundsätzlichen
»Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben« (KOS 294) vorwegnimmt, den seine Figurenzitate
Johann Fatzer, Charles Manson oder Meinhof/Ophelia/Elektra/Medea vollziehen. Doch was
Hermand als Pose eines poetischen Anarchismus unterschätzt, ist für Müllers
Kunstverständnis konstitutiv. 122 Die Kunst vermag den existenziellen Gegensatz von Leben
und Denken (»Kunst ist lebensfeindlich«, KOS 315) aufzuheben. »Das ist […] eine vielleicht
asoziale oder zumindest antisoziale, aber moralische Funktion von Kunst.« (KOS 316) Man
möchte Hermand die Re-Lektüre von Müllers frühem Stück DER LOHNDRÜCKER
empfehlen, um ihn daran zu erinnern, dass sich Müllers (angeblich verleugnetes) Engagement
mitnichten ideologischer Naivität verdankt, sondern einem Begriff des Politischen entspringt,
der die Macht der Ideen immer wieder am Widerstand der Körper bricht. Politik findet bei
Müller nicht primär als historisch-gesellschaftliche Bewegung statt, sondern als Bewegung in
und von Körpern. Das Schlachtfeld ist der Mensch selbst.
Auch Norbert Otto Eke erkennt in Heiner Müllers autobiografischen Äußerungen eine
»Abwehrstrategie« 123 , die auf die »Verleugnung eigener politischer Enttäuschungen« 124
hinausläuft. Müllers Lebenserinnerungen erhellen demzufolge weniger seine Biografie, als
dass sie »Sichtblenden« 125 aufstellten. Müller spreche über seine eigene Person vor allem
dort, »wo dies im Zusammenhang mit seinen ästhetischen und politischen Ansichten,
Intentionen und Zielsetzungen steht« 126 . So dienen auch die »zahlreiche[n]
Selbststilisierungen« 127 in KRIEG OHNE SCHLACHT Müllers Credo vom »Primat des
Werkes« 128 .
116
Hermand 1993, 256
117
ebd.
118
Hermand 1993, 255
119
Hermand 1993, 255f.
120
Hermand 1993, 256
121
Hermand 1993, 264
122
Nikolaus Müller-Schöll sieht in der »›Asozialität‹ […] das Paradigma von Müllers Schreiben« (Müller-
Schöll 2001, 470–474, hier: 473f.)
123
Eke 1999, 14
124
ebd.
125
Eke 1999, 13
126
ebd.
127
ebd.
128
ebd.
25
Wolfgang Schemme versucht im Gegensatz zu Hermand die »Distanziertheit und Kälte«129
des »kühl beobachtende[n], sich auf die Haltung des Betrachtens beschränkende[n]
Autor[s]« 130 aus Müllers eigener Biografie heraus zu begreifen. Schemme liest Müllers
LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN vor allem als Drama, das der Autor Müller als Konflikt
zwischen sich und dem Staat, in dem er lebt, inszeniert 131 und das die Widersprüche eher
verschärfe als verschweige. 132 Müller gehe es bei der Beschreibung von Erfahrungen nicht
darum, Einzelheiten seines Lebens preiszugeben, sondern darum, sie paradigmatisch einem
»Spannungsfeld« 133 einzuverleiben, das der Dramatiker »zwischen dem Stückeschreiber und
dem Machtapparat der DDR aufgebaut hat« 134 . Ausgehend von dem Text ERINNERUNG
AN EINEN STAAT, der KRIEG OHNE SCHLACHT als ›autopoetologisches‹ Manifest
hintangestellt ist, sieht Schemme in Müllers Autobiografie keine auf Kohärenz abzielende
Lebensbilanz. So wenig wie seine dramatisches Werk bezwecke KRIEG OHNE SCHLACHT
die Harmonisierung von Widersprüchen, sondern belasse erzähltes Leben »als Produkt einer
mündlichen Kommunikation, die nicht fest-stellt« 135 in seiner Widersprüchlichkeit. Was
Hermand als Vernebelung verdrängten politischen Engagements beschreibt, macht Schemme
als literarische Strategie sichtbar: Der von allem politischen unberührte politische »Kern«
(KOS 64), die »distanziert illusionslose Haltung, mit der er sich in jener ›Misere einen
Freiraum schaffte und bewahrte‹« 136 , machte ihn erst zu »ein[em] politische[n] Dichter«
(KOS 183). Der Aufenthalt im ›Material DDR‹ (s. a. KOS 113) sei es gewesen, der »Müllers
künstlerisches Schaffen in Gang hielt« 137 .
Weil Müllers Gedächtnisarbeit darauf abziele, »das Autor-Ich von seinem biografisch-
sozialen Umfeld weitgehend abzulösen und es wie eine dramatische Figur zu inszenieren«,
schlägt Gerhard Pickerodt vor, Müllers Text nicht »primär historisch, psychologisch oder
sozial« zu lesen, »sondern dramaturgisch« 138 . Es bleibt jedoch zu hinterfragen, ob »die
politischen Instanzen, mit denen das Ich die Kämpfe um seine Entfaltung als Autor
auszukämpfen hatte« 139 tatsächlich zur Entwertung des »personale[n] Umfeld[s]« führt. Es
sei, so Pickerodt, auffällig, dass »Müller den Gedächtnisstoff nicht gleichsam nachträglich
dramatisiert, dass er ihn vielmehr als Drama vergegenwärtigt« 140 . Müllers Aussage über die
Haltung zu den von ihm produzierten Texten gälte demzufolge auch für sein
autobiografisches Drama: »Das eigentliche Schreiben ist ein Kampf gegen den Text, der
entsteht.« (KOS 299) Es leuchtet ein, dass Pickerodt seinen Ansatz an dieser poetologischen
Selbstaussage Müllers aufhängt, denn sie bestimmt die poetische Struktur des Textes. Als
129
Schemme 1995, 204
130
Hermand 1993, 256
131
s. a. Schemme 1995, 205. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Frank Schirrmacher in seiner Rezension in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. 7. 1992. Diese Lesart liegt nahe, bezeichnet doch Müller
selbst seine Existenz in der DDR als soziales »Rollenspiel« (KOS 61), sich selbst als kalten »Beobachter«
(KOS 134) und ›Materialsammler‹. Gerhart Pickerodt vertieft diesen Ansatz und bietet damit eine wichtige
methodische Basis meiner kritischen Auseinandersetzung mit Müllers Text.
132
s. a. Schemme 1995, 203
133
Schemme 1995, 205
134
ebd.
135
Schemme 1995, 203
136
Schemme 1995, 207f.
137
Schemme 1995, 208
138
Pickerodt 1995, 65
139
ebd.
140
Pickerodt 1995, 66
26
Kulisse für die Inszenierung des »Beziehungsdrama[s] zwischen einem Staat und seinem
bestgehassten und meistgefürchteten Stückeschreiber« 141 diene die Ruine des
untergegangenen Staates. Der Antagonist existiert in der Jetztzeit Müllers Erzählung nicht
mehr. Die DDR ist abgewickelt. Die Autobiografie wird zum Ausdruck einer Lebenskrise. 142
Dem entspräche auch Müllers Äußerung in einem »Spiegel«-Interview von 1990: »Ich war
immer auf beiden Seiten.« (GI 3 106) Müller zitiert hier den »Hamletdarsteller« aus seinem
1977 geschriebenen Stück DIE HAMLETMASCHINE, einem Text, der einen Epochenriss
beschreibt. Der Riss geht, auch das ein unausgesprochenes Zitat, durch den Autor, dem das
Leben zum Material wird. »… dieser Bruch, die Gegnerschaft zu sich, disponiert die
Gedächtnisarbeit.« 143 In der Gegenwart der Gedächtnisarbeit werden die Sedimente der
Erinnerung als Fremdkörper erfahren. Dem korrespondiere auf textueller Ebene die Distanz,
mit der der Autor dem eigenen, dramatisierten Gedächtnismaterial gegenübertritt: »Aus dem
biografischen Material ist gleichsam ein eigenständiges Stück erwachsen, welches das
gegenwärtige Ich aus einer ästhetischen Distanz heraus betrachtet.« 144 Die ›Distanz‹ stehe für
den Konflikt, den Müller redend ausagiert, die »Schlacht ohne Krieg« 145 . Als poetischer
Selbstentwurf Müllers Existenz als Dichter müsse KRIEG OHNE SCHLACHT aufgrund
dieses Konfliktes scheitern. In der Lebensbeschreibung, die Schlachtbeschreibung wird, fallen
Schlacht und Beschreibung in eins. Im Drama, der »Schlacht ohne Krieg«, werde dieses
Scheitern manifest. »Der Text also schließt nicht vergangenes Leben virtuell ab, […] sondern
eröffnet ein neues.« 146 Der autobiografische Konflikt lasse »die Gegenwart als indefinites,
bewegtes und zukunftsoffenes Drama« 147 erscheinen. Mit dieser Sichtweise stellt Pickerodt
die Weichen für eine notwendig und grundsätzlich neue Rezeption Müllers missverstandenen
›Abgesangs‹, dem diese Arbeit folgen will. Denn mit KRIEG OHNE SCHLACHT setzt
Müller nicht den Schlusspunkt hinter eine gescheiterte Hoffnung, sondern öffnet die
Perspektive für das utopische Potenzial einer Erinnerung, die im Vergangenen
›Unabgegoltenes‹, ›Unterlassenes‹, ›Unbesorgtes‹ im blochschen Sinne aufspürt, um es als
»zu Besorgendes« 148 im Zeitbewusstsein zu verankern.
Die Genese der poetischen Bedeutungsstruktur des Textes KRIEG OHNE SCHLACHT
LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN von Heiner Müller ist der zentrale Gegenstand der
Magisterarbeit von David Beikirch149 . Neben der Beschreibung des im Nachlass tatsächlich
vorhanden Materials zu diesem Themenkomplex besteht das Verdienst dieser Arbeit vor
allem darin, dass sie die Genese der poetischen Bedeutungsstruktur aus dem Text der
141
Sigrid Löffler: Feind im Spiegel … a. a. O.
142
s. a. Pickerodt 1995, 69. In seiner »Einführung in eine konstruktivistische Literaturtheorie« schlägt Bernd
Scheffer vor, die literarische Autobiografie als Symptom einer lebensgeschichtlichen ›Krise‹ zu begreifen.
(s. a. Scheffer 1992, 252f.). Für diese These spräche die Häufung autobiografisch motivierter Publikationen
von DDR-Autoren, von denen sich die meisten auf die eine oder andere Weise mit dem System
identifiziert/arrangiert haben, um die ›Wendezeit‹ (Günter de Bruyn,Christoph Hein, Werner Heiduczek,
Stefan Hermlin, Walter Janka, Herrmann Kant, Christa Wolf und eben Heiner Müller).
143
Pickerodt 1995, 64
144
Pickerodt 1995, 69
145
Pickerodt 1995, 71
146
Pickerodt 1995, 64
147
Pickerodt 1995, 70
148
Bloch 1970, 282
149
David Beikirch: Zur Genese der poetischen Bedeutungsstruktur des Textes KRIEG OHNE SCHLACHT
LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN von Heiner Müller. Magisterarbeit im Fachbereich Neuere deutsche
Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2004, unpubliziert
27
Autobiografie Müllers selbst ableitet und nicht in einem wie auch immer gelagerten
lebensgeschichtlichen Bedeutungszusammenhang aufzuspüren sucht. Beikirch sieht den
strukturellen Ursprung und die poetische Begründung des Textes in der unvermittelten
Widersprüchlichkeit des Verhältnisses von Erzähler und Erzählung. Anhand weniger
Beispiele gelingt es ihm nachzuvollziehen, wie aus dem im Zusammenhang mit KRIEG
OHNE SCHLACHT generierten lebensgeschichtlichen Material eine poetische
Bedeutungsstruktur entsteht, die über die subjektive Äußerung biografischen Erzählens weit
hinausreicht und daher auf eine ästhetische Betrachtungsweise angewiesen ist, die sich den
Ansprüchen historisch, psychologisch oder politisch begründeter Perspektiven entzieht. Dabei
stützt er sich auf Nachlassmaterial, das alternative poetische Konzeptionen im Umgang mit
dem autobiografischen Material durch Heiner Müller nahelegt, die im Text der
veröffentlichten Biografie nicht erscheinen, seine Erscheinung jedoch maßgeblich prägen. In
jedem Fall machen sie deutlich, dass Müllers literarische Auseinandersetzung mit der eigenen
Biografie durch die von ihm selbst als gescheitert beschriebene Arbeit an KRIEG OHNE
SCHLACHT eine neue poetische sowie inhaltliche Dimension gewinnt, die in Müllers
Schreiben bis zu seinem Tod einen breiten Raum einnimmt. Aufgrund der Lückenhaftigkeit
des Nachlassmaterials sind Einblicke in den Entstehungszusammenhang nur in begrenztem
Umfang möglich. Dennoch – und das hat Beikirch überzeugend dargestellt, ohne der Gefahr
einer Verallgemeinerung zu erliegen – lassen sich aus dem vorhandenen Material erstaunliche
und äußerst produktive Ansätze zur Analyse der poetischen Bedeutungsstruktur des Textes
gewinnen. Auf Beikirchs Forschungsergebnisse und Thesen wird an geeigneter Stelle im
Rahmen der vorliegenden Arbeit verwiesen werden.
28
2. Dichtung und Wahrheit – Poetik der Erinnerung
Der Untertitel von KRIEG OHNE SCHLACHT LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN befindet
sich erst auf Seite fünf des Buches, beziehungsweise auf der Rückseite des Schutzumschlags
und lautet »Eine Autobiografie«. Die Bezeichnung »Autobiografie« ist marktstrategischen
Überlegungen geschuldet, denn sie kommt dem Interesse des Publikums nach individueller
Bekenntnis- und Enthüllungsliteratur entgegen, die das Einzelschicksal gern isoliert von
historischen Prozessen in seiner individuellen wie eben auch sensationellen Einmaligkeit
betrachtet. Es ist insbesondere dem verlegerischen Geschick des Cheflektors Helge Malchow
zu verdanken, dass Heiner Müller die Veröffentlichung einer Autobiografie überhaupt ins
Auge fasste. Der Hunger des Marktes nach Figuren, die dem hohlen Pathos der
Wiedervereinigung wenn nicht einen nationalen Sinn, so doch eine Erklärung der
Sinnlosigkeit und Unsinnigkeit der politischen Entwicklung gerade auch durch ihre Biografie
verleihen konnten, machte KRIEG OHNE SCHLACHT zu einem Buch der Stunde – einem
»Stundenbuch«. Die explizite Zuordnung zur literarischen Gattung der Autobiografie steuert
das Rezeptionsverhalten des Lesers in eine bestimmte Richtung und scheint zunächst
stimmig. Ist doch eine Autobiografie laut Literaturlexikon ein literarisches Selbstzeugnis, das
eine zusammenhängende Erzählung vergangener Erlebnisse über einen größeren Zeitraum
hinweg aus dem Rückblick bietet. 150 Doch schon die Wahl der Begriffe ›Selbstzeugnis‹ und
›zusammenhängende Erzählung vergangener Erlebnisse‹ mutet bei genauerem Hinsehen
äußerst problematisch an. Insbesondere der unbestimmte Artikel »Eine« macht die
notwendige Unabgeschlossenheit und Virtualität einer Lebensgeschichte explizit, die eben nur
eine von unbestimmbar vielen Varianten der Verarbeitung des Materials ›Leben‹ darstellt.
Spätestens seit der durch das postmoderne Denken noch radikalisierten zeitgenössischen
Metaphysikkritik existiert ein Jenseits der Sprache nicht. Demnach sind Erkenntnisprozesse –
auch die Selbsterkenntnis – unhintergehbar an Sprache gekoppelt.151 Mit dem Verweis auf
Genettes Drehtür-Metapher 152 stellt de Man fest: »Das jedem Verstehensprozess eignende
150
s. a. Killy 1992, 58ff. Die Zahl der Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Autobiografik, seien es
Einzelaufsätze, Sammelbände oder Monografien, ist seit den späten siebziger Jahren ins Unüberschaubare
gewachsen und nimmt in exponentiellem Ausmaß weiter zu. Gut lesbare, knappe Überblicksdarstellungen
unter sowohl theoriegeschichtlichen als auch historischen Aspekten stellen die einschlägigen Publikationen
von Martina Wagner-Engelhaaf (Autobiographie. Stuttgart/Weimar 2000) u. Michaela Holdenried
(Autobiographie. Stuttgart 2000) dar. Im Anhang dieser Monografien finden sich jeweils umfangreiche
Bibliografien zum Thema.
151
Eine ebenso detaillierte wie fundierte Untersuchung zum Verhältnis von Textualität und Referenzialität in
Autobiografien liefert Almut Finck in ihrer Dissertation »Autobiografisches Schreiben nach dem Ende der
Autobiografie« (Berlin 1999).
152
s. a. Genette 1993
29
Moment der wechselseitigen Spiegelung offenbart die der Erkenntnis, auch der
Selbsterkenntnis, zugrunde liegende tropologische Struktur. Die Bedeutung der Autobiografie
besteht dann nicht darin, dass sie eine verlässliche Selbsterkenntnis liefert, […] sondern darin,
dass sie auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit und der
Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden textuellen Systeme
demonstriert (und das heißt, dass es solche Systeme nicht geben kann).« 153 Die Sprachlichkeit
der Realität stellt das Repräsentationsmodell grundsätzlich in Frage. Denn wenn sich Realität
primär in der Sprache konstituiert, kann nicht dieselbe Sprache Anspruch erheben, eine wie
auch immer geartete Realität abzubilden. Dies bedeutet nun weder das Ende der Realität noch
das »Ende der Autobiografie« 154 , aber immerhin das Obsoletwerden des
Wahrheitsanspruches, der auf die Unfehlbarkeit des cartesianischen »cogito« zurückgeht und
bis hin zu Dilthey 155 die Grundlage nicht nur für die Autobiografie, sondern maßgeblich auch
für die Geschichtsschreibung bildete. Psychoanalytische und konstruktivistische Modelle in
der Autobiografieforschung haben seither zu einer weitgehenden Trennung der Erinnerung
vom Wahrheitspostulat geführt. 156 Demzufolge ist es auch der autobiografischen Darstellung
nicht möglich, das Leben im Rückblick zu rekapitulieren, zu strukturieren oder ihm gar
nachträglich einen kohärenten Sinn zu verleihen. Sie ist in erster Linie eine Setzung – ein
Text, der in seiner Besonderheit und Spezifik für sich selber steht, so wie jeder andere Text
auch. Autobiografie bedeutet in diesem Sinne nicht beschriebenes Leben, sondern
geschriebener Text. Der Text aber wird deshalb zum Kunstwerk, weil er sich von den
zufälligen biografischen Umständen seines besonderen Urhebers löst und eine eigene
Qualität, ja Dignität gewinnt, die dem rein historischen Interesse üblicher
Lebensbeschreibungen enthoben ist. Die hier vorliegende textanalytische Arbeit zu KRIEG
OHNE SCHLACHT ist insofern keine Auseinandersetzung mit einer wie immer verfassten
Person Heiner Müller, sondern mit einem poetischen Text, der eben nicht nach präskriptiven
Normen verfasst ist, sondern ein ästhetisches Geflecht darstellt, das seine eigenen Regeln
generiert. Diskurse, die aufgrund zu eng gefasster ästhetischer Prämissen autobiografisches
von nicht autobiografischem Schreiben zu trennen vermögen, werden von daher im Rahmen
dieser Arbeit keine Verwendung finden. Für die Analyse der Textstruktur spielen allein die
(Kon)Texte eine Rolle, die der Text selbst aufruft, ausstellt, überschreibt oder ablehnt. Das,
worüber er schweigt, gehört zur Struktur des Textes – nicht jedoch das, worüber er einfach
nicht spricht. Die Bedeutung, die dem Text im Nachhinein unterstellt wird, hat nichts mit dem
zu tun, was er bedeutet oder eben doch nur mehr oder weniger zufällig. Sein Sinngehalt ist
aufgrund dieser Vorbedingung nur im Text selbst zu finden, beziehungsweise in seinen
153
De Man 1993, 134f.
154
Sprinker 1980. Ähnlich wie Sprinker argumentieren de Man, Derrida und P. Jay. Dass sich die
Autobiografie trotz ihres »Endes« als lebendiger denn je erweist, zeigt sich nicht nur an der überhand
nehmenden Aufmerksamkeit durch die internationale Literaturwissenschaft, sondern erst recht beim Blick
auf die Büchertische und Bestsellerlisten des Buchhandels. Kein Genre erfreut sich sowohl in Fachkreisen
als auch bei den Käufern einer größeren Popularität als autobiografische Literatur.
155
Dilthey spricht von einem objektiven Wissen, das durch die Bewegung des Geistes erreicht wird, wobei die
geistige Welt an das Schöpfungsvermögen des auffassenden Subjekts gebunden bleibt (s. a. Wagner-
Engelhaaf 2000, 20).
156
s. a. Holdenried 2000, 59. Bereits Aristoteles formuliert die Differenz zwischen poetischer Wahrheit und
historischer Faktizität (s. a. Aristoteles: Poetik: Griechisch/deutsch. Übersetzt und herausgegeben von
Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, 29) In der Autobiografieforschung und angrenzenden Disziplinen geht
man mittlerweile von einer narrativen statt einer historischen Wahrheit aus.
30
Kontexten und Metatexten; auf keinen Fall aber in den Müller gegenüber oft so hilflosen
Zeugnissen hermeneutischer Praxis, die nicht gelten lassen will, was sie zu erklären nicht
imstande ist.
Die Rede von einer Poetik der Erinnerung rekurriert auf das Verhältnis von Gedächtnis und
Schrift. Dem Verhältnis von Gedächtnis und Schrift wiederum liegt das Verhältnis von Leben
und Sprache zu Grunde. 157 Das Leben ist kein stummes Objekt, sondern eine
selbstkonstitutive Identität, die immer schon im Prozess ihrer Versprachlichung begriffen ist.
Die Autobiografie stellt also keineswegs – wie die diltheysche Ausdruckshermeneutik es will
– den rückblickenden Strukturierungsversuch dar, »die Aufklärungsarbeit, die keine
Unübersichtlichkeit zulässt« 158 . Im Gegenteil konstituiert der Text jenseits von normativen
Mnemotechniken und der Organisation subjektiver Erfahrungsgehalte und
Sinnzuschreibungen das Gedächtnis neu. Der Sinn liegt nicht im Erzählten, sondern in der
Erzählung. Insofern entwickelt jeder Text seine eigene Erinnerungspoetik, die sich nur anhand
der autoreferenziellen Verweise der Erinnerungsbewegung des Textes erschließt. Die
Verfahrensweisen der Erinnerungskonstitution können folglich nur dem Text selbst
entnommen werden. Die Frage nach dem empirischen ›Wahrheitsgehalt‹ der
autobiografischen Erzählung verliert vor der Folie der konstruktiven Verfasstheit von
Erinnerung 159 jegliche Bedeutung. Bernd Scheffer beschreibt Erinnerungen als »grundsätzlich
variable Konstrukte in der Perspektive der jeweils gegenwärtig gewählten
Selbstbeschreibung« und sieht die Bedeutung autobiografischer Äußerung also nicht »in einer
wie auch immer präsentierten ›tatsächlichen‹ Vergangenheit, sondern in der jeweils
gewählten, also konstruierten Auffassung von ihr«. 160 Die Kolumbusfrage nach der ›Henne‹
Wirklichkeit und dem ›Ei‹ Kunst ist daher oberflächlich. Sie dient allein der
Aufrechterhaltung von Deutungs- und also Herrschaftsverhältnissen. Im Universum der
Diskurse gibt es keinen privilegierten Zugriff darauf, wie es eigentlich gewesen ist. »Die
Rekonstitution von Individualgeschichte […] ist eine Konstruktion, die Vergegenwärtigung
lediglich fingiert.« 161 Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob eine Autobiografie Fakten
re- oder fiktive Texte produziert. De Man bestreitet die Annahme einer linearen Abfolge von
Leben und Schreiben, welche meint, »das Leben würde die Autobiografie hervorbringen wie
eine Handlung ihre Folgen.« 162 Vielmehr, argumentiert er, sei es der autobiografische Text
selbst, der die Fiktion eines Subjektes zuallererst herstelle. De Man zufolge ist das
autobiografische Subjekt von einem fiktionalen grundsätzlich nicht zu unterscheiden. Das
Subjekt findet sich nicht als intentionales Bewusstsein am Ursprung des Textes wieder,
sondern in Positionen, die den unkontrollierbaren Bewegungen der Sprache schutzlos
ausgeliefert sind. Der Autor stellt in dieser Hinsicht lediglich eine Realität des Diskurses dar.
Er beherrscht ihn nicht, er konstituiert sich in ihm. Der Autor gehört nicht notwendig zum
157
»Das Verhältnis Leben und Schrift ist zunächst eine Sonderform des konstitutiven Wechselverhältnisses von
Leben und Sprache.« (Ricklefs 1996, 37)
158
Ricklefs 1996, 44. Die Hermeneutik belegt die Schrift mit dem Fluch des Sekundären. Verstehen gilt ihr als
Rückverwandlung von Schrift in Rede, als Wiederbelebung toter Buchstaben in lebendigen Geist.
159
»Der Eindruck gleichbleibender und stark nachwirkender Erinnerung ergibt sich […] aus einem Prozess
permanenter kognitiver Angleichung: Die Kognitionen und Emotionen müssen laufend verändert werden,
damit eine Erinnerung als stabile Erfahrung überhaupt durchgehalten werden kann.« (Scheffer 1992, 254)
160
Scheffer 1992, 256
161
Werner 2001, 15
162
De Man 1993, 132
31
Text und er erschafft ihn auch nicht. Der Text produziert vielmehr im Prozess seiner
Hervorbringung einen Autor. Er stellt seine eigene Bewegung dar und handelt zuerst (und vor
allen Dingen) von sich selbst. Der Autor beschreibt nicht, er schreibt sich. 163
In seinem Aufsatz FREUD UND DER SCHAUPLATZ DER SCHRIFT verfolgt Derrida, wie
Freud aus dem Begriff der »Nachträglichkeit« ein performatives Modell gewinnt, das
Wiederholung und Differenz aufeinander bezieht. Dieses Modell der Erinnerung geht von
einer Urszene aus, die, so Derrida, freilich ein Original nie sein kann 164 , denn die
Wiederholung stellt bereits eine Differenz zur lediglich fingierten Einholung vergangener
Präsenz im Wiederholten dar. Infolge der Unfähigkeit, ein Ereignis bei seinem Auftreten in
seiner komplexen Bedeutung zu erfassen, bedarf es der nachträglichen Ergänzung, der
Erinnerung. Doch erst die nachträgliche Supplementierung verleiht diesem Ereignis überhaupt
eine Bedeutung. Das Ereignis geht dem Akt der Signifikation demzufolge nicht voraus, es
folgt ihm nach. Die Lücke in der Wahrnehmung konstituiert das Gedächtnis. Das heißt, erst
im Akt der Wiederholung wird das Vergangene Realität. Die Erinnerung fungiert als
nachträglicher Akt performativer Wiederholung: Sie (er)findet die Vergangenheit und setzt
sie ›in Szene‹. Als spezifische Form der Erinnerung gilt die autobiografische Tätigkeit der
komplexen Erfindung, der Konstruktion von Leben. »Endlos autobiografische Tätigkeit der
Wahrnehmung«, wie Scheffer den Prozess der permanenten Selbsterfindung in Anlehnung an
Julia Kristeva 165 nennt, impliziert das Außerkraftsetzen gesicherter Annahmen über die
Beschaffenheit subjektiver Identität, die dem cartesianischen ›cogito‹ verhaftet sind. Sie ist
abzugrenzen von allen Autobiografie-Konzepten, die von einer äußeren Wirklichkeit, einer
sprachlichen Abbildbarkeit dieser Wirklichkeit, einer Kausalität von Handlungen und einer
stabilen Autor- bzw. Leser-Identität ausgehen. 166 Das Subjekt ist nicht das Endprodukt einer
Kette von Signifikationsverfahren, sondern Begleiterscheinung einer im Prozess befindlichen
und dadurch sich ständig verändernden Selbstwahrnehmung. Autobiografische Aussagen
referieren zuerst auf die erinnernde Redesituation. Von daher interessiert weniger ihre
Referenzialität als ihre Performativität. Die Selbst(er)findung in der Autobiografie kann
folglich als performative Handlung im Sinne John L. Austins 167 verstanden werden.
Die Psychoanalyse geht davon aus, dass nicht die Vergangenheit zu uns spricht. Wir sind es,
die sie auf unterschiedliche Weise zum Reden bringen. Im Gegensatz zu Freud begibt sich der
Erinnernde bei Bergson in eine Vergangenheit hinein, die nie aufgehört hat zu existieren 168 ,
163
In seinem Essay WAS IST EIN AUTOR? versucht Foucault den Autor als Differenz zwischen der
Sprecherinstanz zum Erzählten und der Person Schriftstellers zum Sprecher zu etablieren: »… die Funktion
Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz.« (Foucault 1988, 22,
Hervorhebung LDR) Im analytischen Teil der vorliegenden Arbeit findet sich eine detaillierte Untersuchung
dieser Problematik im Kontext Heiner Müllers KRIEG OHNE SCHLACHT.
164
»Die Ursprungslosigkeit ist es, die ursprünglich ist.« (Derrida 1976, 312) »Der unbewusste Text [ist] ein
nirgendwo präsenter Text, der aus Archiven gebildet ist, die immer schon Umschriften sind.« (Derrida 1976,
323)
165
Kristeva 1972, 344–375
166
s. a. Scheffer 1992, 145. Ein ungebrochenes Ich-Bewusstsein im Zusammenhang mit einem ebenso
unproblematischen Wirklichkeitsverständnis jenseits sprachlicher Verfasstheit von Subjektivität und
Realität findet sich heute vor allem in der stark kommerzialisierten populären Autobiografik. (s. a. Wagner-
Engelhaaf 2000, 12)
167
Austin nennt Äußerungen/Handlungen performativ, wenn sie selbstreferenziell sind und Wirklichkeit
konstituieren (s. a. Austin 1972).
168
»In Wahrheit besteht das Gedächtnis durchaus nicht in dem Zurückschreiten der Gegenwart zur
Vergangenheit, sondern im Gegenteil in einem Fortschreiten der Vergangenheit zur Gegenwart. Wir
32
sie hat lediglich aufgehört nützlich zu sein169 . Auch er beschreibt die Erinnerung als
performatives Modell. »[Das Gedächtnis] findet die Taten der Vergangenheit nicht als
Erinnerungsbilder vor, in denen es sie wieder aufleben lassen könnte, sondern als das streng
geordnete System von Bewegungen, die sich aktuell vollziehen. Genau gesagt, es stellt unsere
Vergangenheit nicht mehr vor, es spielt sie, es imaginiert sie nicht, es agiert sie, und wenn es
überhaupt noch den Namen Gedächtnis verdient, so nicht, weil es uns alte Bilder aufbewahrt,
sondern weil es ihre Resultate bis in den gegenwärtigen Augenblick hinein zu nützlicher
Wirkung lebendig hält.« 170 Die Dramatisierung (= Wiederholung) von Lebensgeschichte
erfolgt hinsichtlich der Nutzbarmachung von Vergangenheit für die Zukunft. »Die
Vergangenheit ist nicht die frühere Gegenwart selbst, sondern das Element, in dem man diese
intendiert.« 171 De Mans Diktum Folge leistend, dass alle Literatur autobiografisch sei, bleibt
demnach nichts anderes übrig, als das autobiografische Ich in den Geschichten aufzusuchen,
die es erfindet. Denn jede seiner Geschichten handelt von ihm, was eine Trennung in
autobiografisch/nicht autobiografisch respektive mehr/weniger autobiografisch paradox
erscheinen lässt: »Die Autobiografie ist unmöglich und gleichzeitig unvermeidbar.« 172
In seiner Dissertationsschrift von 1976 bezeichnet Peter Sloterdijk die Autobiografik als »das
subjektive Zentrum der ästhetischen Organisation lebensgeschichtlichen Wissens, also in
gewisser Weise das Paradigma von Literatur überhaupt.« 173 Nach Maßgabe dieser Definition
sind autobiografische Äußerungen in erster Linie unter ästhetischen Aspekten zu betrachten.
Bei den ästhetischen Techniken der Moderne handelt es sich aber bevorzugt um
Verfremdung, Irritation und Dekonstruktion statt um Glaubenssätze und
Identifizierungsangebote. »In den ›Randtexten‹ der literarischen Autobiografie geht es
vornehmlich um Selbst-Irritationen und weniger um Selbst-Gewissheiten – und gelegentlich
um Selbst-Mystifizierung, darum also, die eigene Person unerforschlich und exotisch
erscheinen zu lassen.« 174 Als Kennzeichen innovativer Auseinandersetzung mit Subjektivität
nicht nur in der Autobiografik erkennt Bernd Scheffer hier ganz richtig die A-Identität. Ein
anderes Verfahren der Selbstkonstruktion, die Müllers Umgang mit dem autobiografischen
Material sehr nahe zu kommen scheint, beschreibt Derrida mit der »Dissimulation hinter
Masken« 175 . Sie lässt die Biografie als »Trugbild« 176 erscheinen. Nach Derridas Dafürhalten
33
weichen sogar Geständnis und Beichte nicht von dem Gesetz der Dissimulation ab. Sie wären
lediglich eine List der Verstellung. Das Ich konstituiert sich aus der Differenz der Masken, die
das autonome Subjekt als autoreferenzielle Realität des Diskurses erscheinen lassen. 177 Denn
die Aussage ›Ich‹ ist immer an eine Sprecherinstanz gebunden und besitzt somit
ausschließlich diskursive Realität. 178 Zudem geht die Realität der Sprache weder logisch noch
zeitlich voraus. Sie ist immer schon unhintergehbar von sprachlichen Strukturen affiziert. Das
bedeutet nicht, dass Realität nicht unabhängig von Sprache existieren kann, sondern dass sie
jenseits ihrer Diskursivität, welche sie für das Subjekt erst bedeutungsvoll macht, keine
Bedeutung aufzuweisen vermag. Erst in der Rede über das Selbst vermag sich subjektive
Identität überhaupt zu konstituieren.
Heiner Müller hat die Bedingungen seines Schreibens zeitlebens poetisch und poetologisch
reflektiert. Wie seine Anmerkungen zu Ästhetik, Geschichte, Politik und Philosophie lassen
sich die ebenso disparaten wie unsystematisch über das Werk verstreuten Aussagen zur
Beschaffenheit des der biografischen Konstruktion zugrundeliegenden Autoren-Ich nicht zu
einem Ganzen zusammenfügen und geben mithin mehr von der Verfasstheit des Autors zum
jeweiligen Zeitpunkt der Äußerung preis, als dass sie einen klar benennbaren Standpunkt
Müllers zur Frage subjektiver Identität zuließen. Im Gegenteil unterläuft Müller gezielt
scheinbare Gewissheiten und stellt eigene Aussagen bewusst in Frage. Immer wieder betont
er, das Interesse an der eigenen Person stelle für ihn keine hinreichende Motivation zum
Schreiben dar. »Mir ist nur wichtig, was ich schreibe und was von mir übrig bleibt. Meine
Person ist da sekundär« (GI 3 136), äußert er sich 1991 im Interview mit der »Süddeutschen
Zeitung«. Als Lebensausdruck – und eben nicht dessen Abbild – haben die literarischen Texte
Vorrang vor jenem anderen Konstrukt Person (von persona, lat. Maske). »Ein Kunstwerk
mag vielleicht eher noch den ›Traum‹ eines Dichters als sein wirkliches Leben verkörpern,
oder es kann die ›Maske‹, das ›Gegen-Ich‹ sein, hinter der sich eine reale Person versteckt,
oder es mag das Bild eines Lebens darstellen, dem der Dichter entrinnen möchte.« 179 Die
Beschreibung der Autobiografie als Flucht liegt für Müllers Texte nahe, obschon die Flucht in
diesem Zusammenhang weder das Fliehen vor etwas bezeichnet, noch die Flucht auf ein
imaginäres Ziel hin darstellt. Es ist vielmehr eine Bewegung entlang den Rändern dessen, was
man als kulturellen Code zu bezeichnen pflegt, eine »Fluchtlinie« im Sinne
Deleuze/Guattaris. Eke spricht im Zusammenhang mit Müllers autobiografischen Äußerungen
von »Sichtblenden« 180 , welche die Biografie eher verschleiern denn erhellen. Doch auch diese
Verschleierungstaktik ist eher im Sinne apollinischer Sichtbarmachung zu verstehen, die das
Undarstellbare ästhetisch aufhebt und somit im Kunstwerk erhält. Nach Müllers eigenen
Angaben hat sich sein Erinnerungspotenzial durch die literarische Überformung bereits
177
»Das Subjekt ist situiert in einer Welt, die in ihrer Bedeutsamkeit immer schon Effekt ihrer sprachlichen
Codierung ist. Gleichzeitig aber […] konstituiert es sich als sprachliches in eben der Diskursivierung seiner
Welt.« (Finck 1999, 40)
178
s. a. Emile Benveniste 1977, 279ff.
179
Warren/Wellek 1963, 64
180
Eke 1999, 13
34
aufgelöst 181 , was dazu geführt habe, dass er sich »selbst gegenüber etwas misstrauisch« (KOS
68) geworden sei. Die Äußerung enthält einen Hinweis darauf, dass Müllers Aussagen immer
schon Überblendungen sind, die von etwaigen empirischen Anlässen abstrahieren. Dennoch
sind Müllers Selbstaussagen von fiktionaler Beliebigkeit weit entfernt. Dem Konjunktiv des
Sagen-Könnens korrespondiert der Imperativ des Nicht-Verschweigen-Dürfens. Das eine ist
zu sagen wie das andere. Müllers HORATIER beschreibt diese Moral: »… nicht verbergend
den Rest / der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel.« (W 2 85) Die Differenz darf nicht
weggemogelt werden, wie der Titel eines frühen Interviews lautet (s. a. GI 1 9). Auch laufe,
wer die Wirklichkeit auf sich selbst identische Momentaufnahmen reduziert, Gefahr, zum
Denkmal zu erstarren, »das die Hunde anpissen« (HMA 4489). »Identität ist doch Fiktion,
alles Lebendige verändert sich in jeder Sekunde. […] Wer mit sich identisch ist, der kann sich
einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein
Denkmal.« (JN 31) Die Praxis der A-Identität aber, ihr Bewegungsprinzip, ist nicht die
Selbstverständigung oder Selbsterkenntnis, von der Müller explizit absieht, sondern die
Verfremdung, die Fremd-Werdung, die Verwandlung. »Bis zu meinem Tod muss ich mit
meinen Widersprüchen leben, mir selbst so fremd wie möglich« (KOS 366), schreibt Müller
programmatisch im Nachwort zu KRIEG OHNE SCHLACHT, einem Text, der das Spiel
Müllers Biografie noch einmal neu eröffnet und die endgültige Erstarrung vorerst aussetzt.
»Die letzte Verwandlung ist der Tod.« (LV 176, s. a. GI 1 102)
Ob es sinnvoll ist, KRIEG OHNE SCHLACHT im Kontext traditioneller literarischer
Autobiografieforschung zu analysieren, scheint demzufolge äußerst fragwürdig. Die
überwiegende Mehrzahl Müllers Texte sprengt die klassischen Gattungseinteilungen, oft sind
die Texte noch nicht einmal in sich selbst im herkömmlichen Sinne ›geschlossen‹. Auf die
Bedeutung des Fragmentarischen für die Ästhetik der Moderne im Allgemeinen und die
Müllers im Besonderen soll an dieser Stelle explizit nicht noch einmal eingegangen werden.
Sie ist Gegenstand zahlreicher Aufsätze und Monografien. Müllers Texte sind hoch
verdichtet, aber offen bezüglich ihrer Ausgangs und – wie die Sichtung des Nachlasses
gezeigt hat – durchaus problematisch hinsichtlich ihrer formalen Klassifizierung.
Herkömmliche Gattungseinteilungen werden bei Heiner Müller obsolet. Sie widersprechen
seiner Kunstauffassung. Das Kafkazitat, die Literatur sei eine »Angelegenheit des Volkes« (W
8 208) ist ebenso wenig bloße Koketterie wie Müllers Satz »Kunst legitimiert sich durch
Neuheit = parasitär, wenn mit Kategorien gegebener Ästhetik beschreibbar.« (W 8 174) Wie
Frank Hörnigk im Nachwort des zweiten Teils der Suhrkamp-Werkausgabe betont,
widersetzen sich Müllers Texte aufgrund ihrer formalen Vielfalt tatsächlich den
Konventionen möglicher Zuordnung zu einem traditionellen Gattungskanon. »Müller schrieb
jenseits der Ordnungen. […] immer trieb die Gewalt seiner Sprache [die Texte] in eine jede
formale Konvention sprengende Dichtung!« (W 2 196f.) Zwar erleichtert die herkömmliche
Gattungseinteilung die Orientierung im Gesamtwerk, hat jedoch für das Verständnis
desselben keinerlei Wert. Müllers späten Gedichte etwa sind komprimierte dramatische
Sprengsätze. Der ›Prosatext‹ BILDBESCHREIBUNG hat nicht zu Unrecht eine
Bühnenpräsenz, die viele von Müller explizit als Theaterstücke konzipierte Texte in den
Schatten stellt. Das Gleiche gilt für seine Interviews und eben auch für KRIEG OHNE
181
»Mit der Beendigung des Textes ist […] jede Erinnerung an die Fakten ausgelöscht.« (KOS 47) Zudem
entstünden »aus einem Überdruck an Erfahrungen, […] die so schockhaft sind, dass man sie nicht ohne
Störungen verarbeiten kann […] Verdrängungsapparate.« (KOS 72f.)
35
SCHLACHT. Der Text stellt eine Collage Müllers literarischen Formenarsenals dar. Er reiht
Lyrik, Prosa, dramatische Rede und Interview aneinander und zitiert ausführlich andere
(eigene wie fremde) Texte. Im Anhang wird die Formenvielfalt noch einmal durch ein
unkommentiertes historisches Quellenmaterial überboten, das in seiner Beschaffenheit den
Kontext einer literarischen Autobiografie wesentlich erweitert. Zufolge des Nachwortes will
Müller seinen Text selbst jenseits von Literatur verortet wissen und verweist damit auf die
Grenzen eines Literaturbegriffes, der einen solch hybriden Text nur zu fassen vermag, indem
er ihn trivialisiert 182 . Mit dem Anhang liegt ein Material vor, das der ›Lebensbeschreibung‹
als Appendix nur auf den ersten Blick nachgeordnet scheint, tatsächlich verleiht es dem Text
der Autobiografie nachträglich eine neue Struktur. Schließlich kommen mit dem in der
Taschenbuchausgabe von 1994 angefügten Dossier von Akten des Ministeriums für
Staatssicherheit der DDR noch ganz andere Autoren ins Spiel.
Trotz der formalen Einzigartigkeit im Werkzusammenhang Müllers und der Spezifik der
Kommunikationssituation lassen sich in KRIEG OHNE SCHLACHT ähnlich komplexe
Strukturen ausmachen wie in seinen anderen poetischen Arbeiten. Dennoch ist der Text weder
seinen dramatischen Arbeiten zuzuordnen, noch seiner Lyrik, Prosa oder den explizit als
Interview ausgewiesenen Texten. Deutet die explizite Bezeichnung »Eine Autobiographie«
auf ein Genre hin, das in der Regel der Prosa verpflichtet ist, womit die anekdotische
Erzählweise Heiner Müllers durchaus auch korrespondiert, wirkt das hohe Maß an
Selbstreflexivität des Textes einer unproblematischen lebensgeschichtlichen
Selbstbeschreibung indessen diametral entgegen. Der Verweis auf die Entstehung aus einem
autobiografischen Interview transportiert zwar ein Stück seines Entstehungsprozesses, ist
jedoch keine Rechtfertigung für die im veröffentlichten Text erhaltene kaum noch als
dialogisch zu bezeichnende Anlage. Die Fragen der ›Interviewer‹ sind dem Text oft
nachträglich hinzugefügt und haben vor allen Dingen strukturierende Funktion. Von nicht zu
unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der von Heiner Müller favorisierte
offene Werkbegriff, demzufolge der Schreibprozess wichtiger ist als das relativ zufällige
Produkt oder Werk, das in keinerlei Hinsicht als hermetisch oder abgeschlossen gelten kann.
Unter Verweis auf die Eigenbewegung des Materials sträubt sich Müller gegen die starre
Fixierung im Werk und wendet sich damit »Gegen den (Pseudo)begriff der Vollendung«
(HMA 4951), der ja auch seine Theaterarbeit strukturiert. Autorisierte Fassungen sind nur
vorläufige Zugeständnisse an einen Literaturbetrieb, der den Gesetzten des Marktes
unterworfen ist und also die bestehenden Besitzverhältnisse reproduziert. »Das Vollendete
(›Fertige‹) ist d[as] Misslungene.« (ebd.) Der Regisseur Müller begreift das Theater als
Laboratorium, in dem seine Texte einer anderen Realität ausgesetzt werden, an der sie
potenziell immer auch zerbrechen können. Ein wesentlicher Impuls etwa Müllers Regiearbeit
ist das notwendige Scheitern der Autor-Intention an der Realität des (körperlichen) Theaters.
Indem es den Text auf seine Prozessualität zurückführt, durchbricht es die Illusion seiner
Abgeschlossenheit. Müllers Autobiografie kann ebenfalls als Versuch gelesen werden, eine
dramatische Struktur für das eigene Leben zu finden, das damit enteignet wird – ein Vorgang,
der Thema vieler seiner Stücke ist. Wie jeder Text Müllers ist auch KRIEG OHNE
SCHLACHT nicht zuletzt dadurch ein poetisches und zugleich poetologisches Projekt, das
182
Der Blick auf die Rezensionen zu KRIEG OHNE SCHLACHT macht deutlich, dass Müllers Autobiografie
vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt rezipiert wurde.
36
seinen Entstehungsprozess im Resultat nicht aufhebt und so überwindet, sondern im Gegenteil
bewusst thematisiert. Die Bruchkanten sind der Ausweis der Qualität des Textes.
EINE AUTOBIOGRAFIE produziert ihre eigene ›Gattung‹. Die Parameter für die
Beschreibung des Textes müssen in der Komplexität des Werkes selbst aufgespürt werden.
Die Vielfalt der autobiografisch ausgerichteten Produktion, die bei Müller nie primär der
Selbsterkundung dient, sondern der Suche nach den (blutigen) Wurzel unserer Gesellschaft,
wird in KRIEG OHNE SCHLACHT noch einmal zusammengefasst und auf die Spitze
getrieben von einem Autor, der sein historisch gewordenes künstlerisches Selbstverständnis
immer wieder als Produkt geschichtlichen Geworden-Seins ausstellt 183 . Einen kohärenten
Sinn erhält der Text demzufolge nicht im Hinblick auf die Person Heiner Müllers, sondern
erst in Bezug auf ein literarisches Werk, dass er kommentiert, zitiert, reflektiert,
umschreibend transportiert und an dem er zugleich partizipiert. Die Frage nach der Gattung
öffnet den Blick auf eine weit wichtigere Frage: Was ist jenseits von deskriptiven
Gattungsnormen das Ziel einer von Müller immerhin mehreren Überarbeitungsschritten
unterworfenen Selbstbefragung? Dient diese Form literarischer Selbsterfindung nicht
vielmehr der Dekonstruktion subjektiver Verfasstheit und stellt somit letztendlich das
Verschwinden des Autors in der dramatischen Konstruktion des Langinterviews dar?
Schon die knappe Einführung in das Paradox eines autobiografischen Diskurses lässt deutlich
erkennen, dass die Annäherung an Heiner Müllers Autobiografie mit dem Instrumentarium,
das die literaturwissenschaftliche Autobiografieforschung zur Verfügung stellt, äußerst
problematisch ist – nicht zuletzt weil eine Gattungsdefinition nach dem Verdikt de Mans 184
kaum mehr sinnvoll erscheint. Dennoch – oder gerade wegen des problematisierten
Gattungsbezuges – interessiert Heiner Müllers Autobiografie nicht in erster Linie im Kontext
der literaturwissenschaftlichen oder soziologischen Autobiografieforschung. Um den Blick
für das Besondere an KRIEG OHNE SCHLACHT zu schärfen, ist vielmehr der Umweg über
Müllers Kunstverständnis notwendig – eine Ästhetik, die »Inseln der Unordnung« (W 8 245)
schafft und vor allen Dingen, die Leben und Kunst nicht trennt: »… ich trachte lange nicht
mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke.« 185 Die Frage nach den nicht notwendig
von Müller intendierten Strategien der Selbstinszenierung und den daraus sich ergebenden
Folgen für den Text leiten sich in erster Linie aus der Diskrepanz zwischen Sprecher,
Autorinstanz und aufgerufener Geschichte her, die keineswegs miteinander in
Übereinstimmung zu bringen sind. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang daher nicht die
empirischen Sedimente der Erinnerung, sondern der Modus des Erinnerns im Hinblick auf
seine Nutzbarmachung für die Konstruktion des Kunstprodukts Heiner Müller. Nimmt man
den/die Textproduzenten allerdings vom Resultat aus in den Blick, hat das den Vorteil, dass
die autobiografischen Selbstaussagen als Medien der Selbstkonstitution Informationen über
die Strategien dieser Konstruktion liefern. Entsprechend zielt die vorliegende Untersuchung
auf die Performativität lebendiger Erzählung anstatt sich auf das Glatteis empirischer
Rekapitulation notwendig immer unabgeschlossenen Lebens zu begeben.
183
»Die ästhetische Entfaltung individualpsychologischer Motivationen führt dazu, dass sie ihren privaten
Charakter verlieren, indem ihre historische Substanz freigelegt wird. Denn obwohl sie dem jeweiligen
Subjekt als unmittelbar gegeben erscheinen, sind sie doch historisch produzierte.« (Raddatz 1991, 7)
184
s. a. De Man 1993, 134f.
185
Nietzsche-W 2, 477
37
2.3. Die Lücke im Ablauf
Der Schauplatz des müllerschen Denkens ist der Bereich der Ästhetik. Von hier aus blickt er
auf die Traumata der Geschichte. Wie für alle Begriffe Müllers gilt daher auch für seinen
Geschichtsbegriff das Primat des Ästhetischen. Müller betreibt keine Historie, wenn er die
Wunden der Vergangenheit freilegt. Ebenso wenig betätigt er sich als Geschichtsphilosoph,
wenn er philosophische Kategorien aus ihren Kontexten heraussprengt, um sie seinen
dramatischen Gebilden einzuverleiben. Müller montiert, collagiert, konstruiert. Er erfindet
nicht – er findet. Der Steinbruch der Geschichte liefert kein beliebiges Material zur
willkürlichen Verwertung, sondern ein präformiertes. Das Herauslösen einzelner
Bruchstücke/Momente zum Zweck der Einfügung in neue Zusammenhänge basiert nicht auf
der Ablösung einer Technik von ihrer gesellschaftlichen Funktion, nicht mit Hilfe des
Trennens von Form und Inhalt also, sondern es geschieht als struktureller Zusammenstoß
einer Konstellation der Gegenwart mit einer Konstellation der Vergangenheit. Die von
Benjamin für den materialistischen Historiker geforderte Heraussprengung von
Versatzstücken aus dem geschichtlichen Prozess 186 schlägt sich dabei ebenso in Müllers
Dramaturgie nieder wie die Implosion von Geschichte in eine Traumstruktur. Geschichte ist
in diesem Zusammenhang nichts anderes als geschichtetes Material. In seinem Denkbild
AUSGRABEN UND ERINNERN beschreibt Benjamin die Medialität der Erinnerung 187 ,
indem er das Gedächtnis mit dem ›dunklen Erdreich‹ des Archäologen vergleicht. »Wer sich
der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein
Mann, der gräbt. […] unerlässlich [ist] der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle
Erdreich. Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und
nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte
aufbewahrt.« 188 Benjamins Beharren auf der Medialität der Erinnerung ist der Einsicht
geschuldet, dass Erinnerung als unvermittelte Präsentation des Vergangenen nicht möglich ist.
Das Gedächtnis ist demzufolge »nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit […],
sondern deren Schauplatz.« 189 Müllers Blick auf Geschichte entspricht diesem Blick des
Archäologen auf Geschichtetes. Er lässt die verschiedenen Schichten ineinanderstürzen, ohne
ihren Fundort zu revidieren. Dadurch stellen sich Konstellationen und Zusammenhänge her,
die anscheinend Entferntes miteinander verketten. Müller bezeichnet die Archäologie als die
»einzige Methode, wie Kunst mit Geschichte umgehen kann« (GI 2 89). Dabei sei der
Vorgang des Ausgrabens immer mit anwesend. »Nur dadurch hast du die Verbindung
zwischen heute und damals, dem alten Stoff und dem heutigen Umgang.« (ebd.) Mit Sicht auf
die eigene Krebsoperation beschreibt Müller die archäologische Methode in der chirurgischen
Terminologie: »Darstellen heißt weglassen.« (s. a. LV 16) Der bucklige Zwerg Benjamins 190
(der von der materialistischen Geschichtswissenschaft hinter dem Begriff des Fortschritts
verborgene Gott) wird von Müller als nicht hinwegzumogelnde Differenz gezeigt, die den
gesellschaftlichen Fortschritt als Geschichtsmühle im Leerlauf erscheinen lässt, ohne von der
186
s. a. Benjamin-GS I, 701
187
Eine differenzierte Darstellung der Medialität des Gedächtnisses findet sich in dem Band »Schrift und
Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation«, herausgegeben von Aleida u. Jan
Assmann/Christoph Hardmeier. München 1983
188
Benjamin-GS IV, 400; s. a. Benjamin-GS VI, 486f.
189
ebd. (Hervorhebung LDR)
190
s. a. Benjamin-GS I, 693
38
notwendigen Veränderung der Verhältnisse absehen zu wollen oder zu können. Dabei zielt
das Pathos des müllerschen Emanzipationsanspruches nicht auf die Herstellung eines – wie
auch immer gearteten – idealen gesellschaftlichen Zustandes, sondern auf den Willen als
Bewegungsprinzip permanenter Veränderung selbst: »Wirklicher Fortschritt ist nicht
Fortgeschrittensein, sondern Fortschreiten«. (GI 3 137)
Eines der frühesten und wichtigsten Zeugnisse für Müllers Auseinandersetzung mit der
Geschichtsphilosophie Walter Benjamins ist das Gedicht DER GLÜCKLOSE ENGEL:
DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll
auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich
die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort
umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man
noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm
niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer
wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten
Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der
Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge
sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt. 191
In dem vermutlich 1958 entstandenem Gedicht wird der Engel der Geschichte von der
Vergangenheit verschüttet, von der Zukunft erstickt und erstarrt im steinernen Grab der
Geschichte. Im Rücken den Kot der Vergangenheit, geblendet und gewürgt von der Utopie,
die einst Zukunft verhieß, und eingeschlossen im »Augenblick« (die mögliche »Lücke im
Ablauf«?), ist die Geschichte für den Engel in einen zeitlosen, mythischen Raum
zusammengedrängt. Im Gegensatz zum Engel Benjamins schwebt dieser nicht über dem
Geschichtsprozess, sondern steht mitten in ihm. Seine Praxis – das »Flügelschlagen« –
bestimmt den Rhythmus, in dem die »Steinschläge« auf ihn niedergehen. Wie in HERAKLES
2 wird jeder Versuch des eingreifenden Veränderns zum möglichen Schlag gegen die
Eigensubstanz (s. a. W 4 427). Die Erstarrung ist daher ebenso total wie freiwillig. Sie ist der
Schutzwall zur Bewahrung subjektiver Geschichtswahrnehmung durch das seiner selbst
gewisse Individuum. Als ›konstruktiver Defaitismus‹ eines ›Maulwurfs‹ (s. a. W 8 187) ist
daher auch jener andere Flug lesbar, »das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge«, das
sich »in Wellen durch den Stein fortpflanzt«. Der Stein ist dem aus der Erstarrung sich
befreienden Engel zum neuen Lebensraum geworden. Indem sich der Engel aus dem Kokon
der Verschüttung/Erstarrung befreit und seine Bewegungen auf den Stein überträgt, gewinnt
die Versteinerung als (Lebens)Raum eine neue Qualität. Der »Stillstand der Geschichte« wird
in Müllers Gedicht, ganz im Sinne Benjamins 192 , zur Voraussetzung der ›Sprengung des
Kontinuums‹. Der Flug des glücklosen Engels beschreibt die Umwertung einer versteinerten
Geschichtszeit in die Dynamik der Utopie jenseits der Idealisierung, beziehungsweise
191
W 1 53. In einem Interview mit Michael Opitz von 1991 bezeichnet Müller den Schluss seines Gedichtes
allerdings selbst als »ein bisschen flach optimistisch« (Müller 1991, 350).
192
Für Benjamin hat die »Stillstellung«, die »erstarrte Unruhe«, einen positiven Gehalt, indem sie erlaubt, das
Kontinuum des historischen Prozesses – verstanden als Folge von Steinschlägen – zu unterbrechen und
somit die Gegenwart nicht einfach zum Glied einer Kette der Zeit zu machen. Benjamin bezeichnet die
»Stillstellung« als das eigentlich revolutionäre Moment. Müller sieht in der bisherigen Geschichte gar nicht
erst Bewegung. Der Stillstand, der Augenblick, der sich über seinem GLÜCKLOSEN ENGEL schließt, ist
die Stagnationszeit der »Vorgeschichte«, aus der es auszubrechen gilt.
39
Ideologisierung einer Zukunft, die lediglich vermag, ihm die Augäpfel zu sprengen. Müllers
Gedächtnisarbeit ist ein Kanalisationsprojekt. Die »Scheiße« (W 4 547), manifest auch in
Metaphern wie »Versteinerung« (s. a. W 3 163) oder »Kalkfell« (W 5 80), muss immer
wieder weggespült werden, um die lebendigen Strukturen freizulegen. Indem der Engel die
katastrophische Bewegung der Geschichte auf sich selbst fokussiert und das zeitlich verstreute
Konfliktpotenzial in einem dramatischen Raum der Erstarrung um sich herum anordnet,
forciert er die Explosion des Geschichteten.
Eine Gefahr besteht in der zu schnellen und bedingungslosen Umwälzung der bestehenden
Verhältnisse. Der Engel benötigt die Versteinerungen der (Vor)Geschichte notwendig als
Lebensraum. Die überstürzte Ausbesserung der (vor)historischen Ruinen führe indes zurück
in ein längst nicht überwundenes Dilemma: »Die Kontinuität schafft die Zerstörung. Die
Keller [der Geschichte] sind noch nicht ausgeräumt und schon werden Häuser darauf gebaut.
Man hat sich nie Zeit genommen, die Keller auszuräumen, weil immer neue Häuser über
denselben Kellern stehen.« (GI 2 32) Dem Organischen dieser destruktiven Kontinuität setzt
Müller seine konstruierten Ruinen entgegen: »Stückwerk als Methode.« 193 Er bedient sich
dazu, wie a. a. O. im Zusammenhang mit KRIEG OHNE SCHLACHT noch näher
auszuführen sein wird 194 , intertextueller Techniken, die es erlauben, »tiefgreifende
Differenzen schlaglichtartig zur Anschauung zu bringen« 195 . Es ist der Versuch, durch Texte
Räume zu schaffen, die an der scheinbaren Kontinuität der bestehenden Ordnung nicht
weiterbauen, sich der Gesetzmäßigkeit des Alten und seiner ewigen Wiederkehr entziehen.
»Das Ruinieren wäre also ein Verfahren, die für jede Erkenntnis notwendige Differenz von
Gegenwart und Vergangenheit, von Wunsch und Wirkung, von Plan und Verwirklichung
herzustellen. Durch Ruinieren erzwingen wir Differenzen im unterschiedslos Vorgegebenen;
die Ruine ist Vergegenständlichung der erzwungenen Differenz.« 196 Die Destruktion als
Technik der Konstruktion vermeidet die stabilisierende Geschlossenheit der gewöhnlich
praktisierten Geschichtsklitterung. »Die Ruine ist ein gebrochenes Zeichen der Totalität. Sie
ist ein Ganzes, an dem sich die Gerechtigkeit der Zerstörung vollzogen hat.« 197 Ruinen sind
Steinbrüche. Als Monumente und Memento bewahren sie das Vergangene. Als Lücke im Text
verweisen sie zugleich auf das »uneingelöste utopische Desiderat« 198 .
Geht Müller in den Lehrstücken der »Versuchsreihe« 199 zumindest der Form nach von der
prinzipiellen Erziehbarkeit des Menschen aus, werden die für den Imperativ gesellschaftlicher
Emanzipation verwendeten Bilder während der sechziger und siebziger Jahre zunehmend
drastischer und düsterer. In MAUSER besteht immerhin noch die Hoffnung, den Menschen
aus dem »Kot seiner Geschichte« (W 4 253) ausgraben zu können. In der
HAMLETMASCHINE fällt dem geflickten Subjekt der Geschichte, »im Rücken die Ruinen
von Europa« (W 4 545), indes nichts mehr ein, als das »BLABLA« (ebd.) der Brandung zu
respondieren. Immerhin deutet die Erstarrung der weiblichen Antagonistin in der »Tiefsee«
193
Wolf Biermann: Die Müller-Maschine … a. a. O. 154
194
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »2.2. Intertextualität“ im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit
195
Keller 1992, 70
196
Brock 1986, 179
197
Bolz 1996, 9
198
Werner 2001, 288
199
W 4 259. Mit diesem Begriff bezeichnet Müller die Stücke, PHILOKTET, Der HORATIER und MAUSER,
die in der Auseinandersetzung mit Brechts Lehrstück entstanden sind und in Müllers Absage an Steinweg
1977 (s. a. W 8 187) kulminieren.
40
(W 4 553) auf eine Bewegung voraus, die vielleicht jenseits der terrestrischen Geschichte
einmal zum Tragen kommen könnte. Durch den extremen Gegensatz von Stillstand der
Aktion und dynamischer Zukunftsprojektion 200 , wird das ›wilde Harren‹ (s. a. W 4 553) der
gewaltsam stillgestellten Racheenergie Ophelias zum utopischen Sprengsatz. Als Racheengel
verweist sie auf einen anderen Typus des Engels, der seit Ende der siebziger, parallel zur
Verschiebung Müllers Interesse von der Revolution der Zweiten auf die der Dritten Welt‹
bereits in LEBEN GUNDLINGS (als »Wüstengott Zebahl« 201 ) zu Wort kommt und in DER
AUFTRAG (als Engel der Verzweiflung 202 ) wiederkehrt. In LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN fegt er in Gestalt eines Kampfflugzeugs im Tiefflug »die Leichen vom
Plateau« 203 . Der Verdacht, eine »leere Zeit« 204 als erfahrene oder erwartete Katastrophe zu
durchlaufen, verstärkt den Wunsch, sich »die Uhr aus [der] Brust« (W 4 548) zu reißen oder
den »Körper in ein Geschoss zu verwandeln, das die Decke des Fahrstuhls durchschlagend die
Zeit überholt« (W 5 30) – Metaphern die sich auf Benjamins auf Turmuhren schießende
Revolutionäre beziehen. 205 Der empirischen/mechanistischen Wahrnehmung der Zeit wird die
historische Zeit gegenübergestellt, die nicht von den Gesetzen physikalischer Kausalität
bestimmt wird. 206 Revolution wird zur Notbremse einer aus den Fugen geratenen Zeit.207 Der
Sturz vom Boot in den ›Malstrom‹ 208 verlangsamt die Bewegung, die in ihrer totalen
Beschleunigung zum »Nullpunkt« (GI 3 154) führt, an dem das Boot zerschellt.
Um Geschichte als Reservoire des Utopischen überhaupt wieder denkbar zu machen, ist
zunächst ihre Negation zu betreiben. Die »Lücke im Ablauf« (W 2 118) wird zum auf
verschiedenste Weise immer wieder von Müller artikulierten Ausweg aus dem Kontinuum
leerlaufender Zeit. Im Anschluss an Baudrillard formuliert Müller im Interview: »Die einzige
Hoffnung sind die Fehler, die Zufälle – das, was nicht funktioniert. […] Die Entwicklung geht
doch in Richtung einer Ersetzung der Wirklichkeit durch ihr Abbild. Das heißt in der
Verlängerung: Die Ersetzung des Menschen durch den Computer. Unsere einzige Hoffnung
ist der Fehler, der Zufall, die Katastrophe.« (GI 2 158) Nicht also von einer historischen
Gesetzmäßigkeit könne der entscheidende Bruch des geschichtlichen Kontinuums erwartet
werden, sondern vielmehr nur durch die bewusste Durchbrechung des linearen Zeitflusses,
der, wie im Bild des GLÜCKLOSEN ENGELS, Stillstand bedeutet. Die Herausnahme des
200
»Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht …« (W 4 554)
201
Wie im letzten Bild der HAMLETMASCHINE die Figuren der Ophelia aus DIE HAMLETMASCHINE
oder Sasportas aus DER AUFTRAG ist Zebahl, als Gefangener des psychiatrischen Diskurses (Foucault),
einerseits handlungsunfähig, auf der anderen Seite verbalisiert er die »totale Mobilmachung« (Ernst Jünger)
der Landschaften gegen den Menschen (s. a. W 4 529)
202
»Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von Morgen.« (W 5 17) s. a. Müllers Text DIE
EINSAMKEIT DES FILMS: »Die Befreiung der Toten wird uns aus dem anderen Tod nicht heraushalten,
der die Auferstehung der Lebendigen ist. Der Engel der Revolution wohnt auf den Friedhöfen nur so lange,
bis er seinen Flug antritt.« (W 8 237)
203
W 5 83. In Müllers Text BILDBESCHREIBUNG ist vom »Tiefflug der Engel« (W 2 118) die Rede.
204
Benjamin-GS I, 701
205
s. a. Benjamin-GS I, 702
206
»Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde
genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt.
Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren.« (Benjamin-GS I, 701f.)
207
Seit Ende der achtziger Jahre verweist Müller immer wieder auf Benjamins Marx-Kritik: »Marx sagt, die
Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht
sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«
(Benjamin-GS I, 1232; s. a. GI 3 135, 145, 154, 193f.; LN 48f.)
208
s. a. Poe-GW II, 292–315
41
Konfliktes aus der geschichtlichen Verkrustung ermöglicht seine Dynamisierung in der
Explosion 209 , die die Erstarrung (und damit die Geschichte) zerstört. »Auf den Trümmern
Europas« (W 8 188) beginnt die (eigentliche) Geschichte des (Neuen) Menschen. Die Gefahr
besteht allein darin, dass der »erlösende FEHLER« (W 2 118) »während des Blinzelns
passiert, der Sehschlitz in die Zeit sich auftut zwischen Blick und Blick« (W 2 119), und
damit den Sprung aus der Vorgeschichte in die Geschichte verhindert. Müller versucht mit
Hilfe der Kunst die synthetische Herstellung von Fehlern: »das Insekt im Bernstein« (W 8
260). Die Kunst vergegenwärtigt den Augenblick des Absprungs in die Zeit. Sie vermag die
»Lücke im System, den immer neu bedrohten und neu zu erobernden Freiraum zwischen Tier
und Maschine, in dem die Utopie einer menschlichen Gemeinschaft aufscheint« (W 8 261)
offen zu halten, um so einen »Freiraum […] für das Denken eines andern Ablaufs« (W 8 266)
zu schaffen. Müllers Suche gilt der »Lücke im Ablauf« (W 2 118, Hervorhebung LDR), der
Bewegung im Stein – nicht dem Jenseits der Tretmühle der Geschichte. Die eigenen
Bedingungen müssen am Ort ihres Auftretens korrigiert werden. Es geht nicht um die
»Unterbrechung eines Teufelskreises« 210 , sondern um das Aufspüren der Differenz: »das
Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der
Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER.« (W 2 118, Hervorhebungen LDR) Wie in
Kafkas FORSCHUNGEN EINE HUNDES ist die Suche nach dem »alles verschuldenden
Fehler« die einzige Begründung für den Sinn des eigenen Handelns. »Immer mehr in letzter
Zeit überdenke ich mein Leben, suche den entscheidenden, alles verschuldenden Fehler, den
ich vielleicht begangen habe, und kann ihn nicht finden. Und ich muss ihn doch begangen
haben, denn hätte ich ihn nicht begangen und hätte trotzdem durch die redliche Arbeit eines
langen Lebens das, was ich wollte, nicht erreicht, so wäre bewiesen, dass das, was ich wollte,
unmöglich war und völlige Hoffnungslosigkeit würde daraus folgen.« 211
Die utopische Leerstelle markiert den Ort desjenigen, »das nicht dargestellt werden kann« 212 .
Das Bilderverbot 213 , die konsequente Verweigerung einer positiven Darstellung des
möglichen Neuen, schafft den Freiraum für das ›Denken eines andern Ablaufs‹. Wiederum
scheint Müller auch auf Benjamin zurückzugreifen. In seinem Denkbild DER
DESTRUKTIVE CHARAKTER begründet der sein Bilderverbot: »Dem destruktiven
Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu
wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere
Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer
finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen.« 214 Die Destruktion schafft einen Freiraum.
Auf ein Bild, das die Destruktion teleologisch auf einen Endzweck hin ausrichten würde, wird
ebenso verzichtet wie auf ein Subjekt, das von diesem Raum Besitz ergreifen könnte. Müllers
scheinbar resigniertes »Warten auf nichts« in einer LEERE(N) ZEIT (W 1 288) mit einem
Engel, von dem man nicht weiß, ob sich hinter seinem Gesicht vielleicht nicht gar eine
209
Mitte der achtziger Jahre dreht Müller dieses Bild um. Nun dem benjaminschen Prinzip der Stillstellung
identisch heißt es: »Der Stillstand ist die Explosion, die Explosion ist der Stillstand. Das Auge des Taifuns
hat keine Lider.« (W 8 286)
210
Maier-Schaeffer 1995, 33
211
Franz Kafka: Forschungen eines Hundes. In: Das Werk. Ffm. (Zweitausendeins) 2004, 980–1010, hier 991
212
Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Welsch 1988, 203
213
»… ein Bild ist auch immer eine Verdrängung von anderen Bildern, ein Zudecken der anderen. […] Das hat
auch etwas mit Selektion zu tun.« (GI 2 92)
214
Benjamin-GS IV, 397 (Hervorhebung LDR)
42
fürchterliche Grimasse verbirgt (s. a. W 1 236), verlegt das utopische Potenzial dieses
Freiraums auf die Zeitachse und rettet es so über eine Zeit hinweg, in der es keinen Raum
mehr hat. Nur in diesem Sinne sind Müllers Schriften noch »einsame Texte, die auf
Geschichte warten« (W 8 187). Gegen Ende Müllers bewusst als fliehend empfundener
Lebenszeit harren sie immer ungeduldiger und wilder ihrer Geschichte.
Wenn »die LEHRE so tief vergraben und außerdem vermint ist« (ebd.), wie das in Müllers
Augen bereits Ende der siebziger Jahre augenscheinlich der Fall war, »muss man gelegentlich
den Kopf in den Sand (Schlamm Stein) stecken, um weiterzusehn.« (ebd., s. a. LN 24)
Vergessen bedeutet in diesem Zusammenhang bewahren 215 . Das Vergangene ist der
formenden Arbeit des Bewusstseins, der Erinnerung, nicht ausgesetzt und harrt einer Zeit, wo
es von Nutzen sein kann wie die Ophelia der Tiefsee im Schlussbild Müllers
HAMLETMASCHINE. Die letzte Metapher der BILDBESCHREIBUNG, die eigentlich eine
»Übermalung« (W 2 119) darstellt, welche sich vergeblich gegen die eigene Fixierung
sträubt, zitiert Benjamins »graphé«-Begriff, der die Erinnerung als »Dialektik im
Stillstand« 216 fasst. Bei Müller ist diese »erstarrte Unruhe« 217 die letzte Metamorphose eines
im Verschwinden bewahrten Subjekts: »ICH der gefrorene Sturm.« (W 2 119) Der Text, der
Hegels Dramenästhetik ad absurdum führt, ist lesbar als techné im Sinn einer
gesellschaftlichen Praxis: Das Scheitern des Autors, »das Stottern im sprachlosen Text« (W 2
118), zeigt sein Verschwinden an, das Ende der Repräsentation. Die kohärente
Sinnzuschreibung durch einen Autor fällt in eine Vielzahl minoritärer Blickwinkel
auseinander.
215
»Bewusstsein und Gedächtnis schließen sich nämlich aus.« (Derrida 1976, 316) Freud zufolge bleibt das
Unbewusste unverändert. »Die Erinnerungsreste (Dauerspuren) sind am haltbarsten, wenn der sie
zurücklassende Vorgang niemals zu Bewusstsein gekommen ist.« (Freud-SA 3, 235)
216
Benjamin-GS V, 577
217
Benjamin-GS V, 414
218
Bloch 1970, 279
43
Vergangenheit als Streitfall und Objekt des Eingedenkens neu verhandelt wird. Gleich
Gespenstern wandeln Müllers Texte durch die Abraumhalden der abendländischen
Geschichte, wo sie die Reste und Differenzen auflesen, um sie dem Geschichtsprozess wieder
einzuspeisen. Das an Benjamins neunte geschichtsphilosophische These 219 angelehnte Bild
von der Zukunft im Rücken intendiert – soll das emanzipatorische Potenzial dieser Zukunft
freigesetzt werden – Erinnerung. Der Vorgang des Erinnerns ist für Müller kein Erinnern von
Fakten, denn »das können Maschinen […] letztendlich besser« (VE 341). Es gehe ihm
vielmehr um »… das Erinnern von Emotionen, von Affekten, die im Zusammenhang mit
Ereignissen stehen. Um ein emotionales Gedächtnis. […] Die historische [Wahrheit] ist
manchmal gar nicht identisch mit der empirischen, weil die Ereignisse, wenn sie manifest
werden, wenn sie geschehen, oft schon vorbei sind. Sie sind vorher passiert, die eigentliche
Bewegung hat längst stattgefunden.« (VE 341) Müller zieht die Fantasie der Wahrheit im
Sinne empirischer Messbarkeit vor (s. a. GI 2 36). Ohnehin funktioniert die Erinnerung nicht
wie ein Datenspeicher. 220 Sie taugt nicht zur mimetischen Wiederholung akkumulierten
Materials. Im Gegenteil, sie hat viele Pforten. So heißt es in einer handschriftlichen Notiz aus
Müllers Nachlass: »in den Kammern meines Gedächtnisses / Herzkammer / Manchmal ist das
Gedächtnis eine Dunkelkammer, in der plötzlich ein vergessenes Bild aufscheint (manchmal
nur ein Blitz mit dem es wieder verschwindet« (HMA 5266). Zudem gehe die Erinnerung
selektiv vor, wie Müller in einer für den Drucktext von KRIEG OHNE SCHLACHT
gestrichenen Passage seiner Autobiografie betont: »… überhaupt erinnere ich mich fast nicht
mehr an Gespräche, das Gedächtnis ist völlig selektiv. Ich erinnere mich zunehmend nur noch
an das, was ich gebrauchen kann, und von dem, was ich gebrauchen kann, habe ich eigentlich
schon genug, beziehungsweise es wird immer weniger. Und dann interessiert mich die
Szenerie viel mehr als das Gerede.« (SUSCHKE 457) Statt der einen Erinnerung müsse daher
von einer Vielzahl divergierender Erinnerungen ausgegangen werden. In ihrem Kafka-Buch
wenden Deleuze/Guattari das Modell der vielen Eingänge auf die Literatur an. »Schreiben hat
nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessen und Kartografieren, auch des
gelobten Landes.« 221 Heiner Müller bezeichnet sich selbst als Landvermesser 222 . Tatsächlich
ist er ein Land- und Raumausschreiter, ein De- und Reterritorialisierungsspezialist, kurz: ein
Nomade par excellence. Trotz der Zurückweisung der Rollen des Philosophen 223 , des
Archäologen 224 und des Propheten 225 , haften ihm von all diesen Wissen(schaft)szweigen
Elemente an. Müller unterwandert jedoch all diese Theoriegebäude mit seiner künstlerischen
Praxis, als defätistischer Maulwurf. Der Maulwurfbau kennt viele (Ein)Gänge. Die ›Karte‹
219
Benjamin-GS I, 697f.
220
»Die Übersetzung des zu Erinnernden ins Erinnerungsbild ist bereits Entstellung, schon in der
Repräsentation eines Zeichens durch ein anderes, das an dem ersteren nicht partizipiert, sondern es lediglich
über eine similitudo ergreift, beginnt die Entstellung. Die similitudo garantiert nicht das Abbild vom Urbild,
sondern ist simulatio.« (Lachmann 1990, 30)
221
Deleuze/Guattari 1976, 8
222
In Anspielung auf den Landvermesser K. aus Kafkas Roman DAS SCHLOSS, bezeichnet sich Müller im
Gespräch mit Alexander Kluge auf die Frage hin, ob er sich eher für einen »Land- und Zeitvermesser« oder
einen »Propheten« hält, als »Landvermesser« (LV 37). In seinem Nachruf auf Heiner Müller bezeichnet
Kluge den Dramatiker als Seismografen: »Er ist ein Seismograf, der genau misst. Und der misst so genau
wie ein Quantenphysiker.« (Alexander Kluge: Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind. In: KALKFELL,
145–147, hier 145)
223
»… ich bin kein Philosoph, der zum Denken keinen Grund braucht«. (W 8 187)
224
»…ein Archäologe bin ich auch nicht«. (ebd.)
225
»… ein Prophet, das wäre aber ganz falsch.« (LV 37)
44
des defätistischen Tunnelsystems ist keine Abbildung oder ›Kopie‹, die Wirklichkeit
(re)produzieren würde. Im Gegensatz zur Kopie nämlich reproduziert sie nicht, sondern
konstruiert. Sie eröffnet »innerhalb der Wahrnehmungswirklichkeit ein Maximum an
Wahrnehmungsmöglichkeiten, damit an Gestaltungsgelegenheiten, zeigt die
226
Interventionspunkte des sozialen Feldes.« Genau dies tun Müllers Texte: Indem die
Bruchstellen nicht geglättet werden, bieten sie eine Vielzahl an Angriffspunkten und
Einstiegsmöglichkeiten – und dies trotz ihrer zunehmenden Hermetik. Als »Kopist der
Differenz« transformiert Müller Texte, »die immer schon Umschriften entzogener
vorgängiger Texte sind« 227 . »DISMEMBER REMEMBER« (W 5 193) – Erinnerung und
Vergessen bedingen einander. Müllers BILDBESCHREIBUNG ist ein Paradigma für das
Modell des Palimpsests. Die Aufhebung des Bildes im Text virtualisiert die Zeichen, löst sie
aus ihrer Fixierung, öffnet sie einem ›universalen Diskurs‹. Die Wiederholung produziert
etwas Neues (noch unbestimmtes) anstatt etwas Gegebenes zu reproduzieren. In der
Beschreibung (= Übermalung) ist das Bild zugleich aufgehoben und negiert. Es wird
freigesetzt. Die Beschreibung impliziert den Vorgang der Beschreibung. Sie ist Paradigma
eines produktiven Zusammenspiels von erinnerndem Freilegen und übermalendem Vergessen.
Die Erinnerung schafft das Erinnerte.
Wie bei Benjamin dient die Erinnerung der Wiedergewinnung eines unerledigten utopischen
Anspruchs, der erneut im Gedächtnis verankert werden soll. »… ein erlebtes Ereignis ist
endlich, zumindest in der einen Sphäre des Erlebens beschlossen, ein erinnertes schrankenlos,
weil nur Schlüssel zu allem was vor ihm und zu allem was nach ihm kam.« 228 Die Arbeit
lebendiger Erinnerung besteht in der Bahnung neuer Wege für das zu Erinnernde und nicht in
der Bewahrung des schon Bestehenden. Erinnert wird nicht das ohnehin als Kulturgut
Bewahrte, sondern dasjenige, dem von vornherein die eigene Zerstörung immanent war.
Gedächtnis spielt im Denken Heiner Müllers vor allem als ›Eingedenken‹ 229 eine Rolle, als
Sediment eines Stücks Zukunft in der Vergangenheit. Es hat eine utopische Funktion, ist
Imperativ. Erinnerung ist daher nicht als rückwärtsgewandter, bewahrender Modus zu
verstehen. Der »Tigersprung ins Vergangene« 230 meint nicht Rückzug in die Vergangenheit.
Die Erinnerung ist vielmehr Medium der Aktualisierung eines utopischen Potenzials des
Vergangenen in der Gegenwart. »Man kann die Nachwelt auch in der Vergangenheit haben.
[…] Jeder neue Text steht in Beziehung zu einer ganzen Menge älterer Texte, von anderen
Autoren, und verändert auch den Blick auf sie. Mein Umgang mit alten Stoffen und Texten ist
auch ein Umgang mit der Nachwelt. Es ist […] ein Dialog mit Toten.« (GI 1 137f.) Müllers
Umgang mit Geschichte (insbesondere mit den Versatzstücken der Literaturgeschichte)
schlägt sich in der Gestalt seiner eigenen Texte nieder. Die Wiederholung eigenen Materials
im Selbstzitat weist darauf hin, dass unabgegoltene Relikte der eigenen Textproduktion erneut
zur Disposition gestellt werden. Hinter Müllers mnemotextueller Utopie steht Benjamins
destruktiver Zitatbegriff: »das historische oder literarische Zitat im Augenblick einer
Lesbarkeit, die auf politische Praxis zielt« 231 . Ähnlich dem historischen Denken Benjamins
226
Jäger 1997, 152
227
Werner 2001, 252
228
Benjamin-GS II, 312
229
s. a. Benjamin-GS I, 701
230
ebd.
231
Werner 2001, 172
45
entspringt Müllers Reflexion über Geschichte dem Anspruch, eine Idee lebendig zu halten,
die von ihr als erledigt betrachtet wird. Begreift man das Dasein als nie zu vollendende
Vergangenheit 232 , eröffnet sich eine utopische Perspektive, die auf die Einlösung ihrer
Versprechen bedacht ist. Der Gestus des Geschichtsschreibers, dem sich der Autor Müller
mehr und mehr annähert, schärft seinen Blick für die ruinöse Geschichte. Das Grabungsfeld
des Archäologen macht sein Theater zum Ort der Totenbeschwörung. In diesem Sinne ist
Müllers Nekrophilie als »Liebe zur Zukunft« (JN 7) zu begreifen: »Keine Revolution ohne
Gedächtnis. […] Die Toten schreiben mit auf dem Papier der Zukunft.« (W 8 316) Der
Begriff ›Revolution‹ bezeichnet dabei eine Kunst, die sich ihrer (a)sozialen Funktion immer
bewusst ist. »Gegen die Drohung des Todes, der die Masken der Mode trägt, und gegen den
Steinschlag der Denkmäler, die große Versuchung der Ewigkeit, arbeitet die Kunst an der
unmöglichen Bewegung: Fleisch wächst zurück auf Knochen, Haut auf Fleisch, Nerven
Sehnen Adern stricken ihr Geflecht, das Blut im Schlepptau. DIE BEFREIUNG DER TOTEN
FINDET IN ZEITLUPE STATT.« (W 8 390) Die Kunst von der hier die Rede ist, bezieht die
Zukunft aus der Vergangenheit, die Befreiung der Toten ist ihre Bedingung. Die unmögliche
Bewegung, die dabei stattfindet, hat nichts mit dem fortschreitenden Leerlauf der
Weltgeschichte zu tun, gegen die Benjamins und Müllers Engel anfliegen. Durch die Zeitlupe
behauptet diese Kunst das Zeitmaß einer anderen Wirklichkeit: nicht indem sie diese
beschreibt; vielmehr führt sie durch ihre Bewegung – ihr Werden – diese Wirklichkeit selbst
gestalthaft mit sich. Das utopische Moment liegt im Schaffensprozess selbst, nicht in einem
intendierten fixen Ergebnis oder Werk.
Müllers Totenklage ist prospektiv: »Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des
Augenblicks. Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten.« (JN 31) Der
stalinistische Totenkult, der die Vergangenheit unter sibirischem Marmor begräbt, ist Müller
ebenso suspekt wie die den Tod leugnende glänzende Oberfläche des westlichen
Warenfetischismus. »ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMEN
TOT IST TOT« (W 2 118) Zu den Toten zählen ebenso diejenigen, die keine eigene Sprache
haben, die Vergessenen, Ausgegrenzten, Unterdrückten in jeglicher Hinsicht. Kunst kann, als
minoritärer Gegendiskurs 233 , diese Sprachlosigkeit aufnehmen, denn »die Bewegung kommt
aus den Provinzen.« (KOS 295) Im Gespräch mit Uwe Wittstock beschreibt Müller im Rekurs
auf Nietzsche 234 die vitale Funktion des Tragischen, indem er darauf hinweist, dass der Tod
eines Menschen in der Antike keine Verzweiflung ausgelöst, sondern den Überlebenden Kraft
(nicht Trost!) gespendet hätte (s. a. GI 1 181). In dieser Hinsicht wäre Florian Vaßen
zuzustimmen, wenn er feststellt, »Heiner Müllers Texte vom Tod, von der Zerstörung des
menschlichen Lebens sind keine Nekrologe auf etwas endgültig Totes, vielmehr lebendige
232
Im zweiten Stück der UNZEITGEMÄSSEN BETRACHTUNGEN, VOM NUTZEN UND NACHTEIL
DER HISTORIE FÜR DAS LEBEN, beschreibt Nietzsche das Dasein als »ein nie zu vollendendes
Imperfektum.« (Nietzsche-W 1, 212)
233
Deleuze/Guattari zeigen in ihrem Kafka-Buch Strategien einer solchen Literatur auf. In KRITIK UND
KLINIK schreibt Deleuze, die Literatur sei »ein Anders-Werden der Sprache […], eine Minorisierung jener
großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt, eine Hexenlinie, die aus dem Herrschenden ausbricht.«
(Deleuze 2000, 16)
234
»Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne ins Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben
wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene
Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, notwendige
Erzeugungen eines Bildes ins Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung
des von grausiger Nacht versehrten Blickes.« (Nietzsche-W 1, 55)
46
Totentänze. Ophelias ›Es lebe der Tod‹ als Antwort auf das tote Leben.« 235 Hält die
müllersche Totenbeschwörung einerseits eine geschichtsphilosophische Dimension bereit,
eröffnet sie zugleich eine poetologische Perspektive, indem sie den Dialog mit den Toten im
Sinne Benjamins Gedächtnis der Texte als intertextuelle Technik betreibt. In einer
Selbstbefragung, die Müller dem Scheitern seines GLÜCKSGOTT-Projektes 236 voranstellt,
heißt es: »Stehende Figuren (Götter Denkmäler Typen) sind als Katalysatoren brauchbar,
wenn Erfahrung die Geschichte überholt hat. Versteinerungen, an denen Weisheit sich
ablagern kann, die bei Abruf durch den Fortschritt als Sprengstoff zur Verfügung steht.« (W 3
165) Und zwar nur dann. »Nicht vor der letzten Schlacht werden die Denkmäler bluten.« 237
Das »Theater der Erinnerung« (KALKFELL 28) wird von Müller beschworen, um die
Versatzstücke der Vergangenheit in Bewegung zu halten und die Entropie durch die
Versteinerung in der Monumentalisierung zu verhindern. Um die Patina auf den Denkmälern
durch den wirklichen Fortschritt – der ein Überschreiten im Sinne Nietzsches bedeutet 238 –
zum Leben zu erwecken, der die Gegenwart zu sprengen in der Lage ist, müsse die
Vergangenheit ›befreit‹ werden. »Literatur ist auf jeden Fall so etwas wie Gedächtnis – und
zwar auch Erinnerung an die Zukunft, also Erinnerung an etwas, das noch nicht existiert oder
existiert hat. Literatur ist nicht nur Erinnerung an die Vergangenheit, sondern auch
Erinnerung an Zukunft.« (GI 2 148) Die Kunst kann als »geronnene Erfahrung« (W 8 316)
eine solche Mnemotechnik sein, indem sie, wie der auf halber Augenhöhe mit den Toten
angesiedelte ›tellurische Flaneur‹ 239 Aaron in Müllers TITUS ANDRONICUS, die Leichen
der Geschichte immer wieder ausgräbt, um sie den Angehörigen vor die Tür zu stellen. 240 Der
»Zwang, die Leichen auszugraben« (LN 16) lässt den Akt der Nekrophilie zum utopischen
Vorschein der Zukunft gerinnen. Denn nicht der Tod ist es, den wir verdrängen. Wir
verdrängen die Toten. »Erinnerungsarbeit oder Trauerarbeit geht aus von Schocks« (VE 341),
mit denen man lernen müsse umzugehen, formuliert Müller im Gespräch mit Hendrik Werner.
»Und da geht es dann immer auch um die Befreiung von Toten« (ebd.), die ansonsten in der
westlichen Welt, »außer für die Stadtplanung« (W 8 177), keine Rolle mehr spielen. So
korrespondiert die von Müller festgestellte Unfähigkeit der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, dem
Tod ins Auge zu sehen, ihrer Unfähigkeit, »der Geschichte ins Weiße im Auge zu sehn« (W 8
216): »Wer nicht sterben kann, kann auch nicht leben.« (GI 1 224) Der Umgang der
modernen westlichen Welt mit den Toten und dem Tod, die zugleich die Voraussetzung ihrer
235
Vaßen 1982, 50
236
Es handelt sich hierbei um ein Brechtfragment (DIE REISEN DES GLÜCKSGOTTS, 1941), das Heiner
Müller im Auftrag Paul Dessaus zu bearbeiten versprach. Als das Projekt scheitert, benutzt Müller das
Material als Steinbruch und zur poetologischen Posititionsbestimmung. Mehrere Texte aus dem Fragment,
die zwischen 1950 und 1975 entstanden sind, erscheinen später in separater Form.
237
W 8 265. Heise kommentiert Müllers Satz: »Erst das Zerschlagen der Denkmale setzt das in ihnen erstickte
Leben frei.« (Heise 1988, 87)
238
»Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein
gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches
Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist:
was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist.« (Nietzsche-W
2, 282)
239
s. a. Werner 2001, 175
240
»Oft have I digg’d up dead men from their graves / And set them upright at their dear friends’ doors, / Even
when their sorrow almost were forgot, / And on their skins, as on the bark of trees, / Have with my knife
carved in Roman letters / ›Let not your sorrow die, thoug I am dead‹.« (William Shakespeare: Titus
Andronicus. In: The illustrated Stratford Shakespeare. London 1982, 697). Den letzen Vers übersetzt
Müller: »LASST EUREN SCHMERZ NICHT STERBEN MEINEN TOD.« (W 5 171)
47
Errungenschaften ist, lässt die Aufklärung als Todesverdrängung erscheinen, deren Zweck die
Perfektionierung des Freudschen Todestriebes 241 darstellt. Im ›Paradigma Auschwitz‹ erfährt
das Identität stiftende Opfer seine Entsinnlichung. Dort feiert der blutleere Todestrieb seine
aschfahle Apotheose (s. a. WT 61).
Eine zentrale Problemstellung Müllers gesamten Schaffens ist die Kollision von Körpern und
Ideen. Müller verhandelt die Unvereinbarkeit vom Einverständnis mit der Notwendigkeit –
»Zeit der Geschichte« (GI 1 168) – und dem kreatürlichen Anspruch auf Selbstverwirklichung
des Individuums – »Zeit des Subjekts« (ebd.) – seit seinen frühen Stücken. Für ihn wurzelt
dieser Widerspruch in der historischen Situation der sozialistischen Staaten und betrifft »das
Zeitmaß der Entwicklung« (ebd.) von der sozialistischen ›Übergangsphase‹ zum
Kommunismus. Aus Sicht des Individuums stellt sich diese Differenz des Zeitmaßes als fatale
Einsicht dar: »es dauert länger als man lebt« (ebd.). 242 Im Marxismus wird dieses Dilemma
zugunsten des gesetzmäßigen historischen Prozesses aufgelöst, der die Niederlagen,
Rückschläge und Katastrophen der Geschichte nur als Bruchstücke an der Kette
gesellschaftlichen Fortschritts aufreiht. Der individuelle Glücksanspruch tritt zugunsten des
historischen Prozesses zurück. Die »Befreiung der Toten« wird dem »Ideal der befreiten
Enkel« 243 geopfert. Revolution wird zum Medium einer Ideologie, die Zukunft erstickt, weil
sie die Differenzen im Innern des Apparates versteckt wie die materialistische
Geschichtswissenschaft ihr Bewegungsprinzip: Benjamins hässlichen Zwerg. Die Negation
des Individuums durch den revolutionären Prozess wird jedoch in dem Augenblick
problematisch, da die Einlösung der Utopie in ein historisches Jenseits verlegt wird, weil
damit die generelle Gefahr verbunden ist, »dass die Utopie Religion wird« (GI 1 83). Figuren
wie Fondrak aus der UMSIEDLERIN – »Vorm Kommunismus seht ihr mich nicht wieder.«
(W 3 276) – oder Donat in DER BAU – »Was hier anfängt hört nicht auf/ Mit uns, aber was
lebt muss wachsen und/ Haust in der Schwebe zwischen Alt und Neu.« (W 3 384) – legen von
diesem Grundkonflikt kommunistischer Teleologie auf unterschiedliche Art Zeugnis ab,
ebenso wie Dascha in ZEMENT – »Etwas hat aufgehört/ Was anfängt ist noch blind.« (W 4
399) – oder das Gedicht DIE FAHNE – »Von ihnen, die den Weg angetreten, sehn/ Das Ziel
nur wenige. Die es erreichen/ Sind viele, aber andere.« (W 1 86). In einem seiner letzten
Texte treibt Müller die Problematik auf die Spitze: »Der Maler malt das Vergessen. Das Bild
vergisst / seinen Gegenstand. Der Maler ist Charon. Mit / jedem Pinselstrich/Ruderschlag
verliert sein / Passagier an Substanz. Die Fahrt ist das Ziel, / das Sterben der Tod. Am andern
Ufer wird / Niemand aussteigen.« (W 1 309) Die Verweigerung der positiven Darstellung
eines idealen Ziels richtet den Fokus auf den jeweils aktuellen Aktionsraum, in dem der
zerrissene Körper zur ›Chiffre des Utopischen‹ 244 wird. »… Utopie verlangt vom einzelnen
immer Opfer und Verzicht, entwertet die Gegenwart zugunsten einer Fiktion von Zukunft.«
(JN 69f.) Doch die Disziplinierung der Körper scheitert. Die Körper korrigieren die Ideen.
»Solange es Ideen gibt, gibt es Wunden. Ideen bringen den Körpern Wunden bei.« 245 Die
241
s. a. Freud-SA 3, 270
242
»Zwischen dem Minimalprogramm und dem Maximalprogramm wird die revolutionäre Kontinuität
hergestellt. Das ist nicht ein ›Schlag‹, das ist nicht ein Tag und nicht ein Monat, das ist eine ganze
historische Epoche. Es wäre sinnlos, ihre Dauer im voraus bestimmen zu wollen.« (Trotzki 1972, 87;
Hervorhebung LDR)
243
Benjamin-GS I 700
244
s. a. Raddatz 1991, 143 u. 146
245
GI 1 97. Müller spricht an dieser Stelle von der ›Idee der Geschichte‹, also von einer weltanschaulichen
48
Wunden, Male authentisch erfahrenen Schmerzes, bringen den Menschen in seiner konkreten
Körperlichkeit wieder in das Spiel der Ideen. »Die Narben schrein nach Wunden« (W 4 462),
und künden damit vom Widerstand des Körpers gegen seine Funktionalisierung durch einen
imaginären Fortschritt. Die Last der Toten im Nacken (s. a. W 4 255 u. 488; W 5 37) sind der
notwendige Ballast auf dem Weg aus der Vorgeschichte in die Geschichte des Menschen.
Diese Last, der »ALP TOTER GESCHLECHTER« (W 8 214), ist für Müller die
unverzichtbare Bürde auf dem Weg in die Zukunft.
Dabei ist die Erfüllung des individuellen Glücksanspruchs nicht das eigentliche Problem. Es
geht vielmehr um den gesellschaftlichen Rahmen, der diesen Glücksanspruch universalisiert.
»Jeder Entsagende gibt mehr von seinem Leben als ihm zurückgegeben wird, mehr als das
Leben, das er verteidigt.« 246 Was Horkheimer und Adorno im Anschluss an Freud 247 als
Prinzip der Zivilisation ausmachen, gilt jedoch nur vor der Folie subjektfixierten europäischen
Denkens. Artaud entwirft ein Gegenmodell: »Eine Verwirklichung der Oberhoheit des Todes
ist nicht dasselbe wie ein Verzicht auf gegenwärtiges Leben. Sie bedeutet, dass man dem
gegenwärtigen Leben seinen Platz anweist; man lässt es gleichzeitig auf verschiedenen
Ebenen ineinander greifen; man spürt, wie tragfähig diese Ebenen sind, die die lebendige
Welt zu einer großen, im Gleichgewicht befindlichen Kraft machen; sie bedeutet letztlich die
Wiederherstellung einer umfassenden Harmonie.« 248 Artaud will die konkrete Körperlichkeit
wieder in die materialistische Theorie eingeführt wissen. Er behauptet, der analytische Begriff
der Welt sei eine Lüge der europäischen Kultur, respektive »des weißen Geistes«. 249 Gegen
den bürgerlichen Kulturbegriff, der das Problem der Materie vom Problem des Lebens trennt,
stellt Artaud einen einheitlichen Begriff von Kultur, in dem alle Lebensfunktionen einem
universellen Glücksanspruch untergeordnet werden »denken, schlafen, träumen, essen, all das
ein und dasselbe ist. All das ist Leben. Aber ich sage, dass derselbe Sammlergeist, der Bilder
und Bücher anhäuft und in den Museen Steine hortet, auch der Geist ist, der Bücher hamstert,
der die Produktion der Welt erstickt und der zugunsten einiger weniger Individuen einen
ganzen Komplex materieller Reichtümer beiseite schafft, in deren Genuss alle kommen
müssen.« 250 Auch in Müllers Augen ist Revolution ohne die Leiblichkeit nicht denkbar.
»Ohne Genuss ist der Mensch nicht lebensfähig.« (GI 2 125) Im Gegensatz zu Freud, der die
Libido als Mittel zur Überwindung des Triebes denunziert und sie so zu einer Funktion des
Todestriebes macht 251 , behauptet Müller Genuss als Zweck. »Solange es Genussmittel gibt
und der Genuss nicht Zweck ist, gibt es keinen Genuss. Genuss muss Zweck, nicht Mittel
sein.« (GI 2 125) In der Umsiedlerin belehrt der Trinker Fondrak den Funktionär Flint:
»Arbeit ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Mensch ist zum Leben geborn, […]
die Welt muss verbraucht werden. Du machst den Gaul, schweißtriefend für die bessere
Menschheit. Was bist du am Ende? Erde, die jeder bescheißen kann.« (W 3 252f.) Die
Konzeption, in der Ideen der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele unterworfen sind. (s. a. GI 1
96f.)
246
Horkheimer/Adorno 1969, 71
247
s. a. Freud-SA 9, 42f.
248
Artaud 1992, 227
249
Artaud 1992, 323
250
Artaud 1992, 324
251
s. a. Freud-SA 3, 270
49
deutlich an Brechts EGOISTEN JOHANN FATZER 252 angelehnte Figur des Hedonisten aus
Müllers Stück ist nicht Negativbeispiel, sondern Korrektiv. Indem Fondrak in der
sozialistischen Produktion dieselben Funktionsmechanismen zu erkennen glaubt, die für die
kapitalistische Arbeit gelten, verweigert er die Unterwerfung des Körpers unter die abstrakte
Idee eines nur papiernen Fortschritts.
»Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen« 253 , schreibt Nietzsche im
Vorwort zum zweiten Stück seiner UNZEITGEMÄßEN BETRACHTUNGEN, die VOM
NUTZEN UND NACHTEIL DER HISTORIE FÜR DAS LEBEN spricht. Müllers
historisches Denken entspringt Nietzsches Forderung nach der Notwendigkeit der Belebung
von Geschichte und ihrer Perspektivierung auf gesellschaftliches Handeln. Sie gründet auf
dem Anspruch, eine Idee lebendig zu halten, die von der Geschichte als erledigt betrachtet
wird: »Unsere Vorstellung von Geschichte ist nichts Abgeschlossenes, sondern muss ständig
im Fluss gehalten werden. […] Nur durch die Produktion immer neuer Sichtweisen auf das
Alte wird überhaupt gelebt, alles andere macht einen zum Zombie.« (JN 74) Das Dasein als
nie zu vollendende Vergangenheit 254 hat eine utopische Komponente, weil die Vergangenheit
nicht fertig ist, sondern offen bezüglich ihrer Einlösung. Beschwört Müller zum einen immer
wieder den Verlust des Gedächtnisses als Voraussetzung der restlosen Verwertung des
Menschen als Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsprozess 255 , betont er zugleich das
utopische Potenzial einer Erinnerung, die im Vergangenen Unabgegoltenes, Unterlassenes,
Unbesorgtes im blochschen Sinne aufspürt, um es als »zu Besorgendes« 256 im
252
»FATZER: Allen Menschen zugleich gehört die Luft und die Straße / Frei zu gehen im Strom der
Verkehrenden / Menschliche Stimmen zu hören, Gesichter zu sehen / Muss mir erlaubt sein. / Ist doch mein
Leben kurz und bald aus und unter den Gehenden / Werde ich nicht mehr gesehn. Selbst im Kampf muss ich
atmen / Essen und trinken wie sonst. Vielleicht dauert er ewig / Nämlich länger wie ich und dann hab ich
erschlagen / Überhaupt nicht gelebt. Auch die Brust wird verkümmert / In den Verstecken und wozu noch
verbergen / Einen verkommenen Mann. Das alles beweist, dass ich gehen kann / Wie’s mir beliebt und
wohin ich will.« (Brecht-BFA 10, 489)
253
Nietzsche-W 1, 209. »›Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu
vermehren oder unmittelbar zu beleben.‹ Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft
ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen
mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei
dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluss und Luxus uns ernstlich,
nach Goethes Wort, verhasst sein muss – deshalb, weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das
Überflüssige der Feind des Notwendigen ist. Gewiss, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders,
als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere
derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur
Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des
selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat.« (ebd.)
254
Nietzsche beschreibt das Dasein als »ein nie zu vollendendes Imperfektum.« (Nietzsche-W 1, 212)
255
»In Europa gibt es ein zunehmendes Bedürfnis, das eigene Gedächtnis auszulöschen. Das ist der Kern dieser
ganzen postmodernen Ballnacht« (GI 2 109).
256
Bloch 1970, 282. »… keine Erinnerung, nicht die kleinste, kommt ohne eine an ihr weiterlaufende
Erwartung in Gang, kommt ohne sie aus. Die Erinnerung käme ohne diese Art der Betroffenheit gar nicht
zustande, sie ist gar nicht fähig, lediglich betrachtend, lediglich eine an Gewesenes und Gewordenes zu sein.
Sondern erinnert wird einzig, was für uns und, in den sachlich mitteilbaren, zur Geschichte tauglichen
50
Zeitbewusstsein zu verankern. Müllers Geschichtsbegriff liegt der marxsche Imperativ 257
zugrunde, demzufolge an der Befreiung des Menschen aus den Fesseln der klassen- und
rassenmäßigen Unterdrückung permanent gearbeitet werden muss. Die Kunstwerke sind die
Monumente 258 dieses Kampfes. »Das Gedächtnis greift in der Kunst nur selten ein. […] Wohl
ist jedes Kunstwerk ein Monument, aber hier ist das Monument nicht etwas, das eine
Vergangenheit ins Gedächtnis zurückruft, es ist ein Block gegenwärtiger Empfindungen, die
ihre Bewahrung nur sich selbst verdanken und die dem Ereignis die Verbindung verleihen,
durch die es gefeiert wird. Der Akt des Monuments ist nicht das Gedächtnis, vielmehr die
Fabulation. Man schreibt nicht mit Kindheitserinnerungen, sondern durch Kindheitsblöcke,
die ein Kind-Werden des Gegenwärtigen sind. […] Nicht Gedächtnis braucht es, sondern ein
komplexes Material, das man nicht im Gedächtnis findet, sondern in den Wörtern …« 259 Wie
schon im ANTI-ÖDIPUS, wo Deleuze/Guattari die rückwärtsgewandte Fixierung des
Lebensstroms in Privaterinnerungen kritisieren, polemisiert diese Passage aus WAS IST
PHILOSOPHIE? gegen ein subjektgebundenes Gedächtnis, das nichts mit Kunst zu tun hätte.
»Es gibt die Kunst des Gedächtnisses und es gibt das Gedächtnis der Kunst« 260 , schreibt
Derrida und richtet sich damit gegen die Auffassung des Gedächtnisses als Versammlung
präsenten Seins. Das Gedächtnis der Kunst hat laut Deleuze/Guattari mit einer retrospektiven
Anbindung des Kunstwerks nichts zu tun. Gefordert wird ein schöpferisches Konzept der
Erinnerung, die – analog der Struktur eines ›Wunschs ohne Mangel‹ 261 – nicht Reproduktion,
sondern Produktion ohne Vergangenheit ist: »sich wieder erinnern ist schaffen« 262 . ›Perzept‹
und ›Affekt‹ als Wahrnehmungssubstrate der Kunst sind »autonome und sich selbst
genügende Wesen, die denjenigen, die sie empfinden, oder empfunden haben, nichts mehr
schulden« 263 . Vergangenheitsbezug habe in der Kunst demzufolge nur dann Platz, wenn er
sich in der Kunst auflöst und sich ganz dem Prinzip des ›Werdens‹ überantwortet. Eine
Passage aus Deleuzes Aufsatzsammlung Kritik und Klinik präzisiert die oben zitierte, indem
sie näher auf die soziale Funktion des Schreibens eingeht. »Man schreibt nicht mit seinen
Erinnerungen, es sei denn man macht sie zum kollektiven Ursprung und Ziel eines
kommenden Volkes, das noch dort, wo es verraten und verleugnet wurde, verborgen liegt.
[…] Allerdings ist dies kein Volk, das zur Weltherrschaft berufen wäre. Es ist ein kleines, auf
ewig minderes Volk, das von einem Revolutionär-Werden erfasst wird. Vielleicht existiert es
Fällen, auch für sich noch nicht fertig geworden ist. Erinnern setzt voraus, daß etwas vergessen worden ist,
auch in der Sache, um nicht zu sagen: von der vergangenen Sache selber; ihr ganzer Zugangsakt steht, wie
Prousts Werk, unter dem Titel: Suche nach der verlorenen, nach der ebenso noch unabgegoltenen Zeit.«
(Bloch 1970, 280f.)
257
»Es gilt alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« (MEW 1, 385)
258
»Ein Monument gedenkt nicht, feiert nicht etwas, das sich ereignet hat, sondern vertraut dem Ohr der
Zukunft die fortbestehenden Empfindungen an, die das Ereignis verkörpern: das stets wiederkehrende
Leiden der Menschen, ihr immer wieder aufflammender Protest, ihr immer wieder aufgenommener Kampf.«
(Deleuze/Guattari 2000, 209)
259
Deleuze/Guattari 2000, 197
260
Derrida 1988, 90. Die Begriffe ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ werden in der Regel terminologisch nicht
streng unterschieden. Luhmann schlägt die systemtheoretische Unterscheidung von ›Medium‹ (als
undifferenziertem Möglichkeitsraum oder ›Archiv‹ aus losen Kopplungen) und ›Form‹ (als Aktualisierung
des Gespeicherten zu einer festen Kopplung durch die Einführung einer Differenz von Erinnern und
Vergessen) vor (s. a. Luhmann 1995, 170f.).
261
Zur Konzeption der ›Wunschmaschine‹ s. a. Deleuze/Guattari 1974, 34ff.
262
Deleuze 1993, 89
263
Deleuze/Guattari 2000, 197
51
nur in den Atomen des Schriftstellers, ein bastardhaftes, niederes, beherrschtes Volk, stets im
Werden begriffen, stets unvollendet. Bastard bezeichnet keinen Familienstand, sondern den
Prozess oder die Drift der Rassen. Ich bin ein Tier, ein Neger minderer Rasse für alle
Ewigkeit. Das ist das Werden des Schriftstellers.« 264 In dieser Müllers Kunstkonzeption
korrespondierenden Poetologie ist die Erinnerung nicht mimetisch gegenüber einer vorgängig
existierenden, evidenten Vergangenheit. An die Stelle reproduktiver Repräsentation tritt die
autonome, keine Negativfolie benötigende produktive Bejahung eines vorwärtsgewandten,
schöpferischen Begehrens 265 – eine Bejahung, die das Schreiben der Erinnerung von ihrer
Anbindung an die Vergangenheit abkoppelt und zu einer Verpflichtung gegenüber der
Zukunft werden lässt. Müller nennt dies »eine Kunst ohne Anstrengung« (W 8 290). Das
Begehren dient dabei nicht der Kompensation eines Mangels oder dem Erreichen eines Ziels.
Es ist ein wirkendes Prinzip, das auf der »Wiederkehr des Gleichen als eines Anderen« (GI 1
168) beruht. Bergson erkennt in der Wiederholung ein Konstruktionsprinzip des
menschlichen Intellekts. »Die Wirkliche Leistung der Wiederholung ist die, dass sie erst
zerlegt, dann zusammensetzt.« 266 In seiner Habilitationsschrift bezeichnet Deleuze die
Wiederholung als »das Denken der Zukunft« 267 , dem er die »Allgemeinheiten der
Gewohnheit« und die »Besonderheiten des Gedächtnisses« 268 gegenüberstellt.
»Kunst will natürlich den Tod der Wirklichkeit, das ist der Impuls von Kunst« (KALKFELL
72), betont Müller. Die Befreiung der Literatur von der Wirklichkeit ist in Wahrheit das
Behaupten einer anderen Wirklichkeit, denn »alles, was besteht, ist real« 269 . ›Tod der
Wirklichkeit‹ bedeutet also nicht, die Kunst sei etwas der Wirklichkeit Entgegengesetztes. Sie
ist ein alternatives Verständnismuster der Wirklichkeit – Flucht, nicht Utopie. Diese andere
Wirklichkeit ist der Text selbst. Der Autor verschwindet als Repräsentant und somit als
Autorität des Textes. »Die Autorität ist der Text, nicht der Autor« (GI 3 161). Ein
entsprechender Hinweis findet sich auch in KRIEG OHNE SCHLACHT: »der Text weiß
mehr als der Autor.« (KOS 257)
Müllers Texte bestehen zum Großteil aus Zitaten und literarischen Referenzen. Sie sind
deshalb keine Friedhöfe, Museen oder Müllhalden der Literatur, sondern im Gegenteil
eminent politische Gebilde. Kunst braucht keine politischen Inhalte, um politisch zu sein. Die
Form ist politisch. (s. a. GI 1 114) »In gewisser Weise ist ja Kunst eine blinde Praxis. Ich sehe
da eine Möglichkeit: das Theater für ganz kleine Gruppen […] zu benutzen, um
Phantasieräume zu produzieren, Freiräume für Phantasie – gegen den Imperialismus der
Besetzung von Phantasie mit vorfabrizierten Klischees und Standards der Medien. Ich meine,
das ist eine primäre politische Aufgabe, auch wenn die Inhalte überhaupt nichts mit
politischen Gegebenheiten zu tun haben.« (W 8 244f.) Müllers Verweis auf die Form ist die
Kritik der Sprache immanent. Diese Kritik bezieht sich in erster Linie auf eine Sprache, die
nur semantisch ist, bloßes Medium der Informationsvergabe und somit ihre Qualität als
264
Deleuze 2000, 14f.
265
s. a. Deleuze 1992, 137
266
Bergson 1991, 103 (Hervorhebungen im Original). In der SCHÖPFERISCHEN ENTWICKLUNG spricht
Bergson vom kinematografischen Mechanismus des Denkens und betont so den Konstruktionscharakter der
Wahrnehmung.
267
Deleuze 1992, 23
268
Deleuze 1992, 22
269
Deleuze/Guattari 1992, 98
52
Quelle sinnlicher Erfahrung eingebüßt hat. Wie vielen Sprachkritikern aus dem theoretischen
Umfeld der Postmoderne geht es Müller darum, die Sprache aus ihren diskursiven Bindungen
zu befreien. Die Sprache strukturiert die Gesellschaft. Sprachkritik ist Gesellschaftskritik.
»Jedes Wort ist ein Vorurteil« 270 , sagt Nietzsche. In LE DIFFÉREND beschreibt Lyotard im
Anschluss an Foucault und Barthes Gesellschaft und Kultur mit Hilfe eines
sprachphilosophischen Ansatzes als Kombination verschiedener miteinander in Verbindung
stehender Diskurse. Diese Sichtweise zielt auf die Möglichkeit, Machtstrukturen in ihrer über
einzelne politische Institutionen hinausreichenden Verbreitung adäquat zu erfassen und gegen
Machtdiskurse mit Hilfe gezielter subversiver Gegendiskurse vorzugehen, »Inseln der
Unordnung« (W 8 245) zu produzieren. Das Unmöglichmachen von Sprache – Heiner
Müllers ROTWELSCH 271 – stellt damit die wichtigste Grundlage der bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage. Aufgabe der Kunst sei es, die Räume jenseits dieser
diskursiven Sprache zu besetzen: »… die Sprache an sich reißen und etwas Unverständliches
zur Welt bringen« 272 , heißt es bei Kleist, einem wichtigen Gewährsmann Müllers Ästhetik.
»Die Wandbilder der Minderheiten und die proletarische Kunst der Subway, anonym und mit
gestohlener Farbe, besetzen ein Feld jenseits des Marktes. Vorgriff aus dem Elend der
Unterprivilegierten in das Reich der Freiheit, das jenseits der Privilegien liegt.« (W 8 210)
Müllers Arbeit mit ›gestohlener Farbe‹ – die Versatzstücke zitierter Literatur – kann auch als
Versuch der eigenen Marginalisierung gelesen werden, als Kampf des Autors Müller gegen
die eigenen Privilegien: »Ich bin ein Neger.« (NEGER 28) Die Herstellung eines »universalen
Diskurses« als Alternative zum »Schweigen der Entropie« setzt die Arbeit am »Verschwinden
des Autors« voraus (W 8 212): »Solange Freiheit auf Gewalt gegründet ist, die Ausübung von
Kunst auf Privilegien, werden die Kunstwerke die Tendenz haben, Gefängnisse zu werden,
die Meisterwerke Komplicen der Macht. Die großen Texte des Jahrhunderts arbeiten an der
Liquidation ihrer Autonomie, Produkt ihrer Unzucht mit dem Privateigentum, an der
Enteignung, zuletzt am Verschwinden des Autors.« (W 8 211) Die Aufgabe des
Besitzverhältnisses von ›Autor‹ und ›Werk‹ bedeutet somit letztlich nicht die Flucht aus der
Verantwortung. Sie zielt im Gegenteil auf die Begründung einer neuen Moral jenseits der
»Personalisierung von Zwangslagen, die auf dem Irrtum der Individualität beruht« (W 8 266).
Um die Widerständigkeit der Kunst behaupten zu können, müssen die Gegenstände nicht der
Vergangenheit entrissen, sondern vor dem Vergessen gerettet werden. Entsprechend der
Besetzung der Wirklichkeit durch die Kunst bezeichnet Müller das Schreiben als
»Lebensausdruck« (GI 2 102), beziehungsweise »eine andere Existenz« (GI 3 129) und räumt
ein, dass ihn die Realität weniger interessiere als ihre mediale Vermittlung: »Mich interessiert
Verarbeitung von Realität und nicht die Realität selbst« (GI 1 64). Geschichte und Politik
interessieren Müller in erster Linie als Material. Das Gleiche gilt für den Umgang mit
fremden und eigenen Texten. Es geht Müller nicht um die Fakten, sondern um die Struktur
sozialer Vorgänge, deren Skelett. So erfolgt auch die literarische Selbstverständigung anhand
von Prä-Texten. 273 Müllers erste überlieferte Texte – und das sind vor allen Dingen lyrische –
270
Nietzsche-KSA 2, 577
271
Ein Müller-Band aus der Berliner Diskursschmiede Merve-Verlag von 1982, der poetologische Texte,
Gedichte, Interviews, Essays und dramatische Entwürfe vereinigt – aufgrund Müllers poetologischer
Reflexe auf das eigene Werk eine der meist zitierten Müller-Publikationen.
272
Kleist-WuB 3, 458
273
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »2.2. Intertextualität“ im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit
53
belegen dies. Das Inhaltsverzeichnis des Gedichtbandes der Suhrkamp-Werkausgabe liest sich
stellenweise wie eine bibliografische Referenzliste: GESCHICHTEN VON HOMER,
PHILOKTET 1950, HORAZ, ÜBER CHAMISSOS GEDICHT ›DIE ALTE WASCHFRAU‹,
BRECHT, MAJAKOWSKI, ULYSS, MOTIV BEI A. S. (d. i. Anna Seghers), ORPHEUS
GEPFLÜGT etc. Und wenngleich lediglich Brotarbeiten, sind Müllers ersten publizierten
Texte keine ›poetischen‹, sondern Rezensionen sowie Bearbeitungen und Übersetzungen.
Darüber hinaus favorisiert Müller ein dezentriertes Kunstkonzept, in dem »das monadische
Individuum als deutlich umrissener fiktiver Charakter ›verschwindet‹ und in de[m] sich
Zeitebenen übergangslos verschränken« 274 . Die bewusste Fragmentarisierung, soll
verhindern, dass die Produktion im Produkt verschwindet. Sie schafft zudem die »Nahtstellen,
wo Publikum/Theater/Autor sich treffen« 275 . Eine solche Kunst, die nicht (mehr) Eigentum
des ›Machers‹ ist, wird unkontrollierbar, gewinnt Eigendynamik: »… die Metapher ist klüger
als der Autor. […] Die Angst vor der Metapher ist die Angst vor der Eigenbewegung des
Materials. Die Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz der Revolution.« (W 8
224f.) Das konsequente Spiel des Ästhetischen verweist auf die unausgeschrittenen
Möglichkeiten in der Realität und umreißt, so Adorno in seiner ÄSTHETISCHEN THEORIE,
den einzigen Bereich, in dem sich Revolution permanent vollzieht. »Kunst legitimiert sich
durch Neuheit = parasitär, wenn mit Kategorien gegebener Ästhetik beschreibbar.« (W 8 174)
Was Müller über Becketts Rückzug aus der Sprache sagt, gilt auch für seine Texte: »Es geht
nicht um Information, sondern um die Mitteilung einer Befindlichkeit. Über seine Art zu
formulieren kann der Autor mitteilen, was mit ihm ist. […] Außerhalb syntaktischer
Ordnungen wird etwas mitgeteilt, was nicht mitteilbar ist. Daran muss der Leser arbeiten, um
es auf sich zu beziehen, denn er weiß nicht, was ihm da mitgeteilt wird. Dann weiß er aber
auch nicht mehr, wer er ist. Wer aber nicht mehr weiß, wer, was und wo er ist, der muss sich
bewegen. Das ist das revolutionäre Moment an dieser Art Texte, sie schaffen Veränderung.«
(JN 31) Das revolutionäre Moment der Kunst bestünde demnach darin, die »Wirklichkeit
unmöglich zu machen« (GI 2 24), indem sie die Struktur personaler Identität zerstört. In
diesem Sinne ist wirkliche Kunst für Müller prinzipiell revolutionär: »Die Arbeit des
Künstlers ist ein Privileg, weil sie Fest ist. Die Verstaatlichung des Festes oder seine
Besetzung mit Ordnungsstrukturen widerspricht seinem Charakter, dem der
Grenzüberschreitung.« (JN 15) Die Explosion des Bewusstseins sprengt die Versteinerung
des seiner selbst gewissen Individuums und schafft durch diese Zerstörung Bewegung. Müller
knüpft hier u. a. an Schillers Konzept des ›ästhetischen Scheins‹ an. Im 15. Brief seiner
Schrift ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN heißt es: »… Der
Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt« 276 . Zugleich behauptet Müller das schillersche ›Naive‹ gegenüber dem
›sentimentalischen‹ Ideal 277 : »Aus Naivität kommt die Kraft, Phantasie als Realität, als
Bestandteil von Realität zu behaupten.« (JN 25) Die Behauptung der vollen Konsistenz der
Kunst als Realität stellt zugleich die ausschließliche Legitimation des Daseins der
274
Fiebach 1990, 206
275
Silberman 1980, 58
276
Schiller-SW 5, 618
277
s. a. Friedrich von Schillers 1795/96 in drei Folgen in den Horen veröffentlichte Schrift ÜBER NAIVE
UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG, in der er seine Erörterungen zur ästhetischen Erziehung des
Menschen, anknüpfend an seine Aufsätze ANMUT UND WÜRDE sowie DIE ÄSTHETISCHE
ERZIEHUNG DES MENSCHEN aufnimmt und weiterführt.
54
empirischen Wirklichkeit, die ja auch immer Konstruktion ist, in Frage und schafft somit
jenen »Freiraum […] für das Denken eines andern Ablaufs« (W 8 266). Brecht, dem Müller
hier durchaus verpflichtet ist, bezeichnet die Kunst als »die leichteste Weise der Existenz« 278 .
Denn das Spielen »bejaht den Zufall und die Notwendigkeit des Zufalls« 279 . Wenn alle (eine
andere Rolle als die ihnen zugedachte) spielten, betont Müller, wäre das »die totale
Außerkraftsetzung von Macht« (GI 2 36). Und mit Novalis formuliert er: »Das Poetische ist
das absolut Reelle.« 280
Hinter Müllers künstlerischem Selbstverständnis steht eine radikale Mimesiskritik. »Die totale
Abbildung ist die totale Blendung« (W 8 485), heißt es in PERFECT SISTER unter Verweis
auf Brechts Diktum »Eine Fotografie der Kruppwerke sagt nichts über die Kruppwerke«
(ebd., s. a. GI 1 62). Schreiben habe demzufolge mit Nachahmung und Abbildung nichts zu
tun. »Die Nachahmung ist ein Abbild, die Kunst aber Trugbild, sie verkehrt die Abbilder in
Trugbilder.« 281 Es gehe darum, die »Wirklichkeit unmöglich zu machen« (GI 2 24) – gemeint
ist eine Wirklichkeit, die darauf abzielt, das tägliche Leben zu standardisieren,
stereotypisieren und einer immer schnelleren Reproduktion von Konsumgegenständen zu
unterwerfen. »Kunst ist vielleicht auch ein Versuch der Tierwerdung im Sinne von Deleuzes
und Guattaris Buch über Kafka. […] Gegenstand der Kunst ist jedenfalls, was das
Bewusstsein nicht mehr aushält, dieses schwer zu ertragende Paradox der menschlichen
Existenz, die Unerträglichkeit des Seins.« (KOS 316) Das Tier-Werden, für das Kafkas
Verwandlungen Pate stehen ist die Gangart einer Kunst, die Grenzen nicht anerkennt. Es ist
»ein Werden, das das Subjekt überschreitet und neue Möglichkeiten schafft« 282 . Im
Kunstwerk zerreißt das Dionysische den Schleier des Apollinischen. Nur hier vermag es den
Menschen zu zerstören, ohne ihn zu töten. Die Form des Kunstwerkes ist die Struktur der
Explosion oder – mit Müller – die »Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen
dramatischen Struktur« (W 2 119). Gestorben, oder vielmehr stillgestellt ist lediglich die
Unruhe der dramatischen Uhr: der Allesfresser Dialektik. Die Explosion macht vor den
Grenzen eines geschlossenen dialektischen Systems nicht halt. Indem sie die Widersprüche
beschleunigt, legt sie das dramatische Strukturprinzip in Schutt und Asche, aus der sich der
Phoenix einer anderen Kunst erheben kann, die universal ist, nicht normativ. »Schreiben ist
eine Sache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen, und lässt jeden lebbaren
oder erlebten Stoff hinter sich. Es ist ein Prozess, das heißt ein Weg, der sich dem Leben
öffnet und das Lebbare und Erlebte durchquert. Das Schreiben ist untrennbar vom Werden:
Im Schreiben geschieht ein Frau-Werden, ein Tier- oder Pflanze-Werden, ein Molekül-
Werden bis hin zum Unwahrnehmbar-Werden. […] Werden heißt nicht eine Form erlangen
(Identifikation, Nachahmung, Mimesis), sondern die Zone einer Nachbarschaft,
278
Brecht-GW 16, 700
279
Deleuze 1985, 209
280
GI 2 37. Bei Novalis heißt es: »Die Poesie ist das echt absolut Reelle.« (Novalis 1961, 317) Rosemarie
Heise bescheinigt Heiner Müller »ein phänomenales Gedächtnis […] für Zitate, Gelesenes, Gehörtes oder
selbst Erlebtes«. Sie fügt hinzu: »Es war freilich das Gedächtnis eines Poeten, das wegließ, hinzufügte, also
veränderte, und zwar unbekümmert um faktische Detailtreue. Aber die Proportionen blieben unversehrt, und
was bewahrt wurde, enthielt, wie alle Dichtung, mehr Wahrheit als ein pures Wirklichkeitsstenogramm
wiedergeben kann.« (Rosemarie Heise: Begegnungen mit Heiner Müller. In: KALKFELL, 9–15, hier 13; s.
a. GI 3 196)
281
Deleuze 1992, 364
282
Jäger 1997, 279
55
Ununterscheidbarkeit oder Nicht-Differenzierung finden.« 283 Das Kunstwerk stellt
infolgedessen kein Abbild der Welt dar, sondern bildet ein ›Rhizom‹ 284 mit ihr. In dieser
Verflechtung behaupten sowohl das Kunstwerk als auch die ›Welt‹ jeweils ihre
Eigenständigkeit und relativieren sich dennoch gegenseitig. Der deleuzesche Begriff des
Werdens ist zu unterscheiden vom Maskieren. So geht etwa die Geschlechtermaske der Frau,
die dem Autor ja ebenfalls zur Verfügung steht, lediglich der Ideologie von einer
Geschlechteridentität auf den Leim. »Es gibt keine Dreiteilung mehr zwischen einem Feld der
Realität: der Welt, einem Feld der Repräsentation: dem Buch und einem Feld der
Subjektivität: dem Autor. Eine Verkettung stellt Verbindungen zwischen Vielheiten aus allen
diesen Ordnungen her, so dass ein Buch weder im folgenden Buch eine Fortsetzung findet,
noch die Welt zum Objekt oder einen oder mehrere Autoren als Subjekt hat. Kurzum, wir
glauben, dass die Schrift nie genug auf ein Außen bezogen werden kann. Das Außen kennt
kein Bild, keine Bedeutung und keine Subjektivität. Das Buch als Verkettung mit dem Außen
gegen das Bilderbuch der Welt. Ein Rhizombuch, das nicht mehr dichotomisch, zentriert oder
gebündelt ist. Niemals Wurzeln schlagen …« 285 Die Abhängigkeit der Pflanze von der
Wurzel – um im Bild Deleuze/Guattaris zu bleiben – wird zu Gunsten einer Mannigfaltigkeit
aufgelöst, welche die Bejahung der Vielfalt und letztendlich der Differenzen bedeutet. 286 Die
Texte bilden Knäuel ohne Anfang und Ende. »Als Rhizom oder Vielheit verweisen die Fäden
der Marionette nicht auf den angeblich einheitlichen Willen eines Künstlers oder
Marionettenspielers, sondern auf die Vielheit seiner Nervenfasern.« 287 Eine Urszene oder
Original existiert ebenso wenig wie ein Endzweck. Es gibt keine versöhnenden Synthesen.
Die Widersprüche bleiben bestehen. Alles bleibt in Bewegung. »Müller privilegiert
archäologische Lektürestrategien, deren Prämisse Ursprungslosigkeit ist. Am
mnemopoetologischen Modell des Palimpsests illustriert er die Grabarbeit im bodenlosen
Schacht geschichteter Texte.« 288
In ihrer Schrift über die »Kriegsmaschine« beschreiben Deleuzes/Guattari ein Modell, das
Müllers Beharren auf Widersprüchen sehr nahe kommt. Demnach gilt das Bemühen des
Staates dem Erhalten, Befestigen, Zementieren. Dagegen ist der Krieg, so Deleuze/Guattari,
»der Modus eines Gesellschaftszustandes, der sich gegen den Staat richtet und ihn verhindern
soll« 289 , indem er die Zersplitterung und Segmentarität der Gruppen aufrechterhält. Infolge
dieser Unterscheidung stellen Deleuze/Guattari zwei Wissen(schaft)stypen fest. Die
Wissenschaft des Staatsapparates bedient sich des Prinzips der ›Reproduktion‹, das die
Beständigkeit eines festen Blickpunktes voraussetzt, der außerhalb des Reproduzierten liegt.
283
Deleuze 2000, 11. An anderer Stelle zerstören Deleuze/Guattari die Illusion der imitatio oder mimesis,
indem sie das Paradigma der Nachahmung – das Verhältnis von Wespe und Orchidee – widerlegen: »Keine
Spur von Nachahmung mehr, sondern Einfangen von Code, Mehrwert an Code, Vermehrung von
Wertigkeit, wirkliches Werden, Wespe-Werden der Orchidee, Orchidee-Werden der Wespe; jedes Werden
sichert die Deterritorialisierung des einen und die Reterritorialisierung des anderen Terms; das eine und das
andere Werden verketten sich und lösen sich gemäß einer Zirkulation der Intensitäten ab, die die
Deterritorialisierung immer weiter treibt.« (Deleuze/Guattari 1976, 17)
284
s. a. Deleuze/Guattari 1976, 19
285
Deleuze/Guattari 1976, 36f.
286
»Das Negative kehrt nicht wieder. Das Identische kehrt nicht wieder. Das Selbe und das Ähnliche, das
Analoge und das Entgegengesetzte kehren nicht wieder. Einzig die Bejahung kehrt wieder, d. h. das
Differente, das Ungleichartige.« (Deleuze 1992, 371)
287
Deleuze/Guattari 1976, 13
288
Werner 2001, 250
289
Deleuze/Guattari 1992, 490
56
Das wissenschaftliche Verfahren der sogenannten ›Kriegsmaschine‹ hingegen ist das
›Folgen‹: »… wenn man damit aufhört, dem Fließen eines laminaren Stroms in eine
festgelegte Richtung zuzusehen und von einem wirbelnden Strom mitgerissen wird; wenn
man sich auf die kontinuierliche Variation von Variablen einlässt, anstatt daraus Konstanten
abzuleiten.« 290 Das mit dem ›Folgen‹ in Beziehung stehende Denksystem ist ein »Denken des
Außen – ein Gegendenken« 291 . Dieser an Nietzsche geschulte Typus des Denkens hängt mit
einer absoluten Einsamkeit 292 zusammen, die »eine extrem bevölkerte Einsamkeit [ist], wie
die Wüste selber, eine Einsamkeit, die schon mit einem künftigen Volk verknüpft ist, […] die
nur durch dieses Volk existiert, obwohl es noch nicht da ist.« 293 Es ist ein Denken, »das sich
mit äußeren Kräften herumschlägt, statt in eine innere Form gebettet zu sein, das mit
Schaltstellen funktioniert, statt ein Bild herzustellen, ein Ereignis-Denken statt eines
Gegenstand-Denkens, ein Problem-Denken statt eines Substanz- oder Theorem-Denkens. Ein
Denken, das sich ein Volk herbeiwünscht, statt sich für einen Minister zu halten.« 294 Im
Gegensatz zum ›klassischen‹ Bild des Denkens 295 , das mit zwei Universalien operiert – »mit
dem Ganzen als Grundlage des Seins oder als Horizont, der es umgibt, und mit dem Subjekt
als Prinzip, das das Sein in ein Sein für uns verwandelt« 296 – gründet sich diese Form des
Denkens weder auf eine allumfassende Totalität, noch auf das universale, denkende Subjekt,
sondern im Gegenteil auf ein ›grenzenloses Umfeld‹ – das ein glatter Raum ist, ›Steppe,
Wüste oder Meer‹ 297 – und auf eine einzelne ›Rasse‹ 298 . In diesem Zusammenhang ist
Müllers Kafka-Zitat von der Literatur als einer »Angelegenheit des Volkes« (W 8 208) zu
verstehen.
Die ›Kriegsmaschine‹ darf, um nicht aufzuhören und in ›Staat‹ 299 umzuschlagen, nicht stehen
bleiben. Sie darf keine Grenzen kennen wie der Staat, keine fixen Punkte. »Wer den Fluss
eindämmt, sieht, wird er alt genug / Noch wie der Damm zerfällt oder / Der Fluss
ausbleibt« 300 , heißt es im Gegensatz zum späten Flussbegradiger Brecht 301 im FATZER,
290
Deleuze/Guattari 1992, 512
291
Deleuze/Guattari 1992, 518
292
Müller spricht vom Kommunismus als totaler Vereinzelung – im Gegensatz zum ›Kollektiv der
Konsumenten‹: »Der Kommunismus vereinzelt, der Kapitalismus uniformiert.« (JN 25)
293
Deleuze/Guattari 1992, 518
294
Deleuze/Guattari 1992, 520
295
Gemeint ist hier das rationalistische Denken der Aufklärung, das Horkheimer/Adorno in ihrer DIALEKTIK
DER AUFKLÄRUNG als ›Organ der Herrschaft‹ bezeichnen (s. a. Horkheimer/Adorno 1969, 137).
296
Deleuze/Guattari 1992, 521 (Hervorhebung im Original)
297
s. a. die utopisch codierten Landschaften in Müllers Texten (Tiefsee (HAMLETMASCHINE),
Steppe/Savanne (BILDBESCHREIBUNG, ANATOMIE TITUS) etc.
298
›Rasse‹ wird von Deleuze/ Guattari nicht biologisch definiert, sondern sozial: als unterdrückte Minorität,
die, wie im ›Kafka‹-Buch erläutert, durchaus die quantitativ stärkste Gruppe innerhalb eines sozialen
Gefüges darstellen kann.
299
In einem Gespräch mit Martin Opitz über Ästhetik in Geschichtsphilosophie und Politik von 1991 verweist
Müller auf eine Vorlesung Michel Foucaults: »Foucault spricht […] über die zwei abendländischen
Diskurse, die sich wechselseitig ablösen und bekämpfen. Das eine ist der römisch-staatliche Diskurs und das
andere der jüdisch-christlich-revolutionäre Diskurs mit dem chiliastischen Aspekt. Die letzten zwei großen
Ausprägungen des jüdisch-christlich-revolutionären Diskurses sind für ihn der Nationalsozialismus und der
Bolschewismus. Sie sind zwar verschieden, kommen aber aus derselben Quelle. Beide sind dann
umgeschlagen. Sie haben den römisch-staatlichen Diskurs integriert, und damit wurden sie gefährlich.«
(Müller 1991, 359)
300
Brecht-BFA 10, 495
301
Brecht benutzt im KLEINEN ORGANON FÜR DAS THEATER wiederholt das Bild vom Flußbauer und
Bewässerer, das ebenso im KAUKASISCHEN KREIDEKREIS sowie in diversen späten Gedichten wieder
57
einem Material, mit dem sich Müller in den siebziger Jahren intensiv auseinandersetzt. Der
Kernsatz des Brechttextes besteht für Müller nicht zufällig in der Sentenz: »Die Schlacht hat
uns / Nicht umgebracht, aber / Bei ruhiger Luft im stillen Zimmer / Bringen wir uns selber
um.« (W 6 95) Punkte sind Verbindungsstellen und existieren nur als solche. »Ein Weg liegt
immer zwischen zwei Punkten, aber das Dazwischen hat volle Konsistenz übernommen und
besitzt sowohl Selbstständigkeit wie eine eigene Richtung. Das Leben […] ist ein
Intermezzo.« 302 Der Mensch wird, ganz im Sinne Nietzsches, zur Brücke in die Zukunft 303 :
»Mein Lebenslauf ist Brückenbau. Ich bin/ Der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune.« (W
3 393) Der Weg ist den Zielen übergeordnet, weil die Ziele notwendig unbekannt sind.
Die ›Kriegsmaschine‹ wird bei Müller zu einem Gesellschaftsmodell, das Widersprüche und
Gegensätze nicht nivelliert, sublimiert, aufhebt und/oder integriert, sondern aufrechterhält:
»nicht verbergend den Rest / Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel« (W 4 85). Die
Integrationsfähigkeit und Stasis des Staatsapparates, der alles verschlingt, ist der Dynamik als
Wesen der Revolution, die ihre Gegensätze als solche bestehen lässt und aus dem
Widerspruch ihre Kraft erst bezieht, diametral entgegengesetzt. Deshalb muss er aufhören. 304
Der Staat steht für die ewige Reproduktion des Identischen. Um der Schwerkraft einer
solchen zirkulären Stillstellung zu entgehen, weicht die Mimesis bei Müller der
Wiederholung, die sich im ›Phantasiegebilde‹ niederschlägt. »Das Trugbild ist eben genau ein
dämonisches Bild, frei von Ähnlichkeit; oder es hat vielmehr […] die Ähnlichkeit nach außen
gekehrt und lebt von Differenz.« 305 Müllers Schreiben ist vor allen Dingen Arbeit an eben
dieser Differenz. In diesem Sinne ist Müllers oft geäußerte Auffassung von Kunst als ›eigener
Wirklichkeit‹ zu verstehen, die nicht als l’art pour l’art missverstanden werden darf. Sie ist
eine eminent politische Kunst, die die von den Ideologien verschütteten Dilemmata unserer
Geschichte schonungslos in den Blick nimmt und uns schockierend die Wurzeln unserer
Kultur vor Augen führt. In diesem Sinne können »Müllers Konzepte und dessen Texte als
Paradigma einer noch einzig möglichen kritischen Kunst« 306 gelten.
auftaucht.
302
Deleuze/Guattari 1992, 523
303
»Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein
gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches
Schaudern und stehen Bleiben. Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist:
was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.“ (Nietzsche-W
2, 282)
304
»Der Zweck von unserm Staat ist, dass er aufhört« (W 3 277), erklärt der Funktionär Flint in Müllers
UMSIEDLERIN. In seiner Schrift über STAAT UND REVOLUTION formuliert Lenin in
Auseinandersetzung mit Marx die Frage nach der Staatsmacht als Grundfrage der Revolution. Klarer als
Marx in seinem Aufsatz DER BÜRGERKRIEG IN FRANKREICH, fordert Lenin als Ziel der Revolution
nicht die Vervollkommnung des Staatsapparates, sondern seine Zerschlagung. An die Stelle des
Staatsapparates müsse der »wahrhaft demokratische Apparat […] der organisierten und bewaffneten
Mehrheit des Volkes« (Lenin 1975, 453) treten. Dabei räumt er, wiederum im Rekurs auf Marx, jedoch ein,
dass der Staat das Mittel zu seiner eigenen Überwindung darstelle: »solange das Proletariat den Staat noch
gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und
sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen.« (MEW 17, 339; hier
zitiert nach Lenin 1975, 527)
305
Deleuze 1992, 167. Die Begriffe »Trugbild« und »Fantasiegebilde« benutzt Deleuze synonym (s. a. auch
Deleuze 1992, 364f.)
306
Fiebach 1990, 243
58
TEIL II: GENESE / FORM
3. Genese
… ich hab den Whisky verschluckt, deswegen etwas geschädigt für ne Weile.
Ist das furchtbar, dass man sich an Whisky verschluckt, entsetzlich.
Wann war denn das Horizonte?
(aus den Tonbandabschriften)
3.1. Ein Buch der Stunde – von der Idee zum Buch
Heiner Müllers Autobiografie KRIEG OHNE SCHLACHT ist zum Zeitpunkt ihres
Erscheinens ein Buch der Stunde. Renate Ziemer, langjährige Mitarbeiterin Müllers und an
der Entstehung des Buches maßgeblich beteiligt, bescheinigt dem Cheflektor von
Kiepenheuer & Witsch Köln und Herausgeber des Buches, Helge Malchow, großes
verlegerisches Geschick. »Helge Malchow hatte ein gutes Gespür für den Zeitpunkt. Die
Leute interessierten sich für das gesamtdeutsche Phänomen Müller. Zugleich repräsentierte er
einen angesehenen Vertreter des untergehenden Landes. Und er wurde natürlich als Brecht-
Nachfahre gehandelt. Das Interesse der Medien und des Publikums wäre fünf Jahre später
sicherlich nicht annähernd so groß gewesen.« 307 Da Müller bereits im Dezember 1995
verstarb, kam ein wesentlich späterer Entstehungszeitpunkt auch nicht in Betracht. Immerhin
war das Interesse der literarischen Öffentlichkeit und des lesenden Publikums zum
Erscheinungstermin von KRIEG OHNE SCHLACHT tatsächlich groß. »Die Leser
entschieden sich eindeutig – von keinem Buch Heiner Müllers wurden in so kurzer Zeit so
viele Exemplare verkauft« (KOS 11), schreibt Helge Malchow im Vorwort zur Paperback-
Ausgabe im Dezember 1993. Die politische Situation in Deutschland bietet dafür allerdings
nur eine unzureichende Erklärung. Der Hunger nach Sensationen und das Schüren von
Ressentiments im Deutschland der Nachwendezeit gewann kurz nach Erscheinen des Buches
mit der absurden Debatte um Müllers Stasi-Kontakte einen neuen Höhepunkt und führte zur
Aufnahme eines Umfangreichen Stasi-Dossiers in die Neuauflage des Buches 1994 – eine
Entscheidung, die unter ästhetischen Gesichtspunkten völlig unverhältnismäßig erscheint.
Nach langem Drängen und der Zusage eines »schönen Vorschusses« 308 verpflichtete sich
Müller auf der Frankfurter Buchmesse 1990 gegenüber Kiepenheuer & Witsch zur Mitarbeit
an einer Autobiografie. In einem Brief Helge Malchows an Heiner Müller, datiert vom 7. Mai
1990, in dem es um das Buchprojekt EIN GESPENST VERLÄSST EUROPA mit Texten
Heiner Müllers und Fotografien von Sibylle Bergemann geht, das im gleichen Jahr bei
Kiepenheuer & Witsch erschien, findet sich im Archiv der Stiftung Archiv der Akademie der
307
Renate Ziemer im Gespräch mit LDR
308
ebd.
59
Künste Berlin die erste schriftliche Erwähnung des Projektes. Aus dem Brief geht hervor,
dass das Buch von vornherein als autobiografisches Interview geplant war. »Dann – oder
wenn wir uns vorher einmal sehen – werde ich Dich nochmals mit einer Idee nerven, die ich
glaube ich schon einmal erwähnt habe: Eine kleine Autobiografie in Gesprächsform, mit
Schwerpunkt auf Geschichte(n). Daraus würde ich einen ›Renner‹ machen – u. a. aber würde
ich es gerne lesen. Du bist ein so wichtiger Zeitzeuge, dass Du das einfach machen musst. Ich
lege Dir das Buch von Robert Rauschenberg bei – der hat es gemacht. (Es ginge aber besser,
nur die Amerikaner lassen sich ja nichts sagen …)« (HMA 59) Im Nachhinein begründet
Müller, warum er dem Buch nach anfänglichen Zweifeln doch zustimmt. »Es war nicht meine
Idee. Ich wollte es nicht. Der Lektor des Verlags hat mich dazu überredet, das zu machen.
Aber an sich ist es ganz normal. Wenn man das Gefühl hat, dass eine Epoche zu Ende ist,
dann hat man das Bedürfnis, darüber nachzudenken, was war das, was ist da passiert. Da ist
eine Epoche zu Ende gegangen.« 309 Müllers ex post geschilderte Intention, eine »Epoche« im
Rückblick betrachten zu wollen, entspricht im Text der Autobiografie die Ausblendung der
Zeit nach 1989, die erst mit dem Dossier der erweiterten Neuausgabe Einzug in das Buch hält.
Mit dem Schweigen über die »Zeit danach« verweist KRIEG OHNE SCHLACHT auf die nur
mehr stumme Zeugenschaft in einer »LEERE[N] ZEIT« (W 1 288), über die sich Müller
keine Illusionen machte. Er kannte den Westen seit den siebziger Jahren und sah dessen
Zukunft im Kollaps der ökonomischen und ökologischen Systeme. Dem Wunsch Malchows,
die Nachwendezeit in das Buch mit aufzunehmen 310 , wurde von Müller folglich nicht
entsprochen.
Ende Januar, Anfang Februar 1991 trafen Heiner Müller, Helge Malchow, seine Mitarbeiterin
Renate Ziemer sowie seine ehemalige Schwägerin, die Schriftstellerin Katja Lange-Müller,
im Ferienhaus des KiWi-Verlegers Neven du Mont für vierzehn Tage auf La Palma
zusammen, um die autobiografischen Interviews zu führen. Diese Gespräche stellen die
primäre stoffliche Basis für die Entstehung von KRIEG OHNE SCHLACHT dar. Den
beteiligten Personen zufolge verliefen die Interviews als »relativ strenges Frage-Antwort-
Spiel« 311 . Der hauptsächliche Gesprächspartner, Helge Malchow, hatte den dramaturgischen
Überbau bereits festgelegt und konzentrierte sich mit seinen Fragen – wie im Vorfeld
vereinbart – auf den Autor Heiner Müller. »Fragen unter der Gürtellinie« 312 oder Fragen, die
sein Privatleben jenseits der Arbeit als Dichter und Regisseur betrafen, ließ Müller nicht zu.
»Schon in den Gesprächen gab es bewusste Aussparungen, ein Ausweichen seinerseits, ein
Abblocken bei persönlichen Themen. Im Zwiegespräch hielt er persönliche Bekenntnisse für
legitim, nicht aber im Interview. Das war eine Kunstform. […] Er kannte die Fragen vorher
nicht. Trotzdem hatten seine Antworten nur den Anschein von Spontaneität. Die Antworten
waren im Kopf vorbereitet, vorformuliert. Er hatte sich eine Strategie zur Beantwortung der
Fragen ausgedacht. Das zeigen auch seine späteren Interviews. Die Formulierungen waren
bereits in eine Dramaturgie gepresst. Das waren vorformulierte Anekdoten.« 313 Renate
Ziemer fügt hinzu: »Müller betrachtete seine Biografie als Material. Er hatte eine große
309
In: KulturRevolution 30 (1994)
310
»Mach bitte mit Katja aus, wann wir uns noch mal 1, 2 Tage zusammensetzen, betr.: Bildbeschreibung plus
neue Punkte: Mauser Insz., Akademie-Entwicklung, Deutschland jetzt.« (HMA 59)
311
Katja Lange-Müller im Gespräch mit LDR
312
ebd.
313
ebd.
60
Distanz dazu. Sein Erzählen war Interpretation, Auslegung.« 314 Der poetische Selbstentwurf
sieht ab von der Imago der Person Heiner Müller und richtet den Fokus auf einen Text, dem
aufgrund seiner poetischen Verfasstheit nur mit der Hinterfragung der ästhetischen Strukturen
beizukommen ist, die der Text selbst bereitstellt. Müllers distanzierte Haltung ist ein
Kunstgriff, der die Generierung der Lebensgeschichte zur oralen Performance macht. Der
Erzähler von KRIEG OHNE SCHLACHT ist eine vom Autor entworfene Figur, die als
Zuschauer im eigenen Erinnerungstheater sitzt. Der Autor ist zugleich der Regisseur einer ihm
durch die Erzählung abhanden gekommen Individualgeschichte. Die dem Ich fremde
Geschichte wird in szenische Arrangements aufgelöst, die als nachträgliche Wiederaneignung
gelesen werden können. Die doppelte Brechung (Erzähler – Erzählung, Autor – Erzähler) ist
bereits in den Tonbandabschriften erkennbar. Sie lässt die Gespräche als Akt künstlerischer
Gestaltung erscheinen. Mit der ersten Betätigung der Aufnahmetaste entsteht so ein
ästhetischer Text. Dieser Text ist die dramatische Schlacht, nicht das Leben, das als »Krieg
ohne Schlacht« der permanenten ›Bedrohung‹ des Subjekts keine Bedeutung zu verleihen
vermag.
Dem Interview-Marathon folgte die Transkription der Bänder. Die Tonbandabschriften
wurden von Helge Malchow, Katja Lange-Müller und Renate Ziemer einer ersten Redaktion
unterworfen. Zeitliche Fehlangaben und Fehler, die beim Abtippen der Bänder entstanden
waren, wurden bereinigt, Gedächtnislücken gefüllt, die Zwischenfragen redigiert. Außerdem
wurde das Manuskript chronologisch geordnet und eine Kapitelstruktur entwickelt. Bevor
Müller das Material für die Endredaktion in die Hände bekam, hatte der Text somit bereits
eine Vielzahl an gestalterischen Eingriffen erfahren. Die Überarbeitung der entstandenen
Rohfassung 315 erfolgte in mehreren Arbeitsschritten im Frühjahr 1992 auf Lanzarote und in
Berlin. Müller zog zu dieser Arbeit neben Helge Malchow seinen Regie-Assistenten Stephan
Suschke hinzu. Suschke erinnert sich: »Wenn ich mich richtig erinnere: Wir sind Satz für Satz
durchgegangen, dann wurde nach besseren Formulierungen gesucht. Das war ganz
unangestrengt, die am besten schien, wurde genommen, egal von wem sie kam. Müller war ja
während der Arbeit absolut uneitel. Dann wurden die Anschlüsse gebaut.« 316 Die
Arbeitsteilung verlief für Heiner Müller offenbar nicht in jeder Hinsicht so unproblematisch,
wie Suschke sie beschreibt. Das Verhältnis zu Katja Lange-Müller, das diese als »sehr
freundschaftlich« und durchaus nicht als »Arbeitsverhältnis« 317 wahrnahm, schien das Projekt
zeitweilig grundsätzlich zu gefährden. Müller, der ursprünglich selbst dafür plädierte, Katja
Lange-Müller an den Gesprächen zu beteiligen, weil er »jemanden mit genügend Distanz (zu
seiner Arbeit) und zugleich genügend Nähe (zu seiner Person)« 318 brauchte, erkannte wohl zu
spät, dass diese Konstellation von Distanz und Nähe verhängnisvolle Züge annehmen könne,
wenn die ›Person‹ im Fokus der Arbeit steht. Entgegen Heiner Müllers Interesse an einer
reinen Arbeitsbiografie, machte nämlich Katja Lange-Müller ihre Teilnahme an den
Interviews von dessen Einverständnis abhängig, »tiefergehende persönliche Fragen zu
akzeptieren« 319 , die Müller ihrer Angabe zufolge in der Gesprächsituation immer abzuwürgen
314
Renate Ziemer im Gespräch mit LDR
315
Ein Teil dieser Rohfassung ist unter der Signatur HMA 4487 im Nachlass Heiner Müllers in der Stiftung
Archiv der Akademie der Künste Berlin erhalten.
316
Stephan Suschke auf Fragen von LDR
317
Katja Lange-Müller im Gespräch mit LDR
318
ebd.
319
ebd.
61
wusste. Für Müller selbst schien das Private offenbar nur dann eine Rolle zu spielen, wenn es
– direkt oder indirekt – in Arbeitszusammenhänge einfloss. Die Frage einer Trennung von
Leben und Werk stellte sich Müller nicht. Sie schien ihm illegitim. »Schreiben ist ein
Lebensausdruck.« (GI 2 102) Was unter soziologischen Gesichtspunkten fragwürdig
erscheinen mag, ist künstlerisch evident.
Ein handschriftlicher Briefentwurf an Helge Malchow zeigt Heiner Müllers Resignation
angesichts der ihm bevorstehenden Aufgabe der Endredaktion.
»Lieber H[elge] / Der Text ist nicht fertig + kann so wie der da steht auf keinen Fall
gedruckt werden. Er strotzt von sachlichen Fehlern, die nicht nur durch Kürzung +
Zusammenfassung entstanden sind, sinnlosen Wiederholungen, chronologischem Chaos
usw. Ich rede nicht von dem horriblen Stil, der durch meine Unfähigkeit, in einem
intimen Gespräch druckreif zu reden bedingt ist. / Katja war die falsche Wahl, was das
Gespräch angeht, weil sie mir zu nahe steht + ich ihr zu nahe stehe + die Redaktion
betreffend, weil man von einem wirklichen Autor nicht verlangen kann, dass er sich auf
einen anderen Autor wirklich einlässt. Jetzt fehlt dem Ganzen Abstand, das ist nicht mehr
zu ändern bzw. nur graduell (vielleicht durch Umformulierung der Fragen + Einschübe
v[on] geschriebenem Text) Das war in 2 Wochen nicht zu [schaffen] + ist es in 4 (8?)
Wochen nicht. Der Markt muss warten. / Ich zahle dem Verlag das Geld zurück + wir
machen eine Presseerklärung (die vielleicht eine bessere Presse bringt als d[as] Buch) +
vergessen das Ganze.« (HMA 4480)
Der entscheidende Punkt für Heiner Müller, den Text dennoch zur Publikation freizugeben,
mag unter anderem in diesem Brief selbst begründet liegen. Die Formulierung der Zweifel
und das explizite Eingeständnis des Scheiterns im Nachwort zu KRIEG OHNE SCHLACHT
gehen auf diesen Brief zurück. Sie ermöglichen es Müller, auf einem Feld ›jenseits‹ von
Literatur zu operieren, ohne den eigenen künstlerischen Anspruch aufgeben zu müssen. Im
Gegenteil ist dieser Anspruch durch die Verweigerung seiner literarischen Kanonisierbarkeit
gegenüber begründet. Literatur bezeichnet hier die Stelle eines bestimmten Regeln
unterworfenen Kanons, der rein deskriptiv und vorrangig marktstrategischen Überlegungen
geschuldet ist. ›Jenseits‹ bedeutet damit zugleich eine Transzendierung des Literaturbegriffs,
denn durch die Verweigerung der Identifikation mit einem geläufigen Begriff vom (Markt-
)Wert der Literatur, verweist Müller auf eine Leerstelle und auf ein ›kommendes Volk‹
(Deleuze), das in der Lage sein wird, sein Buch zu Literatur zu machen.
Im Schlusswort der Druckfassung beruft sich Müller in einer Danksagung explizit auf den
kollektiven Entstehungsprozess von KRIEG OHNE SCHLACHT. Es scheint hinsichtlich des
Stellenwertes der redaktionellen Zusammenarbeit versöhnlicher als der Briefentwurf an Helge
Malchow, kommt jedoch ohne die Problematisierung des Literaturbegriffs nicht aus. »Ich
danke Katja Lange-Müller, Helge Malchow, Renate Ziemer und Stephan Suschke für ihre
Arbeit. Sie haben mehr als tausend Seiten Gespräch, das über weite Strecken auch Geschwätz
war, auf einen Text reduziert, den ich überarbeiten, wenn auch in der mir zur Verfügung
stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte.« (KOS 366f.) Die grundsätzlich
voneinander abweichenden Wirkungsabsichten der an der Entstehung beteiligten Personen
(Malchow: »Renner«; Katja Lange-Müller: Confessio; Heiner Müller ex post: »Resümee«)
werden in der Druckfassung unter den Autornamen »Heiner Müller« subsumiert, der das
Projekt ›Autobiografie‹ literarisch als gescheitert beschreibt. Wird der Grund des Scheiterns
explizit der partiellen Untauglichkeit des Materials und der mangelnden Zeit unterstellt,
62
enthält die Aufzählung der Mitarbeiter einen Hinweis darauf, dass hier ein weiterer
wesentlicher Punkt für Müllers Einschätzung zu suchen ist, die er in dem oben zitierten
Briefentwurf an Helge Malchow bezüglich Katja Lange-Müllers auch benennt. Doch die im
Einzelnen nicht mehr nachvollziehbare Delegierung von Aufgaben an andere Personen spielt
im Ergebnis keine Rolle mehr. Lässt sich der Text entstehungsgeschichtlich nur als das
komplexe Ergebnis kollektiver Produktion beschreiben, verliert dieser Umstand mit der
Signatur des Autornamens »Heiner Müller« im Buchtitel und der Anonymisierung des
Fragetextes 320 an Bedeutung. Der Akt der Autorisierung durch den Schriftsteller Heiner
Müller besteht hier allerdings nicht im rezeptionsästhetischen Modell eines ›autobiografischen
Paktes‹ (Lejeune), der die Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist
voraussetzt. 321 Vielmehr wird durch die Berufung auf eine im Text selbst nicht mehr
nachvollziehbare Kollektivität der Entstehung322 das Verhältnis von Gestalt und Gestaltung
selbst problematisiert: Der Autor ist nicht eine dem Text vorgängige Entität, sondern
funktionaler Bestandteil des Textes selbst. Der Text ist die Autorität, nicht der ›Autor‹ (im
Sinne einer empirischen Person, s. a. GI 3 161). Im Zusammenhang mit der Mitarbeit Inge
Müllers an dem Stück DIE KORREKTUR zitiert Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT den
Titel des Aufsatzes von Foucault, »Was ist ein Autor?« 323 . Er verweist damit auf die
notwendige Unterscheidung zwischen der empirischen Wirklichkeit des Verfassers und der
alternativen Realität des Textes. Der Autor kann folglich nicht als Voraussetzung oder
Ursache des Textes beschrieben werden. Er ist, will man ihn fassen, nur deskriptiv zu haben.
Mitte Juni 1992 kam das Buch auf den Markt. Nach der um ein Dossier mit Stasi-Unterlagen
erweiterten Taschenbuchausgabe von 1994 erschienen Übersetzungen in Frankreich (1996)
und Brasilien (1997). Im Herbst 2005 erschien KRIEG OHNE SCHLACHT als Band 9 der
Werkausgabe bei Suhrkamp. Neben dem Anhang der Erstausgabe und dem Dossier der
erweiterten Auflage von 1994, enthält der Band zum ersten Mal entstehungsgeschichtliches
Material. Neben einem Vorwortentwurf (s. a. HMA 4482) und der Synopse zweier früherer
Textfassungen des späteren Kapitels »Die Macht und die Herrlichkeit« 324 , nimmt
Herausgeber Frank Hörnigk in einer »Editorischen Notiz« Stellung zu einer Vielzahl von
Notizen und Dokumenten aus dem Entstehungszusammenhang, die auch im Rahmen der
vorliegenden Arbeit eine wesentliche Rolle spielen. Das Namensregister wurde für diese
Ausgabe um ein Register der Werke Heiner Müllers erweitert.
320
Bereits in den Tonbandabschriften wurde auf eine Zuweisung des Textes zu den jeweiligen Sprechern
verzichtet. Nur die Bänder selbst könnten noch Aufschluss darüber geben, welche Fragen und Kommentare
auf welche Person zurückgehen.
321
Philippe Lejeune zufolge besteht der »autobiografische Pakt« in der Identität zwischen dem »Namen des
Autors auf dem Umschlag« (Lejeune 1994, 27) und dem Ich des Textes. Lejeunes auf Emile Benveniste
zurückgehender Ansatz weist jeden der »Gattung Autobiografie« zugehörigen Text als Konstruktion aus.
Allerdings vernachlässigt Lejeunes Ansatz, dass sich das Ich des Textes in den unterschiedlichsten
Positionen zum beschriebenen Geschehen befinden kann und also aus einer Vielzahl mitunter
gegensätzlicher Identitäten besteht, die den Pakt Ich = Verfasser auf mannigfaltige Weise zu unterlaufen
imstande sind.
322
Auch die kursiv gesetzten Fragen im fortlaufenden Text der Autobiografie werden nicht einem explizit
ausgewiesenen Gegenüber zugewiesen, sondern bleiben der Inschrift des Autors unterstellt.
323
KOS 141. In seinem Essay WAS IST EIN AUTOR? beschreibt Foucault den Autor als Differenz zwischen
der Sprecherinstanz zum Erzählten und der Person des Schriftstellers zum Sprecher des Textes: »… die
Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz.« (Foucault
1988, 22)
324
Es handelt sich dabei um Material aus den Fassungen TA und HMA 4487 (s. a. W 9 167–175 u. 413–484).
63
3.2. Tonbandabschriften
Die Materialgrundlage der in den folgenden Kapiteln vorgenommenen Analyse von KRIEG
OHNE SCHLACHT LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN bildet neben der Druckfassung der
Erstauflage von 1992, respektive der um ein Dossier erweiterten und mit einem Vorwort des
Herausgebers Helge Malchow versehenen Paperback-Ausgabe von 1994, ein ebenso diffuses
wie aufschlussreiches, bisher nur unzureichend erfasstes und dokumentiertes Material aus
dem Entstehungszusammenhang. Dabei besteht die wesentliche Qualität des
Nachlassmaterials nicht primär in seiner Aussagekraft bezüglich des genetischen Prozesses,
beziehungsweise seinem Stellenwert hinsichtlich der entstehungsgeschichtlichen Grundlage
für den Textkorpus der Autobiografie, sondern in seiner autonomen Materialität. Zwischen
Material und Drucktext besteht keine lineare Kausalität, der zufolge ersteres die
Beschaffenheit des autorisierten Textes legitimieren würde. Vielmehr tritt das
Nachlassmaterial in einen gleichberechtigten Dialog mit dem Text der Autobiografie, erhellt
Strukturen, zeigt Verbindungspunkte und Fluchtlinien auf.
Die wesentliche und umfangreichste Stoffgrundlage für alle weiteren Fassungen Heiner
Müllers Autobiografie bilden die »autobiografischen Gespräche« (KOS 12), von denen Helge
Malchow im Vorwort zur Neuauflage spricht. Die Tonbandaufzeichnungen dieser Gespräche
sind laut Angaben des Verlages Kiepenheuer & Witsch offenbar verschollen. Die früheste
dokumentierte Stufe der Textgestalt von KRIEG OHNE SCHLACHT stellt ein Konvolut mit
Abschriften dieser Gesprächsmitschnitte dar (in der Folge mit der Sigle »TA«
gekennzeichnet). Es handelt sich hierbei um etwa dreihundertzwanzig Blatt transkribiertes
Tonbandmaterial. Geht man von einer ursprünglichen Seitenzahl von etwa eintausend
transkribierten Interviewseiten aus 325 , stünde damit noch etwa ein Drittel des Umfangs dieser
frühesten Textstufe zur Verfügung. Schriftbild, Papiersorte und Paginierung verändern sich
wiederholt, so dass von einer einheitlichen Transkription nicht ausgegangen werden kann. Im
Text finden sich Vermerke zur Zuordnung der Transkripte zu den einzelnen Tonbändern,
deren Zahl sich laut Katja Lange Müller, die maßgeblich am Entstehungsprozess und der
Erstellung einer ersten Textfassung beteiligt war, ursprünglich auf 48 belaufen haben soll.
Heiner Müller selbst, der an solcherlei technischen Details kaum Interesse gezeigt haben
dürfte, macht denn auch widersprüchliche Angaben zur Zahl der Kassetten. In einer
Nachlassnotiz ist von »24 (?) Kassetten« (HMA 4480) die Rede. An anderer Stelle spricht er
im Entwurf zu einem Vorwort von »vierzehn Kassetten« (HMA 4482). Dies ein Indiz auch
dafür, dass Müller diese Textstufe wahrscheinlich nie zu Gesicht bekam, sondern von
vornherein an einer chronologisch geordneten, gestrafften und korrigierten Fassung arbeitete.
Die Abschriften der Bänder 9–12 sowie 14 und 15 fehlen komplett. Diejenigen der Bänder 1,
7 und 19 sind unvollständig oder als »Auszug« (Band 7) deklariert. Der Inhalt von Band 3 ist
im Text nicht explizit vermerkt. Allerdings legt der Umfang der transkribierten Seiten zu
Band 2 die Vermutung nahe, dass es sich hier um die Abschriften zweier Bänder handelt,
nämlich Band 2 und Band 3. Inhaltliche Überschneidungen zwischen den Abschriften der
Bänder 1 und 2 (und 3), die teilweise sogar identische Formulierung aufweisen, haben ihren
Grund in einem technischen Problem während der Aufzeichnung der Gespräche. »Eine
325
Die Angabe dieser Zahl geht zurück auf die an der Entstehung des Textes beteiligten Mitarbeiter (s. a. KOS
12 u. 367). Katja Lange-Müller und Renate Ziemer bestätigen diese Zahl.
64
Kassette war nicht abhörbar, also mussten wir das entsprechende Gespräch erneut
aufzeichnen. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das Band auf einem anderen Gerät
durchaus abspielbar war. Müllers Antworten waren zum Teil bis auf den Wortlaut
identisch.« 326 Dieses für den Interpreten glückliche Missgeschick offenbart vor allem eines:
Obschon Müller die Fragen seiner Gesprächspartner vor Beginn der Interviews nicht im
Einzelnen bekannt waren, haben seine Antworten nur selten den Anschein von Spontaneität.
Wie sich an späteren Interviews Heiner Müllers generell zeigen lässt, sind die Antworten
bereits vorgeformt und folgen bestimmten dramaturgischen Mustern. Es sind verbal manifeste
Gedankengänge und Anekdoten, die in nur leicht abgewandelter Form immer wiederkehren.
Das betrifft die Autobiografie insbesondere an denjenigen Stellen, die Müller bereits
literarisch verarbeitet hatte, deren vermeintliche ›Urszene‹ durch die künstlerische
Überformung der Bilder dem Blick bereits entrückt war. Doch auch Episoden, die Müller
scheinbar zum ersten Mal preisgibt, sind schon in der mündlichen Erzählung (poetisch)
überformt und einer dramaturgischen Struktur unterworfen, die in weiteren Arbeitsgängen
sprachlich-stilistisch geschliffen werden. Die primäre Qualität des Materials der
Tonbandabschriften besteht denn auch darin, dass hier bereits von einem poetischen Text
gesprochen werden kann.
Die äußere Gliederung des Textes erfolgt ausschließlich durch die Angaben zur Bandzahl.
Doch bereits in dieser frühen Gestalt des Textes zeichnen sich inhaltliche und formale
Strukturen ab, die bis zur Druckfassung durchgehalten werden. 327 So sind im transkribierten
Gespräch Themenkomplexe so vorgeformt, dass sie später problemlos und in nur minimal
abgewandelter Form in der Druckfassung aufgehen können. Insgesamt finden sich inhaltlich
nur geringfügige Abweichungen. Die Arbeit besteht in der Folge vor allem in sprachlich-
stilistischer Überarbeitung, Kürzungen, thematisch bedingten Umstellungen und der
Herstellung einer Chronologie, die die Grundlage der Makrodramaturgie von KRIEG OHNE
SCHLACHT bilden wird – Arbeiten, die Heiner Müller anderen überließ, bevor er sich an die
noch einmal komprimierende Überarbeitung einer stark bereinigten Interviewfassung
machte. 328 Dennoch ist selbst in der Druckfassung vieles dramaturgisch nicht zwingend. Die
stark abweichende Kapitellänge, die auffälligen Schwankungen in der Haltung des Autors
zum entstehenden Text und die großen Unterschiede in der sprachlichen und poetischen
Qualität einzelner Passagen lassen Rückschlüsse darauf zu, dass Müller den Text teils etwas
stiefmütterlich behandelte, teils akribisch überarbeitete oder gar neu verfasste.
Möglicherweise lassen diese Differenzen in der Qualität der redaktionellen Arbeit
Rückschlüsse darauf oder zumindest Vermutungen darüber zu, welche Textstellen für Müller
besonders wichtig waren und also einen bevorzugten Stellenwert im Gesamtkomplex der
Arbeit an KRIEG OHNE SCHLACHT einnahmen.
326
Katja Lange-Müller im Gespräch mit LDR
327
Bereits im Vorfeld der Interviews bereitete Helge Malchow schwerpunktmäßig die Fragen vor und
bestimmte somit maßgeblich die Textstruktur.
328
»Die Bänder wurden abgetippt, aber da fehlte ganz viel. Missverständnisse, Fehler. Müller war ja schon
krank und meistens besoffen, so dass viele Dinge für Außenstehende wirklich unverständlich waren. Ich
füllte die Lücken und nahm erste stilistische Veränderungen vor. Das war ja bis dahin unlesbar. Dann wurde
es wieder abgetippt. Renate Ziemer berichtigte zeitliche Fehlangaben und füllte Gedächtnislücken Heiner
Müllers. Auch Helge Malchow nahm Ergänzungen vor und schrieb Anmerkungen und Fragen in das
Manuskript. Dann wurde die Kapitelstruktur, der Stil und die Zwischenfragen redigiert. Das war in erster
Linie meine Aufgabe. Dann bearbeitete Heiner Müller das Manuskript in Zusammenarbeit mit Helge
Malchow und Stephan Suschke.« (Katja Lange-Müller im Gespräch mit LDR)
65
Sprachlich-stilistisch liegt die markanteste Differenz zu den folgenden Bearbeitungsstufen in
der Reduktion der gesprächsbedingten Elemente. Das vertrauliche »Du«, dass der Intimität
der Gesprächspartner geschuldet ist, wird eliminiert und taucht in allen späteren Fassungen
ebenso wenig auf wie die Bitte um mehr Kaffee. Fragen, Kommentare und Erklärungen
werden getilgt beziehungsweise übernehmen nur mehr gliedernde Funktion. Wie bei der
Arbeit an der Textstruktur ist auch die sprachlich-stilistische Textarbeit von Ambivalenzen
geprägt. Werden einerseits Sätze und Satzfolgen aus dem transkribierten Interview wörtlich in
die Druckfassung übernommen, erfahren andere eine differenzierte Umgestaltung oder
werden gänzlich neu formuliert, so dass sie eine grundsätzlich neue Bedeutung erhalten.
In der Folge soll an drei ausgewählten Beispielen auf einige Besonderheiten der Textarbeit
hingewiesen werden. Um die Genese des Drucktextes nachvollziehbar veranschaulichen zu
können, wird zusätzlich zum Text der Tonbandabschriften eine spätere, ebenfalls
fragmentarische Textstufe herangezogen, auf die im Anschluss noch näher einzugehen sein
wird. 329 Das erste Beispiel bezieht sich auf die zweifache Generierung des Materials zu
Heiner Müllers Kindheit, die auf das vermeintlich defekte Band 1 zurückzuführen ist.
Es gab ein Aufsatzthema »Die Straßen des Führers«. Beginn des Autobahnbaus und man
sagte uns, dass die besten Aufsätze prämiert würden. … Ich kam nach Hause und sagte
das meinem Vater. Dafür musst du keine Prämie kriegen, kümmere dich nicht drum. Dann
hat er das Essen gemacht. Dann haben wir gegessen und dann sagt er, ich helfe dir den
Aufsatz zu schreiben. Dann hat er mir ein paar Sätze reindiktiert in den Aufsatz. Der eine
war, es ist gut, dass der Führer die Autobahnen baut, dann bekommt vielleicht auch mein
Vater wieder Arbeit, der so lange feiern musste. Und das war der Verratsschock
eigentlich. Nun ich war so erzogen. Dass draußen der Feind ist und die Nazis sind der
Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich. Zu Hause sind wir eine Festung und halten
zusammen. Plötzlich war da dieser Riss. (Interviewer: Dein Vater ist schwach geworden.)
Ja Und er kriegte auch Arbeit bei der Autobahn. Er war dann ein halbes Jahr weg, hielt es
aber nicht aus, es ging nur um schaufeln, das hielt er körperlich nicht mehr aus und kam
dann zurück. (TA 19f.)
Er hat erst Arbeit gekriegt beim Autobahnbau, das war 36. Das ist das, was ich
aufgeschrieben hatte, wo wir einen Aufsatz schreiben sollten über die Straßen des
Führers. Da wurde mitgeteilt, dass es eine Prämie gibt für die besten Aufsätze. Ich kam
nach Hause, erzählte das und mein Vater sagte, da musst du dich nicht drum kümmern, da
brauchst du keine Prämie zu kriegen. Dann habe ich angefangen irgendetwas
hinzuschreiben und dann sagte er, ich helfe dir den Aufsatz zu schreiben. Und dann hat er
mir reingeschrieben, dass es gut ist, dass der Führer Autobahnen baut, denn da kriegt
vielleicht auch mein Vater wieder Arbeit, der so lange feiern musste und so. Und das
funktionierte. Der Aufsatz wurde prämiert. Das war der Beginn meiner
Schriftstellerlaufbahn. Mein Vater kriegte Arbeit bei der Autobahn. Er hat das aber
physisch nicht lange ausgehalten. Es ging nur um Schippen. Nach einem halben Jahr
musste er aufhören. (TA 25f.)
1936 dann oder schon Ende 1935 gab es in der Schule zum Beginn des Autobahnbaus das
Aufsatzthema »Die Straßen des Führers«. Man sagte uns, dass die besten Aufsätze
329
Es handelt sich hierbei um eine Fassung aus dem Nachlass Heiner Müllers, die im Archiv der Akademie der
Künste Berlin unter der Signatur HMA 4487 zu finden ist.
66
prämiert würden. Ich kam nach Hause und erzählte das meinem Vater. »Dafür musst du
keine Prämie kriegen, kümmere dich nicht darum«, dann hat er das Essen gemacht. Wir
aßen und auf einmal sagte er: »Ich helfe dir, den Aufsatz zu schreiben.« Ein Satz, den er
mir diktierte, lautete: »Es ist gut, dass der Führer die Autobahnen baut, dann bekommt
vielleicht auch mein Vater wieder Arbeit, der solange feiern musste.« Dieser Satz löste bei
mir den Verratsschock aus. Ich war so erzogen, dass ich genau wusste, draußen ist der
Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich. Zu Hause sind wir eine Festung und halten
zusammen. Plötzlich war da dieser Riss. Der Aufsatz wurde prämiert, mein Vater bekam
Arbeit bei der Autobahn. Er war aber nur ein halbes Jahr dort, hielt das Schaufeln nicht
aus. (HMA 4487, 19)
Dieser Satz löste bei mir den Verratsschock aus. Ich war so erzogen, dass ich wusste,
draußen ist der Feind, die Nazis sind der Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich. Zu
Hause sind wir eine Festung und halten zusammen. Plötzlich war da dieser Riss. (KOS
23f.)
Von der Druckfassung wurde hier nur der – in allen Fassungen kursiv gesetzte –
Reflexionsteil zitiert, da der Rest des Textes mit dem der dritten Fassung (HMA 4487)
identisch ist. Strukturell sind die vier Texte ähnlich aufgebaut. Als Exposition dient die
Benennung des Aufsatzthemas. Die Handlung setzt ein mit der Mitteilung des Themas durch
den Ich-Erzähler an seinen Vater, der seinerseits den Sohn auf die Irrelevanz der Hausaufgabe
aufmerksam macht. Das offene Gespräch zwischen Vater und Sohn liefert einen Hinweis auf
das enge Vertrauensverhältnis, das dieser Beziehung zugrunde liegt und dient dem Aufbau der
»Fallhöhe«. Als nämlich der Vater nach dem Essen (nur in der zweiten Fassung fehlt dieses
Essen) ankündigt, sich am Aufsatzschreiben beteiligen zu wollen und dem Sohn Sätze in den
Text diktiert, die von jenem als Demutsgeste des oppositionellen Intellektuellen vor dem
feindlichen »Führer« wahrgenommenen werden, kommt es zum Konflikt, zum
»Verratsschock«. In einem sich anschließenden Reflexionsteil wird dieser Konflikt näher
begründet (»draußen ist der Feind … Zu Hause sind wir eine Festung«) und seine
Konsequenz beschrieben (»Plötzlich war da dieser Riss«). Gelöst wird er nicht. Nur in der
zweiten Tonbandabschrift deutet sich an, dass der (ungelöste) Konflikt beim Erzähler einen
Schreibimpuls auslöst, der ihn in die Kunst treibt (»Das war der Beginn meiner
Schriftstellerlaufbahn«). 330 Die Szene endet mit dem Rückblick auf die Folgen des »Verrats«
für den Vater. Der prämierte Aufsatz verschafft ihm tatsächlich Arbeit, an der er jedoch
scheitert. Das Scheitern des Vaters als Pointe dieser von Müller mit theatralischem Instinkt
entworfenen und dramaturgisch präzise durchgeführten Episode bleibt ambivalent. Wie aus
der zuvor beschriebenen KZ-Gefangenschaft kehrt der Vater zwar zum Sohn zurück, aber
auch diesmal hat er sich (nicht nur moralisch) als der Schwächere erwiesen (»Er … hielt das
Schaufeln nicht aus«), was ihn in den Augen des Sohnes nur um so verächtlicher erscheinen
lassen muss. Das Vaterbild ist nachhaltig beschädigt – für den Sohn ein irreparables
Dilemma, das er nur durch die Flucht in die Kunst, wenn nicht bewältigen, so doch
kompensieren kann. Der Vergleich der Fassungen macht deutlich, dass die
Bedeutungsstruktur (abgesehen von der zweiten Tonbandabschrift, in der Zubereitung und
330
Wie Hendrik Werner in seiner umfangreichen Studie (Im Namen des Verrats) beschreibt, lässt sich Müllers
Schreibgestus tatsächlich auf einen solchen Konflikt mit dem Vater zurückführen. Allerdings bleibt es
problematisch, Heiner Müller mit dem Ich-Erzähler dieser Texte gleichzusetzen. Der Autor – Foucault
zufolge eine Funktion des Textes – ist eine Konstruktion im Wechselspiel von Text, Autor und Leser.
67
Verzehr des gemeinsamen Mahles fehlen) von Beginn an – also bereits mit der Transkription
der mündlichen Erzählung – vorhanden ist und nicht nachträglich von Müller hinzugefügt
wurde. Das bedeutet hinsichtlich der Konstruktion des Textes, dass sie der Erzählung
vorgängig ist oder wenigstens mit ihr zusammenfällt. Bei der Betrachtung der beiden
ursprünglichen Versionen, die beide auf die mündliche Erzählung zurückgehen, fällt auf, dass
sich die Texte zum Teil bis in die Formulierungen hinein gleichen. Dieses Phänomen ist
gewöhnlich bei Äußerungen, die oft wiederholt werden und deren Formulierung also in festen
Bahnen verläuft. Hinzu kommt, dass Heiner Müller den Inhalt dieser Texte tatsächlich bereits
schriftlich fixiert hatte, wenngleich über vierzig Jahre vor der Entstehung von KRIEG OHNE
SCHLACHT. In der Erzählung DER VATER schrieb Heiner Müller Ende der fünfziger Jahre:
Als Hitler die Autobahnen bauen ließ, mussten in den deutschen Schulen Aufsätze über
das große Projekt angefertigt werden. Für die besten waren Preise ausgesetzt. Ich sagte
das, aus der Schule kommend, meinem Vater. Er sagte. Du musst keinen Preis haben,
zwei Stunden später jedoch: Du musst dir Mühe geben. Er stand am Herd, schlug ein Ei
in die Pfanne, dann, schon zögernd, ein zweites und schließlich, nach langem Ansehen
und InderHandhalten, das dritte. Das gibt ein gutes Essen, sagte er. Wir aßen und mein
Vater sagte: Du musst schreiben, du bist froh, dass Hitler die Autobahnen baut. Da
bekommt bestimmt auch mein Vater wieder Arbeit, der so lange arbeitslos war. Das musst
du schreiben. Nach dem Essen half er mir, den Aufsatz zu schreiben. Dann ging ich
spielen. (W 2 83f.)
Der Blick auf diese frühe Fassung des Textes, auf die sich alle im Zusammenhang mit KRIEG
OHNE SCHLACHT entstandenen Fassungen beziehen ist in mehrfacher Hinsicht
aufschlussreich. Der Text steht in einem grundsätzlich anderen entstehungsgeschichtlichen
Kontext. Dennoch finden sich strukturelle Elemente der späteren Erzählung vorgeprägt: so die
Exposition, das angedeutete Gespräch mit dem Vater, die Zubereitung des Essens, das
gemeinsame Mahl, der Haltungswechsel des Vaters und das Schreiben des Aufsatzes unter
dessen Anleitung. Der »Verrat« des Vaters spielt in dieser Version der Geschichte explizit
keine Rolle. Die moralische Beurteilung bleibt ebenso dem Leser überlassen wie die
vermutliche Wirkung des väterlichen Verhaltens auf den Knaben. Die lakonische Wendung
am Ende der Episode (die Erzählung ist an dieser Stelle nicht zu Ende) lässt den Leser mit
dem Vater und den Speisendünsten allein zurück. Es ist zu vermuten, dass das Eieropfer
angenommen wird und der Vater durch die voraussichtliche Beendigung der Arbeitslosigkeit
künftig noch mehr Eier in die Pfanne hauen kann. Das Kind geht spielen, das heißt, es begibt
sich in einen vormoralischen Bereich folgenlosen Experimentierens. Die schwerwiegenden
Folgen des diktierten Aufsatzes für Sohn (»Verratsschock«) und Vater (Schaufeln und
Scheitern), für die diese Episode in KRIEG OHNE SCHLACHT nur den Anlass darstellt,
bleiben in dieser frühen Fassung ausgeblendet.
Die meisten Elemente der späteren Fassungen (HMA 4487 und KOS) entstammen der ersten
Version der Tonbandabschriften (TA 19f.). Einige der Passagen werden unverändert
übernommen. Die in der Erzählung angelegte wörtliche Rede wird durch Anführungsstriche
gekennzeichnet und damit deutlicher hervorgehoben, dass es sich um eine ›szenische‹
Konstellation handelt. Dabei fällt ins Auge, dass ein Dialog nicht stattfindet, es redet
ausschließlich der Vater. Die Sprachlosigkeit des Sohnes lässt das väterliche Diktat
unausweichlich erscheinen: Der Vater leiht dem Sohn seine Stimme und beschert ihm damit
68
einen Identitätskonflikt. Das Trauma treibt den Sohn in die Literatur. Die – kursiv zitierte –
Reflexionsebene nimmt eine Sonderstellung ein und fehlt in keiner der oben zitierten
Fassungen. Sie beschreibt die Folgen des Diktats für den Sohn und seinen weiteren
Lebensweg. Aber nur in der zweiten Version der Tonbandabschriften (TA 25f.), die keine
Fortsetzung in den weiteren erhaltenen Fassung erfährt, ist die Konsequenz explizit benannt:
»Das war der Beginn meiner Schriftstellerlaufbahn.« 331 Die anderen drei Versionen (TA 19f.,
HMA 4487, 19 und KOS 23f.) beschränken sich auf die Begründung des Konflikts, der sich
aus der Tatsache des väterlichen »Verrats« für den Sohn ergibt und weichen im Wortlaut nur
unwesentlich voneinander ab. Von Bedeutung für die Textstruktur ist jedoch, dass in der
Druckfassung nicht lediglich auf die Bearbeitungsstufe HMA 4487 zurückgegriffen wird,
sondern zur Konkretisierung des Feindbildes (»die Nazis sind der Feind«) auch auf den Text
der Tonbandabschriften. Ob Müller bei der Arbeit an KRIEG OHNE SCHLACHT bewusst
auf die Tonbandabschriften zurückgriff oder auf eine andere, nicht mehr erhaltene Fassung, in
der diese Konkretisierung nicht bereits eliminiert war, lässt sich daraus mit Bestimmtheit
nicht schließen, da die Genese von HMA 4487 zur Druckfassung nicht dokumentiert ist.
Immerhin ist dieser Rückgriff ein Indiz dafür, dass die Rohfassung (HMA 4487) keine
unmittelbare Vorstufe zur Gestalt des von Müller autorisierten und gedruckten Textes
darstellt, sondern nur eine für die weitere gründliche Überarbeitung relevante
Bearbeitungsstufe. Eine Zwischenfrage des Interviewers zwischen Reflexions- und Schlussteil
in der frühesten Fassung wird eliminiert: Eine zusätzliche Kommentarebene, zumal an
dramaturgisch so exponierter Stelle, hätte die Bedeutung der Reflexion des Autors und die
Wirkung der Pointe gestört. Zudem widerspräche ein solcher »Fremdkommentar« dem
Prinzip der Fragen, die im Drucktext ausschließlich strukturelle Funktion übernehmen und
nicht mehr der Generierung von Material oder Sinn dienen. Aus dem zweiten Text (TA 25f.)
gingen trotz der strukturellen Ähnlichkeit lediglich die zeitliche Einbindung zu Beginn des
Abschnitts (»1936 dann oder schon Ende 1935«) sowie der Satz »Der Aufsatz wurde
prämiert« in die späteren Fassungen ein.
Der synoptische Blick auf die erhaltenen Tonbandabschriften offenbart eine differenzierte
Textarbeit. Wie konsequent und systematisch Heiner Müller in den Interviewtext eingreift,
lässt sich an einem weiteren Beispiel aus dem ersten Buchkapitel zeigen, das in drei
Fassungen vorliegt.
… dann in Eppendorf?
Meine ersten Kindheitserinnerungen sind eigentlich zwei. Das eine ist ein Gang auf den
Friedhof mit meiner Großmutter, mit der Mutter meiner Mutter. Das war ein ganz
makabres Erlebnis. Da gab es eine Art Kriegerdenkmal, so Erster Weltkrieg aus rotem
Porphyr. Stein. Es ist ein rötlicher Stein, aber es geht mehr in Richtung lila. Eine
gewaltige Figur, eine Frau, Mutter. Es war für mich jahrelang irgendwie mit einem Traum
verbunden durch diese Frau mit dem lila Mutterbild. Zusammen mit der Großmutter, die
auch immer eine etwas rosige Gesichtsfarbe hatte, sie war ziemlich dick, ich kann es
nicht mal begründen und beschreiben.
Meine Eltern waren krank, hatten Grippe, ich auch. Wir lagen alle drei im Bett. Es kam
331
Bereits 1982 hatte Heiner Müller im Interview die als traumatisch beschriebenen Kindheitserlebnisse im
Zusammenhang mit der Verhaftung, Inhaftierung und Rehabilitierung des Vaters als erste Szene seines
Theaters (s. a. GI 1 90) bezeichnet und damit auf den Zusammenhang dieser Erfahrung mit dem Impuls
seiner künstlerischen Arbeit hingewiesen.
69
regelmäßig täglich eine Krankenschwester, wahrscheinlich von einer kirchlichen
Organisation und einmal brachte sie Erdbeeren mit. Diese Erdbeeren sind mein erstes
Glückserlebnis, das es gibt. Das muss vor 33 gewesen sein. (TA 11f.)
Die primäre Qualität der ersten Textstufe liegt in der Bereitstellung der inhaltlichen
Grundelemente der Episode. Doch bereits der Texteinstieg offenbart folgenreiche Eingriffe in
die dramaturgische Struktur. Der erste Satz Müllers ursprünglicher Antwort wird zur Frage
eines fiktiven Gesprächspartners umformuliert. Sie ersetzt die in der Transkription nur
fragmentarisch erfasste Rede des Interviewtextes und fasst den Inhalt des folgenden
Abschnitts zusammen. Die Dialogstruktur des Textes erweist sich damit nicht als Relikt eines
tatsächlichen Gesprächs, sondern als gezielt eingesetztes Stilmittel. Sie reicht über die
empirische Wiedergabe der Gesprächssituation, die sie zitiert, hinaus und wird kenntlich als
poetischer Ausdruck. Eine radikale Veränderung erfährt der Text in der Druckfassung, die
sich im ersten Abschnitt auch quantitativ von den beiden früheren Fassungen unterscheidet.
Die Straffung bereinigt den Text nicht nur von den gesprächsbedingten Dopplungen und
Erklärungsfloskeln und tilgt naturalistische Elemente. Die Beschreibung des Steins und die
Gesichtsfärbung der Großmutter, die sich aufeinander beziehen, sind im Drucktext dennoch
anwesend durch die Paarung »Porphyr« und das »lila Mutterbild«. Durch die Fokussierung
auf das »mit Angst besetzt[e]« Verhältnis des Enkels zur Großmutter im ersten Teil der
Episode erfährt der Text auch eine Bedeutungsintensivierung hinsichtlich seines poetischen
Gehalts. Die »gewaltige Figur« des Kriegerdenkmals wird nun ausschließlich mit der
»Mutter« konnotiert und nicht mehr zusätzlich mit der »Frau«. Durch diese
Reduzierung/Konkretisierung verschiebt sich die Bedeutung auf den genetischen
70
Zusammenhang zwischen der Mutter und ihren (toten) Soldatensöhnen 332 . Zugleich bindet
der Autor den Erzähler in diese Beziehungsstruktur ein, indem er den Sohn und Enkel Heiner
Müller vor einem Tableau arrangiert, das den Müttern und Großmüttern vorbehalten ist:
»Großmutter«, »Mutter«, »lila Mutterbild« und wieder »Großmutter«. Die Mutter als
Grab(mal) für die eigenen Kinder ist ein Motiv, das in Texten Heiner Müllers immer
wiederkehrt. Insofern ruft die nur drei Sätze umfassende Episode aus KRIEG OHNE
SCHLACHT eine Vielzahl Müllers eigener Texte auf. Es soll hier dennoch nicht weiter auf
diese Problematik, die zentrales Thema etwa Mülles Medeabearbeitung 333 ist, eingegangen
werden. Nur ein Punkt soll herausgegriffen werden, der für das Verständnis Müllers
»allererste[r] Erinnerung« konstitutiv ist und den er darin begründet sieht, dass für Mütter
staatliche Ordnungen nicht in dem Maße bedeutsam seien, wie für Männer. Dadurch gäbe es
für sie »keinen relevanten Unterschied zwischen Leben und Tod«. Die Aufhebung der Grenze
zwischen einem Reich der Lebenden und der Toten ist tatsächlich zentraler Bestandteil
Müllers Ästhetik. Durch die Verbindung von Geburt (Mutter) und Tod (»Gefallene des Ersten
Weltkrieges«) verweist Müllers Friedhofsszene also auf einen Zusammenhang, der die
Möglichkeit ästhetischer Äußerung selbst betrifft. War es dem Vater vorbehalten, die erste
Szene für Müllers Theater zu stiften 334 , geht der Grund dieses Theaters auf die (Groß-)Mutter
zurück. Die Geburt der Erinnerung aus dem Geiste eines mit der (Groß-)Mutter im
Zusammenhang stehenden Totenkultes rekurriert zum einen auf Mnemosyne, Göttin der
Erinnerung und Mutter der Künste sowie auf das archaische ›Reich der Mütter‹, deren
Aufgabe darin besteht, die längst vergessenen (Ur-)Bilder zu bewahren 335 . Dass es sich bei
Müllers »Erinnerung« um ›Bilder‹ handelt und nicht um empirische Fakten ist nicht zuletzt
einem an Freud und Benjamin geschulten Begriff einer »historischen Wahrheit« (VE 341)
geschuldet, wie er selbst, Bezug nehmend auf die »allererste Erinnerung«, im Interview
ausführt. »Es geht nicht primär um das Erinnern von Ereignissen. Das können Maschinen
letztlich vielleicht besser. Es geht um das Erinnern von Emotionen, von Affekten, die im
Zusammenhang mit Ereignissen stehen. Um ein emotionales Gedächtnis. Und das ist es, was
das Erinnerte zu Material in dem Sinne macht, dass man über dieses emotionale Gedächtnis
Traditionen bilden und Erfahrungen tradieren kann. Da geht es gar nicht um Fakten. […] Die
historische [Wahrheit] ist manchmal gar nicht identisch mit der empirischen, weil die
Ereignisse, wenn sie manifest werden, wenn sie geschehen, oft schon vorbei sind. Sie sind
vorher passiert, die eigentliche Bewegung hat längst stattgefunden. […] Wirkliche Erinnerung
braucht schon die Arbeit der Formulierung. Da entsteht womöglich etwas ganz anderes, was
vielleicht faktologisch nicht mehr standhält, aber es entsteht so etwas wie die wirkliche
Erinnerung.« (VE 341f.) Demzufolge spielt es keine Rolle, ob das Denkmal auf dem Friedhof
in Eppendorf in Wirklichkeit keine Pietá, sondern einen »stilisierten Krieger im Moment der
332
Im Gegensatz zur Leitthese Klaus Theweleits »Männerphantasien«, deren Argumentation zufolge eine
gestörte primäre Mutterbeziehung die Basis für die Psychodynamik des deutschen Soldaten bildet (s. a.
Theweleit 1977, 135ff.), ist Müllers Pietá-Modell mit psychopathologischen Ansätzen aus dem 20.
Jahrhundert kaum beizukommen, denn die Problematik Müllers Bild gründet in mythologischen Strukturen.
Ein Ansatz wäre hier die Untersuchung einer (vielleicht sogar vor-)kulturellen Kodierung.
333
VERKOMMENES UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN entstand 1981/82,
s. a. W 5, 71–84
334
s. a. GI 1 90
335
»In eurem Namen, Mütter, die ihr thront / Im Grenzenlosen, ewig einsam wohnt, / Und doch gesellig. Euer
Haupt umschweben / Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben. / Was einmal war, in allem Glanz und
Schein, / Es regt sich dort; denn es will ewig sein.« (Goethe: Faust. In: Goethe-HA 3, 197f.)
71
tödlichen Verwundung« 336 darstellt. Weit wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang die
Tatsache, dass Erinnerung eine Konstruktion ist, die sich im vorliegenden Falle im Medium
der Schrift vollzieht: Heiner Müller kann sich der Friedhofsszene nur deshalb erinnern, weil
er »in der Schule mal einen Aufsatz darüber schreiben musste.« (VE 341) Die »allererste
Erinnerung« wird somit zugleich als Zitat lesbar, als Denkmal für einen früheren Schulaufsatz
und zugleich als dessen Umschrift.
Mitte der siebziger Jahre lieferte Müller eine Theaterdefinition, auf die seine »allererste
Erinnerung« indirekt Bezug nimmt: »Theater [handelt] von den Schrecken/Freuden der
Verwandlung in der Einheit von Geburt und Tod.« (W 8 177) Fällt dieser Zusammenhang in
den beiden früheren Textfassungen nicht unbedingt auf, erscheint er in der Druckfassung
beinahe zwingend. Die »allererste Erinnerung« liefert somit zugleich ein Grundmodell des
müllerschen Theaterbegriffs. In einem seiner letzten Gespräche äußert sich Müller noch
einmal zu dieser Beziehung: »Man kann sagen, dass das Grundelement von Theater und also
auch von Drama Verwandlung ist, und die letzte Verwandlung ist der Tod.« (LV 176) Auch
die beiden Änderungen (»hatten Grippe«, »Das muss vor 1933 gewesen sein.«) in der sonst
wörtlich übernommenen »zweite[n] Erinnerung«, beziehen sich auf konkrete Details, die zwar
»faktologisch« relevant sind, dem Anspruch der »historischen Wahrheit« und also
Allgemeingültigkeit des poetischen Ausdrucks jedoch nicht genügen. Den »Schrecken der
Verwandlung« stehen hier die »Freuden« gegenüber. Müller bezeichnet die Erdbeeren
während der Krankheit, die ebenfalls eine Metamorphose darstellt, als »erstes
Glückserlebnis«, was möglicherweise auf die latent sexuelle Konnotation (»Erdbeeren«,
»Krankenschwester«) zurückgeht.
An einem weiteren Beispiel der Tonbandabschriften, die dem späteren Kapitel »Brecht«
zuzuordnen sind, lässt sich der umgekehrte Vorgang der oben beschriebenen Umwandlung
des Dialogtextes zeigen. Wurde im vorangegangenen Beispiel Sprechtext Heiner Müllers in
die Frage des im Buch ebenso anonymen wie imaginären Interviewpartners verwandelt, findet
hier der umgekehrte Vorgang statt: Der Kommentar des in der Gesprächssituation realen
Interviewers wird zur Rede des Erzählers. Die Aneignung, bereits in einer späteren Fassung
(HMA 4487) nicht mehr als »Fremdrede« kenntlich, erfolgt durch einen einzigen Strich (»das
zusammenzudenken«) und eine orthografische Korrektur (»das Kleine Organon«). Sie dient
dem »Brecht«-Kapitel als Pointe, an die sich nur die eigenständige Anekdote der »Maßnahme
1956« (KOS 231) anschließt.
Seine Stücke haben ja im wesentlichen eine Arienstruktur. Die er aber selbst dann zerstört
hat durch eine Intrigenstruktur, eine Intrigendramaturgie. Und dieser Kampf zwischen der
Arienstruktur, die seine eigentliche Kraft war, und der Intrigendramaturgie, die aus dem
Kopf kam, oder aus ´nem ideologischen oder ideologisch infizierten Denken, die hat die
Stücke kraftlos gemacht. Und auch langsam.
Da hat auch das kleine Organon nicht geholfen, das zusammenzudenken. (TA 9/22)
Seine Stücke haben ja im wesentlichen eine Arienstruktur. Die er aber selbst dann zerstört
hat durch seine Intrigenstruktur, seine Intrigendramaturgie. Und dieser Kampf zwischen
der Arienstruktur, die seine eigentliche Kraft war, und der Intrigendramaturgie, die aus
336
Hauschild 2001, 23
72
dem Kopf kam oder aus ideologischem oder ideologisch infiziertem Denken, die hat die
Stücke kraftlos gemacht und auch langsam. Da hat auch das kleine Organon nicht
geholfen, das zusammenzudenken. (HMA 4487, 295)
Seine Stücke haben ja eine Arienstruktur, die er dann selbst durch seine
Intrigendramaturgie zerstört hat. Diese Intrigendramaturgie, die aus dem Kopf kam, aus
ideologischem Denken, hat die Stücke langsam gemacht. Da hat auch das Kleine Organon
nicht geholfen. (KOS 230)
Es ist davon auszugehen, dass bei der Arbeit an einer Druckfassung von KRIEG OHNE
SCHLACHT eine Vielzahl von Eingriffen in den Text nicht auf Heiner Müller zurückgehen.
Dass er den Text allen Bedenken hinsichtlich seiner literarischen Qualität zum Trotz, dennoch
zum Druck freigegeben hat, ist sicherlich nicht in erster Linie dem Interesse an der eigenen
Nachwirkung geschuldet, wie Katja Lange-Müller mutmaßt. 337 Vielmehr dürfte es der
Einsicht entsprungen sein, dass das Scheitern der eigenen Intention zum Text gehört. Aus den
Tonbandabschriften geht hervor, dass Heiner Müller nicht erst während der Arbeit am Text,
sondern bereits in den Gesprächen zu KRIEG OHNE SCHLACHT eine explizite
Problematisierung des Verhältnisses Schreiben – Leben vornimmt, die seine Identität als
Autor und dessen Anwesenheit im Kunstwerk entscheidend prägt. Der Satz, »Das war meine
eigentliche Existenz das Schreiben.« (TA 76), taucht später im Zusammenhang mit der
»Umsiedlerin-Affäre« wieder auf: »Meine eigentliche Existenz war die als Autor.« (KOS
181) und kennzeichnet dort die Haltung gegenüber der eigenen Arbeit. Der Mensch Heiner
Müller degeneriert zur bloßen Funktion seiner Texte. »… es gibt da einen Kern, der von allem
unberührt war bei mir […] Was dieser Kern war, weiß ich nicht. Wahrscheinlich das
Schreiben, ein Bereich von Freiheit und Blindheit gleichzeitig, völlig unberührt von allem
Politischen, von allem, was draußen vorging. Meine Sache war die Beschreibung.« (KOS 64)
Auch dieser Satz findet sich im gleichen Kontext (es handelt sich um das Kapitel »Rückkehr
nach Sachsen, Frankenberg«) bereits in den Tonbandabschriften: »Im Grunde ist das
Wesentliche, dass ich völlig unberührt da durch gegangen bin.« (TA 75) Wie die Beispiele
zeigen, zeichnet sich schon in den Tonbandabschriften eine Ebene der Reflexion des
autobiografischen Diskurses ab, die freilich erst durch das dem Text vorangestellte Motto, das
Zitat aus LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, und das Nachwort ERINNERUNG AN
EINEN STAAT im Drucktext dominant wird. So lässt die Textstufe der Tonbandabschriften
deutlich erkennen, dass Müller bereits zum Zeitpunkt der Interviews eine distanzierte Haltung
zum entstehenden Text einnahm.
3.3. Nachlass
Eine zweite wichtige Invariante für den genetischen Nachvollzug der Textgestalt von KRIEG
OHNE SCHLACHT bildet das Material aus dem Entstehungszusammenhang der
Autobiografie im Nachlass Heiner Müllers, den die Stiftung Archiv der Akademie der Künste
337
»Er hat sich – entgegen eigener Beteuerungen – extrem mit seiner Nachwirkung befasst.« (Katja Lange-
Müller im Gespräch mit LDR)
73
Berlin beherbergt. Es ist dort unter der Signatur »01.02.03. Autobiografie [Krieg ohne
Schlacht] 4470–4491« registriert, steht jedoch vermutlich nur teilweise in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Entstehung des Textes. Der Bestand, der explizit der Autobiografie
KRIEG OHNE SCHLACHT zugeordnet wird, umfasst etwa sechshundert Blatt. Die Qualität
des Materials unterscheidet sich im Einzelnen außerordentlich. Offenbar stellte Müller (oder
einer der an seiner Autobiografie beteiligten Mitarbeiter 338 ) dieses Material im Rahmen der
Arbeit an KRIEG OHNE SCHLACHT aus unterschiedlichsten – zeitlich sowohl als
funktionalen – Kontexten zusammen. Denkbar ist zudem eine mehr oder weniger willkürliche
Zuordnung zum Textkorpus der Autobiografie im Zuge der Archivierung von Heiner Müllers
Nachlass. In dem Material finden sich funktional gebundene Texte (Lebensläufe aus den
fünfziger Jahren 339 , Briefe/Briefentwürfe/Faxe von und an Helge Malchow) neben
zahlreichen handschriftlichen Notizen, Entwürfen zu Titel und Vorwort, grob
fragmentarischen Textfassungen von KRIEG OHNE SCHLACHT sowie zeitlich zum Teil
weit auseinander liegenden Ansätzen zu alternativen Konzeptionen im Umgang mit
autobiografischem Material, dokumentiert etwa in Prosaentwürfen, wie sie von Frank
Hörnigk aus dem Nachlass bereits veröffentlicht wurden 340 . Entwürfe zu Bildtiteln (s. a.
HMA 4476) belegen, dass Fotografien zumindest im Entstehungsprozess eine Rolle gespielt
haben müssen 341 . Zahlreiche Notizen und Entwürfe, die im Vorfeld der Interviews,
beziehungsweise bereits während der Arbeit an KRIEG OHNE SCHLACHT entstanden sein
dürften, dokumentieren – im Gegensatz zu der von Müller behaupteten Zufälligkeit des
»Resultats« – eine intensive Auseinandersetzung mit Motiven, die im Drucktext thematisiert
werden, insbesondere betreffend die Vorfahren, die frühe Sozialisation und die offenbar
traumatischen Erlebnisse im Krieg. Manisch immer wieder niedergeschriebene Satzfetzen,
etwa von den zu engen Stiefeln (s. a. KOS 35), wirken beinahe ritualisiert, lassen aber
zugleich deutlich werden, dass der Drucktext nicht Ergebnis einer »Plauderei«, sondern
bereits das Interview Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Material ist.
Einige dieser (meist handschriftlichen) Notizen aus dem Nachlass stehen im engen
Zusammenhang mit einer dem Drucktext impliziten Reflexionsebene, die den Akt
autobiografischen Erinnerns problematisiert und seinen reflexiven »Wahrheitsgehalt«
ausdrücklich in Frage stellt. Das führt in letzter Konsequenz dazu, dass Müller der Zugriff auf
die eigene Erfahrungswelt verschlossen bleibt oder zumindest als problematisch empfunden
wird. Die entsprechenden Äußerungen Müllers gehen darauf zurück, dass nicht erst unsere
sinnlichen Wahrnehmungen – zu denen die Erinnerung zweifellos gehört – »immer schon
interpretierende, produktive Antworten auf so genannte ›Affektionen‹ sind. Unsere
338
Möglicherweise spielte Müllers Sekretärin Renate Ziemer in diesem Zusammenhang eine wesentliche
Rolle: »1988 räumte ich während einer Reise Heiners noch Umzugskartons aus seiner Pankower Wohnung
aus. Dabei tauchten alte Texte und Papiere auf. Ich reiste mit einem Koffer voller Materialien nach
Lanzarote, die ich beim Aufräumen in Müllers Wohnung gefunden hatte. Die Auswahl für KRIEG OHNE
SCHLACHT traf Heiner Müller.« (Renate Ziemer im Gespräch mit LDR)
339
Ein solcher handschriftlicher Lebenslauf befindet sich als »Dokument 2« (KOS 375) im Dokumentenanhang
der Buchausgabe von KRIEG OHNE SCHLACHT.
340
Unter der Signatur HMA 4475 findet sich ein maschinenschriftlicher Entwurf mit handschriftlichen
Korrekturen aus den fünfziger Jahren, der im Prosaband der Werkausgabe unter dem Titel [Ich hatte gerade
Dostojewskis …] abgedruckt ist (W 2 161f.). Im gleichen Band sind die Texte [Im Herbst 197.. starb …] (W
2 177-188 / HMA 4477, s. a. HMA 4476 u. 4478) und INTERMEZZO (W 2 190 / HMA 4478) abgedruckt.
341
Renate Ziemer spricht von einem ursprünglich geplanten Bildteil, den Müller kurz vor Veröffentlichung
zurückzog. Möglicherweise eine Reminiszenz an das Bilderverbot, das Müllers Poetologie der
Mimesisverweigerung zugrunde liegt.
74
Wahrnehmungen sind genauso wenig Abbilder einer an sich seienden Welt, wie es unsere
Begriffe sind.« 342 Zu dieser von Müller bereits im Interview bewusst aufgegriffenen
Problematik kommt eine während der Arbeit am sukzessive entstehenden Drucktext explizit
formulierte Distanz zum »Resultat« des autobiografischen Interviews hinzu. Diese Distanz
offenbart die Fremdheit gegenüber der eigenen Lebensgeschichte, die nur literarisch fassbar
war und dem subjektiven Zugriff durch diese Transformation nicht mehr zur Verfügung steht.
Als prägendes Strukturmerkmal durchzieht diese Fremdheit den gesamten Textkorpus. Am
deutlichsten jedoch schlägt sie sich nieder in einzelnen Nachlassnotizen 343 , im Motto des
Buches (»Soll ich von mir reden Ich wer …«) und dem »Nachwort« 344 ERINNERUNG AN
EINEN STAAT, in dem das Verhältnis des Dichters zu seiner eigenen Wirklichkeit auf
hohem poetischen Reflexionsniveau noch einmal ausagiert wird, ohne diesen Widerspruch
auflösen zu können. Somit bleibt die Fremdheit das Eingeständnis eines Scheiterns. Die
Beschreibung dieses Scheiterns mit und an der eigenen Lebensgeschichte – die poetische
Dynamisierung individuellen Versagens – macht die eigentliche Qualität Müllers später
Texte, so auch des Textes seiner Autobiografie, aus.
Den quantitativ bedeutendsten Teil zum Komplex der Autobiografie im Nachlass Heiner
Müllers nimmt die – oben bereits mehrfach zitierte – im Nachlass als »Rohfassung«
ausgewiesene Textstufe von KRIEG OHNE SCHLACHT ein (HMA 4487). Ein Titel scheint
zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Fassung nicht zu existieren. Der ersten
Kapitelüberschrift ist lediglich ein nüchternes, auf den Arbeitszusammenhang verweisendes
»Autobiografie Heiner Müller« (HMA 4487, 1) vorangestellt. Das fragmentarische
Manuskript umfasst vierhundertzwanzig Druckseiten mit vereinzelten handschriftlichen
Korrekturen und ist bereits in nummerierte Kapitel gegliedert. Auf den Seiten 570 und 571 am
Ende des Manuskripts findet sich ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, was dafür spricht, dass
die Makrodramaturgie des Textes zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Fassung
weitestgehend feststand. Die Abweichungen in der Kapitelfolge (insgesamt fünfunddreißig, in
der Druckfassung sind es dreißig) zur Druckfassung sind minimal. Auf das Kapitel
»Sowjetunion, Ostblock« folgen die später in andere Kapitel integrierten »Quartett« und
»Bildbeschreibung«. Erst auf das »Fatzer«-Kapitel folgt die Überschrift »Frankreich, Italien,
Puerto Rico« (im Drucktext steht »Frankreich usw.« vor »›Fatzer-Material‹, 1978, und
›Quartett‹, 1981«). Auch die geplanten Kapitel »Die eigenen Inszenierungen«, »Literarische
Preise« und das handschriftlich hinzugefügte »Freunde« gehen im Drucktext in anderen
Kapiteln auf. »Die Zeit danach« mit dem Untertitel »Akademie-Präsident / Berliner Ensemble
/ Die Stasidebatten« wird in der Endfassung durch den Text ERINNERUNG AN EINEN
STAAT ersetzt. Die Seiten dieses Kapitels sind im Manuskript nicht enthalten und wurden
demnach von Müller entweder gestrichen oder gar nicht erst ausgeführt (s. a. HMA 59). Da
der Text in Kapitel »21. Der Auftrag« auf Seite 416 abbricht, lässt sich über den Stand der
Bearbeitung der letzten Kapitel nichts sagen. Im Verhältnis zur Endfassung fehlt demzufolge
in dieser Fassung das letzte Fünftel des Textes. Die im Manuskript verwendeten
342
Scheer 1997, 3
343
Einige dieser Entwürfe gehen später in modifizierter Form in den Text ERINNERUNG AN EINEN STAAT
ein. Eine differenzierte Analyse einiger dieser Entwürfe nimmt David Beikirch in seiner Magisterarbeit von
2004 vor.
344
Nur im Inhaltsverzeichnis der Buchausgabe von KRIEG OHNE SCHLACHT ist dieser Text explizit als
»Nachwort« ausgewiesen.
75
Kapitelüberschriften stimmen mit denen im offenbar zu einem späteren Zeitpunkt verfassten
Inhaltsverzeichnis nicht immer überein. So beginnt die numerische Zählung nach römischem
System, ab dem Kapitel »9. Die ›Umsiedlerin‹-Affäre« setzt sie – das »Lohndrücker«-Kapitel
fehlt – mit arabischen Ziffern wieder ein. Das spätere Kapitel »Theaterarbeit in Ostberlin«
trägt die Überschrift »16. Vom Berliner Ensemble zur Volksbühne«. Die Begegnung mit
Ernst Jünger ist noch Bestandteil dieses Kapitels, offenbar aber schon als eigenständiges
Kapitel geplant, denn das folgende Kapitel, »18. USA« verweist in der Zählung auf das
fehlende siebzehnte. »19. Nachwuchsschriftsteller in der DDR« weicht später der
grundsätzlich anders konnotierten und dem Inhalt des Kapitels näher kommenden Überschrift
»Schreiben und Moral«. Wie die Unterschiede in Kapitelzählung und -überschriften lassen
Lücken beziehungsweise Überlappungen in der Seitenzählung darauf schließen, dass es sich
bei dem Manuskript nicht um eine kohärente Fassung handelt. Demnach sind in dieser
»Rohfassung« nicht erst durch die handschriftlichen Korrekturen unterschiedliche
Arbeitsgänge präsent. Über den Verbleib fehlender Seiten existieren keine Informationen.
Wie am Inhaltsverzeichnis abzulesen, entspricht die Grobstruktur im Wesentlichen bereits
dem Drucktext. Auch die Dramaturgie innerhalb der einzelnen Kapitel stimmt weitestgehend
bereits mit derjenigen der Endfassung überein. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass große Teile
dieser Fassung nicht auf Heiner Müllers Bearbeitung zurückgehen, sondern eine Textstufe
präsentieren, die ihm als Grundlage weiterer Überarbeitung diente. Wie im Einzelnen noch zu
zeigen sein wird, besteht der markanteste Unterschied der Endfassung gegenüber diesem
Arbeitsdokument in der Straffung/Verdichtung des Textes und der Verallgemeinerung
persönlicher Aussagen. Ein markantes Beispiel liefert die Eingangspassage aus dem ersten
Kapitel, »Kindheit in Eppendorf und Bräunsdorf, 1929–39« 345 .
Es war eine schwere Geburt. Sie hat ungeheuer lange gedauert, bis neun Uhr abends. Das
war mein erster Krieg. Ich wollte offenbar nicht raus, ziemlich schwer war ich auch. Ich
wog neun Pfund, kann das stimmen? Oder neuneinhalb sogar. Meine Mutter ist sehr
klein. Das muss schwere Arbeit gewesen sein. Meine Mutter erzählt immer, dass sie
zwischendurch lieber sterben wollte als die Geburt weiter durchhalten. Das ist ihr aber
nicht gelungen, mir auch nicht. Es musste wohl sein. 9. Januar 1929. (HMA 4487, 1)
Ich war eine schwere Geburt. Sie hat lange gedauert, von früh bis neun Uhr abends. 9.
Januar 1929. (KOS 13)
Der Strich ist radikal. Von zwölf Sätzen bleiben drei übrig. Nur der Rahmen der
ursprünglichen Geburtsszene bleibt erhalten und wird chronologisch konkretisiert (»von früh
bis neun Uhr abends«). Die »Mutter« fällt diesem Strich ebenso zum Opfer wie die
anatomischen Besonderheiten der Geburt. Das Ringen von Tod und Leben sowohl des »Ich«
als auch seines gedachten Ursprungs, der in der früheren Fassung noch mit der Mutter
identifiziert wird, bleibt im Text erhalten durch die Feststellung, dass es sich um eine
»schwere Geburt« gehandelt hätte. Der objektive Gehalt einer mit Komplikationen
verbundenen Geburt weicht in der Druckfassung der Thematisierung einer dem gesamten
Text zugrunde liegenden Problematisierung der Sprecherinstanz. »[Das] Ich war eine schwere
345
In der Druckfassung heißt das erste Kapitel »Kindheit in Eppendorf, 1929–39«.
76
Geburt.« Die Ersetzung des Personalpronomens am Kapitelbeginn ist die auffälligste und
folgenreichste Änderung in der Eingangspassage. Sie eliminiert nicht nur die Mutter als
wenigstens gedachtes Subjekt des Geburtsvorgangs aus der Erzählung. Mit ihr tritt der
Erzähler in die Struktur der Erzählung ein: Im Akt Müllers Textarbeit – der Ausstreichung des
»Es« und Setzung des »Ich« – vollzieht sich das In-die-Welt-Treten des Autors, wiederholt
sich die »schwere Geburt« im Medium der Schrift. Die Nabelschnur ist durchtrennt. Das
»Ich« ist im Raum der Schrift fortan bezugslos unterwegs. Ein dem »Ich« vorgängiges »Es«
wird ausgestrichen und existiert nur noch in der Geste des Ausstreichen, die den »erste[n]
Krieg« markiert. Dieser Krieg, der das In-die-Welt-Treten anzeigt, ist permanent. Er
wiederholt sich mit jedem »Ich«-Sagen und ist die Bedingung einer Existenz im Schreiben346 ,
die sich mit allen Rollen identifiziert. Das »Ich« bedeutet insofern keine Subjekt-
Identifikation des Autors mit dem (fiktiven) Erzähler der Lebensgeschichte, sondern zeigt
einen Prozess an: Das Ich-Werden des Erzählers oder – wie es Deleuze/Guattari beschreiben
würden – das Müller-Werden als Fremd-Werden 347 . Der Autor wird Ich und hört nicht auf,
Ich zu werden, damit das, was sich für das Subjekt hält, »selbst etwas anderes wird und sich
aus seiner Agonie herausreißt« 348 . Die Kunst ist wie die Philosophie ein Experiment. »Ich ist
ein anderer.« (KOS 218) Das bedeutet vor allen Dingen, »Ich« muss ein anderer werden,
fremd sich selbst, seiner Geschichte, seiner Sprache.
Eine strukturelle Entsprechung hat die Geburtsszene im Kapitel »Ödipus Tyrann«, in der sich
Heiner Müller im Zusammenhang mit dem Suizid seiner zweiten Frau Inge und dem Text
TODESANZEIGE explizit zum Gestus der Ich-Werdung in der Prosa äußert, eine Erfahrung,
die er als schockhaft beschreibt (s. a. KOS 211). An jenem Text, der unter anderem den Tod
seiner Frau verarbeitet, hatte Müller den Vorgang der Ich-Setzung, den er in KRIEG OHNE
SCHLACHT wieder aufgreift, bereits vollzogen. Hieß es in einem alternativen Textentwurf
»Sie war Tod als er nach Hause kam.« (W 2 164), beginnt der Text der veröffentlichten
Fassung zwar mit dem Tod der Frau, die hier allerdings von einem »Ich« gefunden wird: »Sie
war tot, als ich nach Hause kam.« (W 2 99). In der Terminologie Freuds bedeutet die
Inthronisierung des »Ich« die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip. 349 Dabei
bleibt das Realitätsprinzip funktionell an das Lustprinzip – die Struktur des »Es« – gebunden,
ähnlich der Funktion des Apollinischen bei Nietzsche, das den dionysischen Rausch
kultiviert. In dem performativen Modell, das Freud durch die »Zerlegung der psychischen
Persönlichkeit« 350 gewinnt, tritt das »Ich« als Vermittlungsinstanz zwischen den
widersprüchlichen und selbstzerstörerischen Kräften des »Es« und der Außenwelt auf. Mit
Hilfe des »Ich« verschafft sich das bedeutungslose Dasein des »Es« Zugang zum Feld
kultureller Kommunikation. Dadurch verleibt es seine eigenen Wünsche und Begierden einem
346
»Meine eigentliche Existenz war die als Autor, und zwar als Autor von Theaterstücken, und die Realität
eines Theaterstücks ist seine Aufführung.« (KOS 181)
347
Die literarische »Figur« des Erzählers entsteht Deleuze/Guattari zufolge nicht aus der Nachahmung oder
imaginären Identifikation der Person des Autors mit dem fiktiven Erzähler, sondern als Folge einer
»extreme[n] Kontiguität innerhalb einer Verklammerung zweier Empfindungen ohne Ähnlichkeit«
(Deleuze/Guattari 2000, 204). »Die schöpferische Fabulation oder Fiktion hat weder mit einer Erinnerung –
und sei sie auch erweitert – zu tun noch mit einem Phantasma. Tatsächlich geht der Künstler […] über die
perzeptiven Zustände und affektiven Übergänge des Erlebten hinaus. Er ist ein Seher, ein Werdender.«
(Deleuze/Guattari 2000, 201)
348
Deleuze/Guattari 2000, 127
349
s. a. Freud-SA 1, 513
350
Freud-SA 1, 496
77
universalen Diskurs ein. Als Agent der Vermittlung, die das auf Triebabfuhr beschränkte
»Es« nicht leisten kann, bleibt das »Ich« an die Sprache gebunden. Die Abgrenzung vom
Bereich allgemeinen Daseins wird daher nicht nur zum vorrangigen Ziel für jedes »Ich«,
sondern zur existenziellen Bedingung des Daseins selbst: »Wo Es ist, soll Ich werden.« 351 Der
Vorgang ist für Müllers Schreiben evident. Wie bei Freuds Ansatz schließt die Funktion »Ich«
bei Müller ein subjektzentriertes Persönlichkeitsmodell aus. Das Ich ist in seinen Texten
immer das Signum der A-Identität, die eine Streuung des Ich zur Folge hat. »Soll ich von mir
reden Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich wer ist das« (KOS
9). Diese Verse, die Müller seiner Autobiografie als Motto voranstellt, zitieren den Text
LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, einen Text, der ähnlich wie BILDBESCHREIBUNG
gezielt die Auflösung der Autor-Identität betreibt. Die Frage nach dem Ich ist in diesen
Texten nicht rhetorisch und harrt dementsprechend keiner Antwort. Sie ist das Programm
eines literarischen Selbstverständnisses, das nicht auf der Suche nach Antworten ist, sondern
auf der Sichtbarmachung des Verdrängten insistiert, mit dem sich das Ich vom Es abtrennen
will. Müllers Eingriff in den Anfangssatz der Autobiografie ist eine Kriegserklärung an die
eine Identität als Autor. Sie kennzeichnet die Stelle des Einverständnisses mit der
permanenten Verwandlung im Medium der Schrift und widersetzt sich damit der bevorzugten
Praxis abendländischen Denkens, aus Bruchstücken ein Ganzes zu fügen. Die Datierung »9.
Januar 1929« dient in diesem Zusammenhang nicht der historischen Legitimation eines
Vorgangs der ohnehin erst im Akt literarischen Sprechens begründet liegt. Sie markiert
vielmehr das In-die-Welt-Treten des Autors im Sinne Deleuze/Guattaris als Monument: »Der
Akt des Monuments ist nicht das Gedächtnis, vielmehr die Fabulation. Man schreibt nicht mit
Kindheitserinnerungen, sondern durch Kindheitsblöcke, die ein Kind-Werden des
Gegenwärtigen sind. […] Nicht Gedächtnis braucht es, sondern ein komplexes Material, das
man nicht im Gedächtnis findet, sondern in den Wörtern …« 352 Mit dem »Ich« des Textes
eröffnet der Autor eine Perspektive, die im Ich-Werden das Fremd-Werden einschließt. Denn
das »Ich« ist ein anderer als Heiner Müller, eine Figuration in einem – wie stets –
autobiografischen Text.
Auf etwa einhundert Seiten der im Archiv als »Rohfassung« ausgewiesenen Textstufe wurden
von Müller – zum Teil sehr geringfügige – Korrekturen vorgenommen. Diese
nachvollziehbaren handschriftlichen Änderungen bestehen in orthografischen, inhaltlichen
und sprachlich-stilistischen Korrekturen und dienen der grundlegenden Straffung des Textes.
Zur Veranschaulichung dieser Textarbeit soll hier ein handschriftlich redigierter Auszug aus
dem Kapitel »9. Die Umsiedlerin-Affäre, 1961« angeführt werden. Vor der Aufführung
wurden die Genossen – das Publikum bestand nahezu ausschließlich aus geladenen Gästen –
instruiert, lautstark zu protestieren. Das klappte unter anderem deshalb nicht, weil Manfred
Krug »gröhlend über jeden Witz« (KOS 168) lachte und mit seinem Lachen die anderen
Genossen ansteckte, die lachend zu protestieren vergaßen. Das Beispiel wurde ausgewählt,
weil es die größte Dichte handschriftlicher Korrekturen in dem vorliegenden Dokument
aufweist und exemplarisch Strategien der Textarbeit Heiner Müllers veranschaulicht.
351
Freud-SA 1, 516. In JENSEITS DES LUSTPRINZIPS beschreibt Freud das Realitätsprinzip als Funktion
des Todestriebs, dem eine Tendenz zur Rückkehr in den Zustand unbelebter Materie innewohnt. Dabei ist
zu unterscheiden zwischen dem Tod als empirischem Ereignis und dem Tod als Trieb, als transzendentale
Instanz.
352
Deleuze/Guattari 2000, 197
78
Vor Bertha Waterstraat, einer alten Schriftstellerin aus dem Bund proletarisch-
revolutionärer Schriftsteller, mussten sich dann alle Genossen verantworten, weil sie nicht
protestiert, sondern sogar gelacht hatten. Sie hätten ja immer wollen, sagte sie, aber sie
hätten lachen müssen, und dass könne man nicht gleichzeitig. Sie hat sich dann ein paar
Jahre später bei Krugs eigener Premiere (wann? wo? was?) bitter gerächt. Da hat es dann
geklappt.
Danach gab es die rituelle Premierenfeier, und Hacks kam zu mir und sagte:
»Dramaturgisch müssen wir harte Worte reden. Großartiges Stück, eine großartige
Komödie, aber dramaturgisch müssen wir harte Worte reden. Politisch werden sie dich
totschlagen.« Er hatte damit recht, und er hatte eine gute Begründung: Sie werden dich
politisch totschlagen, weil du sie entschuldigst. (HMA 4487, 199f., gedruckter Text)
Die bedeutsamste Änderung betrifft den Sinn des Textes und erfolgt bereits in der
handschriftlichen Korrektur/Überarbeitung (Beispiel 2). Möglicherweise liegen der
offensichtlichen inhaltlichen Fehldarstellung in dieser Fassung – es liegt auf der Hand, das
nicht die Schriftstellerin Berta Waterstraat die politische Abstrafung gegen die Beteiligten an
der Uraufführung des Stückes DIE UMSIEDLERIN vornahm – Schwierigkeiten beim
Abhören und Übertragen der Tonbänder des Interviewtextes zugrunde. Eine zusätzliche
Konkretisierung erfährt die Episode um Berta Waterstraat in der Druckfassung, indem die
Instanz, vor der sie sich verantworten musste, nun auch benannt wird: Es handelt sich um die
Kaderleitung des Schriftstellerverbandes. Inhaltlich fügt sich der Text nach der Überarbeitung
besser in das auch dramaturgisch als ›Prozess‹ angelegte Kapitel ein. Das Subjekt der ersten
zitierten Fassung (die Schriftstellerin Berta Waterstraat) wird zum Objekt eines im
Schriftstellerverband geführten Parteiprozesses, während Manfred Krug – ihr Widerpart in der
ersten Fassung – nur noch in ihrer Verteidigungsrede einen Platz findet. Die Erwähnung
Waterstraats erfolgreicher Rache an dem Schauspieler Manfred Krug streicht Müller. Dadurch
wird der Schauplatz einer Nebenhandlung einer stärkeren Fokussierung auf den Autor
unterzogen. In der sich anschließenden Hacks-Episode weist wiederum die zweite der oben
79
zitierten Fassung die geringste Textmenge auf, da die inhaltlichen Dopplungen in der
Transkription der mündlichen Erzählung gestrichen werden. Offenbar scheint Müller diese
Fassung bei einer weiteren Überarbeitung zu trocken und so greift er auf die letzte wörtliche
Rede in der transkribierten ›Erstfassung‹ zurück (ergänzt um die korrekte Darstellung der
wörtlichen Rede durch Anführungszeichen). Durch die Wiederholung von Hacks’ Warnung
vor dem vermeintlichen ›politischen Totschlag‹ wird zudem die Erwartungshaltung gegenüber
den dramatischen Folgen der Aufführung Müllers UMSIEDLERIN gesteigert. Insgesamt
erreicht Müller mit den sukzessive vorgenommenen Änderungen eine größere Plastizität und
verstärkt – unter Beibehaltung der Elemente mündlicher Rede – die szenische Qualität seiner
Darstellung der Ereignisse.
3.4. Privatbesitz
353
Später werden diese Kapitel stark gekürzt unter der Überschrift »Robert Wilson/Freunde«
zusammengefasst.
354
In der Druckfassung fehlt dieses Kapitel. Dessen Inhalt findet sich unter der Überschrift »Der Auftrag«
unmittelbar vor dem Kapitel »Sowjetunion, Ostblock« wieder.
80
modifiziert, verdeutlicht eine Passage aus dem späteren Kapitel »Robert Wilson/Freunde«:
Wilson traf ich zuerst Anfang der 80er Jahre. Er hatte an der Schaubühne »Death,
Destruction and Detroit« inszeniert. Ich hatte gehört, dass er in der Schaubühne inszeniert
und ich bin auf Proben gegangen. Er war während des Durchlaufs völlig bekifft. Er saß da
an seinem Mischpult und spielte damit wie ein Kind. Das war ganz faszinierend. Dann
gab es eine Probe mit zwei alten Kleindarstellern. Plötzlich fiel ihm ein, dass die
eigentlich zu einer ganz bestimmten Musik tanzen müssten. Die machten das dann auch.
Und alle anderen mussten mittanzen, also zwanzig Leute. Aber die beiden alten
Kleindarsteller waren das Zentrum. Das war enorm, dieser Moment, wo sie aufblühten.
Zum ersten Mal in ihrem Kleindarstellerdasein gehörte ihnen die Bühne. Ein ganz alter
vertrockneter Mann und eine mindestens genauso vertrocknete Frau, wie die bei dem
Tanz aufblühten. Das war eine ungeheuer schöne Szene. Wilson ließ sie zwanzig Minuten
tanzen, auch noch in der Aufführung. (SUSCHKE 485)
Wilson traf ich zuerst Anfang der 80er Jahre. Ich hatte gehört, dass er an der Schaubühne
inszeniert, »Death, Destruction and Detroit«, und ging auf eine Probe. Er saß am
Mischpult und spielte wie ein Kind mit Licht und Ton. Das war faszinierend. Dann gab es
eine Probe mit Kleindarstellern, etwa zwanzig Leuten. Sie tanzten zu einer langsamen
Musik, die zwei ältesten im Zentrum. Dann ließ er die andern abgehen und die zwei
Alten, eine Frau und einen Mann, weitertanzen, fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig
Minuten lang. Zum ersten Mal in ihrem Kleindarstellerdasein gehörte ihnen die Bühne.
Es war enorm, wie sie bei dem Tanz aufblühten, ein dürrer alter Mann und eine dürre alte
Frau. Das war eine ungeheuer schöne Szene. Wilson ließ sie zwanzig Minuten tanzen,
auch noch in der Aufführung. (KOS 327)
Weichen Textstruktur und Aussage in den beiden Fassungen nicht grundsätzlich voneinander
ab, verdeutlicht der Beginn des Wilson-Kapitels dennoch eindrücklich Müllers präzise
Textarbeit und sein Bestreben, ihm eine eigenständige Gestalt zu verleihen. Der Eifer, mit
dem Müller den Text redigierte entspricht durchaus seiner Sorgfalt bei der Überarbeitung
anderer poetischer Texte. Die akribische Überarbeitung widerspricht der Meinung vieler
Interpreten und Rezensenten, Müller hätte diesen Text etwas stiefmütterlich einem zudem
oberflächlichen Lektorat überlassen. Das Feilen an Dramaturgie und Formulierungen beweist
im Gegenteil Müllers immenses Interesse an einem Text, der ihn vermutlich mehr berührte,
als er selbst sich eingestand und eingestehen konnte. Keine Zweifel bleiben angesichts dieser
Seiten, dass es sich bei KRIEG OHNE SCHLACHT um einen ästhetisch hochgradig
verdichteten Text handelt, einen Text, den Müller zumindest ebenso ernst nahm, wie die
Arbeit an seinen Stücken. Sein Ehrgeiz gut zu formulieren, der ihm bei der Selbstkritik im
Zusammenhang mit der UMSIEDLERIN-Premiere politisch ein Bein stellte, ließ Müller
diesen Text nicht einfach ›passieren‹, sondern weist ihn als Produkt intensiver ästhetischer
Auseinandersetzung aus.
Das »Wilson«-Kapitel enthält zudem eine Vielzahl von Streichungen, die anzeigen, dass
Müller den Fokus von Robert Wilson auf sein eigenes Verhältnis zu dem texanischen
Regisseur verlagerte. Die ursprünglich in der Fassung enthaltenen Anekdoten aus der
Kindheit Wilsons oder die ausführliche Beschreibung seiner Arbeitsweise tauchen in der
Druckfassung nicht mehr auf. Das Resultat der Streichung persönlicher/privater Details über
Robert Wilson – oder auch im Kapitel »Freunde« – zielt offenbar auf die Etablierung klarer
81
ästhetischer Strukturen. Umfangreiche handschriftliche Ergänzungen im Kapitel
»Wolokolamsker Chaussee«, die vornehmlich in der poetisch verdichteten Reflexionen über
die politische Entwicklung Ende der achtziger Jahre bestehen, bestätigen dies.
Eine weitere, vom Initiator des Buches, dem (damaligen) Cheflektor des Verlages
Kiepenheuer & Witsch, Helge Malchow, hergestellte und von ihm auch bestätigte
eigenständige Prosafassung auf der Basis des im Gespräch generierten Materials, ist – wie die
Tonbandmitschnitte dieser Gespräche – verschollen und bleibt somit der Spekulation
überlassen.
Die hier vorgestellten Materialien aus dem Entstehungszusammenhang von KRIEG OHNE
SCHLACHT dokumentieren fragmentarisch bestimmte Bearbeitungsstufen des Textes. Sie
stellen keine selbständigen Fassungen und somit keine Alternativen zum Drucktext dar.
Dennoch sind sie, wo Überschneidungen auftreten, punktuell aufschlussreich hinsichtlich der
Textgenese, respektive der Entstehung und Transformation inhaltlicher wie poetischer
Sinnproduktion. Die Bearbeitungsstufen in offenbar zusammenhängend überlieferten
Dokumenten verweisen zum einen – wo dies anhand handschriftlicher Korrekturen oder im
Vergleich mit anderen Bearbeitungsstufen in anderen Überlieferungszusammenhängen
nachvollziehbar ist – von der Qualität der Redaktionsarbeit Müllers. Auch lassen sie
Rückschlüsse darauf oder zumindest Vermutungen darüber zu, welche Textstellen für Müller
besonders wichtig waren, beziehungsweise einen bevorzugten Stellenwert in der
Überarbeitungsphase einnahmen: indem er sie nämlich einer starken Transformation
unterwarf, wie es exemplarisch anhand der Geburtsszene gezeigt werden konnte.
Da sich die Änderungen von Fassung zu Fassung nicht im Einzelnen nachvollziehen lassen,
muss von der Existenz weiterer, mehr oder weniger eigenständiger Textfassungen innerhalb
des Entstehungsprozesses von KRIEG OHNE SCHLACHT ausgegangen werden, die – wie
die oben beschriebenen Fassungen zeigen – nicht notwendig vollständig gewesen sein
müssen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass aufgrund der für Heiner Müller ungewöhnlich
großen Textmenge niemals eine im Verhältnis zum Drucktext ›komplette‹ Fassung existierte.
Möglicherweise wurden einzelne Passagen und Kapitel später ausgeführt und damit weniger
Bearbeitungsschritten unterworfen als andere. Qualitative Aussagen können letztlich nur
durch präzise Vergleiche derjenigen Textstellen gemacht werden, die in nachweisbar
mehreren Fassungen existieren. Für den gesamten Textkorpus ist das nicht möglich und wäre
auch nicht in jedem Falle aufschlussreich.
Die Rekonstruktion einer Fassung ›erster Hand‹ ist aufgrund des lückenhaften
Materialbestandes demzufolge nicht mehr möglich.355 Die Arbeit – vom unrevidierten
Gesprächs-Typoskript über die von Müllers Lektoren und schließlich von ihm selbst
überarbeiteten Manuskripte – ist, wie eingangs bereits skizziert aus Gesprächen mit den
Mitarbeitern an KRIEG OHNE SCHLACHT nachvollziehbar. Sie lässt sich jedoch nur in
sehr begrenztem Ausmaß dokumentieren. Die vorliegende Arbeit bezieht das bisher von der
Literaturwissenschaft nicht aufgearbeitete Nachlassmaterial aus der Stiftung Archiv der
355
Dieses Problem stellt sich generell und für eine Vielzahl von Müllers Texte: »Der Nachlass ist zu großen
Teilen atomisiert, die ursprünglichen Entstehungszusammenhänge sind zerschnitten, die Genese der Texte
ist nicht mehr erkennbar.« (Volker Kahl: Vor dem Wegwerfen habe ich Angst. Zum Nachlass Heiner
Müllers. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Heiner-Müller-Archiv. Berlin 1998, 9–14, hier 10)
82
Akademie der Künste Berlin, im Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln sowie aus dem
Privatbesitz enger Mitarbeiter Heiner Müllers in die Untersuchung mit ein. Im Rahmen der
strukturellen Analyse der von Müller autorisierten Textfassung im dritten Teil der
vorliegenden Arbeit wird auf das Material aus dem Entstehungszusammenhang in
angemessenem Rahmen zurückzugreifen sein.
83
4. Formale Besonderheiten
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt vom Lärme
der großen Männer und zerstochen von den Stacheln der kleinen. / Würdig
wissen Wald und Fels mit dir zu schweigen. Gleiche wieder dem Baume, den
du liebst, dem breitästigen: still und aufhorchend hängt er über dem Meere.
(Friedrich Nietzsche)
Wie viele Arbeiten Heiner Müllers zeichnet sich KRIEG OHNE SCHLACHT durch die
formale Heterogenität aus. Der Text vermischt dramatische, lyrische, erzählende,
essayistische, poetologische und dokumentarische Elemente. Als dominantes
Strukturmerkmal erscheint indes das Interview. Im Gespräch mit Horst Laube formulierte
Müller hinsichtlich der poetischen Qualität der mündlichen Form: »Wenn ich einen
Interviewtext autorisieren soll, habe ich überhaupt kein Bedürfnis, den Text zu literarisieren.
Ich lasse alles stehen, was das Sprechen darin ausmacht. Die Füllsel, Najas, die unfertigen
Sätze.« (ROTWELSCH 170) Der authentische Ausdruck situationsgebundenen Sprechens
soll, so weit das die Übertragung des mündlichen Kommunikationsvorgangs in Schrift
erlaubt, weitgehend erhalten bleiben. Auch in KRIEG OHNE SCHLACHT fehlt es nicht an
umgangssprachlichen Wendungen, überflüssigen Füllwörtern (insbesondere die Konjunktion
»dann«) oder dem für erzählende Prosa eher ungewöhnlichen Perfekt. Anders als in den
unzähligen Gesprächen, in denen er über Kunst, Politik und Geschichte reflektiert, erscheint
dieses im Spätwerk Müllers dominante Ausdrucksmittel hier jedoch als Resultat literarischer
Überformung. Vergleicht man die Tonbandabschriften mit der Druckfassung der
Autobiografie, stellt sich heraus, dass die Mehrzahl der im Text verbliebenen Fragen und
Einwürfe des fiktiven Gesprächspartners wesentlich von denen der ursprünglichen
Interviewsituation abweichen oder im Zuge der redaktionellen Überarbeitung gänzlich neu
formuliert wurden. In diesem Merkmal ist die grundlegende Differenz von KRIEG OHNE
SCHLACHT im Verhältnis zu denjenigen Interviews zu sehen, die Müller für andere
Printmedien oder das Fernsehen gab. Der Text der Autobiografie ist maßgeblich geprägt vom
Versuch der Literarisierung des ihm weitgehend zugrunde gelegten Gesprächstranskripts.
Einige Kapitel kommen ohne dieses stilistische Merkmal aus oder verwenden es lediglich
marginal. 356
Dennoch bleibt zu betonen, dass Müller an der Interviewform nicht allein aus Gründen
mangelnden zeitlichen Spielraums im Rahmen der Produktion der Autobiografie festgehalten
356
Lediglich acht von neunundzwanzig Kapiteln beginnen mit einer Replik des Interviewpartners. Die
folgenden Kapitel kommen gänzlich ohne Repliken des Interviewpartners aus: »Im Krieg, 1944«, »Ernst
Jünger«, »USA«, »DIE HAMLETMASCHINE«, »DER AUFTRAG«, »FATZER-MATERIAL, 1978, und
QUARTETT, 1981« sowie »ANATOMIE TITUS FALL OF ROME«. Eine untergeordnete Rolle spielt der
Interviewpartner in den Kapiteln »Der 17. Juni 1953«, »PHILOKTET«, »Brecht« und »Robert
Wilson/Freunde«.
84
haben dürfte. Sie lässt sich mithin nicht auf die Funktion einer den Text strukturierenden
Orientierungshilfe reduzieren. Wie Sascha Löschner in seiner umfangreichen Arbeit über die
Gespräche Heiner Müllers 357 zeigen konnte, spiegelt die mündliche Form ein probates
Ausdrucksmittel in dessen spätem Schaffen wider, das nicht allein mit der vampirischen
Sucht medial ausschlachtbarer Zeitzeugen durch die Informationsgesellschaft und einem
gewissen Hang Müllers zur medialen Selbstdarstellung begründet werden kann 358 , sondern
durchaus programmatischer Natur ist und poetischen wie poetologischen Erwägungen seitens
des Autors unterliegt. Im Wirbel des Verschwindens der DDR, die den Schutzraum Müllers
Kunstproduktion darstellte, entdeckte der Autor die im Vergleich zum Drama ungleich
wendigere poetische »Kampfform« 359 des Gesprächs. Sie diente der Ausformulierung einer
(permanenten Modifikationen unterworfenen) philosophisch-ästhetischen Diskursbildung und
vor allen Dingen als poetisches Exerzier- und Experimentierfeld. »Die Interviews werden zu
Müllers Skizzenblöcken – hier erlaubt er sich leichtfertige Formulierungen, Irrtümer, gezielte
Provokationen, hier sammelt er Material.« 360 Besonders eindrücklich erscheinen in diesem
Zusammenhang die Gespräche mit Frank M. Raddatz und Alexander Kluge, die an
intellektueller Schärfe und Assoziationskraft ihresgleichen suchen. Dass diese Gespräche im
Nachtprogramm kommerzieller Sender ausgestrahlt werden und nicht auf den Kulturkanälen
der sogenannten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gehört durchaus ins Konzept dieser
›oral performances‹. Die Person tritt dabei hinter die ›persona‹ (lat.: Maske) zurück, die auf
die sprachliche Äußerung und ein weitgehend konstantes Arsenal äußerlicher
Erkennungsmerkmale – Brille, Bluejeans, schwarzer Blazer (Kostüm) sowie Zigarre und
Whisky/Wasser/ Kaffee (Requisiten) beschränkt ist. 361 Entsprechend kann bei der Rezeption
der Interviews/Gespräche ebenso vollständig von der ›historischen Person‹ Heiner Müller
absehen werden, wie im Falle der explizit literarischen Texte des Autors. Insofern stellt die
Interviewform kein Komplement zu Müllers künstlerischem Schaffen dar, vielmehr ist sie als
integraler Bestandteil desselben zu betrachten.
Ein spezifisches Charakteristikum der mündlichen Kommunikationsform, auf das Müller
1985 im Gespräch mit Ulrich Dietzel ausdrücklich hinweist, liegt in der Performativität der
Gattung begründet. Die Bereitschaft sich befragen zu lassen, bedeutet eine Hinwendung zur
Öffentlichkeit, zum Agieren vor Publikum. Durch die Einführung der Figur des
357
Löschner 2002, insb. 67–72
358
Performativität bezeichnet die Gesamtheit der in einer konkreten sozialen Interaktionssituation eingesetzten
Ausdrucksmittel. Die besondere performative Qualität ist deshalb immer an ein »Ereignis des Zeigens«
gebunden und für andere nur im »Ereignis der Teilnahme« erfahrbar (s. a. D. Mersch: Körper zeigen. In:
Erika Fischer-Lichte u. a. (Hrsg.): Verkörperung. Tübingen/Basel 1999, 75–90). Nach Ansicht des
amerikanischen Soziologen Erving Goffman ist soziale Interaktion immer geknüpft an Darstellung. In
seinem 1959 erschienenen Buch THE PRESENTATION OF SELF IN EVERYDAY LIFE (»Wir alle
spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag«, München 1996) beschreibt er soziale Verhaltensweisen
im Bild der Theateraufführung.
359
Löschner 2002, 67
360
Löschner 2002, 87
361
Müllers Gesprächspartner Alexander Kluge betont die Theatralität der für das Fernsehen produzierten
Interviews: »Die Person ist eine Bühne« (Alexander Kluge: Ich liebe das Lakonische. In: Der Spiegel
45/2000, 248). In einigen dieser Gespräche agiert Müller ein großes Fenster im Rücken mit sparsamer
Gestik und maskenhafter Mimik vor der Kamera. Löschner beschreibt den Eindruck der Fernseh-
Aufzeichnung als Überwältigungseffekt: »Das von hinten hereintretende Licht umgibt Müller wie eine
Aureole, erinnert an Heiligenbilder.[…] Müllers Bild wird als Ikone gehandelt – eine extreme
Inszenierung.« (Löschner 2002, 115f.)
85
Gesprächspartners – und sei es ein fiktiver wie in KRIEG OHNE SCHLACHT – wird der
Zuschauer/Zuhörer im Text platziert. Es ist ein Identifikationsangebot an den Rezipienten, das
dessen Rezeptionsverhalten maßgeblich beeinflusst. Zugleich wird derjenige, der Auskunft
erteilt, zum Darsteller. Die Art und Weise der Darstellung ist bereits Ergebnis der
kommunikativen Rahmenbedingungen und damit vorderhand Inszenierung.
»Das andre ist, dass man in Gesprächen etwas leichtfertiger formulieren kann, als wenn man
schreibt. Man ist ja nicht so sehr in die Pflicht genommen. Man kann am nächsten Tag das
Gegenteil sagen. Und natürlich hängt das, was da an Aussagen herauskommt bei Interviews
und Gesprächen, auch bei den gedruckten, die ich meistens erst gar nicht zu redigieren
versucht habe, weil das sowieso keinen Sinn hat, weil das doch ein anderes Genre ist, sehr
von der Situation und vom Gesprächspartner ab, vom Verhältnis zum Gesprächspartner usw.
Insofern sind es mehr Performances, es hat vielleicht mehr mit Theater zu tun als mit
Literatur. Man produziert sich auch in dem Sinne, wie sich Leute auf der Bühne produzieren.«
(GI 1 155) Das Bestehen auf der Möglichkeit bestimmte Sachverhalte leichtfertiger
formulieren und widersprüchliche Aussagen unkommentiert stehen lassen zu können,
entspricht einem Dialektikverständnis, das eher auf die Behauptung der Differenzen und
Konflikte zielt, als auf die versöhnliche Kraft ihrer dialektischen Aufhebung. Müller
unterstreicht seine Haltung mit einem Hinweis auf Pascal: »Wenn er auf die Widersprüche
seiner Äußerungen angesprochen wurde, sagte er immer: ›Ich hoffe, dass ich alt genug werde,
um die Widersprüche irgendwie noch zu einer Einheit zu bringen.‹ Das finde ich eine ganz
gute Variante, und deswegen ist es sinnlos, solche Widersprüche auszulassen.« (GI 1 157) Die
Auflösung der Antagonismen wird auf den spätest möglichen Zeitpunkt verschoben. Die
Perspektive des Todes hebt das Dilemma der Widersprüchlichkeit des Lebens auf und stellt
die Differenzen in der finalen Synthese fest. Die verfrühte Aufhebung der
Widersprüchlichkeit bedeutet dabei nichts anderes als einen vorzeitigen Tod. Die Aufgabe des
Menschen, »oder der Rest wird Statistik sein und eine Sache der Computer«, wie es in
Müllers Text SHAKESPEARE EINE DIFFERENZ heißt, ist daher »die Arbeit an der
Differenz.« (W 8 337) Die Aufrechterhaltung der Widersprüche ist eine Funktion des
Lebendigen.
Das Misstrauen gegenüber der schriftlichen Fixierung und des Paradoxes der Darstellbarkeit
des nicht Darstellbaren ist gerade unter Schriftstellern weit verbreitet – man denke etwa an
Hofmannsthals CHANDOS-BRIEF. Bereits bei Platon findet sich der explizite Hinweis
darauf, dass das gesprochene Wort dem schriftlich fixierten vorzuziehen sei, weil das
geschriebene Wort nicht adäquat auf die im Wandel befindliche Wirklichkeit zu reagieren
vermöge. Die einmal niedergeschriebene Erkenntnis gebe auf eine Frage immer dieselbe
Antwort. Der sprachkritische Ansatz Platons verwirft jedoch nicht voraussetzungslos die
Erfindung der Schrift. Sie ist als vorweggenommener Reflex auf die
Zersetzungserscheinungen des sophistischen Zeitalters zu sehen. Im PHAIDROS beruft sich
Platons Sokrates auf die vom weisen ägyptischen Königs Thamus hervorgebrachten
Einwände gegen die Erfindung der Sprache durch den Gott Theut. Thamus’ Kritik bezieht
sich lediglich auf den Missbrauch der Schrift in der schriftlichen Fixierung von Reden und
Gedanken in einem primär philosophischen Kontext. Der Gebrauch der Schrift als solcher
wird von Platon indes durchaus nicht verurteilt. »Denn Vergessenheit wird dieses in den
Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern
sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen
86
her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das
Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern
nur Schein, nicht Wahrheit dar.« 362 Doch gänzlich ohne Schrift kommen weder Dichter noch
Philosophen aus. Müller betont daher, dass die seinen Texten immanente ästhetische
Produktion sich durch die mündliche Form nicht etwa dahingehendend unterscheide, dass sie
monologisch wäre. »Kunst machen ist nichts anderes, als mit sich selbst zu reden.« (JN 70)
Dennoch macht sich der Autor immer wieder an die Verflüssigung des zu Schrift
Geronnenen, das er in die unterschiedlichsten medialen Kanäle einspeist. Eine zentrale Rolle
spielt hier das Gedächtnis der Texte – eine an Benjamin geschulte intertextuelle Technik, die
das Nach-Leben der Texte im Zitat sicherstellt. Die Dezentralisierung des Programms soll
sein überleben sichern. (Die Verfügung einer postumem Werkausgabe unter der Prämisse
brutaler Chronologie bedeutet in dieser Hinsicht lediglich eine neue Strategie.) So lässt sich
die Flut mündlicher Äußerungen beim späten Müller als erneutes In-Fluss-Bringen des
schriftlichen fixierten »Werkes« beschreiben. Was Müller im Verlauf der siebziger Jahre mit
der Rotbuch-Ausgabe gelang, versucht er verstärkt ab Mitte der achtziger Jahre im Gespräch
zu wiederholen: die Herstellung eines hochkomplexen und multiperspektivischen Rahmens
für die Sicht auf die eigenen Texte mit dem Ziel, sie vor ihrer Erledigung durch die
Geschichte zu bewahren. Wie Goethe mit Eckermann, macht sich Müller mit Raddatz, Kluge
und anderen an die Auflösung seines Werkes, die dessen Erstarren in der Klassik verhindern
soll.
Im Gespräch mit Ulrich Dietzel stellt Müller darüber hinaus fest, dass die Möglichkeit
mündlicher Mitteilung im Interview und deren technische Reproduktion die Literatur vom
Ballast der Journalistik befreie. »Ich halte es für ziemlich sinnlos, das Leben eines Menschen
in Literatur zu verwandeln, wenn man mit ihm auch darüber reden kann.« (GI 1 156) Der Satz
steht Müllers eigenem Versuch, dem Leben eine adäquate ästhetische Form zu verleihen,
diametral entgegen. Vermutlich liegt in dieser Skepsis gegenüber der dokumentarischen
Unzulänglichkeit der Literatur Müllers im Nachwort zu KRIEG OHNE SCHLACHT
formuliertes Scheitern begründet (s. a. KOS 367). Für die Literatur bedeutet das – wie die
Fotografie für die bildende Kunst – die Befreiung von der Mimesis. »Und ich glaube, dass
viel literarische Energie verschwendet wird darauf, Dinge zu formulieren, die man viel besser
von einem Tonband abnimmt, das man ja zur Verfügung hat.« (GI 1 156) Was aber wäre dann
die Aufgabe der Literatur? Konstatiert Müller doch in jenem Nachwort zugleich den Verlust
der »Kunst des Erzählens« und das »Verschwinden des Erzählers in den Medien, der
Erzählung in der Schrift« (KOS 366). Die Umkehrung dieser Mediatisierung setzte die
Rückkehr zu einer Konzeption subjektiver Sprachmächtigkeit voraus, das die Moderne gerade
abgeschafft wissen wollte. Dem Autor bleibt demzufolge nichts anderes übrig, als an seinem
eigenen Verschwinden zu arbeiten – Schrift zu werden, ohne Stimme abzubilden. Der Autor
stürzt in den Abgrund des Schweigens. Doch aus der Tiefe dringt das »endlose Geblöke der
Wörter« 363 , das sprecherlose »Gemurmel« 364 einer unbekannten Minderheit.
362
Platon-SW 2, 475
363
Foucault 1988, 101
364
Im Gespräch mit Frank M. Raddatz formuliert Müller die politische Dimension dieses poetologischen
Tatbestandes: »Es geht nur noch ums Funktionieren. Darüber hinaus wird es immer schwieriger, diejenigen
in den Diskurs zu bekommen, auf deren Kosten das Ganze funktioniert. Im reichen Teil der Welt sitzen die
Leute bald nur noch vor den Bildschirmen und führen Selbstgespräche. Keiner bewegt sich mehr, denn
87
4.2. Intertextualität
Die Rolle der Intertextualität im müllerschen Œuvre ist in der Sekundärliteratur vielfach
reflektiert worden. Müller selbst beschreibt seine Arbeit als Montage des Vorgefunden.
Schreiben habe nichts mit erfinden zu tun, um so mehr jedoch mit finden. »Man schreibt nicht
voraussetzungslos, sondern im Dialog mit Geschriebenem.« (GI 2 67) Müllers
produktionsästhetischer Ansatz schlägt in dasselbe theoretische Feld, in dem auch das Denken
des Philosophen Walter Benjamin verortet werden muss. Diesem zufolge ist die Technik des
Zitierens ein postumes Operieren »vom anderen Ufer« 365 her. Dem zitierend/postum
Erinnerten bleibt die Entzogenheit oder Distanz markierend eingeschrieben. Das Zitat ist
»Wiederholung«, eine zweite Gegenwart, Nach-Leben dessen, was nie als solches da gewesen
ist. »Die Intertexte bewahren auf, verbergen, drängen in die Latenz; sie heben die Zeit auf,
indem sie die manifeste Zeit des Textes und die Zeiten der Prätexte verschränken, sie
suspendieren die ›Originalbedeutung‹, indem sie neue Prozesse der Sinngebung in Bewegung
setzen oder eine Semantik des Verschwindens (von Sinn) entwickeln.« 366 Wenn mit Harold
Bloom vermutet werden kann, dass jedes Überlieferte ein Fehl-Gelesenes ist 367 , dann kann
vielleicht nur im Zitat erinnert werden, in einer postumen Fehl-Lektüre, die gleichermaßen als
Figur der Abwendung und Wiederkehr beschrieben werden kann. Im figuralen Charakter
gründet der Vorrang der Mnemotechnik – der auswendigen Performanz des Gedächtnisses –
vor der Immanenz der Erinnerung. 368
Die Literaturwissenschaftlerin Renate Lachmann geht davon aus, dass der Raum zwischen
den Texten den eigentlichen Gedächtnisraum unsrer Kultur darstellt: »Der Raum zwischen
den Texten und der Raum in den Texten, der aus der Erfahrung desjenigen zwischen den
Texten entsteht, ergibt jene Spannung zwischen extratextuell-intertextuell und intratextuell,
die der Leser ›auszuhalten‹ hat. Der Gedächtnisraum ist auf dieselbe Weise in den Text
eingeschrieben, wie sich dieser in den Gedächtnisraum einschreibt.« Demzufolge sei »das
Gedächtnis des Textes die Intertextualität seiner Bezüge […], die im Schreiben als einem
Abschreiten des Raumes zwischen den Texten entsteht.« 369 In diesem Sinne erscheint die
Literatur als mnemonische Kunst par excellence, die das Gedächtnis für eine Kultur stiftet,
indem sie »sich in einen Gedächtnisraum einschreibt, der aus Texten besteht; einen
Gedächtnisraum entwirft, in de[m] die vorgängigen Texte über Stufen der Transformation« 370
alles, was man braucht, bekommt man über Programme. Darunter bleibt dann nur noch das dumpfe
Gemurmel derjenigen, die keinen Fernseher haben. Das ist die Utopie des Kapitalismus.« (JN 54) In der Tat
ist es eher umgekehrt.
365
Benjamin-GS IV, 86
366
Lachmann 1990, 37
367
Bloom geht davon aus, dass Tradition und Überlieferung im Modus des »misreading« funktionieren, einer
Art Abwehr der Tradition, die ihr ironisches »Resultat« in der metaleptischen Wiederkehr der Toten hat.
(Bloom 1979, 19)
368
s. a. Bettine Menke: Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte. In: Gedächtniskunst: Raum
– Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Hrsg.: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann. Ffm. 1991, 74–
110
369
Lachmann 1990, 35f.
370
Lachmann 1990, 36. Mit der Bestimmung aller Texte als Intertexte, wird jeder Text zum Ort, an dem
frühere Texte aufbewahrt werden. Der Gedanke einer allgegenwärtigen Intertextualität geht auf Julia
Kristeva zurück, die darauf hinweist, das jedweder Text ein »Mosaik von Zitaten« darstelle: »… jeder Text
ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität,
tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als doppelte lesen.«
88
enthalten sind. Lachmann unterscheidet hinsichtlich ihres Konstruktionsprinzips zwischen
drei Grundmodellen der Intertextualität. Die Partizipation ist die wiederholende Teilhabe
vergangener Texte. Mit Tropik wird der »Kampf gegen die sich in den eigenen Text
notwendig einschreibenden fremden Texte« 371 bezeichnet, während die Transformation in der
Aneignung des Fremdtextes durch Gesten der Verstellung besteht, mit dem Ziel, sie zu
verschleiern und unkenntlich zu machen. In der Praxis vermischen sich diese Elemente und
sind gewöhnlich nicht klar gegeneinander abgrenzbar. 372
Müller gehört zweifellos zu jener Art von Schriftstellern, deren Arbeit in höchstem Grade
intertextuell determiniert ist. Permanent wird auf (bisweilen ausgewiesene) literarische
Vorlagen zurück gegriffen – dazu gehören ausdrücklich Bearbeitungen und Übersetzungen.
Dennoch haben Müllers Arbeiten in der Regel wenig mit diesen Vorlagen gemein. Jeder Text,
und sei er noch so kurz, enthält darüber hinaus eine Vielzahl intertextueller Verweise, von
denen meist nur die wenigsten entschlüsselbar sind. Eine Schar von Philologen hat sich auf
die Suche nach diesen möglichen (und unmöglichen) Quelltexten gemacht. Jede Generation
Wissenschaftler wird neue und andere Vorlagen für Müllers Werk aufhäufen. Mit
BILDBESCHREIBUNG hat Müller praktisch ein Modell und Paradigma eines Palimpsests
abgeliefert, das die Philologie selbst formalästhetisch zu durchkreuzen scheint. 373 Die Reihe
der Verweise ist unerschöpflich; der Text nur ein Knoten in einem Rhizom
deleuzscher/guattarischer Prägung. 374
Wie Müller selbst bekundet, beschränkt sich sein Interesse an der Realität auf die Strategien
ihrer (künstlerischen) Verarbeitung (s. a. GI 1 64). Dass das Primat intertextueller Techniken
vor KRIEG OHNE SCHLACHT nicht halt macht, zeigt sich allein an der schier
unüberschaubaren Menge der Reflexe auf das eigene Werk. Allein zwölf Kapitel der
Autobiografie sind mit Stücktiteln überschrieben. Zwei weitere beziehen sich explizit auf
prägende Rezeptionserfahrungen (Brecht und Jünger). Unzählige Zitate eigener und fremder
Texte öffnen die Biografie im weitesten Sinne dem gesamten Komplex der Literatur. Darüber
hinaus lässt sich eine unbegrenzte Anzahl verdeckter Zitate, Verstellungen, Verschiebungen
und Anti-Zitate (im Sinne von Widerschreibungen anderer Texte) aufspüren. Zahlreiche
Anekdoten, insbesondere über andere Künstler, aber auch solche über die eigene Person
werden tradiert. Teilweise kommunizieren die aufgerufenen Figuren der nur bedingt
lebensgeschichtlichen Erzählung ausschließlich mittels Zitaten. 375 Das Nachwort
89
ERINNERUNG AN EINEN STAAT erinnert an die essayistischen Collagen, die für Müller
seit den siebziger Jahren charakteristisch sind.
Besonders eindrücklich lässt sich die intertextuelle Struktur von KRIEG OHNE SCHLACHT
am Beispiel des Bucheinstiegs zeigen. Der Leser wird über eine Reihe offensichtlicher
intertextueller Verweise in einen Text geführt, der nie aufhört Zitat zu sein. Noch der
Dokumentenanhang zitiert den Gestus des Dokumentarischen, während das Dossier mit
Unterlagen der DDR-Staatssicherheit das Buch (in der erweiterten Neuauflage von 1994) um
einen Fremdtext ganz besonderer Sorte ergänzt. Die Intertextualität findet übrigens im
Rezeptionsprozess ihre Fortsetzung. So ist KRIEG OHNE SCHLACHT (in der
Literaturwissenschaft) Müllers meistzitierter Text. Der Titel KRIEG OHNE SCHLACHT
zitiert den 1957 erschienenen gleichnamigen Roman von Ludwig Renn. Für den Intertexter
Müller ist dies nichts Ungewöhnliches. Wenn nicht die Stücktitel selbst (BAU, ZEMENT,
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, MACBETH, HAMLETMASCHINE, etc.) so weisen
jeweils Untertitel auf die Bezugspunkte seiner Schriften hin (»Nach Laclos«, »Nach Anna
Seghers«, »Nach Kleist« etc.). In Renns Text finden sich indes keinerlei Anhaltspunkte zur
Erhellung Müllers Titelwahl. Der Krieg ohne Schlacht konstituiert Müllers kriegerische
Verweigerungshaltung als Verweis ins Leere, als Harren – denn die »Schlacht« hat nicht
stattgefunden. »… mein Krieg war ohne Schlacht« (W 2 186), heißt es unter motivischer
Verwendung des Titels in einem Text aus dem Entstehungsumfeld der Autobiografie, der
einen alternativen literarischen Umgang mit dem Stoff der ersten Buchkapitel dokumentiert
und seinerseits auf intertextuelle Bezugspunkte sowohl im Schaffen Müllers (DER VATER,
s. a. W 1 41 u. W 2 79–86) als auch im Universum der Weltliteratur 376 anspielt. Müller, der
den Titel des in blassen Klischees befangenen Renn-Romans ursprünglich für ein anderes
(nicht ausgeführtes) Projekt zurückgestellt hatte, verleiht dem Titel damit eine semantische
Komplexität, die er im Original nicht besaß. Bei Müller ist der Titel in der Terminologie
Lachmanns insofern ein exemplarisches Beispiel für die Tropik. 377 Dem Titel folgen zwei
Seiten (in der Erstausgabe von 1992 sind es drei) mit dem Inhaltsverzeichnis. Von zwölf
Kapitelüberschriften, die explizit auf Stücktitel Müllers und gelegentlich auf den Zeitpunkt
ihrer Entstehung sowie auf deren literarische Vorlagen rekurrieren, finden sich in
schlagwortartigen Inhaltsangaben unter den jeweiligen Überschriften insgesamt zehn weitere
explizite Hinweise auf (ausschließlich dramatische) Texte Müllers. Im Anschluss an diesen
geballten Aufruf des eigenen Werkes greift das Motto Raum. Drei durch den kursiven Satz
filigran wirkende Verse auf der blanken Weiße des Papiers: »Soll ich von mir reden Ich wer /
von wem ist die Rede wenn / von mir die Rede geht Ich wer ist das« (KOS 9). Das nicht näher
ausgewiesene Zitat entstammt dem dritten Teil Müllers Medea-Stück, LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN, einem Text, der exemplarisch die Auflösung der Autor-Identität betreibt.
Darin wird vor der Folie des antiken Topos’ der Lebensfahrt eine sowohl philosophie- wie
90
auch literaturgeschichtlich weit ausholende Poetik des scheiternden Subjekts entworfen. Die
Identität eines seiner Rede mächtigen Subjekts wird bereits im ersten Vers unterlaufen. Mit
dem verweislosen Fragewort beginnt die Dekonstruktion und sukzessive Auflösung des sich
selbst gewissen Subjekts (»Ich wer«), das in den folgenden eineinhalb Zeilen (»Von wem ist
die Rede wenn / von mir die Rede geht«) einem Diskurs einverleibt wird, auf den es selbst
scheinbar keinen Zugriff mehr hat und gipfelt in ein vom Sprecher abgelöstes Sprechen über
das Ich. Indem die zweite Hälfte des dritten Verses (»Ich wer ist das«), vom Subjekt der
Äußerung absieht, gewinnt die Frage nach dem Ich volle Konsistenz. Durch die
Vorwegnahme des fragmentarischen Motivs »Ich wer« im ersten Vers, ist der Beginn des
letzten Halbverses zugleich als Zitat ausgewiesen, das die Ursprungslosigkeit des Sprechens
zusätzlich unterstreicht. In der Folge spielt das Stück LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN
(Un-)Möglichkeiten und Konstellationen einer immer wieder scheiternden Ich-Konstitution
durch – ähnlich dem Verfahren der Perspektivlosigkeit/Multiperspektivik, das den Text
BILDBESCHREIBUNG auszeichnet. Als Motto verweist das Zitat auf die massive
Brüchigkeit des Ichs der autobiografischen Konstruktion. Im ersten Absatz des
Eröffnungskapitels wird die Konstitution und Dekonstruktion des Subjekts thematisch
aufgegriffen und weitergeführt. 378 In diesem Kapitel, in dem von Herkunft und Kindheit des
Autors die Rede ist, wird ebenfalls permanent auf Prätexte zurückgegriffen, deren
Abwendung Müller nur in begrenztem Maße gelingt.379 Immerhin wird das Bedürfnis
formuliert, eine gründliche Revision der Vater- und Großvatertexte vornehmen zu wollen:
»Könnte man in ein Gespräch mit den Toten kommen, mit ihm würde ich gern reden, auch
mit meinem Vater. Oder die Texte noch einmal schreiben, anders, wenn dafür die Zeit ist.«
(KOS 15f.) Ein Ergebnis der weitergehenden Auseinandersetzung mit dem Stoffkomplex
stellt der aus dem Nachlass veröffentlichte Prosaversuch eines Vatertextes dar. 380 Damit steht
die Autobiografie an einer Schnittstelle. Sie dient als Scharnier zwischen den Vorläufertexten,
auf die sie zurückgreift und den Posttexten, die sie produziert. Die Kaskade der Selbst- und
Fremd-Zitate über die der Leser in den Text der Autobiografie eingeführt wird, gehört zur
poetischen Strategie Heiner Müllers. Es stellt auch im weiteren Textverlauf das vornehmliche
Strukturmerkmal der Autobiografie dar. KRIEG OHNE SCHLACHT ist dementsprechend als
Programm zu lesen, das ›Leben‹ in eine Folge von Sätzen zu überführen, die Zitate anderer
Sätze sind – Leben als Palimpsest. Bereits der junge Müller hatte diesen beunruhigenden
Gedanken in einem Gedicht festgehalten: »ALTES GEDICHT // Nachts beim Schwimmen
über den See der Augenblick / Der dich in Frage stellt Es gibt keinen andern mehr / Endlich
die Wahrheit Dass du nur ein Zitat bist / Aus einem Buch das du nicht geschrieben hast /
Dagegen kannst du lange anschreiben auf dein / Ausbleichendes Farbband Der Text schlägt
durch« (W 1 42) Der Autor ist in den Fluss gestiegen. Am Ende seines Werkes treibt er hilflos
in einem Betonkessel ohne Ausstieg. Das Bild erinnert an die Geschichte vom gekochten
Frosch, die Müller vor seinem Tod gern zitiert haben soll. 381 Doch im Gegensatz zum Frosch
378
s. a. meine Ausführungen zum Texteinstieg im Kapitel »1.3. Der Nachlass« des zweiten Teils der
vorliegenden Arbeit
379
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »2.1. Kindheit in Eppendorf und Bräunsdorf, 1929–39« im dritten Teil
der vorliegenden Arbeit
380
[Im Herbst 197.. starb …] (W 2 177–188)
381
»Jeder kann sich vorstellen, was passiert, wenn man einen Frosch in sehr heißes Wasser wirft. Er versucht
so schnell wie möglich wieder herauszukommen. Aber was passiert, wenn man einen Frosch in lauwarmes
Wasser setzt und die Temperatur ganz allmählich erhöht? Überraschenderweise passiert nichts. Der Frosch
91
besitzt Müllers Schwimmer ein Bewusstsein seiner misslichen Lage. Sein letzter Gedanke ist
eine Geste des Von-sich-Weisens: »BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN
KANN« (W 2 145). Die vermutlich vergebliche Warnung markiert die Einfahrt zu der
Sackgasse, die wir immer wieder betreten müssen, in der vielleicht vergeblichen Hoffnung
auf den endgültigen Durchbruch, von dem wir nicht wissen, ob er hinausführt aus dem
Dilemma der menschlichen Existenz oder nur in eine weitere Sackgasse mündet. Müllers
stummer Aufforderung, unseren »fordernd, vertrauende[n] Blick« (ebd.) von ihm
abzuwenden, wurde, blickt man auf die Spielpläne deutscher Bühnen, auf unrühmliche Art
und Weise Folge geleistet.
4.3. Anekdote
Der Text Müllers Autobiografie geht inhaltlich im Wesentlichen auf die autobiografische
›Performance‹ des Interviews auf La Palma zurück. Bereits in der Gegenwart der
Gedächtnisarbeit werden die Sedimente der Erinnerung dramatisiert und als Träger einer als
fremd erfahrenen Lebensgeschichte inszeniert. Die Distanz mit der der Autor die von ihm
aufgerufene Lebensgeschichte betrachtet, entspricht der Distanz des Zuschauers zu den
Vorgängen auf der Bühne des Gedächtnisses. Sie findet ihren Niederschlag in der Fremdheit
gegenüber dem Material, die in der notwendigen Unabgeschlossenheit der Perspektive
begründet liegt: »Bis zu meinem Tod muss ich mit meinen Widersprüchen leben, mir selbst
so fremd wie möglich.« (KOS 366) Oder wie es in einer Notiz aus dem
Entstehungszusammenhang der Autobiografie heißt: »Erst wenn ich tot bin wird mein Leben
ein Ganzes sein. Bis dahin muss ich mit meinen Widersprüchen, Illusionen, Irrtümern leben.«
(HMA 4480) Der dramatische Modus des Erinnerten beruht auf dem Konflikt des Dichters
mit der ihn umgebenden Lebenswelt, die jener zugleich als Motor seines Schreibens
reklamiert. Dieser Antagonismus wiederholt sich bei der Übertragung des Handlungsmodells
in Schrift. Der Autor tritt in Widerspruch zu der von ihm aufgerufenen Lebensgeschichte, die
als »indefinites, bewegtes und zukunftsoffenes Drama« 382 erscheint. Das Ich dieser
Lebensgeschichte konstituiert sich in der Auseinandersetzung mit dem Material jeweils neu.
Es ist aufgelöst in eine Vielzahl divergierender Identitäten. Die einzige identitätsstiftende
Konstante ist die Schlacht: »Ich gehe in den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen meines
Lebens« (W 5 40), kündigt der »Neger« Sasportas in DER AUFTRAG an. Müller
beansprucht insofern keine Verfügungsgewalt über das autobiografische Material, sondern
setzt sich kämpfend mit ihm auseinander. Die Perspektive entspricht nicht derjenigen vom
Feldherrenhügel auf das Resultat der Schlacht. Der Autor befindet sich inmitten des
Kampfgetümmels. Der autobiografische »Krieg« ist ebenso total wie permanent. Es gibt keine
Entscheidungsschlacht.
Das performative Modell der autobiografischen Konstruktion, in der sich das Ich seiner
Funktion nach dramatisch konstituiert, wird von der episch-berichtenden Redeweise der
gibt alle Anzeichen des Wohlgefühls von sich und beginnt, bei lebendigem Leibe zu kochen, ohne es auch
nur zu merken.« (LV 157, Müller zitiert die Passage nach Dirk Baecker: Postheroisches Management, ein
Vademekum. Berlin 1994, 50)
382
Pickerodt 1995, 70
92
Autobiografie überformt. Übergeordnetes Strukturelement ist die Anekdote, die den Korpus
der lebensgeschichtlichen Erzählung in eine Vielzahl pointiert abgeschlossener Sequenzen
zerlegt. Das zerstückelte Subjekt der Erzählung muss in jedem dieser abgeschlossenen
Textabschnitte neu bestimmt werden. Eine übergeordnete Struktur, der die Entwicklung
dieses Subjekts unterliegen würde, existiert nicht. Das schließt eine übergeordnete
Sinngebung bezüglich der aufgerufenen Lebensgeschichte weitgehend aus. Stattdessen
variiert die Funktion der Ich-Instanz innerhalb der einzelnen Textabschnitte ebenso wie die
Haltung des Erzählers zu den Diskursen, in denen er sich bewegt. Auffallend ist die formale
Vielgestaltigkeit mit der Müller die Anekdote handhabt. Sie reicht von der bloßen Andeutung
(»Dann erzählte er wüste Geschichten.«, KOS 150) über dramatisch ausgeschmückte Szenen
(etwa die Auseinandersetzung mit Wolfgang Harich um MACBETH, s. a. KOS 261–264) bis
hin zur auf die Pointe reduzierten Variante (»Eigentlich ist er [Wolfgang Heise] an
Gorbatschow gestorben.«, KOS 336). Viele der von Müller erzählten Anekdoten beruhen
nicht auf eigenem Erleben, sondern gehen auf mündliche Tradierung oder Lektüreerfahrungen
zurück, mitunter sind sie als solche gekennzeichnet. Die unüberschaubare Anzahl
anekdotischer Erzählelemente lässt einen klassifikatorischen Querschnitt äußerst schwierig
erscheinen. Auf spezifische Aspekte wird im Rahmen der Analyse des Textes im dritten Teil
der vorliegenden Arbeit zurückzukommen sein.
Eine immer wiederkehrende Phrase in den Tonbandabschriften lautet: »Dazu gibt es eine
Geschichte …« Die Wendung korrespondiert einem minoritärem Geschichtsbegriff. Die aus
stark subjektiver Sicht geschilderte Erzählung steht konträr zur Deutungsgewalt ideologisch
präformierter Herrschaftsgeschichte. Im Sinne Foucaults »tritt an die Stelle von ›Meta-
Erzählungen‹ die Anekdote, die Begebenheit, das Netzwerk des Lebens selbst, les petites
histoires« 383 . Anekdoten haben momentane, flüchtige, zufällige und marginale Ereignisse
zum Inhalt und erscheinen hinsichtlich des von Müller favorisierten ›Denkens von Rändern‹
besonders geeignet, minoritäre Diskurse abzubilden. »Die Anekdote ist in hohem Maße
persönlich gebunden. Sie berichtet eine Begebenheit, die an den Rand eines größeren
weltgeschichtlichen Ereignisses gesetzt ist, die aber zugleich – durch die Haltung die
Menschen in ihr einnehmen – eine allgemeine Bedeutung empfängt. Sie bedarf also einer
bedeutenden Wirklichkeit, die zwar – mag sie nun wahr oder auch nur wahrscheinlich sein 384
– im Umkreis des anekdotischen Vorgangs winzig anmuten kann, durch diesen hindurch
jedoch, etwa wie durch ein umgekehrtes Fernglas, mit besonderer Schärfe erkennbar werden
muss.« 385 Behls inhaltliche Funktionsbestimmung der Gattung verdeutlicht, dass sich die
Anekdote trotz der Fokussierung des Nebensächlichen bezüglich ihrer Aussagekraft durchaus
nicht auf die Nebensachen beschränken lasse. Noch deutlicher hebt diese gattungsspezifische
Besonderheit Jürgen Hein hervor: »Die echte Anekdote will also nicht informieren, belehren,
exemplifizieren, moralisieren usw., sondern […] zu einem Nachdenken anregen, welches das
Überindividuell-Existenzielle im besonderen Ereignis finden lässt.« 386 Wie die meisten
Autoren, die sich theoretisch mit der Anekdote auseinandersetzen, hebt auch Rainer
383
Löschner 2002, 83
384
Im Sachwörterbuch der Literatur heißt es zu diesem Umstand: »Ihre innere Wahrheit beruht weniger auf der
Wirklichkeit als auf der historischen Möglichkeit.« (Gero v. Wilpert (Hrsg.): Sachwörterbuch der Literatur.
Stuttgart 1979, 27)
385
C. F. W. Behl: Über das Anekdotische. In: Die Literatur 38, 1935/36, Heft 1, 8–11, zitiert nach Grothe
1984, 14
386
Jürgen Hein: Nachwort. In: Deutsche Anekdoten, 353–384, zitiert nach Grothe 1984, 17
93
Schöwerling hervor, dass in ihr das Allgemeine im Besonderen zur Anschauung komme. Er
charakterisiert die gesellschaftliche Perspektive der Anekdote folgendermaßen: »Die
Anekdote ist sozial bestimmt, nicht nur in dem allgemeinen Sinne, nach dem alles Bewältigen
von Welt mittels der Sprache als Kommunikationsmittel sozial ist, sie verfolgt vielmehr die
Absicht, durch gesellschaftliche Sachverhalte, Konventionen, durch die kleinen
Übereinkünfte der Menschen zu dem Bereich des Menschlich-Allzumenschlichen
hindurchzugreifen, jene durchsichtig zu machen, dieses zu enthüllen; das kann sowohl am
Einzelmenschen als auch an einer Gruppe (Familie, Stand, Volk etc.) geschehen. Jene
sozialen Sachverhalte sind natürlich historisch entstanden, sie können also inhaltlich
differieren, andererseits sind sie aber auch von überzeitlicher Relevanz, da sie immer
interessant sind, solange Menschen sich in einer sie umgebenden Umwelt einrichten müssen.
Ich verstehe unter Konventionen alle Gewohnheiten und ungeschriebenen Gesetze im kleinen
und im großen Kreise.« 387 Sascha Löschner hat darauf hingewiesen, dass Müller ein
Materialsammler sondergleichen war. Vor allen Dingen sammelte er Anekdoten, »die
parabelhaften Charakter haben oder zumindest eine Geräumigkeit aufweisen, die irreduzibel
ist« 388 . Benjamin zufolge verfügt die Anekdote über eine intertextuelle Struktur. 389 Wie das
Zitat tritt sie in den Raum der Gegenwart ein, in dem sie sich konkretisiert und aktualisiert.
Dabei wird das Ereignis erst im Akt der Wieder-Holung konstituiert. 390 Bedeutung gewinnt
die Anekdote also weniger durch einen ihr per se innewohnenden Sinngehalt, sondern in
erster Linie durch den Kontext, dem sie Kontur verleiht. 391
Ein wesentliches Charakteristikum der Anekdote, das im Zusammenhang mit der Entstehung
von KRIEG OHNE SCHLACHT von grundlegender Bedeutung ist, besteht in der Herkunft
der Anekdote aus dem Bereich mündlicher Überlieferungsformen. Capek stellt fest, dass die
Anekdote keinen Autor habe, sondern lediglich einen Erzähler. »Sie geht von Mund zu
Mund.« 392 In seiner Untersuchung über das Komische in der Anekdote betont Ackermann,
dass auch die niedergeschriebene Anekdote das »geheimnisvolle Gruppenwesen Publikum«
ins Auge fassen müsse und die Spezifik ihrer Form prinzipiell in »ihren geselligen
Vorbedingungen« zu suchen sei.393 Sie richte sich an ein Auditorium. Auf die Unmittelbarkeit
des kommunikativen Rahmens der Anekdote ist immer wieder hingewiesen worden. Jürgen
387
R. Schöwerling: Die Anekdote im England des 18. Jahrhunderts. 1966, 179f.
388
Löschner 2002, 84
389
In den Materialien zum PASSAGEN-Werk notiert Benjamin zum Typus des »Sammlers«: »Die wahre
Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unsere(m) Raum (nicht uns in ihrem)
vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Anekdote. ) Die Dinge, so vorgestellt, dulden keine
vermittelnde Konstruktion aus ›großen Zusammenhängen‹. Es ist auch der Anblick großer vergangner
Dinge – Kathedrale von Chartres, Tempel von Pästum – in Wahrheit (wenn er nämlich glückt) ein: sie in
unserm Raum empfangen. Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben.« (Benjamin-GS V, 273)
390
s. a. Bettine Menke: Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte. In: Haverkamp/Lachmann
1991, 74–110, hier 89
391
»Die Beziehung der Anekdote zum Ereignis ist allerdings dialektischer Natur. Anekdoten finden in
Ereignissen nicht nur ihren Ausgangspunkt, sie berichten nicht nur über Ereignisse, in gewisser Weise
konstituieren sie diese erst. Anekdoten schildern also nicht nur Ereignisse, die einst vorgekommen sind.
Vielmehr ist das Erzählen von Anekdoten daran beteiligt, aus dem vieldeutigen und vielstimmigen Fluss des
Geschehens bestimmte Sequenzen und Begebenheiten herauszufiltern und diese damit als Ereignisse zu
konstituieren.« (Burkhard Schnepel: Anekdoten über Anekdoten. In: Erika Fischer-Lichte 2003, 159)
392
Carel Capek: Zur Naturgeschichte der Anekdote. In: Neue Zeitung. München 1949, zitiert nach Grothe
1984, 31
393
Fr. Ackermann: Das Komische in der Anekdote. In: Der Deutschunterricht 3/1966, 10–25, zitiert nach
Grothe 1984, 28
94
Hein sieht in der mündlichen Tradierung der Anekdote einen Ausweis der in ihr angelegten
Performativität: Sie entstehe »in lebendigem Kontakt mit einem Publikum, dem der Erzähler
ein miterlebtes oder gehörtes Ereignis wirkungsvoll darstellt.« 394 Dabei tue es der
Authentizität der Erzählung keinen Abbruch, wenn der Erzähler das Ereignis nicht selbst
erlebt hat, sondern lediglich als »Erzähler von Erzähltem« 395 auftritt. Ähnlich wie das
Theaterstück »zur vollen Wirkung erst durch die Bühnendarstellung vor Zuschauern« komme,
gelange »die Anekdote erst durch die mündliche Erzählsituation oder wenigstens als mündlich
angelegte« zu vollkommener Geltung. 396 Radecki zufolge sei der Anekdotenerzähler »Bote,
Rhapsode und Schauspieler in einer Person« 397 .
Gerhart Pickerodt sieht die Spezifik der (müllerschen) Anekdote »in der finalen Bewegung
hin auf die Pointe, welche das jeweilige Erzählsegment unwiderruflich abschließt. Die zur
Einlinigkeit geronnene Form der Anekdote stülpt dem Gedächtnis die Schlusswendung der
Pointe gleichsam über, so dass die mögliche Gegenbewegung der Reflexion in den Inhalt
nicht einzudringen vermag. Auf diese Weise lassen sich störende, irritierend Momente der
Erinnerung unterdrücken, da sie in der anekdotischen Form keinen Platz finden. Die
Anekdote dichtet sich ab gegen das ihrem Formprinzip Zuwiderlaufende, da die Inhalte nur
insoweit Berücksichtigung finden können, als sie pointenfähig sind. Ist die Anekdote also die
Form der Verdrängung von traumatisch besetzten Inhalten, so gibt sie doch andererseits diese
ihre Verdrängungsfunktion von sich aus niemals preis.« 398 Dieser Beobachtung ist
hinzuzufügen, dass Müller durch die Sequenzierung der autobiografischen Konstruktion, die
auf die Pointen/Markierungen angewiesen bleibt, wie die Partitur auf den Taktstrich oder
andere Zäsuren, den Blick von der Illusion einer ›Entwicklung‹ im Sinne kausaler Reifung der
Persönlichkeit abzieht. Die Rezeption richtet sich auf die exemplarischen Details, nicht auf
den ideellen Zusammenhang/Überbau. Dass Müller KRIEG OHNE SCHLACHT LEBEN IN
ZWEI DIKTATUREN nicht als kohärenten autobiografischen Text begriff, davon legt der
Untertitel eindrücklich Zeugnis ab. Es handelt sich eben nicht um die normative, sondern um
EINE (mögliche) AUTOBIOGRAFIE, mithin um die Version eines Textes, den Müller laut
eigenem Bekunden unter Zeitdruck nicht zu Literatur hat machen können. (An einer
Confessio hatte Müller kein Interesse. Sofern sie nicht von maßgeblichem Interesse für die
künstlerische Ausdrucksfähigkeit waren, haben Müller die persönlichen Impulse seiner Arbeit
nicht interessiert. Der Maßstab für Literatur, darin bildet die Autobiografie keine Ausnahme,
war in Müllers Augen nicht die möglichst adäquate Abbildung von Wirklichkeit, sondern
poetische Wahrhaftigkeit.) Weitere Hinweise auf die Virtualität und lediglich hypothetische
Geltung von KRIEG OHNE SCHLACHT als Autobiografie liefern Bruchstücke aus dem
Nachlass; etwa jener Text, der mit dem Tod des Vaters einsetzt 399 und nicht nur die frühe
Erzählung DER VATER widerschreibt, sondern auch die entsprechenden Äußerungen in der
Autobiografie in einem anderen Licht erscheinen lässt.
394
Jürgen Hein: Nachwort … a. a. O. 31
395
Burkhard Schnepel: Anekdoten über Anekdoten … a. a. O. 156
396
Jürgen Hein: Nachwort … a. a. O. 31
397
s. a. S. v. Radecki: Die Anekdote. In: Die Rose und der Ziegelstein. Berlin 1938, 5–11, zitiert nach Grothe
1984, 30
398
Pickerodt 1995, 67
399
[Im Herbst 197.. starb …] (W 2 177–188).
95
4.4. Schweigen
400
Der Begriff rekurriert auf einen Terminus technicus stalinistischer Kulturpolitik: die Selbstanklage vor
Publikum im Rahmen von Schauprozessen. Müller bezeichnet diese Form der Aussage in KRIEG OHNE
SCHLACHT als »die sowjetische Form der Psychoanalyse« (KOS 94).
401
In seiner Trauerrede auf Heiner Müller schreibt Alexander Kluge: »Er entwickelte gerade in letzter Zeit
dramatische Gedichte, die – ähnlich wie bei Puschkin – Theater zu ersetzen beginnen, aber auch wiederum
Rohstoff für das Theater sind. Das heißt, als Text kommen sie heran. Da sind keine Regieanweisungen mehr
da. Da ist jetzt sozusagen der Dialog zeitweise völlig aufgehoben. Da ist die Handlung aufgehoben, und
dennoch ist es dramatisch.« (Alexander Kluge: Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind. In: KALKFELL,
145–147, hier 146) In diesem Sinne ist etwa Müllers Gedicht SENECAS TOD als klassisches Theaterstück
lesbar, der fünfmal wiederkehrende Satz »Was dachte Seneca …« (W 1 250f.) zieht jeweils den Vorhang zu
einem neuen Akt auf.
96
andere Körper mit dem Sägemehl der eigenen Worte zu stopfen 402 : »Vor dem Spiegel
zerbrechen die Masken Kein / Schauspieler nimmt mir den Text ab Ich bin das Drama« (W 1
254). In einer Reihe von Texten hatte Müller eindrucksvoll vorgeführt, wie das Ich in
Kaskaden von Scheinidentitäten Schiffbruch erleidet 403 . Jenseits der Zeitenwende von 1989
schreitet das Subjekt seiner lyrischen Aussagen unausweichlich auf sein Ende zu. Der letzte
Rollentausch steht unmittelbar bevor. »Man kann sagen, dass das Grundelement von Theater
und also auch von Drama Verwandlung ist, und die letzte Verwandlung ist der Tod.« (LV
176).
Müllers späten Texte oszillieren zwischen Verstummen und Autopsie. Bereits am 4.
November 1989 gibt Heiner Müller auf dem Alexanderplatz das Wort ab, indem er seine
Redezeit zur Verfügung stellt und gibt damit demonstrativ zu verstehen, dass er selbst nichts
mehr zu sagen hat. (s. a. KOS 354f.) Er hält sich an das Diktum Wittgensteins: »Wovon man
nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« 404 Ein Brief Wittgensteins aus dem Jahr
1919 kommentiert nicht nur den Schlusssatz aus dem TRACTATUS, sondern gibt auch
wieder, was ursprünglich in dessen Vorwort hätte stehen sollen. Das Werk bestehe nämlich
»aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus dem, was ich nicht geschrieben habe.
Und gerade dieser zweite Teil ist der wichtige. […] Alles das, was viele Leute schwafeln,
habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige.« 405 Der Wunsch zu
schweigen entspringt der Abwehr eines banalisierten Verständnisses von Kommunikation. Im
Zusammenhang mit Becketts Text WORSTWARD HO konstatiert Müller: »Dieser Rückzug
in die Sprachlosigkeit ist ein Fortschritt, denn Sprache bedeutet heute Informationsflut, das
heißt: Zerstörung von Wahrnehmung und Verhinderung von Erfahrung durch Inflation von
Information.« (JN 21) Becketts Antwort ist das beredte Schweigen seiner minimalistischen
Texte. Müller selbst wählt eine andere Strategie. Nach dem Ausbruch der Krebserkrankung
stellt Müller radikal den kranken Körper ins Zentrum ästhetischer Betrachtung. Die Geste
erinnert an Rembrandt und Goya. Die Behauptung der Gebrechlichkeit und Endlichkeit des
(eigenen) Körpers ist der Einspruch gegen eine Wirklichkeit, die den Menschen auf eine
Funktion im Kreislauf der Reproduktion seiner Arbeitskraft reduziert und seine
gesellschaftliche Stellung von seinem Konsumverhalten abhängig macht.
In KRIEG OHNE SCHLACHT wird die Zeit nach 1989 nur am Rande thematisiert. Dennoch
spielen die Zeitumstände der Entstehung, ja sogar die Vorahnung von Krankheit und Tod 406 ,
402
Müller verwendet dieses Bild in seinem Stück LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN
LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI: »Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt.
Ich habe ein / zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen Traum vom Theater in
Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessierten. Das ist nun
vorbei. Gestern habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen, ein Stück Wüste: das Sterben beginnt.
Beziehungsweise: es wird schneller. Übrigens bin ich damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe
ein neues Zeitalter nach dem andern heraufkommen sehn, aus allen Poren Blut Kot Schweiß triefend jedes.
Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel.« (W 4 533) In seiner Autobiografie bezeichnet Müller das
Stück als »Selbstporträt« (KOS 270).
403
Besonders prägnant etwa in BILDBESCHREIBUNG oder LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN.
404
Wittgenstein 1963, 115
405
Ludwig Wittgenstein: Brief an Ludwig von Ficker (1919). In: Ders.: Briefwechsel. Hg. v. B. F. McGuiness
und G. H. Wright. Ffm. 1980, 96f.
406
Katja Lange-Müller, neben Helge Malchow Müllers Interviewpartnerin bei der Generierung des Materials
zu KRIEG OHNE SCHLACHT, schildert Müllers Zustand zum Zeitpunkt der autobiografischen Gespräche
im Frühjahr 1991 auf La Palma: »Heiner musste dauernd kotzen. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass er
schon mit dem Krebs zu kämpfen hatte. Ich verstehe gar nicht, dass mir das damals nicht auffiel.« (Katja
97
eine entscheidende Rolle für das Verständnis Müllers Autobiografie. Wie MOMMSENS
BLOCK gehört sie zu jenem Ensemble von Selbstverständigungstexten, die es Müller
erlauben, trotz der von ihm empfundenen Widrigkeit der Zeitumstände nicht zu verstummen.
Dem Inhaltsverzeichnis einer Arbeitsfassung von KRIEG OHNE SCHLACHT ist zu
entnehmen, dass zumindest vorübergehend Überlegungen bestanden, in einem letzten Kapitel
»Die Zeit danach« (HMA 4487, 571) zu beleuchten. Drei Unterpunkte benennen die
thematischen Schwerpunkte »Akademie-Präsident / Berliner Ensemble / Die Stasi-Debatten«
(ebd.). Aber Müller beschließt, über die »LEERE ZEIT« (W 1 288) nach dem Mauerfall in
diesem Zusammenhang zu schweigen. Die explizite Beschreibung der Erfahrung des
Scheiterns einer geschichtsphilosophischen Perspektive für das eigene Denken und die daraus
folgenden Konsequenzen für die eigene Arbeit bedürfen anderer ästhetischer Strukturen:
»Meine Scham braucht mein Gedicht« (W 1 254). Die Auflösung des eigenen Körpers als
Reaktion auf die Auflösung des gewohnten Lebens- und Arbeitszusammenhanges bleibt der
(strengen) lyrischen Form vorbehalten. In der Autobiografie wird diese Dialektik von
gesellschaftlicher und individualgeschichtlicher Deformation abgesehen vom Nachwort nur
auf der nichtsprachlichen Ebene kommuniziert. Sie liegt als Schweigen unter der Sprache.
Mit dem Hinweis auf die antike Vorstellung, die elementarste Voraussetzung der Tragödie sei
das Schweigen, legt Müller die Quelle dieses Kunstverständnisses frei. »Vor dem Wort ist
immer das Schweigen, und das Schweigen ist die Voraussetzung für Sprechen. […] Das
Schweigen ist etwas, was unter der Sprache liegt, eine selbständige Ebene, eine Ebene, die
etwas erzählt, auf der etwas erzählt wird, mit der etwas erzählt wird und nicht nur einfach eine
Unterbrechung von Sprache. Das finde ich langweilig. Das Schweigen ist keine Lücke.« (GI 2
41) Dem antiken Mythos zufolge hat alle Kunst die Göttin der Erinnerung zum Ursprung. 407
Der Gesang der Musen erinnert unablässig seine eigene Quelle, Mnemosyne, die
»Erinnernde«, die selbst stumm bleibt. Die Dichtung rekurriert damit – wie die anderen
Künste auch – auf einen ihrem Ausdruck vorgängigen Raum: die mnéme. Mnemosyne
markiert einen Bereich, der die Artikulation erst eröffnet, weil sie selbst sich der
Wahrnehmung entzieht. An ihre Stelle tritt die mediale Vermittlung in der und durch die
Kunst. Müller selbst hat dieses Schweigen wiederholt als konstitutives Element für sein
Schreiben reklamiert. »Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind«,
beschließt Müller 1983 einen BRIEF an Dimiter Gotscheff, »wird das Schweigen des
Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.« (W 8 269) Dass die
Akademie der Künste Berlin (Ost) unter Müllers Präsidentschaft kulturpolitisch das Wasser
abgegraben wird 408 , zeigt dessen Talent für die Besetzung von Kommandobrücken sinkender
Schiffe: sie generieren Erfahrungen des Scheiterns und halten so den Motor ästhetischen
Produzierens am Laufen. Im Kontext der Inszenierungsarbeit seines Stückes DER
LOHNDRÜCKER konstatierte Müller: »Die Leerstelle ist ein konstitutives Element von
Drama. Der Text deckt nicht alles ab. Da gibt es immer wieder Lücken, die wichtige
98
Hinweise sind.« (GI 3 164) In einem seiner letzten Gespräche vom Herbst 1995 betont er
erneut: »Das Schweigen ist ja eigentlich immer der Grund des Theaters gewesen. Ohne das
Schweigen fällt auch die Rede gar nicht auf. Ohne das Schweigen hört man keinen Text.«
(KALKFELL 139) In einem Text Ginka Tscholakowas, der sich im Nachlass Müllers
befindet, kritisiert die ehemalige Ehefrau dessen Unfähigkeit, seine Sprachmasken
abzulegen. 409 Tscholakowa verkennt, dass das (Ver-)Schweigen als Grund der Sprache eine
genuine Qualität in Müllers Schreiben darstellt. Die (lebendigen) Gesten erstarren nicht nur zu
(toten) Wörtern. Als Masken des Schweigens entreißen die Wörter das Schweigen dem
unwiederbringlichen Vergessen. Indem sie das Schweigen übermalen, halten sie es
lebendig. 410 Damit ist das Schweigen die Bedingung und der Antrieb des von Müller
proklamierten poetischen »Dialog[s] mit den Toten« (W 3 165 u. JN 31). Müllers Schrift lässt
den Toten Gerechtigkeit widerfahren.
Auf der anderen Seite besteht stets die latente Gefahr, das die Worte dem Schweigen nicht
mehr »entrissen« werden könnten. Denn das Schweigen ist nicht nur Ausgangspunkt der
Sprache, sondern zugleich ihr fiktives Ziel. So wird Müller, wie Hofmannsthal in seinem
CHANDOS-BRIEF formuliert, von der Angst umgetrieben, dass ihm »die abstrakten Worte,
deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag
zu geben«, im Munde zerfallen könnten, »wie modrige Pilze« 411 . Es ist beachtenswert, dass
die aus einer handschriftlichen Notiz hervorgehenden diesbezüglichen Äußerungen
ausgerechnet aus dem genetischen Umfeld der Autobiografie stammen. »Beim Schreiben
nach Joint / Text auf Schreibmaschine abschreiben! / Angst vor dem Zerfall der Wörter (sogar
der) Buchstaben – wie lose Bretter (einer Brücke) in den/einen schwarzen Abgrund (des
Schweigens) / Angst vor dem Schweigen (Sog des Schw[eigens]) / Die Texte dem Schweigen
entrissen / Why?« (HMA 4476) Die Frage nach dem Grund für die fortgesetzte Arbeit
poetischer Formulierung am Ende dieser Notiz, wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit des
ästhetischen Ausdrucks überhaupt auf. Der Entsemantisierung der Zeichen korrespondiert die
rauschhaft-dionysische Ich-Entgrenzung infolge des Marihuana-Konsums. Die Aufforderung,
den Text auf der Maschine abzuschreiben und so der Auslöschung der Zeichen Einhalt zu
gebieten, verleiht dem Umstand Ausdruck, wie stark die Versuchung ist, im differenzlosen
Raum des Schweigens zu verschwinden. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, um welchen Text
es sich bei der Selbstaufforderung zur Abschrift gehandelt haben könnte. Bedeutsam erscheint
nur, dass Müller hier auf eine Grundfigur seines Schreibens hinweist, auf die er in einem
seiner letzten Gedichte noch einmal zurückkommt.
409
Ginka Tscholakowa: Die Maske des Schweigens. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste: Heiner-
Müller-Archiv. Berlin 1998, 40
410
»Das unvergesslich Vergessene aber ist das Unerinnerbare, das durch keine Repräsentation eingeholt
werden kann. Für Lyotard sind es die ›Juden‹ (nicht als Volk verstanden, sondern als ›Seelen‹), die ›sich der
Erinnerung verpflichtet fühlen‹ und ›dem Gesetz des Vergessenen‹. Sie erinnern, dass es Vergessen gibt,
etwas, das keine Darstellbarkeit erträgt, das sich keiner Darstellung preisgibt. Damit wäre, zugespitzt, die
Nichtrepräsentation die Garantie für das Erinnern des Vergessens. Und in diesem Vergessen wäre alles
bewahrt. Die Lyotardsche Darstellungsskepsis setzt also auf einen Prozess, der jenseits jeder Semiose liegt.«
(Renate Lachmann: Die Unlöschbarkeit der Zeichen: Das semiotische Unglück des Mnemonisten. In:
Haverkamp/Lachmann 1991, 111–144, hier 116)
411
Hofmannsthal 1979, 465
99
ENDE DER HANDSCHRIFT
Neuerdings wenn ich etwas aufschreiben will
Einen Satz ein Gedicht eine Weisheit
Sträubt meine Hand sich gegen den Schreibzwang
Dem mein Kopf sie unterwerfen will
Die Schrift wird unlesbar Nur die Schreibmaschine
Hält mich noch aus dem Abgrund dem Schweigen
Das der Protagonist meiner Zukunft ist
(W 1 322)
In dem Gedicht von 1995 wird das Schweigen als vermeintlicher Fixpunkt und
abschließender Sinn der eigenen Arbeit begriffen. Doch während die Hand sich der
poetischen Bedeutungsgeneration bereits entzogen hat, vermögen die Finger auf der Tastatur
der Schreibmaschine weiterhin, dem Abgrund des Schweigens Texte zu entreißen. Der
Verweigerung der Hand gegen den Schreibzwang der Ratio, die in letzter Konsequenz zum
Schweigen führt, ist die Mechanik des den Wort-Fluss in Buchstaben-Zeichen zerteilenden
Maschine nicht unterworfen. Das Bild erinnert an Kafkas strafkoloniale Schreibmaschine, die
den Körper gefangen hält, um ihn mit merkwürdigen Zeichen zu übersäen, die der Delinquent
mit seinen Wunden entziffert. Die Schrift auf dem Körper bezeichnet die Hybris des
Gefangenen. Sie entziffernd wird dieser dem Schweigen preisgegeben – er stirbt. Müllers bis
an den Rande des Grabes nicht nachlassendes Ringen um seinen künstlerischen Ausdruck,
entspricht dem von der Maschine hervorgerufenen Bedürfnis Kafkas Strafgefangenem, den
Grund seiner Hinrichtung (»das Gebot, das er übertreten hat«, W 2 132) in Erfahrung zu
bringen. Zentrale Begriffe des Gedichtes verweisen darüber hinaus auf einen anderen Text,
deklamiert vom »Engel der Verzweiflung« während des Beischlafs nach der Verkündung des
gescheiterten Auftrags (DER AUFTRAG). Die Rede dieses Engels »ist das Schweigen« und
auch seine Existenz ist explizit auf die Zukunft bezogen: »Ich bin der sein wird. Mein Flug ist
der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen.« (W 5 16f.) Müllers Engel beschwört
nicht nur die wiederherzustellende Aktualität eines einzulösenden revolutionären Imperativs.
Er zeigt zugleich ein Paradigma nichtdiskursiven Sprechens auf. 412 Das Gedicht ENDE DER
HANDSCHRIFT formuliert die im Verlaufe der letzten Lebensjahre gewonnene Einsicht
Müllers, dass von ihm nichts mehr ausgeht, was über ihn hinausweisen könnte. »Was sind
Worte dem, der sich an ihnen sattgegessen / hat und sie nicht mehr ausspein will« (W 1 316),
heiß es in MONTAIGNE MEETS TASSO 1. So bleibt auch die letzte Warnung an die
nachgeborenen unausgesprochen: »BLEIB WEG VON MIR, DER DIR NICHT HELFEN
KANN« (W 2 145). Allein die Schreibmaschine hält den sterbenden Dichter im Sperrfeuer
der Versalien aus dem Schweigen, das sein Grab sein wird, heraus.
412
Greiner bezeichnet die Figur des Engels als eine Figur der Grenzüberschreitung (s. a. Greiner 1992, 435), in
deren Rede die Dichotomien von Lust und Qual, Rede und Schweigen, Gesang und Schrei, Himmel und
Abgrund nicht mehr dialektisch vermittelt sind, sondern Grenzerfahrungen beschreiben. Ebenso wie die
verschnürte Ophelia in der HAMLETMASCHINE nicht mehr als Sprecherin ihres Textes auftritt (»Hier
spricht Elektra«, W 4 554), ist der Engel lediglich die Projektion einer »Stimme« (W 5 16), die das Subjekt
des Sprechens grundsätzlich in Frage stellt.
100
TEIL III: INHALTLICH-FORMALE ANALYSE
5. Der Titel
413
B. K. Tragelehn: Der Abschied. In memoriam Heiner Müller; nach Robert Payne und Tsen Tsan, Januar
1996. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste: Heiner-Müller-Archiv. Berlin 1998, 26
101
im Werk Müllers mithin einen ähnlich zentralen Stellenwert ein wie diejenige des Sohnes
Franz Kafka. Von Bedeutung für das Dilemma dieser Abhängigkeit vom Vater, die die Schrift
des Sohnes generiert, ist das anagrammatische Verhältnis der Begriffe »Vater« und »Verrat«
(Werner), die auch in den Kindheits- und Jugendkapiteln Müllers Autobiografie eine
herausragende Rolle spielen.
Ein theoretischer Ansatz, der Müllers Titel eher gewachsen scheint als die Verfolgung der
falschen Fährte eines Arnold Friedrich Vieth von Golßenau (so der bürgerliche Name des aus
einem sächsischen Adelsgeschlecht stammenden Ludwig Renn), findet sich bei Gilles
Deleuze, der mit Blick auf seine eigene Arbeit als Philosoph von einem »Krieg ohne
Schlacht« spricht. »Religion, Staat, Kapitalismus, Wissenschaft, Recht, öffentliche Meinung
und Fernsehen sind Mächte, aber nicht die Philosophie. […] Da die Philosophie keine Macht
ist, kann sie nicht in eine Schlacht mit den Mächten treten, führt statt dessen einen Krieg ohne
Schlacht gegen sie, eine Guerilla.« 414 Der Krieg des Philosophen ist eine Form der
Auseinandersetzung, die die offene Schlacht scheut. Der Guerillero ist ein tellurischer
Partisan im Sinne Carl Schmitts, der seine technologische Unterlegenheit durch die genaue
Kenntnis des Terrains kompensiert und somit in der Lage ist, die technologische
Überlegenheit der »Macht« (Religion, Staat, Kapitalismus, Wissenschaft, Recht, öffentliche
Meinung, Fernsehen etc.) erfolgreich zu unterlaufen. Eine solcherart subversive Strategie
kann den Texten Heiner Müllers freilich nicht abgesprochen werden, auch seiner
Autobiografie nicht, einem für formale Experimente für gewöhnlich eher ungeeigneten Genre.
Der »Krieg« von dem bei Müller immer wieder die Rede ist, ist ein Spielmodell, das sich aus
einer biografischen Erfahrung speist: »wir hatten nur Platzpatronen, das war mein Verhältnis
zur Morgenröte, das war doch wesentlich gestört. Ich habe natürlich schon Morgenröten
gesehen. Wobei mich der Sonnenuntergang immer mehr interessierte als die Morgenröte, weil
er farbiger ist. Morgenröte ist heller vielleicht und etwas sehr Schüchternes.« (LV 151) Die
Erfahrung des Krieges als vorbereitendes Spiel mit Platzpatronen und Prügeleien um
»Lebensknüppel« (s. a. KOS 30) wird hier einer geschichtsphilosophischen Betrachtung
eingestellt. Der Ausblick auf die Morgenröte einer neuen Zeit verpufft im hohlen Knalleffekt
der leeren Patronenhülsen. Der Blick auf die sich erhellende Zukunft erfolgt aus der
Perspektive des sinkenden Schiffs. Das Fest des Untergangs, der Tanz auf dem Vulkan, die
Farbenpracht der Katastrophe prägen Müllers (gestörtes) Verhältnis zu einer Utopie, die
jeweils nur in ihrem Negativbild aufzuscheinen vermag.
Die Begriffe »Krieg« und »Schlacht« bilden zentrale Topoi im Werk Müllers. Vom
LOHNDRÜCKER bis zu GERMANIA 3 strukturiert der Zweite Weltkrieg seine Texte.
Selbst der im Stück TRAKTOR thematisierte Aufbau des Sozialismus auf dem Lande wird
von der vorangegangenen SCHLACHT perforiert, deren Geschosse den Boden gründlicher zu
unterminieren verstanden, als die neuen Maschinen zu pflügen imstande sind: »UND ALS
VERLOREN WAR DIE SCHLACHT / SIE GINGEN HEIM DAS SCHLACHTFELD IN
DER BRUST / UND WURDE MANCHER NOCH ZU FALL GEBRACHT / SICH SELBER
WAFFE UND SICH SELBER FEIND. / UND SIEGTE MANCHER DER SCHON NICHT
MEHR WAR / WIE GRAS WÄCHST AUS DEN TOTEN FRÜH IM JAHR« (W 4 503)
Noch Anfang der neunziger Jahre konstatiert Müller: »Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass
414
Deleuze 1993, 7
102
der Krieg vorbei ist. Vielleicht ist die Nachkriegsperiode vorbei, aber jetzt beginnt wieder
mindestens eine Vorkriegsperiode.« (GI 3 144) Mit dem Fall der Mauer – die aus Müllers
Sicht »ein Damm zwischen zwei Geschwindigkeiten« (ebd.) darstellte – entstehe ein Wirbel,
der die Frage nach der Verteilung der Güter und Ressourcen zur zentralen Problematik des
neuen Jahrtausends werden lasse. »Das ist der neue Krieg, der Krieg des dritten Jahrtausends
und jetzt ohne ideologisches Kostüm.« (ebd.) Vielmehr stehen sich die Interessen nach dem
Verschwinden des Ostblocks »nackt« gegenüber. Im Gespräch mit Alexander Kluge betont
Müller, dass »der Krieg eigentlich nicht aufgehört hat. Es gibt in Wolokolamsker Chaussee
diesen Satz: ›Der Krieg hört nicht mehr auf, wenn man ihn einmal erlebt hat, hört er nicht
mehr auf.‹« 415 Und er fügt hinzu: »Der Krieg ist zunächst mal ein Interessenkonflikt.« (WT
58) Der Satz erhellt die Titelkonstruktion, indem er den »Krieg« im Hegelschen Sinne als
Konflikt (objektiver Widerspruch in individueller Repräsentanz) bezeichnet und ihn somit
abhebt von der Kollision der Widersprüche in der »Schlacht«. Während sich laut Hegels
Dramendefinition die im Konflikt aufgehobenen Widersprüche in der Kollision dialektisch
entladen 416 , bleiben sie in Müllers Arbeit bestehen: Der Kern seines künstlerischen Schaffens
besteht darin, die Konflikte aufzustauen, »nicht verbergend den Rest / Der nicht aufging im
unaufhaltbaren Wandel« (W 4 85). In diesem Sinne erfüllt Müllers Kunst eine zutiefst
moralische Funktion.
Die Beschreibung der eigenen Arbeit mittels der bellizistischen Terminologie findet in einem
Text aus dem Nachlass seine vielleicht kohärenteste Form der Darstellung. »ZWISCHEN
DEN SCHLACHTEN GEGEN MICH / Die meine Arbeiten sind / (Waffengattung und
Kampfweise wechseln / Einer von uns gewinnt immer, meistens / Ist es der Andere) / Liegt
eine tote Zeit, skandiert mit / Fütterung Beischlaf Drogen Geschwätz: das Leben. / Es ist zu
lang, die Wunden / Schließen sich zu schnell.« (W 1 312) Das Gedicht verdeutlicht, dass das
Leben des lyrischen Subjekts jenseits der »Schlachten« stattfindet, die es sich im Ringen um
seine (ästhetische) Ausdrucksweise mit einem beliebigen Material selbst beibringt. Dieses
Jenseits bleibt auf die rein kreatürlichen Bedürfnisse beschränkt. Insofern kann die
autobiografische Schrift, die das Leben »zwischen« den Schlachten (Werken) einfangen soll,
nur als »Krieg ohne Schlacht« begriffen werden, als tote Zeit, in der sich die Wunden
415
WT 58. In WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE I: RUSSISCHE ERÖFFNUNG heißt es: »In meinem Kopf
der Krieg hört nicht mehr auf« (W 5 96).
416
»Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, dass innerhalb solcher Kollision beide Seiten des
Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren
positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen,
gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe
ebenso sehr in Schuld geraten. […] So berechtigt als der tragische Zweck und Charakter, so notwendig als
die tragische Kollision ist daher drittens auch die tragische Lösung dieses Zwiespalts. Durch sie nämlich übt
die ewige Gerechtigkeit sich an den Zwecken und Individuen in der Weise aus, dass sie die sittliche
Substanz und Einheit mit dem Untergange der ihre Ruhe störenden Individualität herstellt. Denn obschon
sich die Charaktere das in sich selbst Gültige vorsetzen, so können sie es tragisch dennoch nur in
verletzender Einseitigkeit widersprechend ausführen. Das wahrhaft Substantielle, das zur Wirklichkeit zu
gelangen hat, ist aber nicht der Kampf der Besonderheiten, wie sehr derselbe auch im Begriffe der
weltlichen Realität und des menschlichen Handelns seinen wesentlichen Grund findet, sondern die
Versöhnung, in welcher sich die bestimmten Zwecke und Individuen ohne Verletzung und Gegensatz
einklangsvoll betätigen. Was daher in dem tragischen Ausgange aufgehoben wird, ist nur die einseitige
Besonderheit, welche sich dieser Harmonie nicht zu fügen vermocht hatte und sich nun in der Tragik ihres
Handelns, kann sie von sich selbst und ihrem Vorhaben nicht ablassen, ihrer ganzen Totalität nach dem
Untergange preisgegeben oder sich wenigstens genötigt sieht, auf die Durchführung ihres Zwecks, wenn sie
es vermag, zu resignieren.« (Hegel: Ästhetik. Berlin/Weimar 1965. Bd. 2, 549f.)
103
schließen, die die ästhetische Produktion immer wider aufzureißen sich bemüht. In einer
Invariante des Gedichtes, die sich als maschinenschriftlicher Entwurf mit handschriftlichen
Korrekturen ebenfalls im Nachlass Heiner Müllers befindet, wird dieses Dilemma auf die
Spitze getrieben, wenn ein jenseits des Textes befindliches Ich in einen imaginären
Rollentausch zurückgenommen und demzufolge als inexistent behauptet wird: »zwischen den
schlachten gegen mich, die meine arbeiten sind (Waffengattung und kampfweise wechseln,
einer von uns siegt immer, die wunden schließen sich zu schnell), liegt eine tote zeit,
skandiert mit beischlaf fütterung geschwätz; das leben. meine unfähigkeit, etwas EINFACH
AUFZUSCHREIBEN. die unfähigkeit zu schreiben, außer in auf einem gegen einen
vorgeschriebenen grundriss. Schreiben als DIENST NACH VORSCHRIFT. (ein irregulärer
blankvers ist eine mutprobe vom schwierigkeisgrad des ersten fallschirmsprungs.)
Unfähigkeit zu erzählen: es setzt ein Ich voraus, den Erzähler, mit Interesse an wenigstens
einem andern Ich Du. Mich hat es vielleicht nie gegeben. Ich (das) ist ein Rollentausch.«
(HMA 4527) Wird das Schreiben als Kampf in einem/auf einem/gegen einen
vorgeschriebenen Grundriss verstanden, geraten die kreatürlichen Betätigungen zwischen den
Schlachten zur Kampfpause, zum »Krieg ohne Schlacht«. Die »Unfähigkeit zu erzählen«,
schlägt sich in der Unfähigkeit der Beschreibung dieses kampflosen Zustandes nieder und
verweist die Lebenserzählung als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln zurück in die
Schranken der Arena, in der die Schlacht in der Schrift ausgetragen wird. Müller befindet sich
damit in unmittelbarer Gefolgschaft Nietzsches: »Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu
neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr, als den langen.« 417 Das Schlachtfeld zu
verlassen erweist sich als aussichtslos, die Versuchung es dennoch zu tun, ist groß, wie
Müller im Versuch der Beschreibung eines Scheiterns festgehalten hat: »Eine Sprache ohne
Wörter. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern. Stattdessen der lebenslange
Sehzwang, das Bombardement der Bilder (Baum Haus Frau), die Augenlider weggesprengt.
Das gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und Gesang. Die Schutthalde der Literatur im
Rücken. // Das Verlöschen der Welt in den Bildern« (W 4 87 / W 2 492) Das Ich hat die
Wüste der Wörter und Bilder bereits verlassen, in welche der von keinem Lidschlag
unterbrochene Blick auf die permanente Katastrophe der Geschichte fällt (s. a. Benjamins
Engel). Der Versuch dem katastrophischen Zyklus einen Sinn abzugewinnen, bleibt
vergeblich und taugt nur zur Schuttproduktion am Abgrund der Literatur, der immer flacher
wird. Müllers Text beschreibt die Uneinholbarkeit des Beschriebenen durch die Beschreibung
und stellt damit eine primär mimetische Funktion der Kunst radikal in Frage. Dem
korrespondiert die Auffassung des Schreibens als »Kampf gegen den Text der entsteht« (KOS
299).
Der komplette Buchtitel Müllers Autobiografie lautet KRIEG OHNE SCHLACHT LEBEN
IN ZWEI DIKTATUREN EINE AUTOBIOGRAFIE. Die explizite Bezugnahme auf ein
Leben in Zwangslagen geht jedoch über den Nationalsozialismus und die frei gewählte
Unterwerfung unter die »Diktatur des Proletariats« in der DDR hinaus. Der Text der
Autobiografie wurzelt in zwei Diktaten väterlicher Herkunft, deren eines der Sohn mit
Schweigen bedenkt (die erste Verhaftung des Vaters durch die SA, s. a. KOS 18f.), während
er sich beim zweiten widerstandslos die Hand führen lässt (der Autobahnaufsatz, s. a. KOS
23f.). Die Struktur des doppelten Verrats (Ungehorsam/falscher Gehorsam) konstituiert die
417
Nietzsche-W 2, 312
104
Lebensgeschichte – das Schreiben der Versuch, die Schuld abzutragen, indem es sie endlos
repetiert, modifiziert oder bisweilen auch unterschlägt. Diktate stehen an der Schnittstelle von
der Oralität zur Schriftlichkeit. KRIEG OHNE SCHLACHT stellt diese Grenzsituation immer
wieder aus, indem es mit der Form des Interviews, des verschriftlichten Gesprächs spielt,
diese Form jedoch permanent unterminiert. Wenn dem Individuum die Möglichkeit eines
kohärenten Zugriffs auf die ihm zugrunde liegenden biologischen, historischen,
psychologischen, sozialen etc. Dispositionen nicht an die Hand gegeben ist, muss die
Überführung von Leben in Text in jeglicher Hinsicht scheitern. Diese Zwangsläufigkeit der
notwendig ungenügenden Bedeutungsgeneration, die eine Lesbarkeit des Lebens suggeriert,
indem sie es vertextet, scheint der Landläufigkeit des Untertitel EINE AUTOBIOGRAFIE zu
entsprechen.
In einem Konvolut aus dem Privatbesitz des Regisseurs Stephan Suschke, das die letzte
redaktionelle Überarbeitung Heiner Müllers an den Schlusskapiteln seiner Autobiografie
dokumentiert, findet sich ein Blatt mit handschriftlichen Notizen, darunter zwei, die explizit
als Titelentwurf, beziehungsweise Motto ausgewiesen sind. Während die späteren Untertitel
hier bereits belegt sind, ist von KRIEG OHNE SCHLACHT an dieser Stelle noch nicht die
Rede: »Titel / Leben in zwei Diktaturen / Autobiografie im Gespräch« (SUSCHKE, o. S.).
Erst in zwei weiteren Nachlassdokumenten taucht der Titel erstmals im Zusammenhang mit
der Autobiografie auf. In Verbindung mit Entwürfen zu einem Vorwort heißt es »Krieg ohne
Schlacht / Leben in 2 Diktaturen« (HMA 4481), beziehungsweise »KRIEG OHNE
SCHLACHT LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN« (HMA 4482), wobei es sich im zweiten
Fall vermutlich nicht um den Buchtitel, sondern um die Überschrift des Vorwortes handelt,
die im ersten Fall deutlich abgehoben unter dem Titel erscheint: »Vorwort: Im Fadenkreuz«
(HMA 4481). Im Zusammenhang mit dem geplanten Vorwort findet sich auch ein alternativer
Titelentwurf, der explizit auf die Kommunikationssituation der Entstehung rekurriert: »Der
Terror der Sprache / Die Sprache des Terrors / Leben in 2 Diktaturen / HM [Heiner Müller]
im Gespräch m[it] KL [Katja Lange-Müller] [und] HM [Helge Malchow]« (HMA 4482). Der
Titelentwurf ist in Form eines Fadenkreuzes gesetzt. Ergänzt wird die Titelnotiz durch eine
Zeichnung Müllers, die hinter einem Fadenkreuz die Gesichtshälften Hitlers und Stalins
verschmilzt. Als Motto ist vorübergehend ein Gedicht geplant, das dem ersten Band der
Werkausgabe zufolge als Müllers erstes Gedicht ausgewiesen ist: »Auf Wiesen grün / Viel
Blumen blühn / Die gelben den Schweinen / Die blauen den Kleinen / Der Liebsten die roten /
Die weißen den Toten« (W 1 7) Es kann nur vermuten werden, dass damit ein Bezug zur
Urszene Müllers Schreibens hergestellt werden sollte. Unklar ist ebenfalls, ob das gesamte
Gedicht gemeint ist oder nur der zitierte Anfang: »Motto? – Auf Wiesen grün / Viel Blumen
blühn« (SUSCHKE, o. S.) In der Druckfassung findet sich auf das Blumen-Gedicht kein
Hinweis mehr. Dort dienen die Eröffnungszeilen des dritten Teils von Müllers
VERKOMMENES UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN als
Motto. Auf dem gleichen Blatt befindet sich eine Polemik, die sich möglicherweise auf die
parasitäre Eigenschaft der Kritikerzunft bezieht: »Die Blattläuse können den Baum verlassen /
Die Blätter nicht« (SUSCHKE, o. S.), zumindest legt dies eine weitere Notiz am untersten
Blattsaum nahe, in der es heißt: »Kerndl und die Theaterkritiken im ND« (ebd.) Ein weiteres
Indiz, dass es sich bei den Läusen um Kritiker handeln könnte ist eine Nachlassnotiz, die
Müller auf dem »Neuen Deutschland« vom 8. Juni 1995 notierte. Auch hier finden sich
Kritiker in ein Verhältnis zu Bäumen gesetzt, dieses Mal als Hunde: »Wenn ich (die) Kritiken
105
lese […] Ich komme mir (langsam) vor wie ein Denkmal, das die Hunde anpissen – Aber ich
lebe noch (ich bin kein Denkmal) → Auf diese tapferen Idioten – Hunde ohne Baum (critics)«
(HMA 4489).
Den Titel KRIEG OHNE SCHLACHT gebrauchte Müller zuerst unabhängig von der
Autobiografie, etwa im Kontext mit einem aus dem Nachlass veröffentlichten Neujahrsbrief
an den Vater 418 . »Krieg ohne Schlacht = NYL Neujahrsbrief (letter to father)« (HMA 4201).
Die handschriftliche Notiz wird vom Archiv – versehen mit dem Vermerk »unsicher« – auf
»N.Y. 1978« (Neujahr 1978) datiert. In diesem Zusammenhang existieren mehrere Entwürfe,
die sich auf ein von Müller nicht ausgeführtes Projekt beziehen, beziehungsweise zusehends
in das Gravitationsfeld der Autobiografie geraten. So finden sich einige dieser Notizen im
Nachlassmaterial der Autobiografie, andere werden alternativen Werkeinheiten zugerechnet.
Da die Zeit der Entstehung jedoch in den meisten Fällen nicht dokumentiert ist, kann nicht
mit Sicherheit nachvollzogen werden, ob Müller ältere Notizen als Arbeitsmaterial für die
Autobiografie heranzog oder die Entwürfe erst im Zuge der Arbeit an KRIEG OHNE
SCHLACHT entstanden sind. Im Entstehungszusammenhang mit dem Neujahrsbrief findet
sich die Notiz: »war without battle = konkreter Beweis / f[ür] m[eine] Sprache d[es] Terror[s]
(der gegen mich usw.) / march – PoW → Schwerin (Scheune) → way home → / first weeks
→ Tanz → first lovesex / E.L. Baum – Heim-/ weg vorbei an Kaserne – nights in Güstrow – /
Abschied im Zug – Wiedersehen im Eis in Leipzig / (begin of new age (→ mit dem ich nicht
kann) – coit. Für Mehl // = selten genug ist es d[as] Glück der Tiere: danach / E.L.« 419 Im
gleichen Zusammenhang erscheint der Titel in einer anderen handschriftlichen Notiz: »Krieg
ohne Schlacht // Tears (?) / (+) selten genug ist d[as] Glück der Tiere« (HMA 4527) Die
Topoi der Texte überschneiden sich teilweise mit anderen Arbeiten Müllers. So findet sich
»das Glück der Tiere« in der Figurenrede (Merteuil) in QUARTETT wieder (s. a. W 5 46f.).
Die Stationen des Rückwegs aus dem Krieg werden sowohl in KRIEG OHNE SCHLACHT
als auch in einem Prosatext aus dem Nachlass aufgegriffen (s. a. W 2 177–188). In einem
Konvolut mit Arbeitsmaterial zu Müllers Autobiografie finden sich darüber hinaus weitere
Entwürfe, die Hinweise auf den Titel enthalten und alternative literarische Gestaltungsweisen
lebensgeschichtlicher Motive in Betracht ziehen: »KOS / An einem Sommertag, es muss
Sommer gewesen sein, ich kann mich an Schnee nicht erinnern, kaum an Wind, nahmen wir
auf dem Hauptbahnhof in Leipzig zwischen Gleis 8 + 9 oder 12 + 13 / […] Abschied für
immer, / I won’t forget her last look / Knowing game is over –« (HMA 4476); »Eine Jugend
in Deutschld. (KOS)« (ebd.); »Autoportrait between chairs // Selbstbildnis als j[un]g[er]
Mann« (ebd.); »KOS (incl. Frkbg.) / Ich bin es meinem Vater schuldig! seine Geschichte
noch einmal zu schreiben – Vater im Stalinkostüm (Anfang: Garten in Bulgarien Tod einer
Heuschrecke)« (ebd.) Das letzte Notat enthält sowohl einen Hinweis auf den späten Prosatext
THRAKISCHER SOMMER als auch auf das tatsächlich begonnene Prosafragment [Im
Herbst 197.. starb …]. Die Notiz, die das Motiv vom »Wiedersehen in Leipzig« aufgreift,
steht im engen Zusammenhang mit dem Gedicht-Entwurf [Herztod in Leipzig]: »Mein Herz
starb in Leipzig in einem Hotelzimmer / […] Meine Geliebte erzählte mir dass ihre Mutter sie
/ Zu einem Mehlhändler geschickt hatte um / Mehl für die Kinder zu kaufen / Mit ihrem Leib
418
[Ich sitze auf einem Balkon] (W 2 167f.)
419
HMA 4198. Auf die sich hinter den Initialen E.L. verbergende verflossene Liebe bezieht sich vermutlich
Müllers gleichnamiger Gedichttitel (s. a. W 1 173).
106
der meine Liebe war / Mit ihren schönen Brüsten mit ihrem / Unvergesslichen warmen
Schoß.« (HMA 4479) Im Anschluss daran folgt eine Passage, die das Verhältnis des Autors
zu den beschriebenen Kriegsgräueln im Bild des Parsifal kommentiert: »Parsifal in war ein
Kind geht durch die / Hölle + merkt es nicht / es kommt mir im nachhinein so vor als wäre ich
immer durch Höllen + Himmel gegangen ohne Gefühl oder zu wissen d[en] Unterschied /
vielleicht gibt es ihn nur für die Opfer – der Tod löst ihn auf / + selten genug ist das Glück der
Tiere …« (ebd.) Dass Müller die poetologische Selbstbestimmung wiederum mit dem »Glück
der Tiere« in Verbindung bringt, erscheint angesichts der Behauptung einer quasi
reflexionslosen »blinden« Erfahrung, die (wie die Tiere den paradiesischen Ursprung nie
verlassen haben ) gleichsam durch ein Unendliches gegangen sein muss, um das Maß
moralischen Denkens außer Kraft setzen zu können, indes evident. Müller findet diesen
Gedanken bei Nietzsche vorgeprägt. So heißt es im ZARATHUSTRA: »Dass ihr doch
wenigstens als Tiere vollkommen wäret! Aber zum Tiere gehört die Unschuld.« 420
Die erste explizite Nennung des Titels, respektive dessen Kürzels »KOS«, in Verbindung mit
einem autobiografischen Projekt dokumentiert ein vierzehn Seiten umfassendes Konvolut mit
Arbeitsmaterial zu KRIEG OHNE SCHLACHT, das vor allem ein Reservoire poetologischer
Vergewisserungen im Zusammenhang mit der Entstehung der Autobiografie enthält. Dabei
handelt es sich ausdrücklich um eine »poetische« Alternative zu der letztendlich realisierten
Form des autobiografischen Interviews: »KOS (autobiogr[aphy] in poems) / ausgegraben was
ich über mich / weiß – rennen zur / Mutter am Gartentor / V[on] Fahrrad überfahren / Die
Einsamkeit im ›Kollektiv‹ / […] NYL [New Years Letter] / Gespr[äch] m[it] d[em] /
Großv[ater] / Letter AS« (HMA 4480) Dass Müller parallel zur Entstehung der Autobiografie
an einem Projekt »KOS« / »Krieg ohne Schlacht« / »war without battle« festzuhalten scheint,
macht zunächst stutzig. Möglicherweise hielt er den ursprünglich in einem anderen Kontext
verwendeten Titel nach Beendigung der redaktionellen Arbeit an der Autobiografie für diesen
Text adäquat. Umso erstaunlicher scheint es, dass Müller die Suche nach einer kohärenten
Prosaform fortsetzt. Der Text [Im Herbst 197.. starb …], der sich eng an den nun vergebenen
Titel der Autobiografie anlehnt (»mein Krieg war ohne Schlacht«, W 2 186) und offenbar auf
dem gleichen (autobiografischen) Material beruht, zeugt andererseits von tiefem Misstrauen
gegenüber der in KRIEG OHNE SCHLACHT vorgenommenen Darstellung. Insofern müssen
die Skizzen auch als Ausdruck eines latenten Ungenügens angesichts der Stoffbearbeitung im
Rahmen der Arbeit an der Autobiografie gelesen werden. Das Ungenügen mag einen
wesentlichen Grund in der Kanonisierung des Werkes durch die Autobiografie haben, die dem
von Müller wiederholt verworfenen Prinzip der Selektion unterliegt. Ihren sichtbarsten
Ausdruck findet diese Tatsache in der Subsumierung eines Lebens unter die dramatischen
Texte des Autors: Zwölf von insgesamt neunundzwanzig Kapiteln beziehenen sich explizit
auf Stücktitel, weitere sieben nehmen auf Literatur und Kunst (respektive andere Künstler) im
weiteren Sinne Bezug. Das Inhaltsverzeichnis liest sich zunächst wie der Entwurf zu einer
Arbeitsbiografie und liefert damit zugleich einen wichtigen Hinweis auf das Verhältnis von
Leben und Schreiben, die Müllers Auffassung zufolge, keine getrennten Bereiche darstellten.
Es geht Müller um die Texte, deren Existenz an das Verbot der Selbsterkenntnis gebunden ist.
Der Blick auf die Textgenese der Autobiografie bestätigt diese Tendenz: Private
Offenbarungen, die zur Erhellung oder bewussten Verdunklung des Werkes keinen Beitrag
420
Nietzsche-W 2, 319
107
leisten, werden systematisch getilgt. Als confessiones taugen Müllers Erinnerungen daher in
keiner Weise.
Die meisten der in KRIEG OHNE SCHLACHT aufgerufenen Arbeiten sind dramatische oder
in dramatische Konstellationen eingebundene Prosatexte. Dieses Primat führt den
Protagonisten als Dramatiker vor und verfestigt damit das (von Müller selbst gepflegte)
Klischee des Stückeschreibers. Als später Versuch, die starre Fixierung aufzubrechen, kann
eine Präambel zur geplanten Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag gelesen werden, die das
Prinzip »brutaler Chronologie« (s. a. W 1 331–333) zu ihrer verlegerischen Maxime erhob:
»Zum Editionsprinzip. Gegen den (Pseudo)begriff der Vollendung (Vollkommenheit) der aus
der Warengesellschaft (Markt) gekommen ist. Akzent auf Prozess statt auf Resultat. Blick auf
das Ausgelesene, d[as] i[st] was bei der Auslese (via Vollendung) verworfen wird. Das
Ungenutzte mag brauchbar, das Verworfene notwendig sein: Wenn die Felder abgeerntet sind,
lesen die Armen die Ähren auf, ernten heißt verschwenden.« (HMA 4951) In diesem Sinne
setzt die Publikation der Werke Müllers unter Berücksichtigung dessen Nachlasses und
weiterer Quellen den Krieg unter anderen Prämissen fort. Was bleibt, sind die Texte – der
Krieg geht weiter. »Die Spur seiner schreibenden Hand / Vor meinem Auge / Schwarz auf
weiß Krieg ohne Schlacht / Dauernd« 421 .
421
B. K. Tragelehn: Der Abschied … a. a. O. 26
108
6. Die einzelnen Kapitel
Das erste Kapitel, »Kindheit in Eppendorf und Bräunsdorf, 1929–39« umfasst in der
Druckfassung von 1992/94 vierzehn Buchseiten. Die Überschrift suggeriert durch die
Fokussierung auf einen Lebensabschnitt (»Kindheit«) und die zusätzliche kalendarische
Angabe des Zeitraums den Gestus einer Chronik, der mit dem dritten Satz des Kapitels, der
das Geburtsdatum benennt (»9. Januar 1929«, KOS 13), scheinbar korrespondiert. Auch ein
Blick auf das Inhaltsverzeichnis legt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem vorliegenden
Text um eine – seinem Gegenstand entsprechend den Dichter ins Zentrum stellende –
Werkchronik handelt: Neben topografischen und chronologischen Angaben überwiegen die
Stücktitel. Dennoch – oder gerade deshalb – ist eine kritische Hinterfragung der objektiven
Darstellung einer notwendig immer fragwürdigen kausalen Beziehung zwischen Leben und
Werk unumgänglich. Zumal der Objektivitätsanspruch des Chronisten im Text der
Autobiografie in der Tat weitestgehend getilgt ist. Beim Lesen von KRIEG OHNE
SCHLACHT wird deutlich, dass der dokumentarische Duktus der Kapitelüberschriften
mitnichten in der Lage ist, das Auseinanderdriften der Identitäten zu bannen. Sie erscheinen
vielmehr als Relikte der Struktur einer lediglich hypothetisch behaupteten
Persönlichkeitsentwicklung, die vom Text selbst permanent unterlaufen wird. Insofern
verweist bereits das Inhaltsverzeichnis auf eine Einsicht, die, wenngleich im Textverlauf
immer wieder aufscheinend, erst am Ende des Textes explizit wird: Die Unmöglichkeit einen
Gegenstand – in diesem Falle das eigene Leben – zu beschreiben, ohne ihn schreibend zu
verändern.
Bereits das Subjekt des ersten Satzes erweist sich als überaus komplexe poetische und
poetologische Konstruktion. Anfang der achtziger Jahre bezeichnete Müller die Geste der Ich-
Setzung in einem Interview als Überwindung seiner Feigheit, mit persönlichem
Konfliktmaterial umzugehen. »Für mich ist die erste Person sehr persönlich. Der
Zwischenraum zwischen ›ich‹ und ›ich‹ ist so riesig …« (GI 1 95). Die Umsetzung dieser
uneinholbaren Differenz in ein ästhetisches Modell verlangt die Irritation subjektzentrierten
Denkens, eine Aufspaltung und ständige (An-)Verwandlung eines Ich, das keine
reflektierende Instanz ist, sondern ein Teil des Reflexionszusammenhangs selbst. In einem aus
dem Nachlass veröffentlichten Gedicht mit dem Titel AUF DER SUCHE NACH
ODRADEK, geht das lyrische Ich an der Last seiner Individuation zugrunde: »Nach dem
Verschwinden der Mütter das Trauma der zweiten Geburt / Und was ich sah war mehr als ich
ertrug« (W 1 300). In Kafkas streng durchkomponiertem Textstück DIE SORGE DES
HAUSVATERS, das Müller mit dem Titel, aber auch thematisch aufruft, erscheint das
109
»Wesen« 422 Odradek als Katalysator für die Verfassung eigener Subjektivität, ein Vorgang
der sich als Emanzipation des Sprechers in der Figur des Hausvaters niederschlägt und
zugleich als Entfremdung erfahren wird. In beiden Texten – Kafkas wie Müllers – tritt das Ich
erst im letzten Absatz/Vers auf und ist dort in einer Perspektive seines Scheiterns,
beziehungsweise seiner Aufhebung beschrieben. Es ist mithin Resultat einer Suche nach
einem anderen Dasein, einer geschichtsphilosophischen Hoffnung, die man nicht zu fassen
bekommt. 423 Im Denken Müllers korrespondiert die »ODRADEK-Funktion« (W 8 206) mit
dem marxistischen Imperativ der Weltverbesserung: »Die Sorge des Hausvaters, eine
Funktion, die vor 100 Jahren mit den Sozialdemokraten, dann mit den Kommunisten, daneben
immer mit den Intellektuellen besetzt war« (ebd.). Bei Kafka erscheint mit der Setzung des
Ich am Ende des Textes die Entfernung zum gesuchten Gegenstand, der sich dem
unbestimmten »man« des vorherigen Absatzes noch willig als Dialogpartner darbot, am
größten. »Sollte er [Odradek] also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und
Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja
offenbar niemandem; aber die Vorstellung, dass er mich auch noch überleben sollte, ist mir
eine fast schmerzliche.« 424 Die vollkommene Enthobenheit Odradeks von der eigenen
Existenz kann vom Individuum nicht verschmerzt werden. Der letzte Vers Heiner Müllers
Gedicht knüpft an diese Verlorenheit subjektiver Erkenntnis und der daraus sich ergebenden
Perspektivlosigkeit an, indem er die Folgen der Individuation als unerträglich beschreibt. Das
»Trauma der zweiten Geburt« besteht in der Leerstelle, die die als notwendig erfahrene
Selbstsetzung zurücklässt. Sie ist die Wunde, die der dionysische Blick ins gleißende
Sonnenlicht verursachte. Die Suche nach neuer Sinnstiftung infolge weggebrochener
Gewissheiten im Bild des »Verschwinden[s] der Mütter« ist in der Folge nur noch durch den
blinden Schleier der Maja möglich. Dieser Schleier ist die Kunst, die auf das Grauen der
Individuation verweist, ohne es selbst benennen zu können. Es wird uns überleben oder
zerreißen.
Das Trauma der zweiten Geburt – ein Prozess der Selbsthervorbringung, die von vornherein
zum Scheitern verurteilt ist – und die damit verbundene Furcht vor dem Gebrauch der ersten
Person erfährt in der Geburtsszene im ersten Absatz der Autobiografie eine Umwertung ins
Poetische: »Ich war eine schwere Geburt.« (KOS 13) Wie im vorangegangenen Kapitel zur
Materialgrundlage der vorliegenden Untersuchung bereits ausgeführt wurde, zeigt das »Ich«,
das den Text KRIEG OHNE SCHLACHT eröffnet, die Ablösung von allen außerliterarischen
Bezügen an – sei es die biologische oder soziale Herkunft, die Autorschaft Heiner Müllers
oder die Verankerung in einer reflektierten Vergangenheit. Das Ich steht isoliert am Beginn
einer Versuchsanordnung, die den Gehalt dieser diskursiven Aussage in einer Reihe von
Experimenten zu bestimmen versucht. Dieser Gehalt hängt wesentlich vom Aufbau der
jeweiligen Versuchsanordnung ab und verändert sich mit ihr. Mit jeder neuen Situation,
beziehungsweise Figuration, in die das Ich gestellt wird, verändert sich seine Funktion. Eine
eindeutige Bestimmung dieser Funktion scheint insofern unmöglich, so dass über eine
endgültige Verfasstheit des Ichs keine endgültige Aussage getroffen werden kann. Einen
Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei der Aussage »Ich« vielmehr um ein Werden als um einen
422
Kafka-GW 5, 129
423
Die Philologie des Wortes Odradek verweist laut Hartmut Binder auf »ein Wesen außerhalb der Ordnung,
das sich im geschriebenen Wort nicht fangen lässt« (Binder 1982, 232).
424
Kafka-GW 5, 130
110
Seinszustand handelt, ist das Zitat, das Müller seiner Autobiografie als Motto voranstellt.
»Soll ich von mir reden Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich
wer ist das« (KOS 9). Die drei Verse eröffnen den dritten Teil des Stücks VERKOMMENES
UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, der ausgehend von dem
antiken Topos der Lebensfahrt eine sowohl philosophie- wie auch literaturgeschichtlich weit
ausholende Poetik des Scheiterns entwirft. Die sukzessive Auflösung der Identität eines seiner
Rede mächtigen Subjekts (»Soll ich von mir reden«) wird bereits im ersten Vers unterlaufen.
Mit dem verweislosen Fragewort beginnt die Dekonstruktion des sich selbst gewissen
Subjekts (»Ich wer«), das in den nächsten eineinhalb Zeilen (»Von wem ist die Rede wenn/
von mir die Rede geht«) einem Diskurs einverleibt wird, auf den es selbst scheinbar keinen
Zugriff mehr hat und gipfelt in ein vom Sprecher abgelöstes Sprechen über das Ich. Indem die
zweite Hälfte des dritten Verses (»Ich wer ist das«), vom Subjekt der Äußerung absieht,
gewinnt die Frage nach dem Ich volle Konsistenz. Durch die Vorwegnahme des
fragmentarischen Motivs »Ich wer« im ersten Vers, ist der Beginn des letzten Halbverses
zugleich als Zitat ausgewiesen, das die Ursprungslosigkeit des Sprechens zusätzlich
unterstreicht. In der Folge spielt das Stück LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN (Un-
)Möglichkeiten und Konstellationen einer immer wieder scheiternden Neukonstitution des
Text-Ichs durch. Auch in KRIEG OHNE SCHLACHT sind die Konstellationen, deren
Kristallisationspunkt das Ich nicht sein kann, weil es erst aus ihnen hervor geht, von
grundlegender Bedeutung. Vor dieser Folie wird der gesamte Text Müllers Autobiografie
lesbar als der (schwere) Geburtsvorgang eines Ich, das sich durch sein Sprechen (ȟber
andere«, KOS 366) permanent selbst hervorbringen muss. Ein Sprecher, der souverän über
den Text verfügen würde, existiert nicht. Es handelt sich bei diesem (ästhetischen) Text
vielmehr um die sprecherlose Sprache eines »kommenden Volkes« 425 .
Im Nachlass Heiner Müllers finden sich Notizen aus dem Entstehungszusammenhang von
KRIEG OHNE SCHLACHT, die mit der Geburtsszene in unmittelbarer Verbindung stehen.
Es handelt sich dabei um einen alternativen poetischen Umgang mit dem Material, das Ella
Müller dem Dichtersohn durch ihre Erzählung an die Hand gab 426 .
Der Krieg war für den Ausländer im eigenen Land kein Einschnitt, weil er immer schon
sein Lebensraum gewesen war. Er wollte nicht kommen, sagte meine Mutter von meiner
Geburt, die neun Stunden gedauert hatte. Wenn sich mir jetzt der dumme Satz aufdrängt:
Heute weiß ich: er wusste warum, weiß ich mit dem gleichen Atemzug, dass er eine
Anmaßung und gleichzeitig eine Lüge ist.
425
Deleuze 2000, 15
426
»… 1929, im Januar. Das war der schlimmste Winter, den es eigentlich je gegeben hat. […] So eine
furchtbare Kälte. Und der Heiner wollte nicht kommen. Es ging früh um acht los und bis abends um neun.
Immer noch nicht, der wollte nicht auf die Welt. Und ich hab gejammert und gejammert, ach, der wollte
nicht und ich wollte sterben. Die Hebamme hat mich angebrüllt, ich sollte mich schämen und froh sein, dass
ich ein Kind kriege. Ich hab mich dann geschämt, aber der wollte nicht und die Schmerzen und alles. Dann,
abends um zehn, neuneinhalb Pfund. Meine Güte! Ich war doch klein und zierlich!« (Ella Müller:
Erinnerungen der Mutter. In: KALKFELL, 247–259, hier 241)
111
Seitdem steht zwischen mir und mir
Ein Engel der taub ist und stumm
Der die Schlüssel verwahrt Tür um Tür
Zu den Abgründen um uns herum
Mein Schreiben ist der Kampf mit diesem Engel um die Schlüsselgewalt über die
Abgründe (gegen das – zentrale – Ich)
(HMA 4476)
Die Verknüpfung von Prosa und Vers kann als paradigmatisch für Müllers
gattungsübergreifenden Literaturbegriff gelten. Sie dokumentiert zugleich die Suche nach
einer Form, dem Material beizukommen, ohne es zu beschneiden und hebt den
Entstehungsprozess im Produkt nicht auf. Der in drei Teile gegliederte Entwurf um das
Thema der Geburt ist insofern bedeutungsvoll, als er die Konstitution des Ich aus dem nicht
sinnvoll zu beendenden Kampf um die Herrschaft über die dunklen, (individuell wie kulturell)
unbewussten Seiten der Existenz explizit unterstreicht, während ihr beim ersten Satz der
Autobiografie (»Ich war eine schwere Geburt«, KOS 13) aufgrund seiner poetisch
verdichteten Gestalt nur noch mit größerem Analyseaufwand beizukommen ist. Der Einstieg
in den ersten Teil des Fragments geschieht über die Topoi des »Krieges« und des
»Ausländers«. Während der »Krieg«, ähnlich Deleuze/Guattaris »Kriegsmaschine« 427 im
Sinne einer ästhetisch-philosophischen Kategorie, die Grundstruktur nicht nur Müllers
Autobiografie wesentlich prägt, wird die Figur des »Ausländer[s]« (KOS 27f.) im zweiten
Kapitel von KRIEG OHNE SCHLACHT bestimmend, in dem es um die als »Emigration«
(KOS 27) geschilderte Fremde Mecklenburgs geht, in das die Familie im Jahr des
Kriegsbeginns, 1939, verzog. Hinter dem Topos des »Ausländer[s]« im eigenen Land verbirgt
sich eine Struktur, die Deleuze/Guattari mit dem Begriff »Fremd-Werden« immer wieder
beschrieben haben. Es ist das Bewegungsprinzip der »Kriegsmaschine« und in diesem Sinne
ihr Imperativ. »… immer schon« kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten, dass es sich
um eine Forderung handelt, der das Ich des ersten Satzes sich explizit verpflichtet, ohne dass
diese Forderung von ihm selbst stammen würde, was dadurch bestätigt wird, dass dieser
folgenschwere Satz der Erzählung der Geburt durch die Mutter vorangestellt, die Fremdheit
dem Vorgang der Individuation vorgängig ist. Die Selbstgewissheit der subjektiven
Bestätigung (»Heute weiß ich: Er wusste warum«) des mütterlichen Urteils (»Er wollte nicht
kommen«) muss demzufolge als »Anmaßung« und »Lüge« verworfen werden. Es kann keine
Erkenntnis des Fremd-Werdens geben, es ist eine lebendige Praxis (»Atemzug«), ein Fort-
Schreiten. Das Dilemma des Nicht-Wissen-Könnens des »immer schon« Gewesenen tritt in
dem achtzeiligen Gedicht vorerst in den Hintergrund. Die beiden ersten Verse greifen die
Erzählung der Mutter noch einmal auf. Durch den Reim sind sie verklammert mit dem als
»Zwang« geschilderten Geburtsvorgang (ein Element, das die Erzählung Ella Müllers bereits
enthält: »Die Hebamme hat mich angebrüllt, ich sollte mich schämen und froh sein, dass ich
ein Kind kriege.« 428 ). Der wird ins Werk gesetzt von einer »Hebamme«, die als Hure der
(allegorischen) Figuren »Gott und Teufel« von den (moralischen) Prinzipien gut und böse
legitimiert ist, das Kind in die Welt zu zwingen. Wichtig sind die Folgen, denn sie generieren
Müllers Schreibzwang. Die Figur des taubstummen Engels ruft andere Engelsbilder Müllers
427
Deleuze/Guattari 1992, 481ff.
428
Ella Müller: Erinnerungen der Mutter … a. a. O. 241
112
auf, insbesondere jenen taub-blinden des dramatischen Gedichts aus den fünfziger Jahren,
dem die Zukunft »die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden
Knebel, ihn würgt mit seinem Atem« (W 1 53). In diesem Gedicht wurde geschichtliche
Praxis von der Zukunft erstickt. Im Gegensatz zu diesem Szenario wirkt hier von vornherein
ein Schweigegebot. Der taubstumme Engel kann weder befragt werden, noch könnte er eine
Antwort erteilen. Er bewacht die Türen zu den Abgründen, welche vielleicht das von Faust
begehrte Wissen beherbergen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (KOS 271),
vielleicht aber auch nichts. Müller behauptet, ihn interessiere das ohnehin nicht, vielmehr
wolle er »wissen, wie sie abläuft« (ebd.). Paradoxer Weise ist die stumme Welt des Gedichts,
in der die Frage nach (Ab-)Gründen unmöglich ist, die Geburtsstätte der Sprache des
Dichters. »Vor dem Wort ist immer das Schweigen, und das Schweigen ist die Voraussetzung
für Sprechen.« (GI 2 41) Das Movens müllerschen Schreibens liegt in der Vermittlung dieses
Schweigens. Es verwehrt sich der Beschreibung und also Beherrschung der Abgründe. Wurde
der permanente Krieg bereits im ersten Teil des Textes als Lebensraum gekennzeichnet, wird
dieser Lebensraum im Schlussteil mit dem Schaffensraum des Dichters identifiziert. Leben
und Schreiben fallen in eins. Der Kampf um die Herrschaft über die Schlüssel verhindert die
Verfügungsgewalt über das Unbekannte. Er ist auch beschreibbar als Krieg »gegen das –
zentrale – Ich«, das in diesem Zusammenhang identisch sein dürfte mit den von der
westlichen Welt bevorzugten subjektzentrierten Denkmodellen.
Ein handschriftliches Traumprotokoll, notiert auf einem gesonderten Blatt des gleichen
Fragments, liefert eine Variation des Themas. Der empirische Bezug – die Geburt Heiner
Müllers in der Erzählung der Mutter – ist in diesem kleinen Fragmentbaustein, wie dann auch
in seiner Autobiografie, getilgt. Die Rede ist lediglich von den Folgen, die umso
schwerwiegender sind: »… dream meine Mutter die alte Erinnye/Furie mit einem Feuerhaken
(glühender) lachend in meine Schulter […] Mutter die einen glühenden Feuerhaken lachend
in meine Schulter schlägt (Du bist mein Sohn) […] zwischen mir + mir steht ein Engel, er ist
taubstumm. Er verwahrt die Schlüssel zu den Abgründen in mir + um mich herum. M[ein]
Schreiben ist der Kampf mit diesem Engel um die Schlüsselgewalt.« (HMA 4476) Der
familiären »Traumhölle« (W 5 80, s. a. das Nachlassfragment »Familienalbum (dreamhell)«,
HMA 4472), in der die Mutter »als Furie« 429 auftritt, die den Sohn mit einem »glühenden
Feuerhaken« züchtigt und an seine Verwiesenheit auf den Ursprung bei ihr, der Mutter,
gemahnt (»Du bist mein Sohn«), entrinnt der Sohn nur, indem er das Schlachtfeld betritt, das
sein Schreiben ist: »Das eigentliche Schreiben ist ein Kampf gegen den Text, der entsteht.«
(KOS 299) Bernd Böhmels Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Frau als Mutter
des Krieges trifft auf Schlieffen gleichermaßen zu wie auf Müller. »Von den Vätern lernen
wir sterben. In der Frau begegnet uns der Krieg in seiner unauslöschlichen Dauer.« 430
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein zunächst belanglos erscheinender Satz aus
dem Text der Autobiografie: »Ich glaube, meine Mutter war vor mir schon einmal schwanger.
Aber sie hatten kein Geld und keine Wohnung.« (KOS 15) Die vermeintliche Abtreibung lässt
den Erzähler als Glied einer manipulierten Erbfolge erscheinen. Sie nötigt den Erstgeborenen,
429
»Ich habe zufällig, kurz bevor sie [die Mutter] starb, von ihr geträumt. Sie ist vor einem halben Jahr
gestorben, und das war ein merkwürdiger Traum, auch ein ganz schrecklicher. Allerdings wusste ich nicht,
dass sie das ist. Ich habe geträumt, dass eine alte Frau mit weißen Haaren auf mich zukommt, und zwar als
Furie. Und als ich aufwachte, wusste ich, das war meine Mutter.« (LV 110)
430
Böhmel 1992, 451
113
eine illegitime Erbschaft anzutreten. Aus der Entzogenheit des Gegners im Kampf um die
rechtmäßige Nachfolge – ein Äquivalent zum taubstummen Engel – resultiert der Krieg ohne
Schlacht. Nicht sinnvoll wäre ein Ende des Krieges zwischen Engel und Sprecher des Textes
deshalb nicht, weil es entweder das Einswerden mit dem Taubstummen und also sein
Verstummen anzeigen würde oder – im Falle der Niederlage des Engels – die Anhebung des
Abgrundes auf das Niveau des Bewusstseins, seine erkenntnismäßige Durchdringung und
somit letztlich seine Liquidierung. Auch in diesem Fall wäre das Ende der Schrift die Folge,
weil das Kommunikationssystem sich auf das Unbekannte – die dem Subjekt nicht
erschließbaren Abgründe – bezieht. So lange der Kampf dauert, bleiben die Türen
verschlossen. Hier schließt sich der Bogen zum ersten Satz des Fragments, in welchem von
dem »immer schon« bewohnten Lebensraum des Krieges die Rede ist. Zugleicht erschließt
sich damit der utopische Gehalt eines Denkens, das Müller in der Überarbeitung letzter Hand
auf einen Satz zu reduzieren vermag, der Begründung und zugleich Voraussetzung seiner
Sprache ist: »Ich war eine schwere Geburt.« (KOS 13)
Die Bezeichnung der Figuren im sich unmittelbar anschließenden Herkunftsteil macht
deutlich, dass von einem vordergründigen Realitätsbezug der lebensgeschichtlichen
Darstellung abzusehen ist. Von Genetik (Vater, Vater des Vaters, Mutter des Vaters etc.) lässt
sich nur bedingt sprechen. Sie ist allenfalls Genmanipulation, eine postume Konstruktion.
Vielmehr handelt es sich um die Genese literarischer Figuren und Figurationen. Der
BERICHT VOM GROSSVATER (1951) und DER VATER (1958) sind nur die
prominentesten Vorläufertexte für die familiäre Konstellation in KRIEG OHNE SCHLACHT
(im Nachlass finden sich eine Vielzahl weiterer Quelltexte). Nicht zufällig nimmt Müller in
seiner Autobiografie explizit Bezug auf die beiden frühen Prosatexte. Wie das »Ich« des
ersten Satzes der Exposition sind Eltern und Großeltern Figuren in einem poetischen Spiel,
die auf das Ich verweisen, indem ihnen die Rollen von Vater, Mutter, Großmüttern und
Großvätern zugewiesen werden. Ein Abgleich mit den ›realen‹ Vorfahren Heiner Müllers
wäre in diesem Zusammenhang kaum einträglich. Erscheint die Beleuchtung der »soziale[n]
Determination« 431 einer Person für die biografische Darstellung legitim, ist sie hinsichtlich
ihres künstlerischen Ausdrucks bedeutungslos. Eine Trennung von Leben und Werk unter der
Prämisse einseitiger Determination ist aus ästhetischer Perspektive nicht sinnvoll, weil sie den
Schöpfer vom Schaffensprozess, den Schaffensprozess vom Werk ablöst. Ein Vorgehen aber,
das den Text als Reflex auf eine eindeutig bestimmbare Ursache außerhalb des Textes
festlegen wollte, würde vom Text selbst absehen. Schließlich geht es bei literarischen Texten
nicht um die Nachahmung einer außerhalb der Texte gelegenen »Wirklichkeit«, sondern um
die Bedeutungsproduktion einer kohärenten Wirklichkeit des Textes. »Viel wichtiger als
Wahrheit«, betont Müller, sei ihm »Phantasie; das, was Phantasie freisetzt. Daraus entstehen
Wirklichkeiten. […] Das Poetische ist das absolut Reelle« (GI 2 37). In KRIEG OHNE
SCHLACHT versucht Müller folglich ganz bewusst »das Autor-Ich von seinem biografisch-
sozialen Umfeld weitgehend abzulösen und es wie eine dramatische Figur zu inszenieren« 432 .
Eine handschriftliche Notiz belegt, dass sich Müller während des Entstehungsprozesses
bewusst mit dieser Problematik auseinandergesetzt hat: »eigent[liche] Biografie die Texte /
(deshalb [ist die Biografie] kein Gegenstand von Literatur) / Banalität der Fakten macht mir
431
Hauschild 2001, 14
432
Pickerodt 1995, 65
114
bewusst, dass meine Texte der Traum von einer Sache (function of art)« (HMA 4480). Nur in
der ästhetisch transzendierten Form – und das wird hier als ›Funktion der Kunst‹ bezeichnet –
ist das Leben für den Künstler überhaupt von Bedeutung. Diesseits von Kunst lässt sich das
Leben in den Augen des Dichters hingegen nicht sinnvoll beschreiben, hat es keine Funktion.
Es bedarf dazu eines übergeordneten Zieles, das jedoch blind bleiben muss, in jedem Fall dem
Zugriff durch das Bewusstsein entzogen (»Traum von einer Sache«), denn »Kunst ist was
man will, nicht was man kann« (W 8 210). Die Erkenntnis verhindert geschichtliche
Erfahrung oder, wie Nietzsche schreibt: »Die Erkenntnis tötet das Handeln, zum Handeln
gehört das Umschleiertsein durch die Illusion«. 433
In der Folge soll versucht werden, die Funktion der ›Ahnen‹ für den Text des ersten Kapitels
näher zu bestimmen. Um die Spezifik im Umgang mit diesen Figuren in der Druckfassung
von KRIEG OHNE SCHLACHT veranschaulichen zu können, werden – wo die
Überlieferungssituation dies zulässt und es sich im Rahmen der Analyse als sinnvoll erweist –
Material aus dem Entstehungszusammenhang, beziehungsweise alternative poetische
Gestaltungsmöglichkeiten herangezogen. Der Vergleich der erhaltenen Fassungen 434
offenbart eine deutliche Tendenz zur Verknappung des Textes und zur stilistischen
Vereinheitlichung. Strukturell sind jedoch alle Elemente des abgedruckten Textes auf diese
früheren Textstufen zurück verfolgbar. Über Vater und Mutter wird in KRIEG OHNE
SCHLACHT zunächst die Großelterngeneration eingeführt. »Mein Vater ist in Bräunsdorf
geboren. […] Der Vater meines Vaters war Strumpfwirkermeister in einer Textilfabrik,
Arbeiteraristokratie, von der Mentalität her sehr nationalistisch. Er war Soldat im Ersten
Weltkrieg. Darüber hat er nie gesprochen. Dann war er in irgendeinem patriotischen
Turnverein.« (KOS 13) Die Verwendung der Possessivpronomen und der ausdrückliche
Verweis auf das Verwandtschaftsverhältnis (»mein Vater«, »Vater meines Vaters«) unter
Aussparung von Eigennamen bindet die Figuren in doppelter Hinsicht an die Rede des
Erzählers. Der vermeintlichen biologischen Erzeugung des Erzählers durch seine Vorfahren,
die einst selbst »geboren« wurden, steht die Erschaffung literarischer Figuren mit
funktionellem Verwandtschaftsstatus im Textkorpus der Autobiografie gegenüber. Die nähere
Charakterisierung des Großvaters betont die Künstlichkeit dieser Figur, indem sie
vornehmlich Züge an ihr herausstellt, die für die strukturelle Verfasstheit des Autor-Ichs in
der Folge des Textes und hinsichtlich anderer Texte, auf die KRIEG OHNE SCHLACHT
explizit und implizit verweist, bedeutsam werden sollen. Der ambivalente Begriff der
»Arbeiteraristokratie« lässt den Großvater im Lichte eines gebrochenen Klassenbewusstseins
erscheinen. Seine Qualifikation adelt ihn gegenüber den ihm unterstellten Arbeitern, zugleich
ist er einer der Ihren. Die Position des Privilegierten nimmt eine Konstellation vorweg, in der
sich der Erzähler später selber wieder finden wird: Dem Gefühl fremden Dazugehörens. Etwa,
wenn er nach dem Krieg anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution als angehender
Literat vor verständnislosen Arbeitern spricht (s. a. KOS 60); oder ihm am 4. November 1989
vor Hunderttausenden Demonstranten auf dem Alexanderplatz schließlich eine »Welle von
Hass« (KOS 416) entgegenschlägt. »Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde,
433
Nietzsche-W 1, 48
434
Es handelt sich hierbei um die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit beschriebenen Fassungen mit den
Signaturen TA (Tonbandabschriften) und HMA 4487. Die Seiten 1–7 der Tonbandprotokolle sind
verschollen. Damit ist eine Zurückverfolgung des Texteinstiegs bis zu dieser ersten vertexteten Stufe der
Produktion nicht möglich.
115
wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber.« (W 4 550), beschreibt ein
anderer (autobiografischer) Text die zerrissene(n) Position(en) des Dramatikers.
Die nationalistische Mentalität des Großvaters sowie seine Mitgliedschaft in einer von
patriotischer Geselligkeit getragenen Institution435 zeichnen ihn als aktiven Teilhaber einer
gesellschaftlich-politischen Strömung aus, auf der die ›erste‹ Diktatur aufgebaut ist, zu der
Heiner Müller den Erzähler des Textes in ein strukturelles Verhältnis versetzt. 436 Hier wird
dieses Verhältnis als innerfamiliärer Konflikt entworfen, als Riss zwischen den Biografien der
Generationen. Damit gerät der Text selbst zum Schlachtfeld der Ideologien, die der Verlauf
der Geschichte überwinden, aber nicht aufheben konnte. Durch die Charakterisierung des
Großvaters als Nationalisten und/oder Patrioten bleibt die dem Nationalsozialismus zugrunde
liegende Geisteshaltung nicht nur Bestandteil der eigenen Biografie, sondern zugleich die
nicht zu eliminierende Grundlage all dessen, was danach kam. Das großväterliche Schweigen
über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs tritt in Korrespondenz zum traumatisierten
Sprechen seines schreibenden Enkels über den Zweiten. Der Krieg selbst wird dort nur von
seinem Ende her und aus der Ferne wahrgenommen (s. a. KOS 36f.). Was bleibt, sind die
Erinnerungen an die Folgen. Wird das Schweigen über das eigentliche Trauma des Krieges
für den Sprecher des Textes zur Grundlage seiner poetischen Ausdrucksfähigkeit, ertränken
die Großväter (der Vater der Mutter wird als »Baldriantrinker« bezeichnet, HMA 4487, 22; s.
a. KOS 17) die historische Wahrnehmung ihrer Biografien im Alkohol. Für den Vater des
Vaters wird das gezielte Auslöschen des Erinnerungsvermögens gar zum per se patriotischen
Akt. 437 Die Episode fehlt im Drucktext von KRIEG OHNE SCHLACHT, ist aber für die hier
dargestellte Problematik aufschlussreich. »Interessant ist vielleicht, dass dieser Großvater als
deutscher Patriot ungeheuer viel Bier trank. Mein Vater erzählte eine Geschichte: Immer
wenn ein Kind geboren wurde – es waren ziemlich viele Kinder, Söhne und Töchter, genau
zehn, zwei sind gestorben und acht blieben erst mal übrig, doch dann sind noch viele der
Söhne im Zweiten Weltkrieg gefallen – also immer, wenn es wieder soweit war und die Frau
anfing zu gebären, war er in der Kneipe, und eines der Kinder wurde zu ihm runter geschickt,
um ihn zu holen; mein Vater sollte ihn wohl auch mal holen. Es wäre soweit, er solle
vorbeikommen. Der Großvater kam rauf, sah, dass das Kind noch nicht da war, und sagte: ›Es
ist ja noch nicht soweit, da kann ich ja noch ein Bier trinken‹. Und er ging wieder Bier
trinken. Das waren die Verhältnisse. Mein Vater hat mir noch eine andere Geschichte erzählt:
Als sein Vater aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, hat seine Frau ihn natürlich gefragt, ob
er fremdgegangen wäre, Weiber gehabt oder Kinder gemacht hätte. Später gestand er ihr und
den erwachsenen Söhnen, er habe damals, als er die Frage mit ›nein‹ beantwortet hatte, den
einzigen Meineid seines Lebens geschworen. Er hatte auf die Bibel schwören müssen. Damit
war das für die Frau erledigt gewesen.« (HMA 4487, 2f.) In Verbindung mit der Geburt seiner
Kinder gewinnt das Szenario der Selbstbetäubung eine Perspektive auf den Tod: Die von ihm
gezeugten Kinder – »vor allem Söhne« (KOS 22) – sind das Kanonenfutter des im Namen
seines Nationalismus geführten Krieges der Deutschen um »Lebensraum«. Die bewusste
435
Die von »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn im 19. Jahrhundert ins Leben gerufene nationale
Turnbewegung verfolgte die Absicht mittels des Turnens eine innere Erneuerung Preußens herbeizuführen
und so ein deutsches Nationalbewusstsein zu schaffen.
436
LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN lautet der erste Untertitel von KRIEG OHNE SCHLACHT.
437
Neben der Initiierung der Turnbewegung gilt Jahn als Mitbegründer der Burschenschaften. Das ritualisierte
Besäufnis gehört(e) zum Kodex des chauvinistischen Selbstverständnisses.
116
Verdrängung historisch-gesellschaftlicher Tatsachen ließ diesen Lebensraum zum Friedhof
der Nachgeborenen werden. Bezeichnenderweise sollten nur jene zwei Söhne den Zweiten
Weltkrieg überleben, die das Wissen von dieser Verdrängung tradierten (»Mein Vater erzählte
eine Geschichte«, »Mein Vater hat mir noch eine andere Geschichte erzählt«) und ihr damit
einen historischen Sinn verliehen, beziehungsweise keine Sprache für die auf Ausklammerung
von Widersprüchen basierenden nationalistischen Mentalität ihres Erzeugers hatten (»Einer
der Söhne war durch Diphtherie taubstumm geworden. Dieser Sohn war, neben meinem
Vater, der einzige Nichtnazi in der Familie«, KOS 22). Die vulgärjuristische Prozessführung
im zweiten Teil der oben zitierten Passage findet sich auch im Buchtext wieder. Die
Einhaltung ehelicher Treuegelübde des Kriegers auf seinen ›Irrfahrten‹ ist seit Homers
Odyssee ein Thema der Literatur. Der Krieger als Vater illegitimen Nachwuchses persifliert
zugleich Heraklits Satz, der Krieg sei aller Dinge Vater. 438 Das späte Eingeständnis der
doppelten Schuld (der Untreue und ihrer Leugnung unter Schmähung der Heiligen Schrift)
erfolgt im Drucktext nicht mehr gegenüber der Frau. Alleinige Adressaten des Geständnisses
sind dort die erwachsenen Söhne (s. a. KOS 13). Die kleine Änderung ist von großer
Tragweite. Die Beichte gegenüber den Söhnen schließt die Frau nicht nur von der Weitergabe
lebensgeschichtlicher Erfahrung aus, es bringt sie auch um die Möglichkeit, ihr Recht
einzuklagen, das sie an die Heilige Schrift delegierte. Im »Meineid« des Großvaters
verschmilzt die Leugnung der Schuld formal mit seiner Unfähigkeit »der Geschichte ins
Weiße im Auge zu sehn« (W 8 216). Damit ist die (Gerichts-)Verhandlung nicht beendet,
sondern ans Ende der Zeit oder das Jüngste Gericht vertagt, aus dessen Perspektive die
»Geschichte des Menschen« (ebd.) allerdings wenig Sinn macht. In einer dynamischen
poetischen Verweisstruktur, wie sie der Text KRIEG OHNE SCHLACHT aufruft, ist das
Bedeutungspotenzial einer stagnierenden literarischen Figur jedoch alles andere als begrenzt.
Eine andere Gewichtung erfährt der Meineid in einer früheren Fassung des Textes, in der er
stärker auf die Rolle der Großmutter bezogen wird. »Sie [die Mutter des Vaters] war
katholisch erzogen und ist auch, kurz bevor sie starb, wieder katholisch geworden.
Dazwischen musste sie natürlich raus aus dem Katholizismus, weil sie einen Protestanten
geheiratet hatte. Aber das war für sie ganz klar, er hatte auf die Bibel geschworen, da wurde
dann nicht mehr gefragt. Die Antwort des Großvaters war Meineid, auf die Bibel. Der
Großvater musste ihn schwören. Sie war eine sehr starke Frau.« (HMA 4487, 2f.) Im letzten
Satz wird die Großmutter zusammenfassend als häuslicher Vorstand charakterisiert. Mithin
steht es in ihrer Macht, den juridischen Rahmen festzulegen, in welchem die Befragung ihres
Mannes stattfinden soll. Die Möglichkeit, dass ihr Mann einen Meineid schwören könnte,
spielt für die gläubige Katholikin eine untergeordnete Rolle. Die eigentliche Funktion der
Zeremonie besteht in der Rehabilitierung des Großvaters von seiner eigenen Geschichte,
seiner Reintegration in den Schoß der Familie und der Wiederherstellung einer
Alltagsnormalität, in der sich die (reine) »Magd« (KOS 13) der Pflege und dem Schutz des
Nachwuchses widmen kann. Da eine Absolution von den Sünden in einer protestantischen
Lebenswelt nicht in Frage kommt – das Sakrament der Beichte ist der katholischen Kirche
vorbehalten –, ist der Bibelschwur die einzige Handhabe des Umgangs mit dem Sünder. Der
Urteilsspruch über den Großvater und die Tilgung seiner Sünden wird mit dem Bibelschwur
438
»Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu
Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.« (Heraklit. In: Diels/ Kranz 1959. Bd. 1, 88)
117
an den höchsten Richter delegiert. Die Zuständigkeit der Großmutter ist damit erloschen, die
Suche nach der Wahrheit vertagt: »Da wurde dann nicht mehr gefragt.« (KOS 13)
Die Religiosität der Großmutter gründet offenbar weniger auf Gottesfurcht, als auf der Furcht
des Verlustes der eigenen Reinheit, zu der im weitesten Sinne die der Familie gehört. Als
Hüterin des häuslichen Bereichs, des oikos, ist sie darauf bedacht, das Haus von bösen
Geistern rein zu halten. Dabei geht es vor allen Dingen um eine Ökonomie der Sünden, mit
denen, da sie nun einmal nicht vermeidbar sind, gehaushaltet werden muss. Vor dieser Folie
wird der Meineid des Großvaters zu einer für den Haushalt ökonomischen Notwendigkeit. Er
erhält der Familie den Ernährer. Auch die politische Einstellung der Großmutter wird im
Kontext eines ethischen Dualismus geschildert, der in religiösen Vorstellungen begründet ist.
»Die Mutter meines Vaters war eine glühende Nationalsozialistin und verehrte Hitler: Er
rauchte nicht und aß kein Fleisch und hatte keine Weibergeschichten.« (KOS 21) Die
Begründung der Affinität der Großmutter zum Nationalsozialismus wird hier mit einer
zufälligen Analogie begründet, die ihre »glühende« Anhängerschaft als moralische
Fehlleistung ausweist. Sie ist nicht politisch begründet, sondern orientiert sich ausschließlich
an charakterlichen Klischees des verehrten »Führers«. Auf die gleiche Art und Weise
entscheidet sie in einer früheren Textfassung den alten Streit um die Würde des
Nationaldichters. »Sie war auch für Schiller und gegen Goethe. Goethe war ein Hurenbock,
der immer diese Weibergeschichten hatte, und Schiller war ein richtiger deutscher Dichter.
Genauso war sie für Hitler, wegen der Moral.« (HMA 4487, 15) Dass das Heil der Familie für
die Großmutter wesentlich von einem einwandfreien Leumund abhängig ist, zeigt ihre
Reaktion auf die mit großer Schadenfreude vorgetragene Erzählung ihres Sohnes, der im
Konzentrationslager die Frage des Kommandanten, ob er »Jude« sei, zurückweist, worauf er
die Antwort erhält: »Dann hat sich deine Mutter von Juden ficken lassen.« (KOS 21) Die
verbale »Beschmutzung« der reinen »Magd« durch die unterstellte Unzucht mit einer
Mehrzahl von »Juden« kann die Großmutter nicht hinnehmen. »Sie war tief empört und trat
einen großen Beschwerdegang an, durch alle Instanzen bis nach Chemnitz, und erreichte
tatsächlich, dass dieser Kommandant sich bei ihr, einer deutschen Mutter, entschuldigen
musste.« (KOS 21f.)
Den Antagonismus der Wiederaufnahme des schutzflehenden »verlorenen Sohnes« hingegen
kann die Großmutter aushalten. »Der Grund der frühen Verhaftung: Mein Vater war nicht
mehr in der SPD, sondern in der SAP. […] Die SAP-Leute waren besonders verdächtig, noch
keine Kommunisten, aber auch keine Sozialdemokraten mehr.« (KOS 19) Nach der
Entlassung des Linkssozialisten 439 aus dem Konzentrationslager, durfte dieser nicht nach
Eppendorf zurück. Die Familie des Erzählers zog zu den Eltern des Vaters nach Bräunsdorf.
Wie eine Nachlassnotiz verdeutlicht, wird der Umzug ins Haus der Großeltern vom Enkel als
»erstes Exil« erfahren: »Haus Eltern V[ater] / Was meine nächste Behausung war / + mein
erstes Exil / Dachkammer Nachttopf (obituary/death insert)« (HMA 4476). Auf die Fremdheit
des Exils reagiert der Sprecher dieser Zeilen mit einem räumlichen Rückzug (»Haus«,
»Behausung«, »Dachkammer«, »Nachttopf«), der auf die Beendigung der (äußeren) Existenz
439
Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) wurde 1931 auf der »Reichskonferenz oppositioneller
Sozialdemokraten« gegründet. Ihr gehörten hauptsächlich ehemalige SPD-Mitglieder an, aber auch
zahlreiche Kommunisten, die die sowjetische Ausrichtung der KPD ablehnten. Die SAP verfolgte einen
linkssozialistischen Kurs. In Form einer Einheitsfront aller Kräfte der politischen Linken trat sie für einen
rücksichtslosen Kampf gegen NSDAP und Nationalsozialismus ein.
118
in der Absonderung des (inneren) Exkrements hinausläuft (»obituary/death insert«). Durch die
Aneignung des Befremdens (»mein erstes Exil«) wird auf engstem Raum ein Bereich der
Vertrautheit geschaffen, der das Individuum zu sich selbst kommen lässt, indem es alles ihm
Fremde als tote Substanz ausscheidet. Die totale Abgeschiedenheit der nächtlichen Sitzung
lässt den Tod als vermittelt erscheinen, er ist kommunizierbar als Todesanzeige (»obituary«).
Mit der Einführung des Todes als End- und Ausgangspunkt des Lebens gewinnt das Leben als
Toter im Exil eine Funktion: Es wird künstlerischer Ausdruck. Begründet wird diese frühe
Erfahrung von Fremdheit – die freilich eine Projektion in die individuelle Vergangenheit und
also eine Konstruktion darstellt – in der folgenden Passage, die im Drucktext getilgt ist. »Da
war dann der Krieg zwischen meiner Mutter und seiner Mutter, der Schwiegermutter. Sie
hasste alle Schwiegertöchter. Eine ganz südlich matriarchalische Haltung. Da hatte kein
Schwiegersohn und keine Schwiegertochter eine Chance und ich hatte auch keine, ich fiel mit
unter die Sippenhaft. Es gab zwei Kusinen, die waren ihre Lieblinge.« (TA 18f., s. a. HMA
4487, 18). In diesem Abschnitt wird die Rolle der Großmutter als Hüterin des Haushaltes und
der Besitzstandswahrung um eine andere Komponente erweitert. Ging es beim Bibelschwur
des Großvaters um die Ökonomie der Sünden, kommt hier eine karitative Ökonomie ins
Spiel. Die ökonomische Verteilung von Zuwendung und Ablehnung ruft einen frühen Subtext
ins Gedächtnis, der als Folie Müllers später Erinnerung gelesen werden kann. Als frühe
Bearbeitung des Großmutter-Motivs stellt er zugleich eine Materialgrundlage für den Text
KRIEG OHNE SCHLACHT dar.
Meine Mutter arbeitete, da mein Vater arbeitslos war, wieder als Näherin. Die Fabrik lag
zwei Wegstunden von dem Dorf, in dem wir ein Zimmer und eine Dachkammer hatten.
Das Haus gehörte den Eltern meines Vaters. Einmal nahm mich meine Mutter mit in die
Stadt, zur Sparkasse. An einem Schalter bezahlte sie drei Mark. Der Mann am Schalter
lächelte auf mich herab und sagte, ich wäre nun ein reicher Mann. Dann gab er meiner
Mutter das Sparbuch. Sie zeigte mir meinen Namen auf der ersten Seite. Als wir gingen,
sah ich, wie ein Mann neben uns einen dicken Packen Geldscheine sich in die
Jackentasche stopfte. Meine Großmutter stand in der Küche am Herd, als ich ihr das
Sparbuch zeigte. Sie las die Summe und lachte. Drei Mark, sagte sie und warf ein großes
Stück Butter in die Bratpfanne. Sie stellte die Pfanne auf den Herd. Ja, sagte ich und sah
zu, wie die Butter zerging. Sie schnitt ein zweites kleineres Stück Butter ab und tat es
dazu. Weil mein Vater gegen Hitler sei, müsste ich Margarine essen. Sie nahm aus einem
Topf Kartoffeln, schnitt sie in Scheiben und ließ sie in das siedende Fett fallen. Auf das
Sparbuch, das ich in der Hand hielt, kam ein Spritzer. Sie würde keine Margarine essen,
sagte sie und: Hitler gibt uns Butter. Sie hatte fünf Söhne. Die drei jüngsten fielen an der
Wolga, in Hitlers Krieg um Öl und Weizen. Ich war dabei, als sie die erste Todesnachricht
empfing. Ich hörte sie schreien. (W 2 83)
Der kurze Text aus der Erzählung DER VATER verhält sich in seiner ebenso knappen,
präzisen wie plastischen Sprache wie das Treatment zu einem Drehbuch, mithin als
Handlungsablauf mit hohem dramatischen Potenzial. In wenigen Szenen wird mit einfachen
Mitteln der Konflikt aufgebaut. In dieser Form kennt der Text keine Vorhänge oder Schnitte.
Er ist aus einem Guss, nicht ein Absatz lädt zum verschnaufen ein. Im Schlusssatz die
Katastrophe, medialisiert als Schrei in den Ohren des Erzählers. Der Ablauf ist zwangsläufig,
ohne Alternative: tragisch. Der Text ist klar strukturiert. Die Exposition schildert die
Ausgangssituation einer Familie, die ökonomisch ausgeblutet im Haus der Eltern des
119
arbeitslosen Vaters Asyl gefunden hat. Als Näherin ist die Mutter zugleich Ernährerin. Die
engen Verhältnisse sind als Mikrokosmos in einen größeren, ökonomisch besser gestellten
Haushalt integriert, wodurch die ökonomischen Widersprüche klar zutage treten (»Butter« –
»Margarine«). Dieser Widerspruch wiederholt sich in der Sparkasse, einem Ort an dem sich
der asketische Zwang, »Drei Mark« zu sparen, mit dem Hedonismus eines Mannes
konfrontiert sieht, der sich die Taschen mit Geld voll stopft, um zu konsumieren. Die
Sparkasse ist ein komplexerer Haushalt, in dem es keine Zimmer oder Dachkammern gibt,
sondern lediglich Schalter und Sparbücher. Das »Sparbuch« mit dem »Namen auf der ersten
Seite« verknüpft die ökonomische Niedergeschlagenheit wie ein Brandzeichen mit der
Identität des Erzählers. Das Herablächeln des Sparkassenbeamten auf den Neukunden ist das
Zähnefletschen des Wolfes vor der Zerreißung des Lammes. Es besiegelt einen Vertrag, der
die Gewaltverhältnisse kapitalistischer Ökonomie ein für allemal festschreiben will. Die
Verlachung durch den Sparkassenbeamten findet ihr Echo im Lachen der Großmutter, als der
Enkel ihr das Sparbuch zeigt. Ihr Standort ist der Herd, das Herz des Haushalts, der Ort des
gebändigten Feuers, Geburtsstätte der Kultur. Zugleich ist er Altar und somit Opferstein. (In
den Verbrennungsanlagen der deutschen Vernichtungslager hat dieses kulturelle Paradigma
seine Entsprechung.) Ein »großes Stück Butter«, dass dann noch um die Zinsen (»ein zweites
kleineres Stück Butter«) vermehrt wird, führt dem Margarine essenden Enkel seine
Schäbigkeit vor Augen. Noch der unschöne Fettspritzer auf seinem Sparbuch ist ein Abglanz
des für ihn Unerreichbaren. Seine Schuld ist ererbt (»Weil mein Vater gegen Hitler sei,
müsste ich Margarine essen«), sich ihrer zu entledigen steht nicht in seiner Macht.
Währenddessen vermehren die rechtgläubigen Söhne der Großmutter mit militärischen
Mitteln den Reichtum des Staatshaushaltes. Doch der Hedonismus der Großmutter –
gespiegelt im Verhalten des Mannes in der Sparkasse und »Hitlers Krieg um Weizen und Öl«
– ist die Hybris, welche das trügerische ökonomische Gleichgewicht der Haushalte aus der
Balance bringt. Die Butterpreise steigen. Bezahlt wird wie in Brechts MUTTER COURAGE
mit dem Blut der eigenen Kinder. Die Tragödie hat stattgefunden. Als Schrei hallt sie in den
Ohren des Enkels nach (»Ich hörte sie schreien.«). Der Vorhang bleibt offen.
Obschon der Schrei der Großmutter im Textkorpus von KRIEG OHNE SCHLACHT keinen
Widerhall findet, spielt er als intertextuelle Referenz eine Rolle. Der Blick auf den frühen
Text macht deutlich, dass Müllers Autobiografie auf Vorläufertexte angewiesen ist, die alle
späteren Texte als Umschriften oder Palimpseste erscheinen lassen. Wenn in KRIEG OHNE
SCHLACHT, wie im Fall der Großmutter, nur noch Splitter eines Stoffes Verwendung
finden, ist das auf eine Technik der Skelettierung zurückzuführen: »Ich glaube, mein stärkster
Impuls ist der, Dinge bis auf ihr Skelett zu reduzieren, ihr Fleisch und ihre Oberfläche
herunterzureißen. Dann ist man mit ihnen fertig.« (GI 1 102) Gemeint ist damit nicht die
Reduzierung des Gehalts, sondern die Freilegung einer Struktur. Für das Verständnis des
Textes bleibt die Kenntnisnahme der frühen Texte deshalb unbedingte Voraussetzung.
Die Großeltern mütterlicherseits werden im Rekurs auf einen anderen literarischen
Vorläufertext eingeführt, der im Endnotenapparat des Textes KRIEG OHNE SCHLACHT
explizit ausgewiesen ist. Es handelt sich dabei ebenfalls um eine Erzählung aus den frühen
fünfziger Jahren mit dem Titel BERICHT VOM GROSSVATER. Auf eine Charakterisierung
der Eppendorfer Großmutter wird in KRIEG OHNE SCHLACHT verzichtet. Der Ansatz
einer allerdings sehr pauschalen Charakterisierung der Eppendorfer Großmutter findet sich im
Manuskript der Arbeitsfassung: »Wenn nicht zur Mutter, dann hat man ja oft zu den
120
Großmüttern ein Verhältnis. Aber zu meinen Großmüttern hatte ich nie so etwas, die eine
wollte mich nicht, und die andere war mir fremd. Sie war so ein bisschen wehleidig, ein
bisschen unfähig, Emotionen zu äußern. Das lief über Versorgung, Zuständigkeit, mehr war
da nicht.« (HMA 4487, 258) Im Drucktext der Autobiografie wird lediglich das Umfeld der
sozialen Herkunft der Großmutter mütterlicherseits erwähnt, das dafür umso wichtiger
erscheint. 440 »Meine Mutter ist in Eppendorf geboren. Die Mutter meiner Mutter war die
Tochter eines reichen Bauern aus einem Dorf weiter oben im Erzgebirge. Die Familie war
sehr verzweigt, Bauern, sehr reich, berühmt als Brandstifter. Sie haben aus
Versicherungsgründen einander die Höfe angezündet, wahrscheinlich auch aus Hass. […]
Dagegen war der Vater meiner Mutter unterste soziale Schicht, sein Vater früh gestorben,
seine Mutter Näherin. Davon ernährte sie die Kinder. Irgendwann ist sie krank geworden,
erblindet bei der Arbeit. Mein Großvater, damals dreizehn Jahre alt, hat sie gepflegt. Die
Familie der Großmutter konnte ihn nicht akzeptieren, die Großmutter wurde enterbt. Meine
Mutter erzählt die Geschichte vom Salzhering. Ein Hering wird an der Stubendecke
aufgehängt, und alle dürfen daran lecken. Armut war ihre Grunderfahrung, Armut bis zum
Hunger, besonders im Ersten Weltkrieg.« (KOS 14) Wird die Familie des Vaters als intakte,
matriarchalisch geprägte Konstruktion vorgeführt, spiegelt die Herkunft mütterlicherseits eine
Folge von Leid, Verlust und gesellschaftlichen Ressentiments. Die Unterbrechung der
Erbfolge (»die Großmutter wurde enterbt«) wird in der Schrift Heiner Müllers aufgehoben.
Seine Texte tradieren das Erbe als sich fortschreibendes Dilemma. Clanfehden und
Familienkonflikte nehmen im Werk Müllers eine exponierte Stellung ein. Auch von
(geistiger) Brandstiftung ist in Gesprächen bei immer wieder die Rede: »Mein Hauptimpuls
bei der Arbeit ist die Zerstörung. Also anderen Leuten das Spielzeug kaputt machen. Ich
glaube an die Notwendigkeit von negativen Impulsen.« (GI 1 124) Die Erweiterung der
rationalen Beweggründe (»aus Versicherungsgründen«) durch den »Hass« entspringt Müllers
Intention, die archaischen Wurzeln der von ihm aufgerufenen Konflikte bloßzulegen. Mit der
Anlehnung an eine märchenhafte Motivik in der Formulierung »… die Tochter eines reichen
Bauern aus einem Dorf weiter oben im Erzgebirge« spielt auf diese Archaik explizit an. Wird
auf den folgenden Buchseiten näher auf den reichen Schatz der Sagen und des Volksglaubens in
Sachsen eingegangen (s. a. KOS 17f.), scheint hier eine Grundkonstellation des Grimmschen
Märchens aufgegriffen und in ihr Gegenteil gewendet. Das Heringsmotiv aus der Erzählung der
Mutter lässt an das Märchen DIE GOLDKINDER denken, in dem ein armer Fischer einen
goldenen Fisch fängt, der ihm unverhofften Reichtum beschert. »Es war ein armer Mann und
eine arme Frau, die hatten nichts als eine kleine Hütte und nährten sich vom Fischfang, und es
ging bei ihnen von der Hand in den Mund.« 441 Es spricht von tiefer Ironie, dass das
Angelmotiv bei Müller umgekehrt wird. Der Fisch ködert die Menschen. Die Leine legt die
Familie an die Kette. Sie steht für die Lohnabhängigkeit des Ernährers, der seine Arbeitskraft
im kapitalistischen Produktionsprozess zu reproduzieren gezwungen ist. Der Reichtum
verbleibt im Erzgebirge. Es kam nicht dazu, dass »des Fischers Frau zwei Kinder gebar, die
440
Weitere Erwähnung findet die Eppendorfer Großmutter im Zusammenhang mit der ersten
Kindheitserinnerung des Autors. Wie a. a. O. bereits ausgeführt, findet hier eine poetologische
Umbesetzung statt. Der Gang mit der Großmutter auf den Friedhof bildet nur noch den Rahmen eines
Entwurfs poetischer Erinnerungsgeneration per se (s. a. meine Ausführungen im Kapitel »1.2. Die
Tonbandabschriften« im zweiten Teil dieser Arbeit).
441
Grimm 1969, 291
121
ganz golden waren.« 442 Der Kindersegen bleibt im Gegenteil eine ökonomische Belastung für
den Haushalt, insbesondere in den Kriegsjahren und der sich anschließenden Inflationszeit. Das
Paradigma entspricht der Konstellation des Märchens von HÄNSEL UND GRETEL: »Vor
einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern;
das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen,
und einmal, als eine große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das tägliche Brot nicht
mehr schaffen.« 443 In GERMANIA 3 GESPENSTER AM TOTEN MANN, das nur wenige
Jahre nach KRIEG OHNE SCHLACHT entstand und zum Teil auf das gleiche Material
zurückgreift wie die Autobiografie, findet sich eine Collage von Märchentiteln, die für eine
intensive Auseinandersetzung Müllers mit den Märchen Grimms als Paradigma der
Katastrophen jüngerer deutscher Geschichte sprechen (s. a. W 5 296).
Geschichte und Vorgeschichte der ›zwei armen Leute‹ beziehen sich darüber hinaus auf eine
entsprechende Passage im BERICHT VOM GROSSVATER. »Sein Vater starb früh. […] Die
Mutter, mit dem Kind allein, brachte ein Jahrzehnt an der Nähmaschine hin, bei schlechtem
Licht Hemden nähend, so dass sie […] ganz zuletzt das Licht nicht mehr sah. […] Mein
Großvater sorgte für die Blinde wie für ein Kind, bis in sein vierzehntes Jahr. Dann starb sie.
[…] Seine Frau war die Tochter eines reichen Bauern, brachte aber in die Ehe nichts mit, weil
der Bauer gegen die niedrige Verbindung etwas hatte. […] Meine Mutter gebraucht, wenn die
Rede auf ihre Kindheit kommt, gern das Gleichnis vom Salzhering. Er hängt an der
Stubendecke an einer langen Schnur tief herab. Er muss immer eine Woche vorhalten. Er wird
nur am Lohntag erneuert. Dreimal täglich zieht die Prozession der Esser, ›jeder ein Bisschen‹,
an ihm vorbei.« (W 2 7f.) Wie der Blick auf den frühen Text zeigt, ist eine Vielzahl der in
KRIEG OHNE SCHLACHT aufgegriffenen Motive literarisch bereits vorgeprägt. Die Quelle
wird in Müllers Autobiografie explizit ausgewiesen und gibt sich so als Zitat und Referenz an
diesen Prä-Text zu erkennen: »Die Geschichte meines Großvaters, des Vaters meiner Mutter,
habe ich aufgeschrieben später erst die meines Vaters.« (KOS 15) Die Beweggründe für den
ausdrücklichen Verweis auf die frühen Texte liefert ein Reflexionsteil, in dem zugleich eine
grundsätzliche Problematisierung der literarischen Überformung von Erinnerung erfolgt. Auf
die Frage, »Wie verhalten sich diese Texte zur ›Wirklichkeit‹?«, antwortet der Erzähler: »Wie
Literatur. Als ich das erste Mal in den USA war, sah ich auf dem Flug von New York nach
Dallas/Texas beim Überfliegen eines größeren Sees einen Ölfleck auf dem Wasser, und mir
fiel zum ersten Mal wieder dieser Großvater ein, den ich im Schlussteil der Geschichte
abgeurteilt habe. Könnte man in ein Gespräch mit den Toten kommen, mit ihm würde ich
gern reden, auch mit meinem Vater. Oder die Texte noch einmal schreiben, anders, wenn
dafür die Zeit ist. […] Wenn ich meinen Text über ihn jetzt lese, dann ist der natürlich aus
meiner Identifikation mit der neuen Ordnung geschrieben, die Askese brauchte, Opfer
brauchte, damit sie funktionieren konnte. Und das ist das Grundproblem: Die Opfer sind
gebracht worden, aber sie haben sich nicht gelohnt. Es ist nur Lebenszeit verbraucht worden.
Diese Generationen sind um ihr Leben betrogen worden, um die Erfüllung ihrer Wünsche. Für
ein Ziel, das illusionär war. Eigentlich habe ich diese Geschichte über den Großvater mit einer
Funktionärshaltung geschrieben und deswegen jetzt das Bedürfnis nach einem Gespräch mit
ihm, um mich dafür zu entschuldigen.« (KOS 15f.) Die Reflexion wird dramaturgisch
442
Grimm 1969, 292
443
Grimm 1969, 80
122
motiviert durch die erste Zwischenfrage des fiktiven Gesprächspartners, die auf das
Verhältnis der frühen Texte zur »Wirklichkeit« zielt. Doch der knappen, scheinbar
unhintergehbaren Antwort (»Wie Literatur.«) folgt eine zunächst befremdliche Assoziation:
Die Genese eines anderen Erinnerns aus der Vogelperspektive des Flugzeugs über dem
nordamerikanischen Kontinent. Dass die Erinnerungsspuren ausgerechnet beim Anblick eines
»Ölflecks auf dem Wasser« eine Neubewertung erfahren, ergibt sich aus der doppelten
Losgelöstheit von der eigenen »Wirklichkeit«, die zum einen durch den Aufenthalt in großer
Distanz zur ursprünglichen Lebenswelt (»USA«), zum anderen durch die Entfernung vom
Boden der Tatsachen (»Flug«) markiert ist. Diese Distanz erlaubt eine Revision sowohl der
frühen subjektiven Erfahrungen als auch ihrer bewussten Indienstnahme durch eine nunmehr
ebenfalls als historisch erkannte Perspektive des Textes, die den Großvater ›aburteilen‹
musste, um ihn einem gesellschaftlichen Wunschbild einstellen zu können. Sichtbar wird der
– lange Zeit unter der Oberfläche der Literatur verborgene – »Rest / Der nicht aufging« (W 4
85) als »Ölfleck«, der nun ins Licht des Bewusstseins dringt.
Eine Relativierung erfuhr der Großvatertext bereits anlässlich seiner Aufnahme in die
Rotbuch-Edition (GESCHICHTEN AUS DER PRODUKTION 1, 1974). Dort sind der
Erzählung vier Verse vorangestellt, die die späte Perspektivänderung der
Figurenbeschreibung bereits vorwegnehmen: »In Julinächten mit schwacher Gravitation /
Wenn der Friedhof über die Mauer tritt / Kommt der tote Schuhflicker zu mir / Der Großvater
der vielgeprügelte Alte« (W 2 7) Aus dem Eingeständnis der ideologisch motivierten
Verurteilung erwächst das Bedürfnis, in ein »Gespräch mit den Toten« zu kommen,
beziehungsweise die Urteile über Großvater – und Vater (der in dem Text DER VATER des
politischen Versagens für schuldig befunden wurde) – in einem neuen (Schreib-)Prozess zu
revidieren. Da die frühen Texte zwar Anlass einer späteren Neubewertung sein können,
jedoch nicht auslöschbar sind, müssen die Umschriften (»noch einmal schreiben«) notwendig
Überschreibungen bleiben, Palimpseste. Die Konstruktion des Palimpsests unterläuft ein
Denken des ›Ursprungs‹ von Texten. 444 Wenn die Frage nach einem Ursprung, also nach
›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹, keine Rolle mehr spielt, tritt die Problematik der
Ungerechtigkeit, letztlich Unzulänglichkeit menschlichen Erinnerns gegenüber dem
erinnerten Gegenstand in den Hintergrund, weil jedem Text die Möglichkeit der
Überschreibung inhärent ist. »Mit der Beendigung des Textes ist dann jede Erinnerung an die
Fakten ausgelöscht.« (KOS 47) Das Interesse richtet sich dann nicht auf die ›andere
Wahrheit‹, sondern auf die Verunreinigungen und Verunsicherungen in der
Selbstwahrnehmung, die Suche nach den Ölflecken auf der Oberfläche des Bewusstseins und
444
»Die Lektüre setzt einen Entzifferungsprozess in Gang, der jede tropologische Schicht abträgt, um zum
originären Text-Ort vorzudringen, der sich entzieht. Die intertextuelle und intertextualisierende Lektüre
treibt den Referenten aus, indem sie den Text auf einen Abgrund/Ungrund von Prätexten zutreibt: Die reine,
wahre, verdeckte Urschrift bleibt freilich immer verborgen, sie ist immer schon mit den darauf ruhenden
Schriften verknüpft. Die Entzifferungsarbeit ist keine eines Abtragens, das den Ursprungstextort freilegen
würde, vielmehr bilden die Schichten eine Textur, deren Lektüre die Tilgung einzelner Schichten verbietet.
Die Metapher des Palimpsests scheint dies zu beschreiben: die Schreibfläche (der Kultur) wird für immer
neue Texte verwendet, nachdem die bereits eingetragenen Zeichen weggekratzt, abgeschabt worden sind.
Das Wegkratzen und Abschaben aber ist kein Löschen; ältere Zeichen treten zwischen den neueren und
neuesten hervor, als zerstückelte Textteile, Fragmente eines als ganzen Entzogenen. Den Intertext-
Entzifferer interessiert sowohl das Zusammenspiel der Fragmente, die Rekonstruktion der jeweiligen
Textensembles, denen sie angehört haben mochten, als auch der Parcours durch die Schichten, die
Exploration der Grund- und Bodenlosigkeit der Schreibfläche.« (Lachmann 1990, 49)
123
um die Schaffung von (fiktiven) Perspektiven, die deren Entdeckung ermöglichen, etwa im
»Gespräch mit den Toten«. Heiner Müller zufolge kann die Kunst selbst diese Perspektive
nicht eröffnen, denn »Literatur frisst das Leben auf, nicht nur das eigene, auch anderes
Leben« (HMA 4487, 8). Es ist ihr lediglich möglich den Traum eines anderen Ablaufs am
Leben zu erhalten, auf ihn zu verweisen, ohne selbst eine Vorstellung davon zu geben, wie
dieser andere Ablauf beschaffen sein könnte. Die Umstände der späten Wiederaufnahme des
Vater-Komplexes in dem von Frank Hörnigk herausgegebenen Text [Im Herbst 197.. starb
…] dürften als Konsequenz aus dieser Einsicht gelesen werden: als bewusst unpubliziertes,
(nicht mehr synthetisches) Fragment, als »Gespräch mit den Toten«.
Neben der Figur des Vaters nimmt die Erinnerung an den Großvater mütterlicherseits im
ersten Kapitel der Autobiografie den breitesten Raum ein. Möglicherweise ist dies ein
Hinweis auf das zum Ausdruck gebrachte Sühnebedürfnis des Erzählers. Die Begegnungen
mit diesem Großvater sind der Alltagswelt enthoben, sie finden in den Schulferien statt (»Ich
war in den Ferien oft bei ihm«, KOS 16). Auch das mentale Umfeld bildet einen Kontrast zur
Familie des Vaters. Dabei bildet die politische Gesinnung des Großvaters ein Pendant sowohl
zum primitiven weltanschaulichen Ethos der Großmutter väterlicherseits als auch zum
linkssozialistischen Radikalismus des Vaters, der infolge seiner politischen Überzeugungen
sogar verhaftet wird. »Dieser Großvater war sozialdemokratisch erzogen, er war
Sozialdemokrat auf eine ganz unintellektuelle Weise. […] Er war still und bescheiden, nie hat
er Heil Hitler gesagt, weder auf der Straße noch sonst wo. Er war unauffällig, man kannte ihn
im Dorf. Er trank gern Baldrian, Schnaps war zu teuer. Er hatte immer eine Flasche davon bei
sich. Oft ging er mit mir Pilze suchen. Die waren ein Hauptnahrungsmittel, sie kosteten
nichts.« (KOS 16f.) Die Charakterisierung des Großvaters ist trotz des versöhnlichen
Grundtones der Schilderung ambivalent. So bleibt etwa offen, ob die Verweigerung des
Hitlergrußes der politischen Überzeugung des Großvaters geschuldet ist oder seiner
Einsilbigkeit. Auch die vermeintliche Unauffälligkeit steht im Widerspruch zu seinem
Bekanntheitsgrad im Dorf. Im frühen BERICHT VOM GROSSVATER erfuhren diese
Eigenschaften des Großvaters noch eine eindeutige Bewertung: »Er stand sich gut mit den
›Besseren‹. Besser, das hieß: kein Arbeiter. Die Unternehmer am Ort, durchweg
volksverbunden, ließen sich gern auf der Straße sehen, im Gespräch mit einfachen Leuten,
besonders mit älteren.« (W 2 8) Diese Begründung wird im Kontext von KRIEG OHNE
SCHLACHT zugunsten des Großvaters zurückgenommen. Die Charakteristika »still und
bescheiden« scheinen hier eher auf eine fatalistische Haltung zu verweisen, die der Autor als
Erbe des Großvaters in sich trägt. In einer Nachlassnotiz aus dem Entstehungszusammenhang
wird auf dieses Erbe, das der Autor der frühen Erzählung noch von sich weist, explizit
verwiesen: »Ich war nie zielstrebig, Umwege bedeuten einen Zuwachs an Erfahrung. Alles
aufsammeln, alles mitnehmen, was am Weg liegt, der Weg ist das Ziel. Die Passivität meines
Großvaters, seine Lebensformel: Alles hat sein Gutes.« (HMA 4476) Ebenso wie eine
moralische Bewertung der großväterlichen Eigenschaften »still und bescheiden« fehlen in
KRIEG OHNE SCHLACHT die Hinweise auf jene Kritik des Großvaters am Verhalten des
Vaters, der sich offen gegen die politische Neuordnung wendet und dafür ins Gefängnis muss:
»… warum hält er den Mund nicht, man muss den Mund halten, es wird verlangt.« (W 2 9) In
verstärktem Maße hingegen werden dem Großvater Merkmale des Asozialen,
beziehungsweise Abenteurers/Landstreichers zugeschrieben, der sich auf ausgedehnte
Wanderungen begibt und sein Brot nicht verdient, sondern Pilze sammelt, seine Existenz
124
folglich jenseits kapitalistischer Abhängigkeitsverhältnisse bestreitet. Entsprechend ist der
Alkoholkonsum dieses Großvaters demjenigen des anderen Großvaters funktional deutlich
entgegengesetzt. War für den Bräunsdorfer Großvater der Biergenuss Teil eines in der
Öffentlichkeit vollzogenen patriotischen und mithin Gemeinschaft stiftenden Rituals
(»Turnverein« / »Kneipe«), kehrt der Eppendorfer Großvater der nationalistischen
Gemeinschaft trinkend den Rücken zu. Stattdessen suchen – angezogen vom Duft des
Baldrians – die Katzen seine Nähe. 445
Die Sicht auf den Großvater scheint zumindest skizzenhaft von den Abenteuerromanen
geprägt zu sein, die Müller angibt, in seiner frühen Jugend gelesen zu haben. 446 Zwar ist die
Figur des Großvaters in KRIEG OHNE SCHLACHT weit entfernt von dem vitalistischen
Heroismus eines Johann Ludwig Wetzel, die Müller stark beeindruckte 447 , dennoch scheint
sie auf den Enkel eine gewisse Faszination auszuüben, wie es die Passage aus einer früheren
Textfassung vielleicht noch deutlicher macht: »Er ging oft mit mir Pilze suchen, also
Riesenspaziergänge durch die Wälder. Einmal war auf dem Weg eine Kreuzotter. Die kam
auch hoch. Da habe ich ihn sehr bewundert. Ein Spazierstock war dabei, ein Knotenstock.
Damit hat er die Kreuzotter erschlagen. Das fand ich absolut heldenhaft, weil die ging nicht
weg. Er hat sie nicht von sich aus erschlagen, die blieb in der Mitte des Weges und wir
mussten da vorbei.« (TA 9) Die Existenz sichernde Funktion der Nahrungssuche wird hier
gänzlich in den Hintergrund gedrängt. Sie stellt lediglich den Anlass für das Durchstreifen
eines Bereiches jenseits der (politisch korrumpierten) Zivilisation dar. Dennoch spiegelt
gerade die Wildnis die Gefahren jener Zivilisation metaphorisch wider und erweist sich somit
als Kunstraum. Das Auftauchen der angriffslustigen Schlange verwandelt den Spazierstock
des Großvaters, dessen Schutz der Enkel anvertraut ist, in eine tödliche Waffe. 448 Ungeachtet
der Gefahren und Verführungen der Welt zieht der Großvater seiner Wege. Das Motiv der
Verführung im Bild der Schlange verweist wiederum in doppelter Hinsicht auf die Figur des
Bräunsdorfer Großvaters. Der nämlich widerstand weder den Verführungen des Eros, was ihn
später zum Meineid zwang (s. a. KOS 13), noch dem Heilsversprechen des Führers, dem er
seine Söhne opferte. Die Verweigerungshaltung des Eppendorfer Großvaters gegenüber dem
technischen Fortschritt, begründet einerseits in seiner materiellen Armut, die andererseits als
Emanzipation von den Zwängen des Marktes auf seine gesellschaftlich-politische
Unabhängigkeit verweist, bringt schließlich den Enkel gegen ihn auf. »Einmal hatte ich einen
445
»Er hatte eigentlich nur zwei Laster. Er priemte und trank Baldrian. Davon war er dann immer blau.
Schnaps nie, aber Baldrian. Auch unterwegs. Ich ging oft mit ihm Pilze sammeln. Da hatte er auch seine
Baldrianflasche dabei. Das hatte einmal die Folge, dass alle Katzen hinter ihm herliefen und er war ständig
ein bisschen blau.« (TA 29) – »Mein Großvater, der Baldriantrinker, hatte noch ein Laster, er priemte. Er
priemte und trank Baldrian, auch unterwegs. Das hatte zur Folge, dass alle Katzen hinter ihm herliefen.«
(HMA 4487, 22)
446
s. a. Thomas Kramer: Heiner Müller am Marterpfahl. Bielefeld 2006
447
Wetzel ist der Protagonist in Friedrich von Gagerns Erzählung DER MARTERPFAHL (Leipzig 1925).
»Heiner Müller nannte die Erzählung DER MARTERPFAHL sein Lieblingsbuch. Er hatte als Jugendlicher
von Gagerns Indianerbücher gelesen und bezeichnete sie als einen Schlüssel zur von ihm verwendeten
Sprache. In seinen späten Gesprächen kommt er auf deren Motive zurück und benutzt sie als Metaphern
zum Nachdenken über deutsche Geschichte. Ganze Passagen aus dem MARTERPFAHL konnte Müller
auswendig vortragen. Zu seinem letzten Geburtstag wünschte er sich, das längst vergriffene Buch
wiederzufinden und die Geschichte von Martin Wuttke vorgelesen zu bekommen.« (In: Gagern 2005, 64)
448
In dem aus dem Nachlass publizierten Prosafragment [Im Herbst 197.. starb …] taucht diese Episode in
einem Reigen von Tierbildern wieder auf: »… die Kreuzotter, die mein Großvater mit seinem Wanderstock
erschlug, als sie auf einem Waldweg vor uns aufstand …« (W 2 181)
125
wilden Streit mit ihm. Wir suchten Pilze in der Nähe von Augustusburg, immer zu Fuß. In
Augustusburg gab es eine Drahtseilbahn zur Burg. Mich interessierte natürlich die
Drahtseilbahn, ich wollte damit fahren. Er hatte kein Geld, aber das hat er mir nicht gesagt,
nur, wie unmännlich das wäre, mit der Bahn zu fahren. Er blähte das zu einem großen
moralischen Problem auf, und wir haben uns darüber sehr gestritten. Er hatte kein Geld und
konnte das nicht zugeben, deswegen musste er daraus eine Ehrensache machen. Dann sind wir
gelaufen. Es dauerte ziemlich lange.« (KOS 17) Die blinde Begeisterung des
Heranwachsenden für die technische Möglichkeit der Überwindung des Anstiegs, lässt den
zahlungsunfähigen Großvater-Sisyphos in eine Position der Schwäche geraten. Indem er dem
Enkel den wahren Grund seiner Ablehnung vorenthält, wird sein Heroismus für den Enkel
unglaubwürdig – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die Passage seiner heldenhaften
Abwehr der Schlange keine Aufnahme in den Drucktext fand.
Eine zeitversetzte Rache erfährt das unaufrichtige Verhalten des Großvaters gegenüber dem
enttäuschten Enkel in der moralisierenden Schlusswendung des Prosastücks BERICHT VOM
GROSSVATER. »Nach dem zweiten Weltkrieg, in den ersten Monaten der Not, geschah das
Unfassbare: mein Großvater, sein Leben lang geduldiges Zugtier, verlor, als es zu Ende ging,
die Geduld. […] Ich war immer ein guter Arbeiter, sagte er damals oft, da muss es mir doch
gut gehen jetzt, im Arbeiterstaat. Er verstand nicht, dass Geduld nötig war, um die Folgen der
Geduld zu beseitigen. Zu viele hatten zu vieles zu lange geduldet. / Ich sehe ihn noch, mit
seinem faltigen Kindergesicht, sinnlos zufrieden, später, als es zu Ende ging, erstarrend zu der
mürrischen Grimasse eines abgeschminkten Spaßmachers, ihn, meinen Großvater,
sächsischen Arbeiter, gestorben 1946, fünfundsiebzig Jahre alt, ungeduldig, an den Folgen der
Geduld.« (W 2 9f.) Am Ende seines Lebens wollte der Dichter diese Zeilen relativiert wissen.
Der lange und beschwerliche Anstieg nach der Augustusburg ist auch ihm zum Ziel des
Weges geworden. Die Perspektive gesellschaftlicher Umwälzung in geschichtlich sinnvollen
Dimensionen hat sich zerschlagen. »Die Opfer sind gebracht worden, aber sie haben sich
nicht gelohnt. Es ist nur Lebenszeit verbraucht worden.« Bereits in den siebziger Jahren galt
die resignative Einsicht aus Sicht des Erbeverwalters Hamlet: »Die Hähne sind geschlachtet.
Der Morgen findet nicht mehr statt.« (W 4 546) Vermutlich schien dem Autor die Position
des gestürzten Brückenbauers mittlerweile doch realistischer (»… im Ersten Weltkrieg fand
mein Großvater Arbeit beim Brückenbau. Nach einem Arbeitsunfall, Sturz vom Gerüst in das
steinige Bett des wasserarmen Flusses, wurde er wieder entlassen«, W 2 8), als jene der Figur
Barka aus seinem Mitte der sechziger Jahre entstandenen Stück DER BAU (»Mein
Lebenslauf ist Brückenbau. Ich bin / Der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune«, W 3 393).
Der Generierung der ersten frühkindlichen Erinnerungen, deren Beschreibung zugleich die
Begründung des Gedächtnisses als Modell ästhetischer Überformung liefert 449 , folgt ein
ausführlicher Abschnitt über das Verhältnis des Erzählers zur Figur des Vaters. Der Vater
spielt im Werk Heiner Müllers eine Schlüsselrolle, was sicherlich der auch mit KRIEG
OHNE SCHLACHT nicht abgeschlossenen obsessiven Bearbeitung der frühen
Traumatisierung geschuldet ist, die nur im Rückblick und nur als literarischer Text zur
Verfügung steht. »Es geht dabei, glaube ich, weniger um den Vater als um das Bild des
Vaters, was einem gegenübergestellt wird. Das Vaterbild ist das Verhängnis.« (GI 2 26) Die
449
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »1.2. Die Tonbandabschriften« im zweiten Teil der vorliegenden
Arbeit
126
Äußerung bezieht sich auf die Vaterproblematik in Müllers Hamletbearbeitungen 450 , scheint
jedoch ausschlaggebend für die Konzeption von Vaterfiguren im Werk Müllers überhaupt.
Dass sich der Fokus des Interesses nicht auf den Vater selbst richtet, sondern auf das »Bild«,
das die Erinnerung vom Vater erzeugt, macht bereits die »erste Szene [des] Theaters« (GI 1
90) von Heiner Müller überdeutlich, die im Text der Autobiografie erneut aufgerufen wird:
»Dann die Verhaftung meines Vaters, 1933, und im wesentlichen war das schon so, wie ich es
aufgeschrieben habe. Ich hatte ein kleines Extrazimmer, lag da im Bett, es war morgens,
ziemlich früh, fünf, sechs Uhr. Ich wurde wach, Stimmen und Gepolter nebenan. Sie
schmissen Bücher auf den Boden, säuberten die Bibliothek von linker Literatur. Ich sah
durchs Schlüsselloch, dass sie meinen Vater schlugen. Sie waren in SA-Uniformen, meine
Mutter stand daneben. Ich habe mich wieder ins Bett gelegt und die Augen zugemacht. Dann
standen sie in der Tür. Ich sah blinzelnd nur den Schatten der beiden etwas kräftigeren SA-
Männer, dazwischen klein den Schatten meines Vaters, und habe mich schlafend gestellt,
auch als mein Vater meinen Namen rief.« (KOS 18f.) Die Schilderung der Verhaftung des
Vaters geht zurück auf die hier explizit ausgewiesene und im Endnotenapparat verzeichnete
frühe Erzählung DER VATER. Sie ist damit lesbar als Zitat und Übermalung dieser und
späterer Bearbeitungen des Materials 451 . Die wesentlichen Abweichungen gegenüber anderen
Textfassungen in unterschiedlichen Kontexten sind geringfügig, alle Elemente der
Nacherzählung in KRIEG OHNE SCHLACHT sind in den früheren Fassungen angelegt. Die
Ausgangslage ist in allen Versionen die gleiche: Dem Erwachen im (noch) dunklen Zimmer
folgt die akustische Wahrnehmung der anrückenden SA-Männer und der folgenden
Hausdurchsuchung. Nur die wenig versöhnliche Auflösung fehlt in der oben zitierten
Episode, die Auslöschung des Blicks und seine Rücküberführung in die Geräuschkulisse: »Ich
hörte, wie sie ihn wegführten, dann den kurzen Schritt meiner Mutter, die allein zurückkam.«
(W 2 79) Dazwischen liegt in allen Fassungen die entscheidende dramatische Zuspitzung des
Vater-Sohn-Konfliktes: der verbotene Blick durchs Schlüsselloch/durch den Türspalt und die
Verweigerung einer Antwort auf den Anruf des (erniedrigten) Vaters. Die oben zitierte
Fassung aus KRIEG OHNE SCHLACHT ist die einzige, die diesen Konflikt nicht retardiert.
Selbst in einer vermutlich späteren Bearbeitung wird die Mutter wieder eingeführt, deren
Rückkehr verhindert, dass der Sohn allein zurückbleibt: »… die Schritte, auf dem Kies vor
der Haustür, die sich entfernten, die Stille im leeren Haus, bis meine Mutter zurückkam, ihr
Gesicht leer, ohne Tränen« (W 2 178). Die theatralische Aufladung des Vorgangs dient der
Beschreibung seiner Inkommensurabilität. Das Schlüsselloch ist die imaginäre vierte Wand.
Sie gibt den Blick frei auf ein Geschehen, das zu betrachten den Vierjährigen bestürzen muss:
Des Vaters Erniedrigung vor den Augen der hilflos zusehenden Mutter. Er flieht in sein Bett
und macht »die Augen zu«. Doch nun wird der Rahmen der Szene erweitert (»Dann standen
sie in der Tür«). Unter Sehzwang wird dem blinzelnden Knaben ein Schattenspiel vorgeführt,
das die Entmachtung des Vaters im Bild physischer Unterlegenheit, der vorangegangenen
Szene bestätigt. Das Blinzeln zerlegt die Silhouette im Türrahmen in eine Reihe von
Einzelbildern, die alle die gleiche Botschaft vermitteln: Der Vater ist machtlos. Sein Wort
verliert demzufolge seine Gesetzeskraft. Als Konsequenz verweigert der sich schlafend
450
DIE HAMLETMASCHINE, HAMLET (beide 1977)
451
Hingewiesen sei hier etwa auf das Verhältnis der frühen Prosafassung zu den vermutlich erst im Zuge
späterer Veröffentlichung (1977) eingefügten lyrischen Passagen oder die Modifikationen dieses Textes in
der Form des Interviews (GI 1 69–106). Zur Genese des Textes s. a. Hörnigk 1997, 445–462, insb. 445–449
127
stellende Sohn die Replik auf den Anruf des Namensgebers, der »zuerst als Kommandowort
erklingt« 452 . Die Verweigerung ist identisch mit der Aufkündigung der Sohnschaft, die in
einer früheren Version als Schuld bezeichnet wird: »Dann nahmen sie ihn mit. Es ist meine
Schuld.« (GI 1 90). Die Präsensform dieses Schuldbekenntnisses liefert einen Hinweis darauf,
dass der ›Prozess‹ gegen den Sohn, ähnlich wie bei Kafka, nicht abgeschlossen,
möglicherweise unabschließbar ist. Indem Heiner Müller die Szene in KRIEG OHNE
SCHLACHT und späteren Textes erneut aufruft, erfährt diese Annahme eine Bestätigung.
Zwei lyrische Intermedien, die in das frühe Prosastück DER VATER (vermutlich anlässlich
der Publikation) deutlich abgehoben einmontiert sind, zeigen, das Müller sein
Schuldbekenntnis durchaus ernst nahm. Sie stellen Möglichkeiten dar, das Dilemma der
Schuld produktiv zu machen, und sei es, in der im Schreibprozess stattfindenden Auslöschung
der eigenen Existenz. Zugleich sind es verspätete Antworten auf den nächtlichen Zuruf des
Vaters in einer Sprache, die dem Kind noch nicht zur Verfügung stand:
Beide »Gedichte« stellen Bilder der Differenz dar, bezeichnen Möglichkeiten jenseits der
Realisierung im hier und jetzt und arbeiten somit an der Aufhebung der bestehenden
Verhältnisse. Spielen die drei Eingangsverse des ersten Gedichts mit dem Gedanken der
Nichtexistenz, respektive Herkunftslosigkeit, die durch die dreifache Aufrufung des Namens
»Vater« allerdings gründlich unterminiert wird, zitieren die folgenden Verse eine Metapher,
die bei Müller in unterschiedlichen Kontexten von der Notwendigkeit der (Selbst-)Zerstörung
als »Preis und zugleich aussichtslose einzige Hoffnung der Revolution« 453 zeugt. Das
Offenhalten der Wunden, die Betonung der Differenzen und Widersprüche im Bild des
Grasausreißens, im Zweifelsfall ihre Produktion, erscheint als der einzige Ausweg aus dem
Kontinuum leer laufender geschichtlicher Zeit. Das zweite Gedicht eröffnet eine grundsätzlich
gegenläufige Perspektive, die ihren Gehalt in einer Verweigerungshaltung gegenüber den
Utopien zu finden scheint. Das Bild der Zerstörung, das hier anspielungsreich entworfen wird
(Spielbergs DER WEIßE HAI, Dickens’ MOBY DICK, Lautréamonts GESÄNGE DES
MALDOROR etc.), deutet auf die Zurücknahme jeglichen Anspruchs auf Emanzipation, ist
452
Michel Foucault: Der Name / Das Nein des Vaters. In: Le pauvre Holterling (Nr. 8). Blätter zur Frankfurter
Ausgabe. Basel 1988, 73–92, hier 85. Laut Deleuze/Guattari weist die Sprache generell eine
Kommandostruktur auf: »Die Grundeinheit der Sparche – die Aussage – ist der Befehl oder das Kennwort,
die Parole.« (Deleuze/Guattari 1992, 106)
453
Frank Hörnigk: 1997, 448
128
vielmehr als poetisches Vexierspiel zu verstehen, das die Kunst zum Raum eigentlicher
Existenz werden lässt.
Wurde die Verhaftung des Vaters durch die SA in der Erzählung DER VATER allein mit
seiner Tätigkeit als »Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« (W 1 79)
begründet, erfährt sie in KRIEG OHNE SCHLACHT durch die Schilderung der genaueren
Umstände eine Konkretisierung. »Der Grund der frühen Verhaftung« (KOS 19) des Vaters
wird hier zum ersten Mal preisgegeben: »Ich weiß, dass mein Vater einen Revolver hatte und
dass er und ein paar andere sich auf den bewaffneten Kampf vorbereiteten.« (ebd.) Der
Revolver wird laut Schilderung nach der Verhaftung des Vaters im Wald vergraben, mit ihm
die Hoffnung des Sohnes auf eine Rehabilitierung des Vaters als Hai. Als Konsequenz des
Versagens väterlicher Autorität in der nächtlichen »Theaterszene« wird dem Vater nicht nur
die Rolle des gestürzten Gottes zugeschrieben (»Er war in gewisser Weise tot, jedenfalls tot
als Gott, als Gottes Stellvertreter«, HMA 4487, 101), sondern auch die des seinen Sohn
verlassenden Vaters: »Warum, Vater, hast du mich verlassen?« 454 , scheint der Dichtersohn in
den leeren Himmel zu fragen. Dieses Mal ist es der Vater, der schweigt. Die Frage fällt auf
den Sohn zurück, der am Kreuz seiner Dichtung endlich verstummt.
Die sich anschließende Schilderung eines Besuchs von Mutter und Sohn im KZ, greift den
Autoritätsverlust des Vaters noch einmal auf. »Später haben wir meinen Vater im KZ besucht.
Es war eine merkwürdig kahle Landschaft, und auf dem Plateau das Lager. Wir mussten
durch das Drahtgittertor mit meinem Vater reden, er sah sehr schmal und klein aus. Ich habe
ihm Bilder gezeigt, die ich gemalt und gezeichnet hatte, und Zigarettenbilder. Meine Mutter
kam gar nicht dazu, mit ihm zu sprechen. Sie hat mir erzählt, dass ich danach im Schlaf
geredet habe: ›Spring doch über den Zaun!‹ Ich konnte nicht verstehen, dass er drin bleibt.«
(KOS 20) Wiederum wird auf die physische Unterlegenheit des Vaters rekurriert (»er sah sehr
schmal und klein aus«). 455 Der Traum des Kindes bedeutet indes einen Qualitätssprung. Das
Kind hat begonnen, sich eine Wirklichkeit zu schaffen, in welcher der Kern der Dichtung
bereits enthalten ist als Wille zur Macht.456 In dieser Wirklichkeit erscheint es nicht als
abwegig, den Vater zum Sprung »über den Zaun« aufzufordern. Noch steht dem Kind keine
Sprache zur Verfügung, seinem »Traum« Ausdruck zu verleihen. Er ist vermittelt durch die
Erzählung der Mutter, die hier in die Rolle der Mnemosyne, der Mutter der Künste, schlüpft.
Nicht zufällig folgt auf die entsprechende Schilderung des KZ-Besuchs im Text DER VATER
das oben zitierte Hai-Gedicht. In einer früheren Textfassung der Autobiografie wird der
Phänotyp des Vaters in zwei durchaus potenten Vaterfiguren vorgeführt: »Ich habe übrigens
454
In Matthäus 27, 47 heißt es: »Um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Zitat nach Luther)
455
Im Gespräch mit Wolfgang Schivelbusch bezeichnet Müller diese Schlüsselszene als erste Gewalterfahrung:
»… so eine meiner ersten Erinnerungen ist, dass ich mit meiner Mutter zusammen, wir haben meinen Vater
besucht, er war im KZ, und da gab es noch, 34 war das, da konnte man noch so besuchen und, d. h. bis zum
Lagertor, und er stand auf der anderen Seite, und ich konnte [nicht] verarbeiten, dass er da einfach auf der
anderen Seite stehen bleibt und nicht über den Zaun springt oder irgendwas, dass der da drinnen bleibt, war
für mich unerklärlich, und das war das erste Erlebnis von Gewalt.« (W 8 575)
456
»… wenn Nietzsche die ewige Wiederkunft als unmittelbaren Ausdruck des Willens zur Macht vorführt, so
meint Wille zur Macht keineswegs ›Machtstreben‹, sondern im Gegenteil: das Gewollte, was immer man
will, zur ›n-ten‹ Potenz erheben, d. h. dessen höhere Form freisetzen, und zwar dank des selektiven
Verfahrens des Denkens in der ewigen Wiederkunft, dank der Singularität der Wiederholung in der ewigen
Wiederkunft selbst. Höhere Form dessen, was ist: Dies ist die unmittelbare Identität von ewiger
Wiederkunft und Übermensch.« (Deleuze 1992, 23)
129
gestaunt, wie sehr mich Jünger an meinen Vater erinnert hat und auch an Hermlin, mein Vater
und Jünger, da gibt es auf irgendeine Weise eine große typologische Ähnlichkeit. Ich weiß
allerdings nicht, worin sie liegt.« (HMA 4487, 385) Die Herausstellung der typologischen
Ähnlichkeit zielt nicht in erster Linie auf die künstlerische Vorbildfunktion der beiden
Dichter. Als geistige Physiognomien darf ihr Einfluss auf Müllers Werk, insbesondere im Fall
Jüngers, sicherlich nicht unterschätzt werden. Dennoch scheint im Typus des Väterlichen
zugleich die Grenze auf, die den Sohn von der Generation des Vaters und den Vaterbildern
trennt.
In einem Text aus dem unmittelbaren Entstehungszusammenhang der Autobiografie wird ein
weiterer Traum aufgerufen, der im Kontext mit der Inhaftierung des Vaters steht: »Mein
Vater hatte von mir geträumt, als er im Lager war, einer winzigen Gestalt auf einem
Berghang, eine zu schwere Last auf zu schmalem Rücken« (W 2 177). Der Traum des Vaters,
der sich hier in die Schrift des Sohnes verwandelt hat, bezeichnet die Last, die sich der Sohn
mit der frühen Traumatisierung aufgeladen hat, das Kreuz, das der Dichtersohn sein Golgatha
hinaufschleppt. In einem der letzten Texte, die der Dichter verfasst, erfährt diese Bürde eine
radikale Umwertung, indem der Sohn nun selbst die Rolle des Vaters übernimmt. 457 In
seinem TRAUMTEXT OKTOBER 1995 beschwört der untergehende Dichter-Gott stumm
seine im Korb auf dem Beckenrand zurückgelassene Tochter als »zu schwere Last auf zu
schmalem Rücken«: »BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN« (W 2
145). Mit seiner Verwandlung in den Vater hat der Dichter-Sohn sein Ziel erreicht. Doch
ziellos ist, wer ihm dorthin zu folgen versuchte.
Die Beschreibung physischer Unterlegenheit des Vaters in den vorangegangenen Szenen der
Verhaftung und der Lagerhaft, erfährt in einer weiteren Episode, die ebenfalls auf das
Prosastück DER VATER zurückgeht, eine neue Dimension. In ihr wird der Vater-Sohn-
Konflikt auf die Spitze getrieben, kontrastiert von der Darstellung einer scheinbar
vollkommenen Harmonie des Verhältnisses Vater – Sohn in einer Rückblende am Ende des
ersten Buchkapitels. Zugleich findet in diesem Abschnitt eine Ausweitung der Kampfzone
statt, indem der Konflikt zwischen den Generationen auf das individuelle Schlachtfeld des
kindlichen Selbstverständnisses überführt wird. Die Rede ist von jenem Autobahnaufsatz, den
der Vater dem Sohn unmittelbar in die Feder diktiert, damit seine Schrift missbraucht und so
nachhaltig diskreditiert. 458 »Das war die Erfahrung von Verrat und Schwäche, aber einer
anderen Art von Schwäche als vorher. Von da an war ein Bruch zwischen uns.« (GI 1 91)
Und ein Bruch »zwischen mir + mir« (HMA 4476), bleibt hinzuzufügen, denn der den Satz
niederschreibt, ist der Sohn. »Ein Satz, den er mir diktierte, lautete: ›Es ist gut, dass der
Führer die Autobahnen baut, dann bekommt vielleicht auch mein Vater wieder Arbeit, der so
lange feiern musste.‹ Dieser Satz löste bei mir den Verratsschock aus. Ich war so erzogen,
dass ich wusste, draußen ist der Feind, die Nazis sind der Feind, die ganze äußere Welt ist
457
»UND KNAPP VORM DRITTEN HAHNENSCHREI ZERREISST / EIN NARR DAS
SCHELLENKLEID DES PHILOSOPHEN / KRIECHT EIN BELEIBTER BLUTHUND IN DEN PANZER
/ Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.« (W 4 553) –
Vermochte der Dichter 1977 diesem Bild der Entropie aus den fünfziger Jahren (s. a. W 1 37) noch die
wilde Beharrlichkeit einer Hoffnung vom Meeresgrund entgegenzusetzen, hat er auf die vierte Szene der
HAMLETMASCHINE zwanzig Jahre später keine Replik mehr parat.
458
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »1.2. Die Tonbandabschriften« im zweiten Teil der vorliegenden
Arbeit
130
feindlich. Zu Hause sind wir eine Festung und halten zusammen. Plötzlich war da dieser
Riss.« (KOS 24) Im Opportunismus des Vaters offenbart sich das Eingeständnis seiner
Schwäche gegenüber einem System, das er aufgrund innerer Überzeugungen zwar
verabscheut, aus Angst vor neuen Repressalien jedoch akzeptiert. War er bisher nur Opfer
seiner eigenen politischen Haltung, findet nun ein Verrat an den die Familie strukturierenden
Grundwerten statt, der die »Festung« Familie zur Einsturz gefährdeten Ruine werden lässt.
Als Medium des Verrats dient ihm der Sohn, der sich dem väterlichen »Kommandowort« 459
dieses Mal nicht verweigert. Durch die widerspruchslose Niederschrift des Diktats wird der
Sohn zum Komplizen dieser Tat, die in ihm den »Verratsschock« auslöst, wohl auch deshalb,
weil er sich daran beteiligt sieht. Die heile Welt in der kaputten funktioniert nicht mehr. Der
»Riss« ist ein doppelter: er durchtrennt einerseits die Nabelschnur, die den Sohn trotz
Autoritätsverlustes immer noch an die moralische Legitimität des väterlichen Verhaltens
glauben ließ. Andererseits bringt die Unterwerfung unter das väterliche Diktat – und also
Beteiligung an dem Verrat – den Sohn in Konflikt zu sich selbst. In einer früheren
Textfassung von KRIEG OHNE SCHLACHT wird das Dilemma explizit auf seine
Bedeutung für die spätere Arbeit als Dichter bezogen: »Das war der Beginn meiner
Schriftstellerlaufbahn.« (TA 26) Dass gerade aus diesem »Riss« der Antrieb für die
künstlerische Produktivität erwächst, weist sie als ein obsessives Widerschreiben des Verrats
aus und lässt die künftigen Texte als permanente Übermalungen einer nicht tilgbaren Schuld
erscheinen.
Mit einem Verweis auf das goldene Zeitalter der väterlichen Arbeitslosigkeit vor dem
Sündenfall des Autobahnaufsatzes endet das erste Kapitel. »Welche Auswirkungen hatte die
lange Arbeitslosigkeit deines Vaters? / Das war ganz günstig für mich, weil er über alles mit
mir sprach und den ganzen Tag für mich Zeit hatte. Er besaß auch literarischen Ehrgeiz; es
gibt Texte von ihm. Er machte Resümees von seiner Lektüre, auch viele Exzerpte und las
Philosophie. Das Bedürfnis, alles zu wissen, alles zu kennen, war sehr ausgeprägt bei ihm,
und ich war sein einziger Gesprächspartner.« (KOS 26) Für den Sohn erweist sich die lange
Arbeitslosigkeit des Vaters als Glücksfall, der das Trauma der Verhaftung in gewissem Maße
zu kompensieren scheint. Der Vater als weiser Freund und sanftmütiger Erzieher, der den
Sohn als gleichwertigen Dialogpartner akzeptiert, lässt das zwar in der zeitlichen Abfolge
später, im Text jedoch vorangestellte »Kommandowort« des väterlichen Diktats nachträglich
als geradezu monströsen Gewaltakt erscheinen, der den Vater selbst als gelehrigen Schüler
der Einschreibemechanismen strafkolonialer Behandlung ausweist: »Es ist nicht leicht die
Schrift zu entziffern. Unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.« (W 2 135) In
Schillers Abhandlung ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN hieß es:
»Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug.« 460 Gemeint
sind die in Schillers Augen verheerenden Folgen der Französischen Revolution. Es gilt nun,
diese Wunden zu lesen, um aus ihnen zu lernen. Das Modell der Strafkolonie treibt Schillers
Ideal der ästhetischen Erziehung gleichsam auf die Spitze. Sie verknüpft nämlich in der Tat –
wie von Schiller gefordert – das (technisch) Mögliche mit dem (gesellschaftlich)
Notwendigen zum Ideal eines selbstbestimmten Menschen (selbstbestimmt ist der Sprecher
seines eigenen Erschießungsbefehls in Mauser auch!), der mit der Entfaltung seiner Anlagen
459
Michel Foucault: Der Name … a. a. O. 85
460
Schiller-SW 5, 583
131
und Fähigkeiten die Sache der Gesellschaft befördert, »bis der Schein die Wirklichkeit und
die Kunst die Natur überwindet« 461 . Vor dieser Folie wird die in KRIEG OHNE SCHLACHT
idealisierte Darstellung einer gleichberechtigten Beziehung zwischen Vater und Sohn lesbar
als Fortsetzung der (nationalsozialistischen) Diktatur mit anderen Mitteln. Die Verschiebung
der Schilderung an den Schluss des ersten Kapitels wirft den Verdacht auf, dass es sich bei
dem »innige[n] Verhältnis« (HMA 4487, 23) zwischen Vater und Sohn nicht nur um eine
romantisch eingefärbte Idealisierung der Vergangenheit handelt, die einen Zustand der
Schuldlosigkeit und Eintracht heraufbeschwört, der die Tragik der zuvor geschilderten
Entzweiung um so drastischer erscheinen lässt. Vielmehr ist die Vater-Sohn-Beziehung auch
in dieser befriedeten und vielleicht sogar für beide Seiten befriedigenden Form noch dem
Gesetz autoritärer Führerschaft unterworfen, dem man gehorchen oder sich wiedersetzen
kann. Außer Kraft setzen kann man es nicht. Bestätigung findet diese Vermutung in einer
handschriftlichen Notiz aus dem Entstehungszusammenhang von KRIEG OHNE
SCHLACHT: »(Vater) Ich erinnere mich, dass er mir aus dem Simplicissimus vorlas. Ich
weiß nicht, bis zu welchem Kapitel wir gelesen + was ich verstanden habe + was nicht. Der
Text war ein Geheimnis zwischen uns.« (HMA 4476) Das Einvernehmen zwischen Vater und
Sohn beruht auf einer geheimen Abmachung, die auf die Szene der nächtlichen Verhaftung
des Vaters zurückgeht. Sie macht den ersten gegenseitigen Verrat ungeschehen, der darin
bestand, dass der Vater sich als schwächer erwies als seine Feinde und so gezwungen war,
den Sohn im Stich zu lassen, jener sich wiederum die Schwäche des Vaters zunutze machte,
diesem den Gehorsam zu verweigern. Die gemeinsame Lektüre der Abenteuer des tumben
Toren Simplicissimus versetzt Vater und Sohn in einen künstlich erzeugten Bereich naiver
Schuldlosigkeit und Unwissenheit, die der literarischen Figur Grimmelshausens
korrespondiert und so den ersten Verrat zu verbergen geeignet ist. Die Lückenhaftigkeit der
Erinnerung (»Ich weiß nicht, bis zu welchem Kapitel wir gelesen + was ich verstanden habe +
was nicht«) verstärkt den Eindruck der Naivität, die auf der Erkenntnislosigkeit
unverfremdeten Daseins beruht. In einer weiteren Notiz heißt es: »dazwischen lag d[ie]
gl[ückliche] Zeit als m[ein] V[ater] arbeitslos war […] nach dem erfolgreichen Aufsatz über
d[ie] Str[aßen] d[es] F[ührers] lasen wir [den Simplicissimus] nicht weiter / Autob[iografie]«
(HMA 5264). Die gemeinsame Lektüre endet abrupt, als der Vater seine Autorität diktatorisch
wiederherstellt, indem er dem Sohn die Schreibhand führt. Damit einher geht der Verlust des
Kunstraumes ›Naivität‹, der die Bedingung gegenseitiger Anerkennung im Verhältnis Vater –
Sohn bildete. »… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist,
und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« 462 Das Diktat des Vaters stellt die alte Ordnung
wieder her. Es bedeutet den Einbruch der nationalsozialistischen Wirklichkeit in das häusliche
Spiel menschlicher Vervollkommnung durch die Macht des schönen Wortes.
Bildete das Prosastück DER VATER als Subtext die Grundlage aller späteren Umschriften
dieser frühen Fixierung, setzt mit der Arbeit an KRIEG OHNE SCHLACHT ein
grundsätzliches Revisionsbedürfnis ein »… gegen die Wahrheit / Die vor vierzig Jahren mein
Besitz war« (W 1 233): »Ich bin es meinem Vater schuldig! seine Geschichte noch einmal zu
schreiben – Vater im Stalinkostüm« (HMA 4476), notiert Müller im Zusammenhang mit der
Entstehung seiner Autobiografie. Oder ähnlich in einer anderen handschriftlichen Notiz:
461
Schiller-SW 5, 596
462
Schiller-SW 5, 618
132
»Heute weiß ich auch, dass ich d[en] Text m[eines] V[aters] noch einmal schreiben muss,
ohne den Mantel/Faltenwurf des Dogmas (broken) in der Mode meiner fünfziger Jahre / das
Gras wächst wieder –« (HMA 4476). Von »ausreißen« (W 2 79) ist allerdings keine Rede
mehr, ein Gedankenstrich beschweigt die Geste des Ausreißens geradezu demonstrativ. Will
Müller am Ende seines Lebens von der Bedingung der Revolution, die ihre Bewegung aus
permanenter Selbstzerstörung gewinnt (»… das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es
grün bleibt«, W 2 245), abgesehen wissen? Die Frage ist nicht entscheidbar. Sicher hingegen
ist, dass Müller selbst für eine Beantwortung der Frage nach einer gesellschaftlichen Relevanz
der Utopien am Ende seines Lebens nicht mehr zur Verfügung stehen wollte. Damit kann
auch der Vater von seiner (diktatorischen) Funktion für das Schreiben des Sohnes entbunden
werden. »Heute weiß ich: was mit ihm begraben wurde, war das Gespenst meiner Kindheit,
mit meinen schreckgeweiteten Augen, dem von Weinen verzogenen Mund, dem gefrorenen
Salz meiner Tränen. / Ich hatte es mit mir herumgetragen (durch die Jahre meiner
Gefangenschaft in zwei Diktaturen), versteckt vor den Augen der Welt, wie ein zerbrochenes
Spielzeug, das man der Erde nicht lassen will, dem Gewürm, der Flamme, immer mit dem
Impuls, es wegzuwerfen: Ich brauche dich nicht mehr, ich werfe dich weg, und immer wieder
eingeholt von seiner Gegenwart. / Mit den drei Händen Erde, die ich auf seinen Sarg warf,
nach dem barbarischen Brauch, der dazu dienen soll, die Toten niederzuhalten und den
Skandal der Auferstehung abzuwenden, der das Ende unserer Welt bedeuten würde, habe ich
meine Last abgeworfen. (Manchmal denke ich, dass er sie durch das Reich der Toten trägt,
einen Katalog aus Freuden und Schmerzen für die Archive der Ewigkeit, die nicht geöffnet
werden vor dem Jüngsten Tag.) Seitdem ist meine Kindheit nur noch Erinnerung …« (HMA
4477) Müllers bereits im Zusammenhang mit dem Großvatertext vorgetragenes
Revisionsbedürfnis beruht auf seiner ersten Erfahrung von Schuld (»das Gespenst meiner
Kindheit«). Zugleich liegt in der frühkindlichen Erinnerung an den Vater – als uneinholbare
Urszene – Müllers künstlerische Produktivität begründet. Die Vatertexte sind Zeugnisse einer
obsessiven traumatischen Struktur, die eine Wunde nicht vernarben lassen durfte, weil sie die
Arbeit des Schreibens als Sohn konstituierte. Was Müller als Intention der künstlerischen
Betätigung für andere Texte reklamierte – »Ich glaube, mein stärkster Impuls ist der, Dinge
bis auf ihr Skelett zu reduzieren, ihr Fleisch und ihre Oberfläche herunterzureißen. Dann ist
man mit ihnen fertig.« (GI 1 102) – büßte im Zusammenhang mit der frühen Traumatisierung
seine Gültigkeit ein. Es ging vielmehr um die ständige Exhumierung des toten Vaters in
neuen Texten (»Ich hatte es mit mir herumgetragen […] wie ein zerbrochenes Spielzeug, das
man der Erde nicht lassen will«), die die alten nicht auszulöschen vermochten, so dass das
Skelett immer dichter beschrieben wurde, seine ursprüngliche Gestalt verborgen lag unter der
Schrift des Sohnes. »Die Narben schrein nach Wunden.« (W 4 462) Das Dilemma eines
Herumstocherns in Wunden, deren Ursprung nur im Nachhinein mit Sinn besetzt werden
kann, schlägt sich in der Entstehung immer neuer Texte nieder, die den Blick auf die Urszene
erst recht verstellen. Der Kampf um eine nie zu Ende kommende Aneignung verwandelt das
Trauma in Literatur. Das Bedürfnis in ein »Gespräch mit den Toten« (KOS 15f.) zu kommen,
ergo die Texte zu revidieren/neu zu verfassen, ändert nichts an der Tatsache der empirischen
Entzogenheit der Beweggründe für die Obsession des ständigen Wiederaufgreifens des
Vaterkomplexes. Erst mit der schriftlich verfassten Abgabe der Verantwortung (»Mit den drei
Händen Erde […] habe ich meine Last abgeworfen«), die in der Funktionalisierung der
obsessiven Erinnerung traumatischer Erlebnisse im Namen der Ermöglichung eines anderen
Ablaufs bestand, kann das Gespenst der Kindheit begraben, die Erinnerung vom Ballast ihres
133
(ideologischen) Nutzwertes befreit werden.
Die späte SELBSTKRITIK öffnet damit eine neue Dimension im Schreiben Heiner Müllers,
die folglich bar jeder geschichtlichen, respektive geschichtsphilosophischen Hoffnung ist. »…
es wächst der fatale Eindruck des Scheiterns, das Wissen um den endgültigen Verlust der
Utopien. Ihre zuvor – selbst in den Momenten radikalster Zuspitzung – noch immer als
historisch fassbar gedachten Dimensionen treiben jetzt unaufhaltbar auf einen Abgrund zu,
der in die Koordinaten allgemeiner geschichtlicher Vorstellungswelten nicht mehr
einzubinden ist.« 463 Die Auflösung der (Vater-)Texte, ihre Implosion im Malstrom eines
Textwirbels, wie ihn das Prosafragment [Im Herbst 197.. starb …] darstellt, deutet in dieser
Hinsicht auf eine neue Qualität im Umgang mit dem Trauma, indem von einem Fertig-
Werden-Wollen nunmehr ganz offensichtlich abgesehen wird. Das Vertrauen auf die
kreisende Abwärtsbewegung des Malstroms eignet nicht mehr die Frage nach der schartigen
Beschaffenheit des Grundes (der den Fragenden zerreißen wird), sondern vereinigt sich mit
der grausamen Schönheit der Bewegung selbst. Diese Bewegung aber ist die Kunst. Ein
Briefentwurf an den Vater, der sich im Nachlass Heiner Müllers fand, zeigt, dass die (frühe)
geistige Auseinandersetzung mit dem Vater auf kafkaeske Weise und ins monologische
gewendet bis in die fünfziger Jahre fortdauert. »Dass mir, weniger durch die Art der
Erziehung als dadurch, dass ihr mich ›ausgehalten‹ habt, vieles abgenommen wurde, was ich,
allein geblieben, tragen lernen musste, ist vielleicht ein Grund für mein ausgiebiges
Schweigen. Ich habe, l[ieber] P[apa], auch geistig weitgehend von Dir gelebt. Ich musste erst
zu mir kommen, erst ins Reine mit mir kommen, als Du fort warst.« (W 8 508)
Im Gegensatz zur intensiven, dafür umso problematischeren Vaterbeziehung, wird das
Verhältnis zur Mutter als vergleichsweise distanziertes dargestellt. Folglich nehmen Menge
und Ausführlichkeit der Äußerungen über den Stellenwert der Mutter und das Verhältnis des
Erzählers zu dieser Figur einen verhältnismäßig begrenzten Raum ein. Die lange
Arbeitslosigkeit des Vaters zwingt die Mutter in die Rolle der Ernährerin. »Meine Mutter
arbeitete in einem Betrieb in Limbach als Näherin, fuhr jeden Morgen mit dem Fahrrad hin
und abends zurück.« (KOS 23) Damit steht die Mutter in der Tradition ihrer verwitweten
Großmutter, die an der Ausübung ihrer Tätigkeit als Näherin erblindet war (s. a. KOS 14 u. W
2 7). Als Erbteil der Familie ihres Vaters prägt sie die Erfahrung finanzieller Not bis ins frühe
Erwachsenenalter (»Ich glaube, meine Mutter war vor mir schon einmal schwanger. Aber sie
hatten kein Geld und keine Wohnung«, KOS 15) und darüber hinaus (»Nach der Verhaftung
meines Vaters hatte meine Mutter kein Geld, das Essen war knapp«, KOS 24). Von ihrem
Erbe mütterlicherseits findet sich im Drucktext keine Spur. Der Blick auf frühere Fassungen
bringt jedoch auch für diese Linie genetisches Material zum Vorschein. »Meine Mutter war
dagegen eigentlich sehr – ich würde sagen – kalt 464 , sie konnte keine Emotionen äußern. Mein
Vater war viel wärmer als meine Mutter. Meine Mutter stand unter ungeheurem Druck,
vielleicht deswegen.« (HMA 4487, 23ff.) Über die Mutter der Mutter heißt es an anderer
Stelle. »Sie war so ein bisschen wehleidig, ein bisschen unfähig, Emotionen zu äußern. Das
lief über Versorgung, Zuständigkeit, mehr war da nicht.« (HMA 4487, 258) Die Aussagen
sind in zweierlei Hinsicht von Belang. Zum einen kommt hier eine Charaktereigenschaft ins
Spiel, die der Erzähler im Textverlauf mehrfach für seine eigene Haltung gegenüber den
463
Hörnigk 1997, 456
464
In den Tonbandabschriften heißt es antonym: »ich würde nicht sagen kalt« (TA 31).
134
Gegenständen seiner Erinnerung reklamieren wird, etwa, wenn er im Zusammenhang mit dem
Ausschluss aus dem Schriftstellerverband feststellt: »Ich habe das Ganze als dramatisches
Material betrachtet, ich selbst war auch Material, meine Selbstkritik ist Material für mich.«
(KOS 183) Andererseits dient die Beschreibung des Charakters der Mutter einer antonymen
Charakterisierung der ursprünglich engen Beziehung zwischen Vater und Sohn: »… ich war
sein einziger Gesprächspartner.« (KOS 26) Die Problematik spiegelt sich direkt im Verhältnis
der Eltern zueinander wider, das durch ein umfassendes Kommunikationsdefizit geprägt ist.
In der Arbeitsfassung wird diese Tatsache explizit benannt: »Sicher, eine prägende Rolle
spielte die Haltung meines Vaters zu meiner Mutter. Es ist ganz einfach, sie war für ihn nie
ein Gesprächspartner.« (HMA 4487, 258) So verhindert etwa der Sohn, als sie den Vater im
KZ besuchen, ein Gespräch zwischen den Eltern. »Wir mussten durch das Drahtgittertor mit
meinem Vater reden, er sah sehr schmal und klein aus. Ich habe ihm Bilder gezeigt, die ich
gemalt und gezeichnet hatte, und Zigarettenbilder. Meine Mutter kam gar nicht dazu, mit ihm
zu sprechen.« (KOS 20) Die im Gefängniszaun materialisierte Sprachbarriere, die der Sohn
spielend zu unterlaufen vermag, kann von der Mutter nicht überwunden werden. Sie scheitert
daran ebenso, wie an der von ihr abgezogenen, voll auf den Sohn gerichteten Aufmerksamkeit
des Vaters. Wie bereits während der nächtlichen Verhaftungsszene (»… meine Mutter stand
daneben«, KOS 19) wird die Mutterfigur zur szenischen Staffage. Ein eigenständiges
Handlungspotenzial gewinnt sie lediglich durch die Abwesenheit des Vaters, doch selbst dann
noch, bleibt ihr Handeln auf die (politische) Aktivität des Vaters verwiesen. »Ich weiß, dass
mein Vater einen Revolver hatte und dass er und ein paar andere sich auf einen bewaffneten
Kampf vorbereiteten. Einer seiner Genossen war ein Lehrer, für mich sehr wichtig, weil er mit
mir geübt hat, rechts zu schreiben. Ich war Linkshänder, und das wäre in der Schule ein
Problem geworden. Das muss vor 1933 gewesen sein, denn er wurde mit meinem Vater
verhaftet. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er hatte mir rechts schreiben im Spiel
beigebracht, ohne irgendwelchen Zwang, das war sehr schön. Er hatte eine große Liebe zu
Kindern. Dieser Lehrer war ein etwas weicherer Typ als mein Vater, und sie haben ihn so
lange geprügelt, bis er verriet, dass mein Vater einen Revolver hatte, der im Wald vergraben
war. Meine Mutter war nach der Verhaftung zusammen mit einem Schwager in den Wald
gegangen, dort haben sie den Revolver vergraben, schön geölt und eingewickelt. Das wusste
der Lehrer und verriet es, aber er kannte die Stelle nicht. Daraufhin haben sie auch meine
Mutter verhaftet und für kurze Zeit im Rathaus in den Keller gesperrt, weil sie von dem
Revolver nichts sagen wollte. Dann gab es am nächsten Tag, nach der Nacht im Keller, eine
Gegenüberstellung mit dem Lehrer. Er hat sich entschuldigt: ›Die haben mich geschlagen, ich
konnte nicht mehr, ich habe es verraten.‹ Meine Mutter musste mit ihrem Schwager in SA-
Begleitung in den Wald und das Ding ausgraben. Ich muss noch sagen, es kannten sich alle.
Einer von den SA-Leuten bei der Verhaftung meines Vaters war ein ehemaliger Verehrer von
ihr, den sie abgewiesen hatte. (KOS 19f.) Die kurzzeitige Inhaftierung der Mutter wird in
diesem Abschnitt als Folge der Verhaftung des Vaters kenntlich. Die Eigeninitiative beim
Verstecken des wichtigen Beweismittels und ihre Standhaftigkeit im Verhör, dienen allein
dem Schutz ihres Mannes. Als dessen Schatten und ihres Handelns stummer Zeuge ist ihr ein
Schwager an die Seite gestellt – vermutlich der taubstumme Bruder des Mannes, denn der ist
»neben meinem Vater der einzige Nichtnazi in der Familie« (KOS 22). Damit wird die
Handlungsebene, auf der die Mutter agiert, durch die Einführung einer tragischen Nebenfigur
unterlaufen, die für den Sohn »sehr wichtig« war, weil sie ihn spielerisch von seiner
Linkshändigkeit befreite. Die Korrespondenz dieser »ohne irgendwelchen Zwang«
135
bewerkstelligten Umerziehung zum später ins Werk gesetzten Diktat des Vaters, das zum
Bruch zwischen Vater und Sohn führen sollte, lenkt die Aufmerksamkeit gänzlich von der
Mutter ab, zumal ihr Handeln lediglich als Re-Aktion geschildert wird. Das Schreiben des
Sohns bleibt zeitlebens auf diese dem väterlichen Diktat entgegen gesetzte »im Spiel«
erworbene Schreibtechnik angewiesen. 465
Zu den weitreichenden Folgen der Verhaftung des Vaters gehört die soziale Herabsetzung des
Sohnes, die in der gesellschaftlichen Ausgrenzung mündet. »In Eppendorf hatte ich einen
Spielkameraden, Sohn eines Fabrikanten. […] Nach der Verhaftung meines Vaters hatte
meine Mutter kein Geld, das Essen war knapp, es gab ein Angebot von diesem Fabrikanten,
ich könne dort jeden Tag mitessen. Natürlich hatte ich Hunger, aber gleichzeitig war es eine
ungeheure Erniedrigung, dort am Tisch zu sitzen, sich durchfüttern zu lassen. Da ist auch ein
Hasspotenzial entstanden, ein Rachebedürfnis. Dieser Fabrikant war Sozialdemokrat gewesen,
der Freitisch war gut gemeint, aber für mich doch eine schlimme Erfahrung.« (KOS 24f.)
Wurde der »Freitisch« des Fabrikanten im vierten Abschnitt der Erzählung DER VATER (s.
a. W 2 81f.) mit Hilfe starker Bilder im Gestus des Ekels beschrieben und mit dem filmreifen
Plot eines tödlichen Unfalls zusätzlich aufgeladen, verzeichnet die Autobiografie lediglich
diesen ebenso nüchternen wie handlungslosen Kommentar, der die Struktur einer sozialen
Beziehung bloßlegt. Die karitative Geste der »gut gemeint[en]« Domestizierung des
Dissidentensohnes durch den Fabrikanten, »der bis 1932 Mitglied der Sozialdemokratischen
Partei gewesen war« (W 2 81), bewirkt das Gegenteil ihrer Absicht. Sie gibt der Ausgrenzung
und Herabsetzung, die aus dem väterlichen Ungehorsam gegenüber der politischen
Neuordnung resultieren, ein Gesicht. »Hasspotenzial« und »Rachebedürfnis« lassen noch das
Susan-Atkins-Zitat aus DIE HAMLETMASCHINE 466 , den Racheschwur des Schwarzen
Sasportas in DER AUFTRAG 467 oder das Gebaren der als DER ROSA RIESE mythisierten
Gestalt des Serienmörders in GERMANIA 3 (s. a. W 5 296) als Reminiszenz an diese frühe
»Erniedrigung« erscheinen. Die »schlimme Erfahrung« ist damit deutlich auch als Born
künstlerischer Produktivität ausgewiesen. Ein Beleg dafür ist die sich anschließende
Schilderung der Ausgrenzung durch die Spielkameraden, die der Erzähler explizit als »eine
wichtige Voraussetzung für vieles Spätere« verstanden wissen will. »Als mein Vater im KZ
war, gab es ein paar Freunde, Söhne von Beamten, die sagten mir, dass sie nicht mehr mit mir
spielen dürften, weil mein Vater ein Verbrecher wäre. Auch diese Erfahrung eine wichtige
Voraussetzung für vieles Spätere. Immer war ich isoliert, von der Außenwelt getrennt durch
mindestens eine Sichtblende.« (KOS 25) An jenen ihn vom Spiel ausschließenden
Spielkameraden hatte sich der Autor bereits in seinem Prosastück DER VATER gerächt. Dort
widmete er ihnen den gesamten zweiten Abschnitt (s. a. W 2 79f.), an dessen Ende sich ihre
Spur »in den schrecklichen letzten Schlachten des zweiten Weltkrieges, tötend und sterbend«
(W 2 80) verlor. In einem späten Erzählfragment dagegen erscheint das Kind in der
Perspektive des Objektes eines sozialen Experiments: »… die Gesichter meiner
465
zu den möglichen Folgen dieser manipulierten Rechtshändigkeit für das Schreiben Heiner Müllers s. a. das
Kapitel »Treuhänder. Umerziehung« in: Werner 2001, 41–58
466
»Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.« (KOS
294, W 4 554)
467
Wie die Ophelia der Tiefsee bezieht der Schwarze seine revolutionäre Energie aus dem affektiven Impuls
der Rache. Angesichts eines im Käfig verendenden Sklaven schwört er Vergeltung. »Wenn ich von hier
weggehe, werden andre in den Käfigen hängen, mit weißer Haut bis die Sonne sie schwarz brennt.« (W 5
18)
136
Spielkameraden, Kälte und Neugier, als sie mir die Mitteilung machten, dass sie nicht mehr
mit mir spielen durften …« (W 2 178) Es ist genau diese im Text vermittelte Perspektive, die
Differenz des Blicks, die als »Sichtblende« bezeichnet wird. Die Stigmatisierung des anderen
als Sohn eines »Verbrecher[s]« geht mit seiner Austreibung aus dem Kollektiv der »Söhne
von Beamten« einher. Der Sündenbock, der auf Gesellschaft dennoch nicht verzichten
möchte, findet sich unvermittelt in einem Kreis wieder, der dem Kind bisher unbekannte
Rituale der Gruppenzugehörigkeit pflegt und damit seinen Erfahrungshorizont grundsätzlich
erweitert. »Ich fand dann doch ein paar Freunde. In Bräunsdorf gab es eine Kinderbande. Ich
hatte aber immer Schwierigkeiten, anerkannt zu werden. Zum Beispiel konnte ich keine
Schleife binden. Dafür lachten mich die Mädchen aus. Für die Bande war ich ein Spinner,
weil ich ein Taschentuch benutzte statt zwei Finger, und daraus ergaben sich Geschichten wie
die mit dem Schwalbennest. Es ging darum, ein Schwalbennest in einem Kuhstall mit
Steinwürfen zu zerstören. Um anerkannt zu werden, habe ich besonders scharf geschossen,
und ich traf auch. Und dann sah ich die jungen Schwalben am Boden liegen.« (KOS 25) Die
Verweigerung der Anerkennung desjenigen, der sich durch Merkmale sozialer Distanz vom
Verhalten der übrigen Gruppenmitglieder unterscheidet, steht bei der »Kinderbande«
grundsätzlich die Möglichkeit gegenüber, trotz Zeichen des Andersseins Anerkennung zu
erwerben. Diese Möglichkeit ist an die Voraussetzung geknüpft, sich barbarischer zu
verhalten als die Barbaren selbst. In KINDHEIT, einem Gedicht aus den sechziger Jahren,
findet sich eine Formulierung, welche die Ausweglosigkeit aus dem Dilemma dieser teuer
erkauften Gruppenzugehörigkeit in ihrer fatalen Brutalität offenbart: »… von Wölfen gejagt,
mit Wölfen allein« (W 1 172). Überformt wird dieser Gewaltzusammenhang durch eine
Allegorie kafkascher Provenienz: »Der Bauer hat uns aus dem Kuhstall gejagt. Er hatte zwei
schwachsinnige Söhne, die in sechs Schuljahren weder Lesen noch Schreiben gelernt hatten.
Sie waren Rivalen um den Hof, das Erbe. Sie prügelten sich regelmäßig, manchmal mit
Sensen. Der Alte ging mit dem Dreschflegel dazwischen und schlug sie nieder. Der jüngere
Sohn hetzte oft den Hund hinter uns her. Einmal sperrte er uns im Hof ein und ließ die Pferde
heraus. Die Pferde galoppierten durch den Hof, wir standen an die Wände gepresst, alle Türen
zu.« (KOS 25f.) Der Vertreibung aus dem Paradies des kindlichen Glücks teilhaftig
gewordener kameradschaftlicher Anerkennung, folgt wie in der Bibel die Begründung eines
zirkulären Gewaltzusammenhangs. Wie Kain und Abel streiten die feindlichen Brüder (einem
auch im Werk Müllers immer wiederkehrenden Motiv) um das Erbe Adams. Mit dem Rücken
zur Wand steht mit dem Erzähler die Menschheit in der ausweglosen Arena katastrophaler
menschlicher Geschichte.
Der Beginn des zweiten Buchkapitels, »Waren/Müritz, ab 1939«, knüpft unmittelbar an die
Erfahrung der Fremdheit und Ausgrenzung in einer feindlichen Umgebung an. Den Umzug
von Bräunsdorf/Sachsen nach Waren/Müritz beschreibt Heiner Müller im Gespräch als
»absolut tiefgreifend« (TA 33). »Mecklenburg war für uns als Sachsen wie eine Emigration.
Man war Ausländer. […] Ich war völlig isoliert, vor allem in der Schule. Ausländer wurden
aus Prinzip verprügelt. Da musste man immer ziemlich schnell sein. Ich konnte sehr gut
laufen« (KOS 27) … eine Fähigkeit, die der Erzähler bereits als Mitglied der Eppendorfer
137
»Kinderbande« erworben hatte (»Wir haben Rekorde aufgestellt im Wegrennen vor dem
Hund«, KOS 26). Beschränkte sich die Erfahrung der Ausgrenzung in Sachsen auf den
Verzicht des gemeinsamen Spiels Gleichgestellter infolge der politischen Verfehlungen des
Vaters, fällt diese Begründung mit dem Umzug fort. Die Übersiedlung nach Mecklenburg
wird als Eintreten in einen fremden »Kulturkreis« (W 2 182) erfahren. Zum Verlust der
Heimat gesellt sich die existenzielle Bedrohung durch die neue feindliche Umgebung, die den
»Ausländer« zum Freiwild erklärt. »Der Weg zur Schule war gefährlich, auch der Heimweg,
weil irgendwelche Mecklenburger auf Ausländerjagd gingen.« (KOS 28) An die Stelle der
Ausgrenzung ist die offene Feindschaft einer kriegerischen Horde getreten, die nur ein Ziel
kennt: die Segregation des fremden Eindringlings, seine Unterwerfung. In einem späteren
Kapitel der Autobiografie wird auf diese Konstellation erneut zurückgegriffen. Das
biografische Trauma wird dort als Quelle Müllers »Traditionssozialismus« gekennzeichnet:
»Bei den Indianerspielen durfte ich nie Häuptling sein, weil ich Ausländer war. Und dann gab
es ein mir fremdes Ritual. Gegen sechzehn Uhr gingen die Indianer ›Kaffee trinken‹. Ich habe
meine Mutter gefragt, wieso wir nicht auch um sechzehn Uhr Kaffee trinken und Kuchen
essen. Da hat sie mir erklärt, wir haben kein Geld dafür.« (KOS 322) Die Ursache der
Ausbeutung wird durch die subjektiv empfundene Mangelerfahrung ersetzt: der »Neid auf den
Kapitalisten« (KOS 321) dient als Stachel der moralischen Überlegenheit bei der
Beschreibung der Ausbeutung, die zuweilen in Zynismus umschlägt (Indianer gehen »Kaffee
trinken«).
Im Prosaentwurf [Im Herbst 197.. starb …] wird der Topos des »Ausländer[s]« ebenfalls
aufgegriffen und hinsichtlich seiner sprachlichen Gestaltung intensiviert. »Mit der
Übersiedlung meiner Eltern nach Mecklenburg 193.. begann ein anderes Exil. Ich war
Ausländer, wie damals in Mecklenburg jeder, der nicht dort geboren war. Der Ausländer steht
auf dem Schulhof allein, von allen beäugt und gemieden, angerempelt und geschlagen, wenn
die Lehrer wegsehn. Der Ausländer geht seinen Schulweg allein; er hat keine Freunde. Er
muss schneller sein als die Verfolger. […] Beim Indianerspiel wird dem Ausländer die Rolle
zugewiesen, die keiner spielen will, er gehört zum verachteten weil unkriegerischen Stamm
der Schwarzfußindianer und steht nach dem Sieg der Apachen am Marterpfahl. […]
Ausländer war ich auch, weil ich das Ritual der vierten Mahlzeit, Kaffee und Kuchen am
Nachmittag, nicht kannte, für die jedes Spiel mit dem Satz: wir gehen Kaffee trinken, der
Akzent lag auf dem Wir, pünktlich abgebrochen wurde.« (W 2 181f.) Der Gebrauch der ersten
Person in der Vergangenheitsform verweist – im Gegensatz zum »man« im Text der
Autobiografie, das wiederum die anderen »Ausländer« mit einbezieht – auf den ersten Satz
von KRIEG OHNE SCHLACHT, der den Geburtsvorgang in einen Akt literarischer
Selbsterzeugung überführte (»Ich war eine schwere Geburt«, KOS 13). Der Bruch der
Erzählperspektive sowie der Tempuswechsel (»Ich war Ausländer …«, »Der Ausländer steht
…«) holen den »Ausländer« in die Gegenwart des Rezeptionsvorganges. Damit wird der
»Ausländer« nicht nur als Maske des Autors vorgeführt, sondern als beschreibbare Figur, aus
der der Erzähler trotz der Identifikation mit der Rolle (»Ich war Ausländer …«) hinaustreten
kann. Er verliert dadurch alle Merkmale seiner Subjektivität. Im Gegenzug dient die
Reduzierung des »Ausländers« auf seinen Objektstatus der siegreichen Gruppe zur
Selbstverständigung. Das Ritual der Marterung des Opfers stärkt den Zusammenhalt der
kriegerischen Horde. Die spielerische Opferung des »verachteten weil unkriegerischen […]
Schwarzfußindianer[s]« ermöglicht die beliebige Wiederholbarkeit des Rituals und garantiert
138
so die soziale Stabilität der Gruppe im Angesicht des symbolischen Todes am Marterpfahl.
Die Alternative, sich dem »Indianerspiel« zu verweigern, wird nicht in Betracht gezogen. Sie
bedeutete den Einbruch der Realität in das kindliche Spiel, das im vergeblichen Imperativ
permanenter Flucht mündet (»Er muss schneller sein als seine Verfolger«). Noch das
schnellste Wild wird von der Übermacht der »Jagdmeute« 468 irgendwann erlegt. Zumal, wie
der Text der Autobiografie ausweist, das Opfer aufgrund der geringen Beutepopulation aller
Aufmerksamkeit seiner Jäger gewiss sein kann: »Ich war der einzige Ausländer in der
Klasse.« (KOS 28)
Aus Sicht der Gruppe ist der »Ausländer« die Projektionsfläche ihrer eigenen Sehnsüchte und
Ängste, der »Andere«, der nur mittels Gewalt gezähmt und beherrscht werden kann. Zugleich
ist die Gruppe in der Gefahr auf ihn angewiesen. »Im Winter, wenn die Seen zufrieren,
schlägt die Stunde des Ausländers. Sein Platz, wenn das Eis zum erstenmal begangen wird, ist
die Spitze der Expedition. Das Gros folgt mit respektvollem Abstand. Der Ausländer weiß,
dass der Respekt nicht ihm gilt, sondern der Gefahr, aber er spielt die Rolle des Sklaven, der
nicht gezählt wird, in der Einsamkeit des Führers, der vorangeht, und sei es in den Tod. Der
Hass des Ausländers auf die Gemeinschaft, die ihn ausschließt, ist grenzenlos: Er mündet in
den Wunsch, aufgenommen zu werden in die gehasste Gemeinschaft.« (W 2 183) In der
ambivalenten Figur des »Ausländers« schneiden sich die Ressentiments der ausgrenzenden
Gruppe gegenüber der ausgeschlossenen Minderheit, die Verachtung der Gruppe durch den
Ausgeschlossenen und ein von Hass auf die feindliche Meute gespeistes
Dazugehörigkeitsgefühl zur Gruppe als Exot, der Freud und Casanova gelesen hat und als
derart Stigmatisierter heimlich konsultiert wird (s. a. KOS 29). Eine strukturelle Entsprechung
hat die Hassliebe im Wunsch des jüdischen Jungen, zur Meute seiner Mörder dazu zu
gehören: »ICH WILL EIN DEUTSCHER SEIN (Eintragung im Schulheft eines elfjährigen
jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto)« (W 1 8) Der ›Eisgang‹ endet mit dem Blick des
Erzählers auf einen unter der Eisdecke eingeschlossenen »Kadaver einer Katze, in dem sich
Aale festgebissen hatten« (W 2 184). Im Spiegelbild der toten Kreatur erkennt der Erzähler
seine eigene Position. Sie stellt die einzige Möglichkeit dar, als Fremder der Gruppe dennoch
anzugehören: Als Opfer, das die Kommunion der Gruppe stiftet. Diese Einsicht generiert ein
Denkmodell, das dem Opfer einen Sinn für sich selbst verleiht, indem es die Erfahrung der
Ausgrenzung in Beschreibung überführt. Das persönliche Schicksal wird zum Lehrstück über
die Voraussetzungen der eigenen künstlerischen Produktion. Die tote Katze – »ein Bild des
Glücks« (W 2 184).
Auf die Umwertung der sozialen Ausgrenzung in ein Movens künstlerischer Gestaltung wird
auch im Fragment einer früheren Textfassung der Autobiografie hingewiesen. Dort ist die
Rede von einer generellen »Unfähigkeit zur Solidarität« (HMA 4487, 258), als deren
Ursachen die Erfahrung von Erniedrigung und Isolation in der Kindheit und frühen Jugend
benannt werden. »Dann gibt es sicher, wenn man jetzt ganz tief bohren will, bei mir eine –
mal ganz scharf formuliert – Unfähigkeit zur Solidarität. Die ist natürlich auch
erfahrungsbedingt. Ich will es nicht entschuldigen, aber es ist einfach da. Wenn du in einer
Meute aufwächst, zu der du nicht gehörst, ist es schwer, Solidarität zu lernen. Ich meine, es
war eine feindliche Meute. Als Fremdkörper erfährt man keine Solidarität, und man ist auch
nicht bereit, welche aufzubauen. In der Kindheit fängt so was ja an, das ist das
468
Elias Canetti: Masse und Macht. Ffm. 1980, 114ff.
139
Entscheidende.« (HMA 4487, 258) Der Ausgrenzung durch die »Gemeinschaft«
korrespondiert die Abgrenzung des Subjekts gegenüber jener. Das Wertgefüge der Gruppe
findet im Ausgestoßenen keinen Widerhall. An die Stelle des Zusammengehörigkeitsgefühls
tritt ein »Hasspotenzial« und »Rachebedürfnis«, das sich infolge der eigenen Machtlosigkeit
nicht zu entladen vermag. Im Gegenteil wird sich dieses Erfahrungsmuster bis zuletzt
durchsetzen (erinnert sei nur an die Vorgänge um die Aufführung der UMSIEDLERIN oder
die – ebenfalls als Aufführung beschreibbare – Szene am 4. November 1989 auf dem
Alexanderplatz samt der jeweiligen Folgen). Es bleibt Glutkern und Antrieb, somit
Begründung eines künstlerischen Schaffensprozesses, der stetig aus dieser Quelle schöpft. In
einem Gespräch anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises 1985 fasste Heiner Müller
diese Begründung in der ihm eigenen, auf Irritation zielenden Art und Weise wie folgt
zusammen: »Ich bin ein Neger. Also von meiner Biografie her. Ich bin nach wie vor ein
Neger. Ich war gestern abend ein Neger. Es klingt sehr kokett, aber ich meine es ganz ernst.
Ich bin wirklich ein Neger. Ich bin aufgewachsen als Neger. Ich bin aufgewachsen als Sohn
von Leuten, die bestimmte Dinge nicht kaufen konnten. Ich war Neger bis 45, ich war ab 47
wieder Neger und ich bin hier [in Westdeutschland] ein Neger, gestern abend zum Beispiel.
Es ist nicht ein Marxismusproblem, glaube ich, es ist vielmehr ein subjektives Problem, und
deswegen interessieren mich Neger in diesem Zusammenhang.« (NEGER 28)
Die Wahrnehmung subjektiver Isolation liegt auch der Beschreibung des Schulbesuchs in
Waren zugrunde. Wie schon der »Freitisch« (KOS 25) bei einem Eppendorfer Unternehmer
während der Lagerhaft des Vaters, potenziert die »Freistelle« an der Oberschule das Gefühl
des Nichtdazugehörens. »Von der Mittelschule kam ich auf die Oberschule. Ich kriegte eine
Freistelle wegen guter Zensuren. Meine Eltern hätten das Schulgeld nicht bezahlen können.
Allerdings war ich dadurch auch ausgeliefert. Ich musste mich gut verhalten. Ich hatte immer
das Gefühl, die Lehrer wüssten, dass ich nicht dazugehöre; wahrscheinlich war es auch so.«
(KOS 28f.) Die permanente Konfrontation mit der Tatsache, nur geduldet zu sein, das
Angewiesensein zugleich auf die herablassende Gnade derjenigen, die verachtet werden, lässt
die Freistelle als Gefängnis des jugendlichen Anspruchs auf Selbstverwirklichung erscheinen.
Die Schule als Anstalt der Beschneidung geistiger und emotionaler Fähigkeiten ist spätestens
seit Musils TÖRLESS kanonisch. Im Gegensatz zu Musils idealistisch angelegter Romanfigur
führt jedoch der Adoleszenzkonflikt bei Müller nicht über den Umweg der dionysischen
Erfahrung von Sexualität zum selbst bestimmten Individuum. Vielmehr fällt das jugendliche
Alter Ego des Erzählers einem babylonischen Sprachgewirr zum Opfer, das den Prozess der
Selbstwerdung durch die Erfahrung von Fremdheit ersetzt: »Das Fremdwort Kutte neben dem
bekannten Zeichen für das weibliche Geschlecht, wo er gewohnt ist Votze zu lesen,
wahlweise mit dem Anfangsbuchstaben V oder F, das zum Beispiel an der Gefängnismauer
geschrieben steht, an der sein Schulweg ihn täglich vorbeiführt, muss der Ausländer als
Ausgrenzung verstehn: er gehört nicht in diesen Kulturkreis.« (W 2 182) Aus der
Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung resultiert die Überführung der individuellen
Problematik in einen kulturphilosophischen Diskurs, dessen Aneignung den Jugendlichen in
die Lage versetzt, den Mangel an Erfahrung durch den Erwerb theoretischer Fertigkeiten auch
experimentell zu kompensieren: »In der Oberschule stand ich, weil ich Freud gelesen hatte,
im Ruf eines Casanova und wurde bei sexuellen Problemen zu Rate gezogen. Dabei hatte ich
selbst überhaupt keine Erfahrung. Aber ich habe den Casanova gut gespielt.« (KOS 29)
In einer früheren Fassung fehlt der Verweis auf ein bei Freud angelesenes diskursives Wissen
140
über eine in die Praxis überführbare kulturelle Bedeutung der Sexualität. Im Gegenteil beutet
der Erzähler hier die Praxiserfahrung seiner Klienten aus, um sie seinem eigenen
Erfahrungsschatz einzuspeisen. Die libidinöse Neugierde auf das andere Geschlecht steht
dabei im Vordergrund, wird aber nur in seiner sprachlich vermittelten Form, durch die
Erzählung der anderen, greifbar. »In der Oberschule erwarb ich mir den Ruf eines enormen
Casanovas, eines besonderen Schweins, und ich wurde dann bei sexuellen Problemen immer
zu Rate gezogen. Die anderen erzählten mir alle ihre großen sexuellen Abenteuer, die
meistens sehr winzig waren. […] Die haben mir alle ihre Untaten erzählt. Ich galt als
Spezialist für Schweinereien und hatte große Autorität auf dem Gebiet. Ich wurde auch um
Rat gefragt, wenn einer Schwierigkeiten hatte, an Mädchen ranzukommen. Dabei hatte ich
selbst überhaupt keine Erfahrung. Ich habe das nur gespielt.« (HMA 4487, 27f.) Dass die
Passage, die teils wörtlich auf die Tonbandabschriften (s. a. TA 38f.) zurückgeht, im Text der
Druckfassung getilgt und durch den Hinweis auf die Freud-Lektüre ersetzt wird, deutet auf
eine Verschiebung der Autorintention im Zuge der Überarbeitung des Textes hin. Die
Differenz besteht vornehmlich in der Ersetzung einer vordergründig psychologisch
ausdeutbaren Schilderung durch einen doppelten intertextuellen Verweis (Freud und
Casanova). Das Abrücken von subjektiven Verhaltensimpulsen und deren Überführung in die
ästhetische Technik des Zitats, verdeutlicht den Gestaltungswillen eines Autors, dem daran
gelegen ist, individualpsychologische Momente als kulturelle Phänomene sichtbar zu machen.
Zugleich ermöglichen die literarischen Masken einen spielerischen Umgang mit Wirklichkeit,
der jenen sich in winzigen Abenteuern erschöpfenden Erfahrungen der Altersgenossen fraglos
überlegen ist. Eine Aufwertung seiner Stellung innerhalb der Gruppe erfährt der »Ausländer«
durch diese Überlegenheit nicht. Sie bleibt gebunden an den gesellschaftlich nicht
sanktionierten Bereich unkontrollierter Sexualität und fügt seiner Fremdheit den Makel
moralischer Verwerflichkeit hinzu.
Mit seinem Eintritt in die Hitlerjugend erlebt der gegen jegliche Gruppenmoral und Ideologie
bereits vielfach immunisierte »Ausländer« seine Integration ins Kollektiv: »Ich war in der HJ,
das war unvermeidlich, wegen der Freistelle. […] In der HJ sein, das hieß Marschieren,
Singen. […] Die Geländespiele waren die Hauptsache, auch das Attraktivste für die meisten.
Man hatte einen sogenannten Lebensknüppel, und die Aufgabe war, dem Gegner seinen
Lebensknüppel zu entreißen, dann war der tot. Der Höhepunkt des Geländespiels war die
Schlägerei um die Knüppel. Ich hatte irgendwann eine einfache Technik entwickelt und mir
den größten, stärksten Gegner ausgesucht, der mir schnell meinen Lebensknüppel wegnahm.
Dann war ich draußen. Die Toten durften dann zusehn, wie die andern sich weiter prügelten.«
(KOS 29f.) Im Geländespiel erweist sich die im Ritual internalisierte Einübung des
»Ausländers« in die Rolle des Opfers als Überlebensstrategie. Die »einfache Technik«, sich
den »stärksten Gegner« auszusuchen, erspart ihm nicht nur eine Vielzahl schmerzhafter
Blessuren, sondern sichert ihm zugleich einen Platz unter den »Toten«, die nach und nach die
Zuschauerränge füllen. Die paramilitärische Ausbildung im Zuge der Aufrüstung und
Remilitarisierung einer ganzen Gesellschaft im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs wird vom
Erzähler im Bild einer antiken Theateraufführung beschrieben. Singend betritt der Chor im
Gleichschritt die Bühne des Geländespiels. Im Agon wird der gemeinsame Korpus zerrissen.
Er reduziert die Einzelglieder des Kollektivs auf ihre nackte Existenz. Es geht um Leben und
Tod, das Recht des Stärkeren, zu töten. Die Toten füllen die Zuschauerränge, bis ein letzter
Überlebender einsam auf der Bühne zurückbleibt, schwitzend und geschwächt vom Kampf
141
am Marterpfahl seiner Überlegenheit, auf einem Haufen Lebensknüppel – gleich einem
Scheiterhaufen, den niemand mehr in Brand setzen kann. Ihm applaudiert das Kollektiv der
Toten. Verwiesen wird damit zugleich auf die suizidäre Tendenz des Nationalsozialismus und
das Untergangspathos seiner Führer. Dieses Pathos liegt auch der singend
vorweggenommenen Apokalypse zugrunde, dessen Faszination sich selbst der von Hause aus
systemkritische Knabe nicht zu entziehen vermag: »Zu Hause wurde über alles oppositionell
geredet, und in der Schule durfte man nicht sagen, was man zu Hause hörte und sprach.
Andererseits ging von den Nazi-Ritualen eine Faszination aus. Die Liedzeile: ›Wir werden
weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt‹ 469 jagte mir Schauer über den Rücken.
Mein Vater brachte mir zur gleichen Zeit die Internationale bei: ›… und heilig die letzte
Schlacht.‹ Das ging zusammen.« (KOS 30) In der Metaphorik beider Lieder ist die
Endzeiterwartung an die Entstehung einer neuen Welt geknüpft. Gleichzeitig arbeiten die
Lieder aber durch die Überdetermination ihrer Sprache an der Aufhebung ihres konkreten
Sinnpotenzials. Das zeigt sich insbesondere an der Austauschbarkeit der jeweiligen
Bezugssysteme. Es ist gerade diese sinnentleerte Geste der Vernichtung, die den jungen
Müller fasziniert, die Sehnsucht nach Zerstörung einer Ordnung ohne die Perspektive eines
Neubeginns. Der negative Impuls – den Müller im übrigen auch als Schreibimpuls für sich
reklamiert 470 – speist sich aus dem Hasspotenzial des Ausgegrenzten, der der singend
marschierenden Horde nur so lange angehört, wie das Lied ertönt. Sein Antrieb ist die
heimliche Freude am Untergang der Ordnung, die ihn ausschließt. Zugleich wird mit dieser
Identifikation die Position des Vaters (»zu Hause wurde über alles oppositionell geredet«),
dessen Legitimation als Wortführer und Instanz der Befehlsgewalt bereits in der
Verhaftungsszene untergraben wurde, weiter geschwächt.
In jenem alternativen poetischen Entwurf, der vermutlich parallel zur Arbeit an KRIEG
OHNE SCHLACHT entsteht, erfährt die Lust an der Katastrophe ihre Bestätigung: »aber ich
dachte […] an andre Knochen, ein andres Deutschland, eine andere Welt. Der Rausch der
Vernichtung endet in der Hochzeit mit dem Gegner, wer immer nach der Brautnacht die Last
des Sieges oder des Besiegten trägt.« (W 2 184) Die anderen, derer hier gedacht wird, sind
nicht die Boten einer neuen Zeit, sondern die tatsächlichen Verlierer. Die Besiegten,
Entwürdigten, Ermordeten. Diejenigen, die keine Kraft aufbringen werden, einen Neubeginn
zu wagen, geschweige denn, das »Kontinuum der Normalität« (W 4 259) des geschichtlichen
Leerlaufs zu sprengen. Die Zeilen sind aus der Perspektive des Scheiterns einer in früheren
Texten Müllers tatsächlich anwesenden Hoffnung auf Neubeginn formuliert. Dieses – auch
autobiografisch erfahrene – Scheitern liest sich im Rückblick, aus der Perspektive der
ERINNERUNG AN EINEN STAAT, wie eine Bestätigung der Einsicht, dass die ›Neue Welt‹
nicht anders zu haben sein wird, als auf den Knochen der Besiegten. Unter diesen Umständen
verbietet sich die Formulierung alternativer Entwürfe. Der im Kollektiv der Hitlerjugend
469
»Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem roten Krieg. / Wir haben den Schrecken gebrochen, für
uns war’s ein großer Sieg. / Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt, / Und heute, da
hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. / Und liegt vom Kampfe in Trümmern die ganze Welt
zuhauf. / Das soll uns weiter nicht kümmern, wir bauen sie wieder auf. / Und mögen die Alten auch
schelten, so lasst sie nur toben und schrein! / Und stemmen sich gegen uns Welten, wir werden doch Sieger
sein.« (Hans Baumann: Horch auf, Kamerad. In: Liederbuch der NSDAP) Statt: »Und heute, da hört uns
Deutschland«, wurde oft »Und heute gehört uns Deutschland« gesungen.
470
»Mein Hauptimpuls bei der Arbeit ist die Zerstörung. Also anderen Leuten das Spielzeug kaputtmachen. Ich
glaube an die Notwendigkeit von negativen Impulsen.« (GI 1 124)
142
eifrig in den Untergang marschierende Knabe (»und ich konnte begeistert mitsingen«, W 2
184) erweist sich damit als autobiografische Folie eines historisch desillusionierten Autors.
Die Hoffnung lässt sich am Ausgang des Jahrhunderts von Auschwitz nur negativ
beschreiben, gebrochen in der Sprache eines anderen Autors: »Von nun an und für eine lange
Zeit, / wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte.« (KOS
310, Zitat aus Brechts FATZER-Fragment)
Beinahe die Hälfte des zweiten Kapitels widmet sich explizit der Rezeption und beginnenden
Produktion von Literatur. Als Dramatiker war Heiner Müller zeitlebens angewiesen auf die
Lektüre von, beziehungsweise Auseinandersetzung mit anderen Texten. Oft sind sie als
Bearbeitungen und Zitate ausgewiesen, öfter noch bleibt ihre Identität der Quellenkenntnis
des Lesers vorbehalten – über ihre literarische Qualität ist damit noch keine Aussage
getroffen. Heiner Müller machte nie ein Hehl daraus, dass er die Aneignung von Fremdtexten
sowie ihre Einspeisung in die eigenen Arbeiten als legitime literarische Praxis verstand. »Ich
schreibe so viel ab, dass kein einzelner es merken kann …« (GI 1 127). Die Qualität der
Zitate, die ein Text zu fassen vermag, sei zugleich Ausweis seiner poetischen Qualität. 471
Gegen die »erkennungsdienstliche Behandlung von Kunst« (KOS 331) hat sich Heiner Müller
hingegen ausdrücklich verwahrt. Das Besondere und im Œuvre Müllers vielleicht Einzigartige
der literarischen Verweisstruktur des Textes KRIEG OHNE SCHLACHT besteht in der
zumeist unkommentierten Aufzählung von Autoren oder Werken. Die Tatsache der
Aneignung anderer Kunstwerke, weniger die Reaktion auf deren Rezeption, steht dabei im
Vordergrund. Der Stellenwert für das eigene Schaffen wird in den meisten Fällen lediglich
behauptet, nicht begründet. Vollkommen untergeordnet erscheinen daher die Inhalte dieser
Werke.
Bereits im ersten Buchkapitel hatte der Erzähler auf die eher zufällige Lektüre einer
»Nietzsche-Diskussion unter sozialdemokratischen Arbeitern, die ›Zarathustra‹ gelesen
hatten« (KOS 16) hingewiesen. Der Eppendorfer Großvater, bei dem er oft die Ferien
verbrachte, »hatte noch alte Jahrgänge sozialdemokratischer Zeitschriften vom Anfang des
Jahrhunderts. Das war mein Hauptlesestoff mit zehn, zwölf, dreizehn Jahren. Es gab da Texte
von Gorki, Romain Rolland, Barbusse, Diskussionen und Leserbriefe« (KOS 16), und eben
jene Auseinandersetzung der »Arbeiter« mit Nietzsche. Von Interesse ist in diesem Fall die
Art und Weise der Wahrnehmung eines so gewichtigen und für Müllers Auseinandersetzung
mit dem Philosophen so zentralen Textes – allein schon wegen des rezeptionsästhetischen
Ansatzes. Die verfremdete Perspektive der Nietzsche-Lektüre aus dem Blickwinkel eines
durch die Katastrophen des Jahrhunderts historisch noch nicht diskreditierten
Klassenstandpunkts (»alte Jahrgänge sozialdemokratischer Zeitschriften vom Anfang des
Jahrhunderts«) erlaubt es dem Leser Müller, den utopischen Gehalt eines Textes
wahrzunehmen, dem im darauf folgenden halben Jahrhundert in gewisser Weise der Geruch
der Naziideologie anhaften sollte. Insofern ist die frühe Lektüre von ALSO SPRACH
471
»Er [Heiner Müller] hat wahrscheinlich keins der Bücher wirklich zu Ende gelesen, aus denen er zitierte, im
richtigen Moment zitierte. Diese Technik, schnell auf das Wesentliche zu kommen, kann man
wahrscheinlich nicht erlernen, man hat sie oder nicht, aber man kann sie ständig weiterentwickeln. Dazu
hatte er die Gabe, geduldig und aufmerksam zuzuhören, und sich zu merken, was ihm taugte, und dann
damit umzugehen wie mit Eigenem.« (Fritz Marquardt: Ich spiel auch nicht den Helden. Aus einem
Gespräch mit Martin Linzer. In: KALKFELL, 20–23, hier 22)
143
ZARATHUSTRA auch als Paradigma der unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit
einer Reihe von Autoren zu verstehen, die aufgrund ihrer wie immer gearteten Affinität zum,
respektive ihrer Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus in Verruf geraten sollten. Im
Gegensatz etwa zu Benn, Jünger oder Schmitt war es Nietzsche indes aus biografischen
Gründen nicht möglich, zu seiner ideologischen Vereinnahmung eine eigene Position zu
beziehen.
Wie im Falle des ZARATHUSTRA bleibt die frühe Lektüre des Erzählers weiterhin auf die
Bücherschränke seiner unmittelbaren Umgebung angewiesen, deren Bestand jedoch nicht
ungefährdet ist. So wird etwa die Wirkung der Rilke-Lektüre auf den Jugendlichen durch
einen Akt des Verlachens zunichte gemacht: »Ich hatte gerade angefangen, Rilke zu
entdecken, und las ihm [einem Schulfreund] Rilke-Gedichte vor. Er hat sich darüber
krummgelacht. Da habe ich dann mitgelacht.« (KOS 31) Einen vermutlich schwerer
wiegenden Eingriff stellt die Dezimierung des väterlichen Bücherbestandes anlässlich dessen
neuerlicher Verhaftung dar: »1940 wurde mein Vater noch einmal verhaftet, weil er in seinem
Betrieb, in der Krankenkasse, aus ›Mein Kampf‹ vorgelesen hatte, was Hitler über den
Bolschewismus geschrieben hat, am Tag des Nichtangriffspakts. Er war zwei Wochen in
Untersuchungshaft. Er konnte sich herausreden, aber es gab wieder eine Hausdurchsuchung,
die Bibliothek wurde wieder dezimiert.« (KOS 31) Der kritische Kommentar zum
Zeitgeschehen mittels des Vortrags der von Hitler selbst formulierten Ansichten und
angedeuteten Absichten verweist – wie auch die Rilke-Episode – auf die Problematik des
Umschlags von individueller Rezeption in öffentliche Kommunikation. In beiden Fällen
besteht auf unterschiedliche Art und Weise eine Diskrepanz zwischen der individuellen
Wahrnehmung der Texte und ihrer Wirkung in einem erweiterten
Kommunikationszusammenhang. Lektüre und Vortrag stehen in einem widersprüchlichen
Verhältnis zueinander. Die Rezeptionshaltung schlägt mit der jeweiligen Veränderung des
kommunikativen Rahmens um. Die Folgen sind Verlachung, beziehungsweise Verhaftung.
Weit wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang jedoch die Entfernung nicht
systemkonformer Literatur aus der Bibliothek des Vaters. Sie bedeutet nicht allein die
Fortschreibung einer vom Sohn als traumatisch erfahrenen Gewalt, gegen die der Vater
machtlos ist. Vom früh vor den Augen des Sohnes erniedrigten Vater und dem damit
verbundenen Verlust seiner Autorität, hat sich der Fokus des Sohnes auf eine andere Instanz
der Wahrheitssuche und Sinnstiftung verschoben: die Literatur. Die Haussuchung entzieht
nun gerade jene Texte dem Zugriff, die zur feindlich erfahrenen Umwelt in einem
antagonistischen Verhältnis standen und somit als Identifikationsangebote hätten
wahrgenommen werden können. Ihre Beschlagnahmung durch nationalsozialistische Beamte
macht eine Auseinandersetzung mit diesen Texten unmöglich und muss als – möglicherweise
irreparable – Leerstelle begriffen werden.
Gestörten und verhinderten Lektüren gesellen sich Manipulationen im Leseverhalten des
Erzählers hinzu. Manipulierte der Vater in einem frühen Diktat, das im ersten Buchkapitel
geschildert wird, die Schrift des Sohnes, diktiert er darüber hinaus dessen Lesegewohnheiten.
»Mein Vater hatte eine Prachtausgabe von Casanovas Memoiren, mit schwülen Illustrationen
in Vierfarbdruck. Das war natürlich eine Lieblingslektüre von mir. Aber er fand das doch
verderblich oder zu früh für mich. Jedenfalls tauschte er den Casanova mit einem Kollegen
gegen eine Schiller-, Hebbel- und Körner-Ausgabe ein. An der Stelle, wo Casanova gestanden
hatte, fand ich nun Schiller, Hebbel und Körner. Ich habe den ganzen Schiller gelesen, die
144
Stücke jedenfalls, von Hebbel auch alle Stücke. Und von da an wollte ich Stücke schreiben.«
(KOS 32) Die Werke der Protagonisten eines Kanons bürgerlicher Literatur, mit ihren
verzierten Buchrücken meist nur Platzhalter geistiger Leere in den Bibliotheken der
gebildeten Mittelschicht, werden als Triebersatz in den väterlichen Bücherschrank eingeführt.
An die Stelle des sinnlich illustrierten Casanova treten die Helden einer Askese des Geistes.
Indem der Sohn das Lektüreangebot des Vaters annimmt, folgt er dieser Abkehr vom
hedonistischen Prinzip zugunsten einer Ökonomie der Triebsteuerung. Mit der Überführung
unaufhebbarer Widersprüche in eine dramatische Struktur in den Dramen Schillers und
Hebbels, erfährt der Erzähler darüber hinaus das – leicht psychologisch ausdeutbare – Glück
dieser Triebökonomie, den Lustgewinn, der im Wunsch eigene Stücke zu produzieren
verlängert wird. Vor allen Dingen aber begründet dieser Wunsch die Affinität zu einer Form,
die zur Darstellung von Widersprüchen besonders geeignet erscheint. »Ab zehn ungefähr fing
ich an zu schreiben, zuerst Balladen. Das ging aus von einer Reclam-Anthologie von
deutschen Balladen zum Beispiel. ›Die Hunnen jauchzten auf blutiger Wal. Die Geier stießen
herab zu Tal.‹ Die Hunnen interessierten mich wegen der Nibelungen. Dann fing ich an,
Stücke zu schreiben.« (KOS 32) Mit der Ersetzung der umfangreichen Memoiren Giacomo
Girolamo Casanovas und der Rationalisierung im Zeichen des klassischen Dramas,
beziehungsweise des bürgerlichen Trauerspiels, befindet sich der Erzähler an einer Schwelle
des Umschlags passiver Konsumption in den Bereich produktiver Gestaltung. Dabei bleibt die
Produktion unmittelbar auf die vorangegangene Lektüre angewiesen, an der sie sich auch
stofflich orientiert.
Die künstlerischen Fingerübungen dienen der Aneignung literarischer Stoffe ebenso wie dem
Erwerb des sprachlichen Handwerkszeugs. Der individuelle Antrieb künstlerischen Gestaltens
wird nicht benannt. Scheinbar erschöpft er sich im kindlichen Ehrgeiz »Stücke zu schreiben«
(KOS 32) und dem Vertrauen auf die Haltbarkeit und den Gehalt literarischer Texte, die eine
vordergründige Intention verweigern. Die intertextuellen Techniken des Zitats, der
Zitatreihung und der Zitatcollage werden hier nicht nur als Ausgangspunkt eigenen
Schreibens erkannt, sie verweisen zugleich auf ein Werk, das sich in der Tradition vorläufiger
Texte und ihrer permanenten Überschreibung versteht. Damit ist zugleich auf eine von Heiner
Müller favorisierte Konzeption von Autorschaft verwiesen, die den Künstler nicht losgelöst
vom Kunstwerk oder gar ihm vorgängig zu denken versteht. Paradigmatisch offenbart sich
diese ausgestellte Inkommensurabilität von Kunst in der Adaption Edgar Allan Poes THE
NARRATIVE OF ARTHUR GORDON PYM OF NANTUCKET. Unter dem assoziativ
einen weiteren Poe-Text aufrufenden Titel 472 MAeLSTROMSÜDPOL (s. a. W 2 120f.)
übersetzt Müller den Schlussteil von Poes einzigem Roman anlässlich der »documenta 8« in
Kassel 1987 und ergänzt ihn durch die Variation eines Eliot-Zitats (THE WASTE LAND).
Die interpunktionslose Abwärtsbewegung des Textes MAeLSTROMSÜDPOL zeichnet die
unüberwindbare Sogwirkung von Poes Texten auf Heiner Müller adäquat nach. Nur ein Jahr
nach MAeLSTROMSÜDPOL verfertigte er für Robert Wilsons Inszenierung THE FOREST
an der Berliner Schaubühne eine weitere Poe-Bearbeitung (SILENCE – A FABLE, s. a. W 2
171–174). Dass den Spätwerken beider Künstler resignative Züge anhaften, ist nicht von der
Hand zu weisen. Welche Konsequenzen sie in künstlerischer Hinsicht aus dieser Resignation
472
Es handelt sich hierbei um die Erzählung A DESCENT INTO THE MAELSTRÖM (EIN STURZ IN DEN
MALSTROM).
145
ziehen bliebe allerdings genauer zu überprüfen. In KRIEG OHNE SCHLACHT wird der
Eindruck der frühen Poe-Lektüre folgendermaßen geschildert: »Ich habe damals sehr viele
Reclam-Bücher gelesen, weil das die billigsten waren. 473 Mein Vater hatte sehr viele und
kaufte ständig dazu. So habe ich mit zwölf, dreizehn Erzählungen von Edgar Allan Poe
gelesen. Auch ›Die Abenteuer Gordon Pyms‹ standen im Regal, doch das hatte mein Vater
weggenommen wegen der Kannibalismus-Szene. Deswegen habe ich es natürlich mit
besonderem Eifer gelesen. Es war ein unvergesslicher Eindruck, besonders der abgebrochene
Schluss mit der Gestalt aus Schnee.« (KOS 32) In der Arbeitsfassung, die sich in Müllers
Nachlass findet, ist der Bezug Poes Schnee-Metapher zum eigenen Werk explizit bezeichnet:
»Das kommt bei mir immer wieder vor, der Schnee. Schnee hat etwas mit Auslöschung zu
tun, mit Beruhigung, mit zudecken.« (HMA 4487, 33) Mit Blick auf Heiner Müllers
Autobiografie ist die zeitliche Rückverlegung seiner Affinität zu Texten Edgar Allen Poes im
Allgemeinen und zu ARTHUR GORDON PYM im Besonderen von nicht zu
unterschätzender Bedeutung. Die Projektion einer literarischen Traumatisierung in die
Vergangenheit des Künstlers vergegenwärtigt der Text als Zitat einer literarischen Figur, die
an Müllers Engelbilder gemahnt. Die »Gestalt aus Schnee«, die der Erzähler in einer früheren
Textfassung mit den Attributen des Vergessens assoziiert, zeigt eine neuerliche
Metamorphose des Engels der Geschichte an, der seit den fünfziger Jahren in
unterschiedlichen Konstellationen und stets verringerter Schlagkraft durch Müllers Werk
geistert und nunmehr die Ufer Lethes erreicht zu haben scheint. Die Figur verweist damit zum
einen auf die generelle Ursprungslosigkeit und Richtungslosigkeit der Kunst zum anderen auf
die Beschreibung der Biografie als Prozess der Selbstauslöschung, deren Resultat das ENDE
DER HANDSCHRIFT (W 1 322) oder das »SCHWEIGEN« (W 2 174) ist. Indem der
Erzähler die späte Erfahrung künstlerischen Scheiterns, in Texten Heiner Müllers seit den
späten Achtzigern immer wieder und zuletzt immer konsequenter formuliert, an den
Ausgangspunkt seiner Arbeit als Dichter projiziert, stellt er nicht weniger zur Disposition als
das Werk des Dichters: »VIELES ABER / WIE EINE LAST VON SCHEITERN / IST ZU
BEHALTEN« (W 8 611).
Mit der spielerischen Entfaltung eigener literarischer Impulse, stößt der jugendliche Hunger
auf immer neue Texte an die Grenzen der väterlichen Bibliothek: »In Mecklenburg hatte mein
Vater kaum noch Zeit für Bücher oder mich. Es gab aber einen Deutschlehrer an der
Oberschule, der mir Bücher borgte.« (KOS 33). Der Expansion über den häuslichen
Lektürerahmen sind aufgrund der Ressentiments des Wissen verwaltenden Lehrers jedoch
ebenfalls Grenzen gesetzt. »Einmal hatte er ein Problem. Ich wollte die ›Gespenstersonate‹
von Strindberg lesen, und das wollte er mir nicht geben.« (ebd.) Eine Begründung der
Vorbehalte des Lehrers liefert die das zweite Buchkapitel beschließende Episode. »Später
erfuhr ich, dass er einen Mitschüler, der auch Bücher bei ihm borgte, vor mir gewarnt hat.
›Hüten Sie sich vor diesem Menschen.‹ Damals hatte ich gerade angefangen, Bücher über
Psychologie und Psychoanalyse zu lesen. Mit fünfzehn, sechzehn dann auch Literatur über
Hypnose. Und dieser Mitschüler war mein bestes Medium. Mein größter Erfolg als
Hypnotiseur war eine Gemeinheit: Mir gefiel ein Mädchen, in das er verliebt war, in aller
473
Hierzu gehört vermutlich auch Gagerns MARTERPFAHL (Phillip Reclam jun. Leipzig, 1925), den Müller
neben den unvermeidlichen Indianerbüchern als frühe Quelle literarischer Inspiration bezeichnet: »Wir
waren ja mit diesen Indianerbüchern aufgewachsen, Fritz Steuben, Friedrich von Gagern, Ludwig Wetzel.
Ich weiß noch Sätze aus diesen Büchern auswendig.« (Müller 1995)
146
Unschuld, glaube ich. Ich habe ihn per Hypnose dazu gebracht, sich von ihr zu trennen. Die
Strafe folgte auf dem Fuß. Denn es stellte sich – ich schnürte da um sie herum – schließlich
heraus, dass sie zwei Brüder hatte, und diese Brüder waren Schmiedegesellen.« (ebd.) In der
Passage wird die Überprüfung der Praxistauglichkeit von Literatur geschildert. Sie ist als
Vexierspiel literarischer Masken angelegt: Der Erzähler schildert seinen Auftritt als
Casanova, der die Fachlektüre erfolgreich an seinem Probanden erprobt und sich in den selbst
gelegten Fäden der bei Schiller angelesenen Intrigendramaturgie verstickt, weil er dem
Experiment nicht als kalter Beobachter zusieht, sondern innerhalb des Versuchsaufbaus
eigene Ambitionen hegt. Die archaische Feindschaft der Brüder, die am Ende des ersten
Buchkapitels noch paradigmatische Gültigkeit besitzt (s. a. KOS 25), wendet sich nun gegen
den Verführer der Schwester, dessen Projekt – die praktische Anwendbarkeit der Literatur auf
die empirische Lebenswelt – sich als gescheitert erweist.
Im Nachlass ist unter den Signaturen HMA 4473 und HMA 4474 eine Reihe
unzusammenhängender handschriftlicher Skizzen zu Kriegserlebnissen erhalten, die in der
Regel über stichwortartige Aufzählungen nicht hinausgehen. Dabei tauchen bestimmte Topoi
und Formulierungen immer wieder auf. Die Aufzeichnungen im Konvolut HMA 4473
stammen wahrscheinlich aus der Mitte der siebziger Jahre, zumindest legt eine
Zusammenstellung von Titeln für die Rotbuch-Ausgabe (LOHNDRÜCKER, KORREKTUR,
TRAKTOR, HERAKLES 5, BAU etc. 474 ) auf der Rückseite eines Blattes die Vermutung
nahe. Dass sich diese Blätter im Arbeitsmaterial zu KRIEG OHNE SCHLACHT befinden,
beweist, dass Müllers in den verschiedenen Textstufen der Autobiografie aufgerufenen
Kriegserinnerungen wesentlich auf literarisch bereits verarbeitete Erfahrungen zurückgehen
und somit nachweislich als Zitat gekennzeichnet sind. Auf dem ersten Blatt des Konvoluts
notiert Müller in einer staccatohaften Eruption sich gegenseitig überlagernder Bilder die
Stationen seiner Kriegsteilnahme, der Gefangenschaft, der Rückkehr in die Heimat und
schließlich unterwegs aufgelesene Anekdoten, die sich später in Erzählungen und Stücke
einspeisen. »Der Marsch von Doberan n[ach] (kurz vor) Schwerin bis zur
Grenzüberschreitung, Remi[ni]szenz an Marschnacht auf d[em] Bahndamm, Marsch, zu enge
Stiefel, das verlassene Haus mit den Büchern (Insel Kant Schopenhauer) / Warum weint ein
Truppenführer / Beinahe Soldat (Ausgabe von Panzerfäusten), Remi[ni]szenz an
Geländespiele (Ausgabe von Panzerfäusten) / Werwolf oder? / Dies auf einem verlassenen
Bauernhof, neben Pumpe + Tränke für Vieh // Der Zug auf d[er] Brücke / Flucht aus d[em]
Zug + Anisschnaps + US Gefangener / Schlafen auf Piste (Beton) / Marsch an zerbrochener
Brücke vorbei / Lager: 32 Mann 1 Brot – der Tausch durch den Zaun (Fleisch gegen Jacke) /
Nachricht Himmlers Selbstmord, Schritt durch das Tor. // Das Hühnergesicht / D[as] Quartier
in der Scheune (der Rumäne der beim Zirkus war + Pferde schlachtet) / D[ie] Italiener die
Kälber auf der Weide schlachten / Der KZ Häftling (frdl. [freundlicher] Neger will uns mit
MP Huhn schießen) / Schnaps bei den Polen / Das Erwachen an der Jauchegrube / Der
474
GESCHICHTEN AUS DER PRODUKTION 1 u. 2. Berlin 1974
147
besoffene US Sergeant / Begegnung in Schwerin mit d[em] Truppenführer (Straßenreinigung)
/ Gemeindefahrrad z[um] Kartoffelholen / Grenzüberschreitung (Greuelmärchen vorher) /
Marsch (alone) n[ach] Waren / Frage: Pole? / Geschichte v[on] den Freifrauen + d[en] SS
Offiz[ieren] (keine Waffe/Beil) / Geschichte v[on] Polizeihauptmann (Der Familientod) /
[Geschichte vom] Papierhändler / [Geschichte] v[on] d[er] Fleischersfrau (Bäcker)« (HMA
4473). Eine andere Skizze beschreibt den Krieg ohne Schlacht bis zur Übermittlung der
Nachricht vom Tod Hitlers. In diesem Text ist bereits eine Ebene der Reflexion über den
Krieg zu erkennen: »Wir marschierten die Küste entlang mit norwegischen Gewehren,
Beutegut, veraltete Modelle, letzter Vorrat, sangen wenn es verlangt wurde, schwitzten, bogen
landein mit der Straße […] kaum zu befahrener Asphalt, im Landinnern wurden Panzerspuren
häufig, die Straße zeigte ihr Inneres, dann da die Straße nach Osten abging/wich über
Landwege westwärts, in langsam einsetzendem Regen, schwer den Gleichschritt zu halten im
Schlamm ich im Vorteil, Russland Kornkammer + Sprungbrett nach Indien 2000 Kilometern
entfernt auf der Karte […] Wir hörten den Dialog der Heere, der deutlich hörbar in den
Monolog des Siegers überging, Regen Schlamm, ich war im Vorteil: Meine Stiefel waren zu
eng, Rast zwischen verlassenen Häusern, Trinken aus der Pumpe, Pissen an eine Stallwand,
Weiter durch den Regen, Kolonne Wehrmacht überholte uns, Feldgrau, das Erdbraune, ihr
Führer flüsterte mit unserm Führer.« (ebd.) Die teilweise manisch wiederholten Stichworte
zeugen von einer intensiven, ja, obsessiven Erinnerungsarbeit. »Es ist ganz schwer, sich an
Details zu erinnern« (HMA 4487, 38), heißt es im Zusammenhang mit den
Kriegserinnerungen in einer Arbeitsfassung von KRIEG OHNE SCHLACHT. Schuld daran
ist offenbar die bereits vollzogene Vertextung der Kriegserlebnisse, die die Erinnerung an die
Kriegerlebnisse maßgeblich perforiert. Als Material liegen die Notate auch anderen späten
Arbeiten Müllers zugrunde, etwa dem Nachlasstext [Im Herbst 197.. starb …] oder auch dem
Stück GERMANIA 3 GEPENSTER AM TOTEN MANN (»(Die Freifrauen + der SS-
Mann)«, HMA 4474). Andere Bilder gehen zurück auf frühere literarische Arbeiten, wie »Der
junge Soldat mit dem Hühnergesicht« (ebd.) aus TODESANZEIGE oder »Der abgeschossene
Amerikaner« (ebd.) aus der Erzählung FLEISCHER UND FRAU (s. a. DIE SCHLACHT).
Einem der Skizzenblätter ist die Notiz »Portrait of the artist as a young m[an]« (HMA 4474)
vorangestellt. Dieser Titel legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Collage von
Erinnerungsfetzen der letzten Kriegsmonate um einen Ausdruck künstlerischen
Selbstverständnisses handelt. Dabei konstituiert sich der Autor aus der Auflösung der
Identitäten, beziehungsweise der Verweigerung eines gesicherten subjektiven Standpunktes:
»Wechsel der Erzählperson / ich / er / sie / wir« (HMA 4474). Aber selbst in den
Tonbandprotokollen, die der Autobiografie zugrunde liegen, ist von der ästhetischen Kühnheit
dieses Entwurfs, auf dem das Kriegskapitel vermutlich basiert, nichts mehr zu spüren. In
KRIEG OHNE SCHLACHT tritt die Technik der perspektivischen Auffächerung mittels
blitzhaft aufscheinender Erinnerungsbilder gänzlich hinter die stringente Schilderung durch
einen einzigen Erzähler zurück. Die Einzelbilder werden zu einer chronologisch geordneten
Erzählung verknüpft, die Subjekt und Objekt klar voneinander scheidet. Auf Zwischenfragen,
die sowohl in den Tonbandabschriften als auch im zusammenhängenden Text des
umfangreichen Arbeitsmanuskripts (HMA 4487) als Struktur bildendes Element auftreten und
die Texte als Gespräche ausweisen, wird im Drucktext des Kapitels vollständig verzichtet.
Nur die Leerzeilen verweisen als Relikte auf die ursprüngliche Dialogsituation. Dennoch
bleibt die Sprache aufgrund der inflationären Verwendung des Adverbs ›dann‹ und den
148
vorwiegenden Gebrauch schwacher Verben und Perfektkonstruktionen stilistisch deutlich an
die Eigenheiten mündlicher Kommunikation gebunden.
Der Schilderung des Kriegsendes gehen die Schließung der Schule (»Meine Schule wurde
geschlossen«, KOS 34) und die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst voran. Bevor es jedoch
zum eigentlichen Kriegseinsatz kommt, wird die Ausbildung abgebrochen. »Dann waren die
Russen schon in Mecklenburg, und es gab einen Marsch nach Westen. Unsre Ausbilder
wollten lieber von den Amerikanern gefangengenommen werden als von den Russen, also
marschierten wir nach Schwerin. // ›Feindberührung‹ hatten wir eigentlich nicht.« (KOS 35)
In einer früheren Fassung geht dieser letzten Replik ein Satz voran, der unmittelbar auf den
späteren Buchtitel verweist: »Ich habe in dem halben Jahr, in dem ich Soldat war, nie
kämpfen müssen.« (HMA 4487, 38) Der Kampf, seit Heraklit »aller Dinge Vater«, findet
nicht statt. Dem ideellen Verlust des Vaters in den vorangegangenen Kapiteln folgt die
Vaterlosigkeit im Krieg: »mein Krieg war ohne Schlacht« (W 2 186). Die verwehrte
»Feuertaufe« 475 in den Stahlgewittern des Krieges, die den Krieger, wie es Ernst Jünger in
seinem Essay DER KRIEG ALS INNERES ERLEBNIS wollte, zum Quasi-Übermenschen
umschmelzen soll, lässt jedoch keine Leerstelle zurück. Denn: »Der Krieg war für den
Ausländer im eigenen Land kein Einschnitt, weil er immer schon sein Lebensraum gewesen
war.« (HMA 4476), zumal es seine Sache nicht ist, um die hier gekämpft wird. »Ich habe
mich eher gefreut auf das Ende.« (KOS 37), heißt es in KRIEG OHNE SCHLACHT. Im
Nachlass findet sich der Satz, »Den Untergang des Dritten Reiches erlebte ich mit dem
Triumphgefühl des feindlichen Ausländers.« (W 2 184) Dies mag eine Erklärung sein für die
seltsam nüchterne und distanzierte Schilderung der Erinnerung an die Ereignisse der letzten
Kriegswochen und der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Das
Verhältnis des Sprechers zum Krieg ist weniger charakterisiert als Verhältnis zum Vater, es
spiegelt vielmehr eine strukturelle Vater- und Ursprungslosigkeit wider, die im Krieg ihre
Gestalt gewinnt, aber nicht durch ihn: »Wir kommen nicht aus Ursprüngen, sondern aus
wandelnden Wüsten der Immanenz.« (Deleuze/Guattari)
»Auf dem Marsch nach Schwerin habe ich in einem verlassenen Dorf Bücher geklaut. Wir
mussten dort Wasser fassen für die Feldflaschen und kamen in ein leeres Haus. Alles war
noch drin, die Möbel und die Bibliothek. Der ehemalige Bewohner, vielleicht der Lehrer des
Dorfes, hatte schöne Dünndruckausgaben, Insel-Dünndruckausgaben. Ich klaute eine Kant-
und eine Schopenhauer-Ausgabe.« (KOS 35) Die Aneignung grundlegender Werke deutscher
Philosophie durch einen Diebstahl verweist nicht nur auf Müllers Schreibpraxis, die
wesentlich in der Einverleibung von Vorgefundenem besteht, auch wird vor dem Hintergrund
der Wassersuche, die die Vergeblichkeit des menschlichen Strebens nach Befriedigung seines
Erkenntnis- und Daseinsdranges symbolisiert, Bezug auf den Inhalt des Diebesguts
genommen. Zwar desavouiert der Autor des Prosafragments [Im Herbst 197.. starb …] Kants
drei KRITIKEN als »Emanationen eines Wahnsinnigen« (W 2 188), und behauptet,
Schopenhauers WELT ALS WILLE UND VORSTELLUNG gar nicht erst gelesen zu haben
(ebd.), doch scheint die Betonung der »Schönheit der Dünndruckausgaben« (W 2 187) ein –
wenngleich ironisch eingefärbter – Hinweis auf Schopenhauers Ästhetik, die in der
Kunstbetrachtung ein Mittel der »Verneinung des Willens« 476 , also der Überwindung der
475
Jünger-SW 7, 22
476
»Der Wille bejaht sich selbst, besagt: indem in seiner Objektivität, d.i. der Welt und dem Leben, sein
149
Wirklichkeit zu sehen vermag. Der Raub mag auch als Folge der Nietzsche- und Freudlektüre
erscheinen, Autoren, auf die Kants, vor allem aber Schopenhauers Werke großen Einfluss
ausübten. Nietzsches Verdikt in seinem zweiten Vorwort zu DIE FRÖHLICHE
WISSENSCHAFT, dass die Geschichte der abendländischen Philosophie im Grunde nichts
anderes sei, als die Krankengeschichte der abendländischen Philosophen 477 , scheint sich der
Nietzsche-Leser Heiner Müller zu Herzen genommen zu haben, den lediglich der
Materialwert der Philosophie interessiert. »Im Grunde habe ich Philosophie immer als eine
Krankheit angesehn, von der sich Fernzuhalten eine Bedingung der (meiner) Gesundheit ist.
Unmöglich sich vorzustellen, Hegel, Kant oder Schopenhauer hätten ein Pferd umarmt« (W 2
188), was Nietzsche bekanntlich nachgesagt wird. Seine eigentliche poetische Bedeutung für
den Text der Autobiografie gewinnt das zusätzliche philosophische, beziehungsweise
bibliophile Marschgepäck dadurch, dass ihr Träger in zu engem Schuhwerk unterwegs ist.
»Ich erinnere mich an meine zu engen Stiefel. Wir hatten vor dem Marsch ganz schnell neue
Stiefel fassen müssen, es gab keine Zeit zum Probieren, meine waren eben zu eng, also hatte
ich dauernd Blasen an den Füßen.« (KOS 35) Der Topos von den zu engen Stiefeln taucht in
Notizen aus dem Umfeld der Entstehung von KRIEG OHNE SCHLACHT immer wieder auf
(s. a. HMA 4473; HMA 4474; HMA 4480; TA 56; HMA 4487, 39; W 2 186) Im folgenden
Abschnitt wird das Bild noch einmal exponiert: »Nur an die Stiefel erinnere ich mich.« (KOS
36) Der Transport Erkenntnis fördernder Lektüre in zu engen Stiefeln gemahnt an die
Stiefschwestern Grimms ASCHENPUTTEL. Beide versuchen sich beim Gang zum Traualtar
in den zu kleinen Schuhen des von ihnen verachteten Aschenputtels und werden von den
Tauben im holprigen Versmaß des Meineids überführt: »Rucke di guck, rucke die guck, / Blut
ist im Schuck: / Der Schuck ist zu klein, / die rechte Braut sitzt noch daheim.« 478 Als »rechte
Braut« geht der Soldat in den zu engen Stiefeln mit Kant und Schopenhauer im Tornister
nicht durch. Ein Happy End ist für ihn daher nicht in Sicht. Seine Sache wird die des
Wegbereiters oder Brückenbauers einer neuen Zeit nicht sein: »Ich sah eine zerschossene
Brücke, ein Bild, das sich mir sehr eingeprägt hat.« (KOS 38) Stattdessen wird Müller die
Rolle des blinden Sehers zuteil, dessen Sache die Erkenntnis nicht sein kann. Bekanntlich
werden Grimms – ob freiwillig oder unfreiwillig lässt das Märchen dahingestellt –
Trägerinnen des zu engen Schuhwerks, das allein dem Aschenputtel den Zugang zu einer
Welt ohne Kummer und Sorge verschafft, beide Augen ausgehackt. 479 »Die Blindheit der
eigenes Wesen Ihm als Vorstellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntnis sein
Wollen keineswegs; sondern eben dieses so erkannte Leben wird auch als solches von ihm gewollt, wie bis
dahin ohne Erkenntnis, als blinder Drang, so jetzt mit Erkenntnis, bewusst und besonnen. - Das Gegenteil
hievon, die Verneinung des Willens zum Leben, zeigt sich, wenn auf jene Erkenntnis das Wollen endet,
indem sodann nicht mehr die erkannten einzelnen Erscheinungen als Motive des Wollens wirken, sondern
die ganze, durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntnis des Wesens der Welt, die den Willen
spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich selbst aufhebt.« (Schopenhauer-ZA 2,
359)
477
»Im andren, gewöhnlicheren Falle aber, wenn die Notstände Philosophie treiben, wie bei allen kranken
Denkern – und vielleicht überwiegen die kranken Denker in der Geschichte der Philosophie –: was wird aus
dem Gedanken selbst werden, der unter den Druck der Krankheit gebracht wird? […] Jede Philosophie,
welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glück,
jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgendwelcher Art, jedes
vorwiegend ästhetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Außerhalb, Oberhalb erlaubt
zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspiriert hat.« (Nietzsche-W 2, 11)
478
Grimm 1969, 98f.
479
»Als die Brautleute nun zur Kirche gingen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite; da
pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach, als sie herausgingen, war die älteste zur Linken
150
Erfahrung ist der Ausweis ihrer Authentizität. Nur der zunehmende Druck authentischer
Erfahrung entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins Weiße im Auge zu sehn, die das Ende
der Politik und der Beginn einer Geschichte des Menschen sein kann.« (W 8 216f.)
Die Auflösung der Truppe infolge des endgültigen militärischen Zusammenbruchs und die
Verkündigung des Führerselbstmords werden vom Gros der auf der Flucht befindlichen
Kolonne mit Erleichterung aufgenommen. Aus dem Marschschritt verfallen die führerlosen
Soldaten in richtungslosen Trott. »Wir andern zerstreuten uns in der Landschaft und trotteten
allein weiter, ziemlich erleichtert.« (KOS 36) Über den eigenen Geisteszustand nach dem
Zusammenbruch vermag der Erzähler keine Angaben zu machen. An die Leerstelle tritt die
bereits zu Literatur geronnene Erfahrung eines anderen Autors. »Man kennt die
Schlachtbeschreibung von Stendhal in der ›Kartause von Parma‹, wo der Held sein Idol
Napoleon weit hinten einmal ganz klein vorbeireiten sieht. Das Wesentliche an solchen
Konstellationen ist, man kriegt nichts mit. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Angst
gehabt hätte. Nur an die Stiefel erinnere ich mich. Es ist wie unter Schock nach einem
Unfall.« (KOS 36f.) Die Referenz an Stendhal, im Bild in der Ferne vorbeifahrender Panzer
noch einmal aufgenommen (»… man hörte ab und zu Schüsse, Artillerie, man sah Panzer in
der Ferne durch ein Kornfeld fahren«, KOS 38), verdeutlicht die Unfähigkeit, eigene
emotionale Gedächtnisarbeit zu leisten. In einer früheren Fassung wird die
Empfindungslosigkeit angesichts eines Tieffliegerangriffs geschildert, in den das Ich der
Erzählung geraten war: »… es war nicht mit einem wirklichen Schock verbunden, dazu war
das zu unwirklich, zu irreal. Ein schwebender Zustand.« (HMA 4487, 44) Die Wahrnehmung
liege, so Müller im Interview, »wie unter einem Schleier. Das war […] ein angstfreier
Zustand, wie im Traum.« 480 Im Prosastück [Im Herbst 197.. starb …] ist bezüglich dieser
Ereignisse ebenfalls die Rede von »Traum« oder einer »Operation mit örtlicher Betäubung.«
(W 2 186f.) Ein Grund für die Benommenheit wird in dem ungeheuren Druckverlust gesucht,
der den »Ausländer im eigenen Land« (HMA 4476) plötzlich dem Taumel der Freiheit
aussetzt: »Das Kriegsende war für mich plötzlich ein absoluter Freiraum. Ich bin ziemlich
ziellos durch die Gegend getrottet.« (KOS 38) Das ziellose Treiben lässt sich in dieser
Textpassage auch daran ablesen, dass das ›Ich‹ der Erzählung erstaunlich häufig dem
kollektiven ›Wir‹ und dem unpersönlichen ›Man‹ weicht. Der Phantomschmerz über die
Bewusstseinslücke lässt sich auch im Nachhinein nicht mit Sinn füllen. Stattdessen wird die
Verwundung an die Füße delegiert. Die zu engen Stiefel – ein poetisch überformtes Bild –
bleiben die einzig greifbare Erfahrung. Das Zitat hat die Erinnerung ersetzt.
Vor der Folie einer unter Schock stark eingeschränkten Wahrnehmung erscheinen
Ereignisdichte und Vielfalt der Bilder der nächsten Seiten umso erstaunlicher: Die Flucht aus
einem von den Russen angehaltenen und nach Soldaten durchsuchten Zug Richtung Westen
(»Die Russen schossen hinter uns her«, KOS 38); die Verhaftung durch einen Amerikaner,
der den Erzähler um seinen ersten Rausch betrügt, indem er ihn um den soeben neben einem
toten Pferd aufgelesenen Anisschnaps erleichtert (»Das habe ich den Amerikanern nie
verziehn«, ebd.); die Übernachtung in den Trichtern eines zerbombten Rollfeldes (»Schlaf auf
zerbombtem Rollfeld (Beton) / glücklich über Bombenlöcher, / aber zu wenig
und die jüngste zur Rechten; da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für
ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag gestraft.« (Grimm 1969, 100)
480
In: Freitag vom 18. Juni 1993
151
Bombenlöcher«, HMA 4474); der Marsch in den »Enormous Room« 481 eines
Gefangenenlagers bei Schwerin (»… um Scheunen herum war ein Riesenlager abgesteckt, ein
großes Gefangenenlager«, KOS 39), flankiert von schwer bewaffneten Amerikanern (»… die
Wirkung der Propaganda: Die Deutschen waren Bestien, ganz gefährliche Raubtiere«, ebd.).
Bezeichnend ist die Darstellung der Flucht aus der amerikanischen Gefangenschaft: »Ich hatte
vor der Gefangennahme irgendwo eine Dose Büchsenfleisch aufgesammelt. Die habe ich
dann über den Zaun gegen ein Ziviljackett, dunkelgrau, hell gestreift, kaputt und zerrissen,
eingetauscht. Am Tor stand ein Posten. Ich habe zwei Tage gewartet, bin dann zu dem Posten
gegangen, ein stämmiger Amerikaner, und habe mich mit ihm unterhalten, habe ihn gefragt,
wo er her ist. ›Iowa.‹ Ob er Familie hat, verheiratet ist, ob er Kinder hat. Er hatte zwei Kinder
und hat mir Fotos gezeigt. Ich sagte: ›Beautyful kids‹. Da waren wir beide ganz gerührt, und
er dachte an seine Kinder. ›Beautyful family‹. Dann haben wir uns die Hand geschüttelt, und
ich bin weggegangen.« (KOS 39f.) Die Flucht aus der Gefangenschaft kann als Anspielung
auf die Überlistung des dreiköpfigen Hadeswächters Kerberos durch Orpheus gelesen werden.
Wie Orpheus lullt der junge Kriegsgefangene den wachhabenden Amerikaner (drei Köpfe:
seinen eigenen plus zwei seiner Kinder) mit seinem Lied ein (»Beautyful kids«, »Beautyful
family«) und zieht von hinnen. Aus dem Reich der Schatten folgt ihm keine Eurydike.
Stattdessen verfolgt ihn HÜHNERGESICHT, eine literarische Figur aus der
TODESANZEIGE, einer Textcollage aus den siebziger Jahren, die neben dem Selbstmord
Inge Müllers und Kindheitserinnerungen, einen Angsttraum und den dreifachen Mord an
Hühnergesicht literarisch verarbeitet. In diesem Text lässt sich das Hühnergesicht nicht wie
im Orpheus-Mythos durch einen Blick über die Schulter abschütteln. »Nie war mein Wunsch,
einen Menschen zu töten, so heftig. Ich erstach ihn mit dem Seitengewehr, […] Ich erschlug
ihn mit seinem Feldspaten, […] An einem sonnigen Maitag stieß ich ihn von einer
Brücke« 482 . Im Arbeitsmanuskript der Autobiografie findet sich ein Satz, der diesen
Tötungswunsch noch einmal klar formuliert: »Das war mein erster Blutrausch.« (HMA 4487,
46) Im Drucktext fehlt dieser Satz. Die Mordfantasie wird in einen Konjunktiv
zurückgenommen (»Ich hätte ihn umbringen können«, KOS 40), der entweder den – praktisch
nicht realisierbaren – tatsächlichen Wunsch des Töten-Wollens zum Ausdruck bringt, oder,
im anderen Fall, die wirkliche Tötungsabsicht, die, aus welchen Gründen immer, nicht
ausgeführt wurde. Entscheidend ist die fehlende Erinnerung daran, »wie ich ihn in
Wirklichkeit losgeworden bin« (KOS 40), denn sie macht deutlich, dass die Frage nach der
tatsächlichen Existenz einer »dürre[n] Gestalt im schlotternden Militärmantel« (W 2 101)
überflüssig ist. Als ›Hühnergesicht‹ kommt ihr ausschließlich im Sinne einer
Projektionsfläche für die (literarische) Mordfantasie eine Funktion zu. In der Autobiografie
wird diese Fantasie durch eine vorangegangene Lektüreerfahrung begründet: »Ich hatte
Nietzsche gelesen und vor allem Dostojewski, ›Raskolnikow‹. Das Beil.« In einem aus dem
Nachlass veröffentlichten Prosatext aus den fünfziger Jahren, der die Dostojewski-Lektüre
unmittelbar vor dem Einzug zum Reichsarbeitsdienst ansetzt, ist von deren
481
W 4 547. In der HAMLETMASCHINE zitiert Müller den 1922 erschienenen experimentellen Roman THE
ENORMOUS ROOM von Edward Estlin Cummings. Unter extremen Haftbedingungen drängen sich dem
Erzähl-Ich bei Cummings die vielfältigen Erscheinungsformen des Menschen in einer empfundenen
Endlosigkeit von Zeit und Raum auf.
482
W 2 102. Die dreimalige Tötung des ›Hühnergesichts‹ wird als Projektion in Robert Wilsons zwischen 1978
und 1984 entstandenem Projekt »the CIVIL warS« verwendet (s. a. W 6 240), an dem Heiner Müller
beteiligt war.
152
»herzzerreißende[r] Wirkung« (W 2 161) die Rede. Sie lässt den empirischen Anlass der
ästhetischen Tötung nebensächlich erscheinen.
Im folgenden Abschnitt werden die Lebensbedingungen in einem Dorf geschildert, in dem der
Protagonist der lebensgeschichtlichen Erzählung »auf einem großen Umweg um Schwerin
herum« (KOS 40) in die Sowjetische Besatzungszone, für mehrere Wochen Station macht.
»In Scheunen hatten sich ehemalige KZ-Häftlinge etabliert, unter anderem ein Schwuler mit
dem rosa Winkel. Was er bedeuten sollte, wusste ich damals nicht. Italiener waren dabei, ein
Rumäne, der vom Zirkus kam und viel von Pferden verstand, und Polen. Eine Zigeunerin hat
mir aus der Hand gelesen und prophezeit, dass ich zusammen mit einem älteren Mann nach
Sibirien komme, wenn ich in den Osten gehe. Ich wurde sie schwer los, sie wollte sich ständig
an mich hängen. Die Italiener schlachteten um das Dorf herum auf den Weiden Kälber. Dann
kamen brüllend die Bauern mit Knüppeln, aber sie konnten nichts machen. Die andern waren
in der Übermacht, es war ein rechtloser Zustand. Das Kalbfleisch aßen wir vor der Scheune.
Nach den Kälbern kamen die Pferde dran. Die schmeckten auch gut, man musste sie nur ganz
schnell braten. Das wusste der Rumäne. […] Wir waren eine multikulturelle Gesellschaft,
totale Anarchie. Aber die Italiener waren gute Ordnungskräfte. Im Chaos waren sie
hervorragend, während die Deutschen im Chaos meistens unzuverlässig wurden.« (KOS 40f.)
Die Beschreibung der Verhältnisse in dem unbenannten Dorf in im Herzen Mecklenburgs
etabliert die Vorstellung eines alternativen gesellschaftlichen Entwurfs im Zwischenbereich
der politischen Systeme vor deren Verfestigung und der Befestigung einer Grenze, die wenig
später den Riss zwischen Erster und Zweiter Welt markieren wird. Charakterisiert durch die
Attribute »rechtloser Zustand«, »totale Anarchie« und »Chaos« wird dieser Bereich, der aus
der Perspektive des Erzählers zwischen »zwei Diktaturen« angesiedelt ist, zum
gesellschaftlichen Experimentierfeld jenseits staatlicher oder ethnischer Konstruktionen. Da
es sich bei den Aktivitäten dieser »multikulturelle[n] Gesellschaft« vorwiegend um die
Beschaffung und Verteilung von Nahrung handelt, wird das Projekt schnell in seine
ökonomischen Schranken verwiesen. Die Figuren könnten unterschiedlicher kaum sein. Was
sie verbindet ist ihr Status als Außenseiter, mit dem sich der Erzähler offenbar identifizieren
kann. In früheren Fassungen war dieses Personal noch durch einen schwarzen Amerikaner
ergänzt. Möglicherweise wurde diese Passage unter anderem zur Vermeidung einer
unbeabsichtigten Kommentarfunktion zu ›Hühnergesicht‹ gestrichen. »Irgendwann wurde
unsere Ernährungsgrundlage aber völlig labil […]. Es ging eigentlich nur noch von der Hand
in den Mund. Da kam so ein Sergeant, ein amerikanischer Neger. Er hatte Mitleid mit uns und
wollte uns ein Huhn schießen. Die liefen da rum. Auf Hühner waren wir noch nicht
gekommen. Das Rupfen und so ist Scheiße. Man kommt nicht so schnell drauf, dass man
Hühner auch essen kann. Der schoss uns also mit seiner MP ein Huhn. Wir waren dann doch
menschlich enttäuscht, er auch, dass da nur noch Federn übrig waren.« (HMA 4487, 50f.)
In einer Nachlass-Notiz findet sich eine Selbstbefragung, die nach Gründen für das ziellose
Herumirren nach der Kapitulation und die mehrwöchige Unterbrechung des Heimwegs fragt.
»Warum bin ich nicht gleich weitergegangen, nach Hause, in Richtung Osten? Ich weiß es
nicht. Angst vor den Russen war es nicht, ich hatte nicht an die Propaganda geglaubt und
glaubte jetzt nicht an die Gerüchte. Ich war nie zielstrebig, Umwege bedeuten einen Zuwachs
an Erfahrung. Alles aufsammeln, alles mitnehmen, was am Weg liegt, der Weg ist das Ziel.
Die Passivität meines Großvaters, seine Lebensformel: Alles hat sein Gutes.« (HMA 4476)
Die Notiz stellt den Versuch einer nachträglichen Sinngebung des zunächst unverständlichen
153
Verhaltens dar. Sie kann auch als poetologisches Manifest gelesen werden. Die fatalistische
Haltung gegenüber der Wirklichkeit geht zurück auf einen phänomenologischen Begriff vom
Einverständnis, der moralische Vorbehalte weitgehend ausblendet und das Gesichtsfeld
wesentlich erweitert. Die Haltung entspricht Müllers Auffassung vom Schreiben, welches das
Einverständnis mit dem Gegenstand der Beschreibung voraussetzt: »Die Voraussetzung für
Kunst ist Einverständnis […]. Schreiben braucht ein Einverständnis, in Hass oder Liebe, mit
dem Gegenstand.« (KOS 289)
Nach der Beendigung des sozialen Experiments und der Etablierung einer neuen (alten)
Ordnung in dem Dorf bei Schwerin verlässt der junge Müller auf einem von der
Gemeindeverwaltung eigentlich zwecks Kartoffelbeschaffung für die Flüchtlinge zur
Verfügung gestellten Fahrrad das Dorf in Richtung amerikanisch-russischer Grenze, womit er
zugleich die von ihm selbst konstatierte Unzuverlässigkeit der Deutschen im Chaos illustriert.
»Die Grenze lag an einem kleinen Fluss, und Kilometer vorher erzählten uns die Leute schon,
dass hinter den Schlagbäumen und dem Grenzposten das Grauen begänne. In dem kleinen
Wäldchen lägen die ersten Leichen. Die Männer kämen alle nach Sibirien, wenn sie nicht
gleich erschlagen würden, die Frauen würden vergewaltigt.« (KOS 41f.) Unbeeindruckt von
jenen der Nazipropaganda geschuldeten »Greuelmärchen« (HMA 4473) betritt das Erzähl-Ich
gemeinsam mit zwei Gefährten (»Wir waren zu dritt«, KOS 42) den sowjetischen Sektor.
Während die Amerikaner die potenziellen »Todeskandidaten« (ebd.) ungehindert passieren
lassen, hieven die Russen »feierlich ihren Schlagbaum hoch« (ebd.) und eskortieren sie in den
Keller eines Hauses, wo sie nach Stunden bangen Wartens mit einer nahrhaften Suppe
bewirtet werden (»Unsere Hoffnung war, dass man Delinquenten nicht füttert«, ebd.). Auch
hierin kontrastiert die Darstellung mit den amerikanischen Verhältnissen, denn im Zuge der
Beschreibung der Inhaftierung durch die Amerikaner hieß es: »… zu essen gab es nichts.«
(KOS 38) Wenig später lassen die Russen ihre deutschen Kriegsgefangenen laufen. Eine
Begründung dafür wird nicht geliefert, die lange Warterei im Keller kann jedoch als Hinweis
gelten, dass deren Schicksal tatsächlich vorübergehend ungewiss ist. Noch zweimal wird der
Erzähler, bevor er in seiner Heimat Waren eintrifft, von Russen aufgehalten. Beide Male
kommen sie »aus dem Wald« (KOS 43) und sind einmal auf der Suche nach Polen (»Ich habe
in den Wald gesehn und sah Stacheldraht. Da war mir klar, dass sie Polen einsackten«, ebd.),
ein andermal auf der Suche nach »Papier« (»Er wollte Papier zum Zigarettendrehen, das habe
ich erst später begriffen. Als Deutscher denkst du bei Papier gleich an einen Ausweis«, ebd.).
Im Haus der Eltern logiert eine russische Einquartierung: »Meine Mutter war da, mein
Bruder, und ein russischer Offizier, eine Einquartierung, ein freundlicher, höflicher Mann, er
sprach deutsch. Mein Bruder war sehr beliebt, Kinder liebten sie ja sowieso.« (KOS 44)
Wiederum fällt auf, dass die sowjetischen Besatzer wenn nicht differenzierter, so doch
ungleich wohlwollender dargestellt werden als die Amerikaner. Mit der Heimkehr ist der
Spuk vom Krieg vorüber. Der prosaische »Monolog des Siegers« (HMA 4473) kann
beginnen.
154
6.4. 1945–1947, Swinging Country
»Der 8. Mai 1945 war […] für mich persönlich die Befreiung vom Druck dieser Zeit, das
Ende eines Doppellebens, das man als antifaschistisch Denkender und Handelnder führen
musste. 30 Jahre nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus in Deutschland weiß ich, dass
Befreiung kein einmaliger Akt ist. Sie kann auf Dauer auch nicht nur von anderen gemacht
werden. Befreiung, das ist eine Arbeit für jeden von uns. Dazu gehört auch die Erinnerung,
was diese Befreiung gekostet hat.« (W 8 172) Die Zeilen, die dem Text BEFREIUNG IST
EBEN AUCH HEUTE NOCH ARBEIT entstammen, erschienen im April 1975 anlässlich des
dreißigsten Jahrestages der »Befreiung vom Hitlerfaschismus« in der Ostberliner
Wochenzeitung »Tribüne«. Dem Ort der Publikation ist vermutlich auch der quasi-offizielle
Duktus dieser Zeilen geschuldet. Um den Preis, »den diese Befreiung gekostet hat«, wird im
gleichen Jahr an der Berliner Volksbühne mit Müllers DIE SCHLACHT in der Regie
Manfred Karges und Matthias Langhoffs verhandelt. Dass »das Ende eines Doppellebens«,
von dem hier die Rede ist, für den Dichter nur der Beginn anderer Doppelleben sein kann –
denn das Leben in Zwangslagen ist für den Dramatiker nach eigener Auskunft Bedingung –,
liegt auf der Hand. Besonders auffällig in diesem Textausschnitt über die »Befreiung« ist die
Besetzung der Rolle der Befreier, beziehungsweise ihre – wenigstens für den offiziellen
Sprachgebrauch der Deutschen Demokratischen Republik – Nichtbesetzung mit der
Sowjetmacht.
Im vierten Kapitel der Autobiografie, »Waren nach dem Krieg, 1945–47«, erscheint das
Verhältnis des Erzählers zur sowjetischen Besatzungsmacht als überaus ambivalent. Der
uneingeschränkten Befürwortung der Zerschlagung der Naziherrschaft folgt in KRIEG OHNE
SCHLACHT keine generelle Identifikation mit den »Befreiern«. An ihre Stelle tritt die
größtenteils unkommentierte Schilderung von Begebenheiten und Zusammenstößen mit den
Besatzern. »Das Verhältnis zu den Russen war zum Teil mit Angst besetzt, aber für mich
weniger, weil ich ja eigentlich zu den Siegern gehörte …« (KOS 52) Aus den
Tonbandabschriften geht hervor, dass »das Verhältnis zu den Russen« durchaus nicht
unbelastet war. Auf die Frage, »Du warst doch auch auf der Seite der Herrscher oder nicht?«,
entgegnet Müller im Gespräch: »Ja und nein. Das war nicht so einfach.« (TA 147f.) Immerhin
war die Mutter vor Vergewaltigungen (»… das waren Racheorgien. Eine Nachbarin zum
Beispiel ist in unserem Haus von Russen vergewaltigt worden. Der Mann musste zusehn.
Eine Woche lang wurde vergewaltigt«, KOS 48) nur verschont geblieben, weil sie im Haus
einer Freundin unterkam, »… deren Mann aus dem KZ noch nicht zurück war. Diese Frau
lebte mit einem Jugoslawen, kein Titoist, sondern ein Ustascha-Mann, glaube ich. Ein Riese
um die einsneunzig, ein Bär, freundlich. Der sprach Russisch und hat die Russen
abgewimmelt.« (KOS 44)
Zu den »Siegern« darf sich der Ich-Erzähler vor allem deshalb zählen, weil der Vater als
Sozialdemokrat und politisch »Verfolgter des Naziregimes« eine leitende Position in der
Nachkriegsverwaltung übernimmt (»Mein Vater war stellvertretender Landrat in Waren
geworden«, KOS 46). »Ich hatte durch die Funktion meines Vaters relativ wenig Kontakt zur
Bevölkerung. Die Funktionäre waren isoliert. Es fällt mir ganz schwer, mir vorzustellen, was
›normale‹ Bürger in dieser Zeit über die Lage gedacht oder gesagt haben. Das war eine
Glasglocke. Die Leute sprachen mit Funktionären nicht über das, was sie dachten. Das war
dann in Sachsen, in Frankenberg, wieder anders. Die Leute in Waren sprachen nicht darüber.
155
Das hat auch mit Mecklenburg zu tun, dort ist man sehr verschlossen.« (KOS 52) Wie bereits
in den vorangegangenen Kapiteln, sieht sich der Sohn nach dem Krieg wiederum in eine
Außenseiterposition gedrängt. Erfolgte die Stigmatisierung im Anfangskapitel aufgrund der
Verhaftung des Vaters, war sie im zweiten Buchkapitel dem Status des Sohnes als ›feindlicher
Ausländer‹ geschuldet. Nunmehr erfolgt sie als Trennung der Macht von der Masse durch
Privilegien, ein Vorgang der sich nach der Teilung Deutschlands bis zum Ende der DDR, aber
auch in vielen anderen Ostblockstaaten als wirksamste Form realitätsferner Politik erweisen
sollte. Mit der Isolation infolge seiner politischen Stellung beginnen auch für den Vater
wieder die Probleme: »Mein Vater hatte einmal […] eine Liebesaffäre mit einer
Dolmetscherin. Sie gestand ihm, dass sie vom NKWD auf ihn angesetzt war. Das gab es
immer, diese Beunruhigung.« (KOS 52) Auch dem Erzähler selbst bleibt die Begegnung mit
dem sowjetischen »Volkskommissariat für innere Angelegenheiten« nicht erspart. »Einmal
wurde ich zum NKWD bestellt, eine Villa an der Müritz, das war gespenstisch. Das Haus lag
etwas zurück im Park, und das Tor war kaputt. Am Tor stand ein Posten, der sich aber nicht
rührte. Ich ging hinein, der Flur war dunkel, ein langer Flur, und ich stand bis über die
Knöchel im Wasser, irgendwo war Licht, ich bin durch das Wasser gewatet, habe die Tür
aufgemacht, da saß ein sehr freundlicher Offizier und sagte: ›Nehmen Sie Platz, Herr Müller,
bitte. Wie geht in Schule? Was machen Schüler in Pause? Was erzählen Schüler in Pause?
Brauchen Sie Handschuhe für Boxen? Brauchen Sie? Wir können machen. Was sprechen
Kameraden in Pause?‹ Ich habe ihm erzählt, Kameraden in Pause sprechen über Mädchen. Es
hat ihn nicht sehr interessiert, und ich war entlassen.« (KOS 51) Die NKWD-Episode ist
lesbar als frühe Vorwegnahme der »konspirativen« Zusammenkünfte mit Mitarbeitern der
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die Müller 1993 in die Kritik der deutschen
Feuilletons geraten ließ. Zugleich erscheint die späte Beschreibung der frühen Begegnung mit
dem berüchtigtem sowjetischen Geheimdienst in diesen Zeilen als Traumatisierung, die hier
in einen poetischen Eintritt in den Bezirk des Infernos gewandelt ist. Der stumme Posten
gemahnt an Dantes Warnung über dem Höllentore. 483 In Anbetracht dieses Bildes scheint es
wenig erstaunlich, dass die Russenfiguren in KRIEG OHNE SCHLACHT wiederholt aus dem
vorzivilisatorischen Bereich des Waldes/Busches auftauchen. 484 Und auch der feuchte dunkle
Gang mit dem Licht am Ende gleicht eher der Beschreibung einer Nahtoderfahrung als der
trockenen Begegnung mit einem Offizier des Sicherheitsdienstes. Eine kurze
Reflexionspassage in den Tonbandprotokollen der autobiografischen Gespräche, die in
späteren Fassungen getilgt ist, mag eine Begründung liefern für das dunkle Erinnerungsbild,
das die Autobiografie heraufbeschwört: »Es hatte was von Grauen auch.« (TA 147) Die
offenbare Naivität der Antwort des jugendlichen Müllers auf die Frage des Offiziers, die klar
auf sowjetkritische Äußerungen der Klassenkameraden zielt, wertet dessen Versuch der
Verführung zum Verrat ins Komische. Sie erhält dem Ich-Erzähler seine Integrität, die er im
483
»DURCH MICH GEHT MAN HINEIN ZUR STADT DER TRAUER, / DURCH MICH GEHT MAN
HINEIN ZUM EWIGEN SCHMERZE, / DURCH MICH GEHT MAN ZU DEM VERLORNEN VOLKE. /
GERECHTIGKEIT TRIEB MEINEN HOHEN SCHÖPFER, / GESCHAFFEN HABEN MICH DIE
ALLMACHT GOTTES, / DIE HÖCHSTE WEISHEIT UND DIE ERSTE LIEBE. / VOR MIR IST KEIN
GESCHAFFEN DING GEWESEN, / NUR EWIGES UND ICH MUSS EWIG DAUERN. / LASST JEDE
HOFFNUNG, WENN IHR EINGETRETEN.« (Dante Alighieri 1951, 14)
484
»Grad in der Mitte unrer Lebensreise / Befand ich mich in einem dunklen Walde, / Weil ich den rechten
Weg verloren hatte. / Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, / der wilde Wald, der harte und gedrängte, /
Der in Gedanken noch die Angst erneuert. / Fast gleichet seine Bitternis dem Tode …« (Dante Alighieri
1951, 7)
156
Textverlauf immer wieder aufs neue zu behaupten gezwungen sein wird und sogar zur
nachträglichen Kommentierung von KRIEG OHNE SCHLACHT in Form eines Dossiers
führt, das die Stasivorwürfe als das erscheinen lässt, was sie sind: eine Farce. Dass die
Autobiografie zu diesem Zweck für einen Moment die Bühne des Buches verlassen muss,
spielt dabei kaum eine Rolle, denn ohnehin erscheint die Autobiografie als Textmaschine, an
die sich unendlich viele andere Texte und Textkomplexe anschließen lassen. Dazu macht die
Unzahl expliziter (literarischer) Verweise, im – in der Werkausgabe erweiterten und beliebig
erweiterbaren – Register zu KRIEG OHNE SCHLACHT nur einen Anfang.
Der NKWD-Episode waren nicht nur die Schilderungen der Begegnungen mit Russen auf
dem Rückmarsch von Schwerin nach Waren sowie die Erwähnung der Vergewaltigungen
nach der Rückkehr vorangegangen. Auch auf das zivile Leben verschafft sich die
Besatzungsmacht auf fatale Weise zugriff: »Als ich nach Waren kam, waren die
Vergewaltigungen vorbei, bis auf Einzelfälle. Es gab einen Vorfall mit dem Stellvertreter
meines Vaters, einem dicken Mecklenburger. Dem hatte ein Russe die Uhr geklaut, die
Armbanduhr, und er hat den Fehler gemacht, es dem Militärkommandanten zu sagen. […]
Der Kommandant ließ seine Männer antreten. Er sollte den heraussuchen, der ihm die Uhr
geklaut hatte. Er fand ihn auch, zeigte auf ihn, und der Kommandant hat den Soldaten auf der
Stelle erschossen.« (KOS 50f.) Die Erschießung eines russischen Soldaten infolge eines
Ehrendeliktes war in der Praxis der sowjetischen Armee zu diesem Zeitpunkt wohl eher
ungebräuchlich. Darauf weist nicht nur der Anfangssatz dieses Abschnitts hin, sondern auch
eine Szene aus dem Vorkapitel, in dem die russischen Soldaten den Neuankömmlingen
ungestraft Fahrräder und, so vorhanden, »Uri« (KOS 42) abnehmen. Der Erschießung kommt
insofern keine illustrative, sondern vielmehr eine exemplarische Funktion zu. Sie verweist auf
andere Müllertexte, in denen es im weitesten Sinne um (die Verwerfung von) Lehren und das
Lernen geht, wie etwa in MAUSER und WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE. Im Manuskript
der Arbeitsfassung wird das rüde Durchgreifen seitens des sowjetischen Kommandanten als
»disziplinarische Maßnahme« (HMA 4487, 62) bezeichnet, die eine neue »Phase« (ebd.) im
Auftreten der Russen gegenüber der deutschen Bevölkerung einläuten soll, mithin den
Übergang von der Siegermacht zur Besatzungsmacht anzeigt. Dass sich dieser Übergang trotz
drastischer Maßregelungen von Verstößen offenbar dennoch langsam vollzieht, macht die
Begegnung der Familie Müller mit einem russischen Soldaten deutlich, die in der
Druckfassung getilgt ist: »Einmal ging ich mit meinen Eltern die Straße runter, und uns kam
ein Russe entgegen. Ich guckte ihn ohne irgendeine Absicht an. Er verpasste mir einen
Kinnhaken, ich lag eine Weile unten, kam wieder hoch, und er ging weiter. Das gab es auch.
Es war wie Wild-West.« (HMA 4487, 62) Der wilde Westen wird auch dadurch kenntlich,
wie lose die Waffen sitzen: »An einem Abend im Tanzpalast musste ich dringend scheißen,
und das Klo war wieder überflutet, also ging ich in die Büsche neben dem Haus. Ich hatte
gerade die Hose runtergelassen, da tauchen zwei Russen mit MPs aus dem Busch auf und
wollten wissen, was ich da machte. Ich versuchte ihnen klarzumachen, dass ich scheißen will.
Das glaubten die mir aber keineswegs. Ich habe schnell die Hose hochgezogen, habe mich
fallen lassen, bin den Abhang hinuntergerollt, und sie haben hinter mir hergeschossen. Im Klo
schwamm die Scheiße, so überfüllt war der Tanzpalast.« (KOS 45) Abgesehen von der
phonologischen Ähnlichkeit der Verben ›scheißen‹ und ›schießen‹, die auf die Ungleichheit
der Waffengattungen im Duell um die Wahrheitsfindung anspielen, erneuert diese Szene das
Wissen um die Fluchtqualitäten des Erzählers, der bereits im ersten Buchkapitel »Rekorde
157
[…] im Wegrennen vor dem Hund« (KOS 26) aufstellte, im zweiten erfolgreich seine
Verfolger abhängte (»Ich konnte sehr gut laufen«, KOS 27) und im Kriegskapitel schon
einmal dem Feuer aus sowjetischen Maschinenpistolen entkommen war (s. a. KOS 38). Die
Tendenz, sich existenziellen Konflikten durch Flucht oder Rückzug zu entziehen, entspricht
der Einsicht, dass für die Austragung von Konflikten andere zuständig seien, als die (vom
Erzähler mutmaßlich als fremd gekennzeichnete) Figur des Erzähl-Ichs, welche
einhundertfünfzehn Druckseiten später den Satz für sich reklamieren wird: »Mir war das
Schreiben wichtiger als meine Moral.« (KOS 180) Bedeutsam an dieser Szene, die das vierte
Buchkapitel als Illustration eines knappen Reflexionsteils eröffnet, ist ihr Schlusssatz, denn
die Metapher von den überschwemmten Toiletten transportiert ein Bild, das die
Zeitgeschichte vermutlich besser erfasst, als die vorangestellte Reflexion selbst: »Biografie
unwichtig außer wenn sie Information über Zeitgeschichte transportiert« (HMA 4480), heißt
es in einer Notiz aus dem Entstehungszusammenhang zu KRIEG OHNE SCHLACHT, die
den Anspruch an das autobiografische Projekt formuliert. »Zeitgeschichte« versteht sich dabei
nicht als die auf einen Zeitpunkt fixierte Geschichte. Mindestens drei Zeiteben sind es, die
sich in dem Bild der überschwemmten Toiletten überlagern: die erinnerte Zeit nach dem
Untergang des Dritten Reiches, die Zeit der Entstehung der Autobiografie, also nach dem
Untergang der »ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden« (LN 89) sowie der
fiktive Zeitpunkt der Rezeption. Die überfüllten Tanzpaläste wechseln ihr jeweiliges
Erscheinungsbild zugleich mit den überschwemmten Toiletten. Die Vernichtung des jeweils
Alten unter dem dionysischen Tanzschritt der noch ziellosen Masse gewinnt seinen Sinn
demzufolge nicht allein aus der Anwendung der Metapher auf eine konkrete historische
Situation. Die historische Arbeit ist vielmehr der Metapher selbst vorbehalten, die über den
Beschreibungszusammenhang weit hinausweist. Sie birgt das Movens und die Sprengkraft,
die von der Geschichte erst befreit werden muss: »… die Metapher ist klüger als der Autor.
[…] Die Angst vor der Metapher ist die Angst vor der Eigenbewegung des Materials. Die
Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz der Revolution.« (W 8 224f.)
Als Zitat knüpft die Metapher zugleich an eine Problematik an, die ein Stück Müllers aus den
siebziger Jahren aufrief: »Ich will die Leiche in den Abtritt stopfen, dass der Palast erstickt in
königlicher Scheiße« (W4 547), deklamiert ostentativ der Hamletdarsteller im ersten Teil der
HAMLETMASCHINE. Nachdem Hamlets Versuch, mit Hilfe des Vehikels ›Mutter‹ ins
Urmeer vorindividuellen Daseins zu regredieren 485 , misslingt, scheint er im Zustopfen der
letzten ›Lücke‹ (dem »Abtritt«) die einzige Möglichkeit zu sehen, dem väterlichen Auftrag
der Wiederherstellung archaischer Machtverhältnisse zu entgehen. Um den Palast zu
sprengen, muss der Kotberg 486 (als Metapher für das Kontinuum der geschichtlichen
Deformation) bis zur Decke wachsen. Doch das ›Ende der Geschichte‹ erweist sich vielmehr
als ihr eigentlicher Beginn. Eine neue Lücke tut sich zwar auf, allerdings nicht für die
kommunistische Revolutionsutopie des Intellektuellen ›Hamlet‹, sondern jenseits der »Ruinen
von Europa« (W 4 545), das an seiner eigenen ›Scheiße‹ erstickt ist. Der fünfte Teil der
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE schreibt diesen Diskurs fort. »Die Geisterstädte /
Vergessen Kronstadt Budapest und Prag / Wo das Gespenst des Kommunismus umgeht /
Klopfzeichen in der Kanalisation / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN /
485
»DER MUTTERSCHOSS IST KEINE EINBAHNSTRASSE.« (W 4 547)
486
Müller benutzt diese Metapher in MAUSER. Der Chor spricht von der Befreiung des Menschen »aus dem
steinharten Kot der Geschichte«. (W 4 253)
158
Begraben immer wieder von der Scheiße / Und aus der Scheiße steht es wieder auf /
VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN« (W 5 243f.). Von seinem Ende her
betrachtet erscheint der Text der Autobiografie pessimistischer als DIE
HAMLETMASCHINE und WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, denn zum einen ist mit dem
Zusammenbruch des sozialistischen Teils Europas die historische Perspektive um ein halbes
Jahrhundert zurückgefallen, andererseits ist dem Dramatiker das Vertrauen in die seinen
Stücken dieser Zeit eingeschriebene Langzeitperspektive (»Was bleibt, einsame Texte die auf
Geschichte warten«, W 8 187) abhanden gekommen. Insofern mag die Beschreibung des
Potenzials einer Nachkriegszeit, wie sie Müller in seiner Autobiografie beschreibt, zu Beginn
der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts auch als ein Drängen verstanden werden,
den Punkt der Weichenstellung erneut aufzusuchen und – das »Gefühl des Scheiterns, das
Bewusstsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte« (W 2 87 u. W 4 491) im
Marschgepäck – auf sein historisch-konkretes Potenzial hin zu untersuchen. Nicht etwa um
der atomisierten Richtungssuche unserer Zeit eine neue historische Kraft entgegenzusetzen,
wohl aber mit dem Anspruch, nach dem »vielleicht erlösende[n] FEHLER« zu suchen, der
»Lücke im Ablauf«, dem »Andre[n] in der Wiederkehr des Gleichen« (W 2 118).
Dieser Funktion der Literatur korrespondiert Müllers Glorifizierung der Nachkriegszeit als
Vorschein einer Welt jenseits der diskursiven Ordnung von Staat und Gesetz: »Die Zeit nach
dem Krieg war ziemlich wüst, aber auch ganz intensiv. Zum Beispiel der Tanzpalast in
Waren. Da war jede Nacht Tanz. Tanz auf dem Vulkan, eine Mischung aus Endzeit und
Karneval. Nach dem Krieg fing eigentlich nichts Neues an, es war nur etwas zu Ende. Es gab
noch keine neuen Hoffnungen. Es war alles ziemlich wild, alles ging ganz schnell.« (KOS 45)
Die Passage aus einem Interview der siebziger Jahre beschreibt Müllers spezifisch
ästhetisches Interesse an dieser Situation: »Vielleicht sollte man irgendwann zugeben, dass
man eine Lust hat an der Zerstörung und an Sachen, die kaputt gehen. 1945 zum Beispiel war
ein großes Erlebnis für mich. Dieses schöne Gefühl nach einer sehr restriktiven Kindheit und
Jugend von ›swinging country‹. Alles ist kaputt, nichts funktioniert mehr. Das war die
schönste Zeit. Niemals werde ich die Tanzveranstaltzungen in dieser Kleinstadt in
Mecklenburg vergessen. Es gab nichts vorn, hinten gab es auch nichts mehr. In diesem
Moment ergab das einen ungeheuren Freiraum und auch eine Leichtigkeit, sich in diesem
Freiraum zu bewegen. […] Der eigentliche Spaß am Schreiben ist doch die Lust an der
Katastrophe.« (GI 1 55) Der Wirbel, der aus dem ideologischen Vakuum der Zeitenwende
entsteht, die im ersten Text als »Mischung aus Endzeit und Karneval«, im zweiten als
»swinging country« gekennzeichnet ist, schafft eine Struktur der Erfahrung, die infolge ihrer
Richtungslosigkeit Wertungen durch Intensitäten ersetzt. Diese Erfahrung wird im zweiten
Text explizit auf die Praxis des Schreibens bezogen, die auf den »ungeheuren Freiraum«
jenseits der Zwänge des »Realitätsprinzips« 487 angewiesen bleibt und den »Schleier der
487
In seinem Aufsatz FORMULIERUNGEN ÜBER DIE ZWEI PRINZIPIEN DES PSYCHISCHEN
GESCHEHENS beschreibt Freud die Arbeit des Künstlers jenseits des Realitätstriebes stark verkürzt. Er
geht dabei ebenso selbstverständlich vom Abbildcharakter der Kunst wie von einer kausalen Beziehung
zwischen Künstler und Kunstwerk aus. Freud begründet seinen rezeptionsästhetischen Ansatz aus der
Triebökonomie: »Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine Versöhnung der beiden Prinzipien
zustande. Der Künstler ist ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich
mit dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann und seine
erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben gewähren lässt. Er findet aber den Rückweg aus
dieser Phantasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen seine Phantasien zu einer neuen
159
Maja« 488 immer wieder zerreißt. »Die Kunst ist nicht das Chaos, wohl aber eine Komposition
des Chaos, die die Vision oder Sensation schenkt, so dass die Kunst einen Chaosmos bildet,
wie Joyce sagt, ein komponiertes Chaos – weder vorausgesehen noch vorgefasst.« 489
Die »chaotische Zeit« (KOS 44) nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches dient der
Stoffsammlung für die künstlerische Produktion der nächsten Jahrzehnte: »Diese ganze Zeit
war der Grundstock für mindestens zwanzig Jahre meiner Arbeit.« (KOS 47) Bezogen auf das
Werk Heiner Müllers ließe sich dieser Zeitraum mühelos um drei weitere Jahrzehnte – bis zu
seinem Tod im Dezember 1995 – erweitern. Zu jenem »Grundstock« gehören die
›Geschichten‹, die mehrfach bearbeitet und umakzentuiert in seine Werke eingingen. Aber
nicht nur DIE UMSIEDLERIN, SCHLACHT und TRAKTOR basieren wesentlich auf diesem
Material. Der Text der Autobiografie greift ebenso auf diesen »Grundstock« zurück, wie
Müllers letztes Stück GERMANIA 3. Der Anfangsteil der Szene DER GASTARBEITER
kolportiert die Passage aus KRIEG OHNE SCHLACHT, in der von einem kroatischen SS-
Leutnant die Rede ist, dem »drei Generationen, Großmutter, Mutter und Tochter« (KOS 49),
von Russen vergewaltigt, unter der Bedingung Zivilbekleidung verschaffen, dass er sie
umbringt: »Die drei Freifrauen verteilten sich auf ihre zwanzig Zimmer, und er hat sie einzeln
mit der Axt erschlagen. Dann zog er den Anzug an und ging weiter.« (ebd.) Einen formalen
Zugriff auf dieses als »Grundstock« bezeichnete Material ermöglicht jedoch erst die
Rezeption einiger Erzählungen Anna Seghers’. Insbesondere auf die
FRIEDENSGESCHICHTEN aus Seghers’ Erzählband DER BIENENSTOCK greift Müller
sowohl in seinem Stück UMSIEDLERIN als auch in TRAKTOR in freilich stark
modifizierter Form zurück. 490 Die Erzählung DAS ARGONAUTENSCHIFF, das im selben
Band abgedruckt ist, dient Müller später als Material für LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN. Müller hatte den 1953 im Aufbauverlag erschienenen Band für den
»Sonntag« rezensiert: »Was die großen Romane in gelassenem Fluss ausbreiten, ein Abbild
der Klassenkämpfe in Vergangenheit und Gegenwart, lassen die Erzählungen brennpunkthaft
aufleuchten – im individuellen Schicksal den historischen Prozess, aus der präzisen
Darstellung des Wirklichen die Wahrheit über das Wirkliche, seine Veränderbarkeit, die
Richtung, in der die Veränderung zu betreiben ist.« (W 8 33) Was hier in einer Lukacs’
philosophischen Systemdenken entlehnten Terminologie positiv hervorgehoben ist, wird von
Müller – und nicht erst im Zuge der Entstehung von UMSIEDLERIN – bald verworfen
werden. Nämlich die Identifizierung der Figuren mit Strukturen und die Personifizierung von
historischen Konflikten. So gehen durch Müllers dramatische Figuren, die Widersprüche,
Konflikte und Fluchtlinien in aller Regel mitten hindurch und zerreißen sie.
Art von Wirklichkeit gestaltet, die von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung
zugelassen werden. […]Er kann dies aber nur darum erreichen, weil die anderen Menschen die nämliche
Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen Verzicht verspüren wie er selbst, weil diese bei der Ersetzung
des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip resultierende Unzufriedenheit selbst ein Stück der Realität ist.«
(Freud-SA 3, 22f.)
488
»… den Blick des rohen Individuums trübt […] der Schleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an
sich, nur die Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen
Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntnis sieht er nicht das
Wesen der Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr
verschieden, ja entgegengesetzt.« (Schopenhauer-ZA 1, 438) s. a. das erste Kapitel Nietzsches GEBURT
DER TRAGÖDIE (Nietzsche-W 1, 21–25)
489
Deleuze/Guattari 2000, 242
490
s. a. Streisand 1986, 1360f.
160
Bei der Darstellung der Berufstätigkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird qualitativ
zwischen zwei Methoden der literarischen ›Materialbeschaffung‹ unterschieden: »Zusammen
mit einem ehemaligen Lehrer von der Oberschule, […] war ich für die Säuberung, die
Entnazifizierung der Bibliotheken des Landkreises verantwortlich. Wir säuberten die
Bibliotheken von Naziliteratur, auch die der Gutsherren. Diese Tätigkeit war die Grundlage
meiner eigenen Bibliothek. Ich habe geklaut wie ein Rabe. Das war eine schöne Zeit. Ich habe
Bücher geklaut, gelesen und einfach sehr viel kennen gelernt.« (KOS 45f.) Im
autobiografischen Interview wirft einer der Gesprächsteilnehmer ein, dass der Begriff
»Naziliteratur« »ein weiter Begriff« (TA 51) sei, was Müller bestätigt. Natürlich mag es im
ermessen der Säuberer gelegen haben, zu bestimmen, was »Naziliteratur sei«, was nicht. In
diesem Falle mögen den ›Entnazifizierer Müller‹ – wie im Falle des Diebstahls von Kant- und
Schopenhauerausgaben durch den ›Soldaten Müller‹ – auch bibliophile Erwägungen bewegt
haben, beherzt zu entnazifizieren. Relevant sind in diesem Fall nicht die ohnehin kaum mehr
überprüfbaren Angaben, um welche Titel es sich im einzelnen gehandelt haben könnte.
Wichtiger erscheint, dass in diesem Abschnitt, wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln,
wiederum auf die künstlerische Praxis der Aneignung von Fremdtexten Bezug genommen
wird. Die Lektüreerfahrungen werden nicht nur als vorrangige Quelle künstlerischer
Produktivität kenntlich gemacht, sie verweisen zugleich auf eine bevorzugte literarische
Technik des Intertexters Heiner Müller: »Ich habe geklaut wie ein Rabe.« Bei der
anschließenden Anstellung im Landratsamt wird diese Tätigkeit fortgesetzt. »Gelegentlich
musste ich auf den Dachboden, um Akten zu holen. Außerdem lagerten auf dem Boden die
Bestände der Stadtbücherei und der Kreisbibliothek. 491 Es gab keine Räume dafür. Da legte
ich mir dann immer die Bücher zurecht die ich abends mitnehmen wollte. Eine Nietzsche-
Ausgabe, Bücher von Ernst Jünger. Ich konnte meine Bibliothek weiter vervollständigen; das
war meine Haupttätigkeit als Angestellter.« (KOS 46) Der Begriff der ›Vervollständigung‹
lässt auf ein planvolles Vorgehen schließen und verweist über den Begriff der ›Aneignung‹
hinaus auf eine (systematische) Auslese der Literaturbeschaffung, die dem Schließen der
Lücken der eigenen ›Bibliothek‹ dient.
Mit Nietzsche und Jünger sind bewusst zwei Autoren herausgegriffen, deren Werk von den
Nazis und ihren Zuarbeitern dermaßen entstellt worden ist, dass es bis spät ins zwanzigste
Jahrhundert hinein diskreditiert war. »Ich hatte Jünger schon vor dem Krieg gelesen. Mein
Vater hatte mir ›Marmorklippen‹ gegeben, als ein geheimes Widerstandsbuch, ich war
dreizehn oder vierzehn. […] Nach dem Krieg las ich ›Blätter und Steine‹, eine
Essaysammlung, die unter anderm ›Die totale Mobilmachung‹, ›Über den Schmerz‹,
›Sizilischer Brief an den Mann im Mond‹ und ›Lob der Vokale‹ enthält. Texte von Jünger und
Nietzsche waren das erste, was ich nach dem Krieg überhaupt gelesen habe.« Die Lesart
Jüngers AUF DEN MARMORKLIPPEN als »geheimes Widerstandsbuch« liegt trotz der für
Jünger typischen Mythisierungen und seiner Tendenz, politische Vorgänge zu naturalisieren
auf der Hand. Zwar war der 1939 erschienene Roman nie verboten, dennoch wurde das Buch
aufgrund der Angriffe seitens der Nationalsozialisten nach 1945 zu einem inflationären
Beispiel jener Werke der vermeintlichen »inneren Emigration« deutscher Intellektueller.
Obwohl Jünger aufgrund seiner Ablehnung des Widerstandsgeredes nach 1945 eine solcherart
politische Deutung seines Werkes hartnäckig bestritt, liegen in einigen Szenen des Romans –
491
In den Tonbandabschriften ist sogar die Rede von ausgelagerten Beständen der Berliner Staats-Bibliothek.
161
etwa im Konflikt des Oberförsters mit seinem internen Widersacher Branquemart, der an den
Streit um die Vormachtstellung zwischen SA und SS 1933/34 erinnert – auffällige Zeitbezüge
vor, die die Rezeption des Romans als »geheimes Widerstandsbuch« durchaus zulassen. 492
Jüngers Essaysammlung BLÄTTER UND STEINE, seine erste Publikation nach 1933, die in
dieser Form 1942 zum letzten Mal erschien, dürfte die Aufmerksamkeit Müllers indes aus
anderen Gründen gefesselt haben. Ähnlich wie bei Carl Schmitt wird dabei neben den
Inhalten Jüngers radikal-ästhetischer Entwürfe, die Anordnung des Materials von Interesse
gewesen sein, die Inszenierung: Die Montage unterschiedlicher, zum Teil bereits publizierter,
Problemstellungen aus der Schrift DER ARBEITER (1932) immer wieder aufgreifender und
somit sich gegenseitig vielfach durchdringender Prosastücke ist im Ergebnis ebenso
verwirrend wie erhellend bezüglich Jüngers Denkens, das sich mit demjenigen Müllers in
mancherlei Hinsicht durchaus zur Deckung bringen lässt 493 .
Eine Aufzählung weiterer wichtiger Lektüreeindrücke findet sich am Ende des Kapitels. »Als
Kind hatte ich viel Tolstoi gelesen, auch Gorki, und kurz vor der Einberufung, das war der
erste wirklich starke Eindruck, Dostojewskis ›Raskolnikow‹ und natürlich Nietzsche. Dann
las ich, was gerade erschien, Scholochow zum Beispiel, Majakowski. Serafimowitsch: ›Der
eiserne Strom‹, Fadejew: ›Die Neunzehn‹, große vergessene Bücher.« (KOS 54) Auf die
prägende Lektüreerfahrung Dostojewskis RASKOLNIKOW, hier wiederum genannt im
Zusammenhang mit Nietzsche, dessen Denken dem der Titelfigur des Romans in vielerlei
Hinsicht entspricht, wurde bereits im Zusammenhang mit dem Kriegskapitel hingewiesen.
Die Reihe der russischen Literatur, die sich auf eine verhältnismäßig geringe Anzahl von
Protagonisten beschränkt, wird im Textverlauf der Autobiografie näher begründet und mit
Brodsky auf die russische »Fehlentscheidung für Tolstoi und gegen Dostojewski, für den
Realismus, gegen die Vision« (KOS 303) zurückgeführt. Außerdem sei sie das Resultat
»eine[r] unterschwellige[n] Abwehr gegen das Russische. Das war die Besatzungsmacht, eine
nivellierende Macht, und eine Qualität meiner Texte kommt vielleicht aus dem Impuls, das
Deutsche gegen diese Besetzung zu behaupten.« (KOS 302) Wie bereits im ersten Abschnitt
des Kapitels geschildert, entsteht das Sprechen in KRIEG OHNE SCHLACHT vom ersten
Satz an aus dem Kampf gegen Festschreibungen, Gewissheiten und letztgültige Einsichten.
Das Ich des Textes muss sich vielmehr stets im Kampf gegen ichfremde Mächte neu erfinden;
muss, ähnlich jenem HERAKLES 2, lernen, »den immer andern Bauplan der Maschine [zu]
lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und dass er
ihn dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.« (W 4 428) In
diesem Fall nun wird die Besatzungsmacht zum Gegner des Kampfes erkoren, der in Müllers
Texten stattfinden wird, bis die Medien, die die Texte tragen, verschwunden sein werden.
Dabei entspringt der Konflikt nicht einer vermeintlich unreflektierten Wahrnehmung der
Wirklichkeit (die es nur idealiter geben kann), sondern ist Produkt ästhetischen Konstruktion.
Entsprechend betont Müller zugleich: »Das hat nichts mit Ideologie zu tun und ändert nichts
an meinem Verhältnis zur großen russischen Literatur.« (KOS 302) Die genannten Autoren –
an anderer Stelle wird die Aufzählung um Tschechow erweitert – ragen durch ihre Werke aus
der Masse des Mittelmäßigen heraus. Dabei spielen die jüngeren der hier benannten Autoren,
492
Zur Bedeutung Jüngers MARMORKLIPPEN in diesem Kontext und in Bezug auf das Deutschland-Bild
Heiner Müllers s. a. Bernd Böhmel: Die Farbe der Beeren am Rand der Rodung. Albumblatt für Heiner
Müller. In: Lettre International 35/1996, 18–22
493
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »2.22. Ernst Jünger« im dritten Teil der vorliegenden Arbeit
162
neben einigen nicht genannten (erinnert sei an die Übersetzungen/Stückbearbeitungen
Tschechows MÖWE, Suchowo-Kobylins TARELKINS TOD, Majakowskis WLADIMIR
MAJAKOWSKI TRAGÖDIE oder die aus dem Nachlass veröffentlichten ARISTOKRATEN
nach Pogodin) eine nicht zu unterschätzende Stoffgrundlage für Müllers Dramen
insbesondere der siebziger Jahre (etwa MAUSER und ZEMENT), aber auch über diesen
zeitlichen Rahmen hinaus. Gestaltungsprinzipien Fadejews oben genannten Romans DIE
NEUNZEHN 494 (russ. РАЗГРОМ, Die Zerschlagung) wie die Darstellung ein und desselben
Geschehens aus der Perspektive entgegengesetzter, ihrer sozialen Herkunft und ihren
individuellen Anschauungen nach gegensätzlichen Figuren, finden sich nicht nur in Müllers
KORREKTUR wieder.
Die Begegnung mit einem jüdisch-russischen Kulturoffizier, der »Heine auswendig« (KOS
51) kann, scheint die Abneigung gegen kulturelle Nivellierungstendenzen der
Besatzungsmacht zu bestätigen, die sich vor allem darin äußern, jeden Kopf abzuschlagen, der
sich über intellektuelles Normalniveau erhebt. »Irgendwann gab es bei ihm eine
Abschiedsparty mit Tee und Gebäck, er musste zurück in die Sowjetunion. Das bedeutete: ins
Lager. […] Das mit dem Lager hat er natürlich nicht gesagt, wir wussten es auch nicht. Das
haben wir später gehört. Wir haben uns nur gewundert, dass er weint. Deshalb war er für uns
nicht Besatzungsmacht. Die Macht weint nicht.« (KOS 52) Es ist vor allen Dingen der
überraschende Duktus des letzen Satzes, der den Leser hier stolpern lässt. Die Abwandlung
des sprichwörtlichen, auf Emotionslosigkeit zielenden ›Der deutsche Junge weint nicht‹ oder
›Jungen weinen nicht‹ in das imperativische »die Macht weint nicht« zeigt die Tragödie des
Intellektuellen an, der allein um seiner Menschlichkeit Willen zum Feind der ›Revolution‹
wird. In MAUSER wird er seinen eigenen Erschießungsbefehl brüllen: »TOD DEN
FEINDEN DER REVOLUTION« (W 4 258). Zugleich zeigt der Satz an, dass der
Kulturoffizier im Vexierspiel literarischer Ich-Setzung als potenzieller ›Kampfgegner‹ nicht
in Betracht kommt. Die unbewusste Empathie mit dem ›Delinquenten‹ macht ihn untauglich
für den Krieg im Namen der ästhetischen Ich-Produktion.
Kompensiert werden die Nivellierungstendenzen offizieller Kulturpolitik der Besatzungs-
später der staatlichen Behörden durch intensivierte Lektüren auch oder gerade elitärer Texte.
Diese Form der Aneignung wird ganz pragmatisch ins Bild materieller Inbesitznahme gefasst
und als »Beute« der »Säuberung« fremder Bibliotheken beschrieben (KOS 54). Neben der
Aufnahme des deutschen Expressionismus (»Soergel, eine Fundgrube« 495 ) spielen die
Rezeption der radikal-ästhetischen wie ethisch bedingungslosen Entwürfe Hans Henny Jahnns
sowie Faulkners WENDEMARKE, die Müller als seine »Entdeckung Amerikas« (KOS 54) in
Erinnerung behält, eine wesentliche Rolle. »Diese Eindrücke waren danach für Jahre
zugedeckt mit Brecht.« (ebd.) Auf den Stellenwert Faulkners für die eigene künstlerische
Praxis kommt Müller in verschiedenen Kontexten wiederholt zu sprechen. In
BESCHREIBUNG EINER LEKTÜRE, einem Text den Müller auf den 27. November 1992
494
s. a. Müllers Gedicht BEIM WIEDERLESEN VON ALEXANDER FADEJEWS DIE NEUNZEHN (W 1
202)
495
KOS 54. Es handelt sich bei den mehrfach von Müller erwähnten Bänden um die überaus populären und
auflagenstarken Publikationen des Chemnitzer Literaturwissenschaftlers Albert Soergel (1880–1958):
Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leipzig
1911; ders.: Im Banne des Expressionismus. Dichtung und Dichter der Zeit. Neue Folge. Leipzig 1925;
ders.: Dichter aus deutschem Volkstum. Dichtung und Dichter der Zeit. Dritte Folge. Leipzig 1934
163
datiert, heißt es: »Faulkner war die große und schockierende Leseerfahrung meines
Nachkriegs, nach Jünger und Nietzsche und vor Majakowski Scholochow Brecht, neben
Büchner und Kafka mit der ewigen Aktualität seiner prophetischen Texte. […] Mein erster
Faulkner war WENDEMARKE, […] gelesen 1947 in einer sächsischen Kleinstadt mit
geringem Warenangebot: in mein Gedächtnis eingebrannt ist die ungeheure Beschreibung des
Stiefelkaufs, eine Woyzeckvariation der Armut und des Stolzes vor dem Terror der
Warenwelt. Damals konnte ich meine Faszination nicht begründen, sie war Literatur, eine
Droge. Fünfundvierzig Jahre später weiß ich: Faulkner beschrieb, weil er nicht zu den Siegern
gehörte, die wirkliche Welt und die reale Erfahrung von Millionen. Vor Wochen, nach einer
Pflichttour durch die Langeweile der Moderne im Centre Pompidou aufatmend im
Giacomettiraum, wusste ich, warum die Szene mit dem Angstbeischlaf der Frau vor ihrem
Fallschirmabsprung in WENDEMARKE mir im Gedächtnis blieb, eine ägyptische Skulptur
in der amerikanischen Prosa.« (W 8 429ff.) Mit dem Stiefelkauf eröffnet Faulkner seinen
1935 zuerst erschienen Roman WENDEMARKE. »Eine ganze Minute lang stand Jiggs in den
dünnen Konfetti-Spritzern vom vergangenen Abend, die wie verwehter, schmutziger Schaum
am unteren Rand des Schaufensters lagen, wippte leicht auf den Ballen seiner fettfleckigen
Tennisschuhe und betrachtete die Stiefel.« 496 Der Flugzeugmechanikers Jiggs zahlt die
Schuhe in dem Vertrauen an, noch am gleichen Tag das Preisgeld für den Rennsieg seines
Teams vom Vorabend einstreichen zu können. Müllers Identifikation mit der Mittellosigkeit
der Romanfigur spiegelt die eigene Mangelerfahrung nach dem Weltkrieg. Doch die
»Faszination« bleibt über viereinhalb Jahrzehnte unbestimmt und nicht begründbar: »eine
Droge«. Der Rausch verfliegt angesichts der Erfahrung des Scheiterns eines historischen
Projekts (das Verschwinden der DDR) und in der Konfrontation mit einer anderen
Kunsterfahrung (Giacometti), die die Fremdheit und Befremdlichkeit der Kunst verdeutlicht.
Sie beschreibt die Erfahrung der Besiegten, der Minoritäten und Ausgegrenzten, die sich im
»Angstbeischlaf der Frau vor ihrem Fallschirmabsprung« 497 ebenso zu artikulieren vermag
wie im Kunstraum des Surrealisten Alberto Giacometti. Bereits Mitte der siebziger Jahre,
hatte sich Müller im Gespräch unter anderen Prämissen zu dem »mächtige[n] Eindruck« (W 8
565) der Lektüre Faulkners WENDEMARKE geäußert. 498 Dort geht es dem Kontext
entsprechend vorrangig um die politische Funktion der Literatur. Immerhin wird deutlich,
dass Müller schon zu diesem Zeitpunkt implizit zur Aussage einer parallelen
Lektüreerfahrung etwa mit Kafka tendiert, dessen Texte für Müller den Inbegriff einer
»Blindheit der Erfahrung« (W 8 216) darstellen: »Das Merkwürdige bei Faulkner ist, […]
dass da eine Energie leer läuft immer wieder, dass da Triebkräfte, soziale, historische, was
immer, keinen Gegenstand finden, immer diese Diskrepanz zwischen dem Anlass und dem
Aufwand bei Faulkner.« (W 8 565)
Eine zweite prägende Lektüreerfahrung bildet Faulkners INTRUDER IN THE DUST. In
BESCHREIBUNG EINER ERFAHRUNG schreibt Müller zu dem 1948 erschienenen
Roman: »Faulkners kühnste Metapher ist ein Bild vom Schweineschlachten aus GRIFF IN
DEN STAUB, vom Fluss her gesehn, aus der Bewegung des Boots und mit den Augen eines
496
Faulkner 1978, 7
497
Faulkner 1978, 154ff.
498
Es handelt sich hierbei um die aus dem Nachlass veröffentlichte Abschrift dreier Tonbänder, die ein
Gespräch Heiner Müllers mit Wolfgang Schivelbusch über das Amerikabild des Dramatikers enthalten.
(AMERIKA, MORGENSTERN, ERBE. Ein Gespräch mit Wolfgang Schivelbusch. In: W 8 553–577).
164
Kindes: ›Beim Einnachten würde dann die ganze Gegend vollhängen mit ihren
gespenstischen, äußerlich unversehrten, talgfarbenen, ausgeweideten Körpern, reglos bei den
Fußflechsen aufgehangen, in einer Haltung, als strebten sie rasenden Laufs dem Mittelpunkt
der Erde zu.‹ Ein wahnsinniger Versuch, gegen den Sog der Zeit, die der Agent des
Vergessens ist, einen Raum zu behaupten.« (W 8 432) Faulkners Text ist nachweislich
entstehungsgeschichtlicher Bestandteil von KRIEG OHNE SCHLACHT. Im
Arbeitsmanuskript der Autobiografie aus dem Privatbesitz Stephan Suschkes ist im
Zusammenhang mit dem Abdruck Müllers Bearbeitung Shakespeares TITUS ANDRONICUS
in der Rotbuch-Ausgabe von einem »Bild bei Faulkner, […] das mich ungeheuer interessiert
hat« die Rede: »In einem Roman wird eine Mississippifahrt im Boot aus der Perspektive eines
Jungen erzählt. So wie Tom Sawyer fährt der Junge im Boot den Mississippi entlang. Sie
sehen, dass am Ufer gerade Schweine geschlachtet worden sind, und die Schweine hängen an
den Füßen. Der Junge sieht das, und es sieht für ihn aus, als ob die Schweine im Galopp zum
Mittelpunkt der Erde rennen. Das ist ein enormes Bild.« (SUSCHKE 481) Über die
Faszination an seinen Texten hinaus nimmt Faulkner auch bezüglich der Ich-Konstitution des
Autors einen zentralen Stellenwert ein. In einer Nachlassnotiz konstatiert Müller: »Wenn ich
über F[aulkner] schreibe, schreibe ich natürlich (mindestens auch) über mich. Je mehr ich mir
abhanden komme, desto wichtiger werde ich mir. Ich bin so lange darauf trainiert worden von
mir abzusehn, dass ich für d[en] Rest meiner Zeit nur noch im Spiegel etwas sehe.« (HMA
5275)
Die Anstellung im Landratsamt von Waren eröffnet eine gegenüber der Lektüre grundsätzlich
anders gelagerte Möglichkeit der Generierung von Material. Es handelt sich dabei um
mündlich vorgetragene Beschwerden und Probleme von der Bodenreform betroffener Bauern.
Vom Ich des Textes werden diese ›Auftritte‹, denen es (stumm) beiwohnt, als ›oral
performances‹ erfahren. »Viel mehr als das, was sie sagten, haben mich die Tonfälle
interessiert, die Art, wie sie sprachen. Ich weiß kein konkretes Detail mehr, weil das alles
eingegangen ist in den Text von UMSIEDLERIN. Und damit ist es auch aus meinem
Gedächtnis gelöscht. Aber der Vorgang ist interessant: Ich saß dort und machte mir Notizen,
aber ohne Interesse für die Sachen, um die es ging. Mit der Beendigung des Textes ist dann
jede Erinnerung an die Fakten ausgelöscht. Sicher habe ich damals auch die Inhalte
aufgenommen, aber es gibt keine Erinnerung mehr daran. In einer Cino-Übersetzung, ein
provençalischer Dichter aus der Troubadour-Zeit, beschreibt Ezra Pound den Vorgang:
»Ravens, nights, allurements / And they are not / Having become the soul of song.« (KOS 47)
Was Müller hier beschreibt, ist die Auslöschung der Wahrnehmung durch ihre künstlerische
Verarbeitung. Der Fokus des Interesses richtet sich nicht auf die semantische Struktur der
Sprache (»was sie sagten«, »ohne Interesse für die Sachen, um die es ging«) sondern auf die
verbale Geste, die Inszenierung von Sprache (»Viel mehr […] haben mich die Tonfälle
interessiert«). Die Geste wird vom Inhalt abgelöst, der sie hervorbringt; ebenso von der
Person, die ihn vorträgt. Durch ihre Überführung in Kunst wird die Geste unabhängig von
ihrem »Modell« (Deleuze/Guattari), dem Künstler sowie ihrem jeweiligen Betrachter. Sie
besteht an sich. An die Stelle der Erinnerung ist die Bewahrung getreten, die nichts mit
Konservierung zu tun hat. 499 Die bewahrende Funktion des Kunstwerks gleicht vielmehr der
499
»Der junge Mann wird auf der Leinwand solange lächeln, wie sie besteht. Unter der Haut jenes
Frauengesichts schlägt das Blut, und der Wind bewegt einen Ast, eine Gruppe Männer ist dabei
aufzubrechen. In einem Roman oder einem Film wird der junge Mann aufhören zu lächeln, aber wieder
165
des Monuments: »Das Gedächtnis greift in der Kunst nur selten ein. […] Wohl ist jedes
Kunstwerk ein Monument, aber hier ist das Monument nicht etwas, das eine Vergangenheit
ins Gedächtnis zurückruft, es ist ein Block gegenwärtiger Empfindungen, die ihre Bewahrung
nur sich selbst verdanken und die dem Ereignis die Verbindung verleihen, durch die es
gefeiert wird. Der Akt des Monuments ist nicht das Gedächtnis, vielmehr die Fabulation. Man
schreibt nicht mit Kindheitserinnerungen, sondern durch Kindheitsblöcke, die ein Kind-
Werden des Gegenwärtigen sind. […] Nicht Gedächtnis braucht es, sondern ein komplexes
Material, das man nicht im Gedächtnis findet, sondern in den Wörtern …« 500 Die Arbeit des
Künstlers ist demzufolge die Verwandlung von (kollektiven) Erinnerungen in Kunstwerke.
Die Erinnerungen »sind Gesang geworden, jetzt sind sie nicht mehr.« (HMA 4487, 56) Ein
Kunstwerk bewahrt, indem es verwandelt. Die ›Metamorphose‹ ist im ovidschen Sinne das
letzte Refugium des Schmerzes. Der scheinbar teilnahmslose und kaltblütige 501 Zuschauer im
Landratsamt entpuppt sich in seinen Texten als Seismograf kollektiver Traumata.
In der sich anschließenden Textpassage der Autobiografie wird die Verwandlung der
Erinnerung in poetische Texte exemplarisch vorgeführt. Tatsächlich handelt es sich bei den
aufgerufenen Referenzen fast ausschließlich um Vorgänge, die einer zum Teil mehrmaligen
poetischen Überformung unterworfen wurden. »Es sind auch zum großen Teil Sachen, bei
denen ich immer neu angesetzt habe, sie zu schreiben.« (KOS 48) Die nachträgliche
Beschreibung literarisch bereits verarbeiteter Stoffe weist die vermeintlichen Erinnerungen als
Zitate dieser Texte aus. Einige dieser Texte – die Stücke DIE UMSIEDLERIN, DIE
SCHLACHT und TRAKTOR, die Szenenfolge FLEISCHER UND FRAU (aus DIE
SCHLACHT) sowie das Prosastück DAS EISERNE KREUZ – werden mithilfe von Endnoten
explizit aufgerufen. Zu ergänzen wäre diese Auswahl im Mindesten durch die Szenen
KLEINBÜRGERHOCHZEIT (ebenfalls aus DIE SCHLACHT) und DER GASTARBEITER
(aus: GERMANIA 3), den Prosatext [dass Hitler die ihm aufgetragenen Arbeiten] sowie die
Gedichte EIN MANN GING STERBEN, NACHTS, IM KRIEGE, DER und ANNA FLINT.
damit anfangen, wenn man diese oder jene Seite aufschlägt, diesen oder jenen Moment ins Auge fasst.
Kunst bewahrt, und sie ist das einzige in der Welt, das sich bewahrt. Sie bewahrt, und sie bewahrt sich an
sich (quid juris?), obwohl sie faktisch nicht länger besteht als ihr Träger und ihre Materialien (quid facti?),
Stein, Leinwand, chemische Farbe usw. Das junge Mädchen bewahrt die Stellung, die es vor 5000 Jahren
eingenommen hatte, eine Geste, die nicht mehr von der abhängt, die sie tat. Die Luft bewahrt die
Bewegtheit, den Windhauch und das Licht jenes Tages vom letzten Jahr, und hängt nicht mehr von dem ab,
der sie an jenem Morgen atmete. Kunst bewahrt, aber konserviert nicht nach Art der Industrie, die eine
Substanz hinzufügt, damit die Sache sich länger hält. Das Ding ist von Beginn an von seinem »Modell«
unabhängig geworden, unabhängig aber auch von eventuellen anderen Personen, die selbst Künstler-Dinge
sind, Malpersonen, die jene Malluft atmen. Und es ist nicht minder unabhängig vom aktuellen Betrachter
oder Zuhörer, die es erst nachträglich erfahren, wenn sie dazu die Kraft haben. Und was ist mit dem
Schöpfer? Das Ding ist kraft der Selbst-Setzung des Geschaffenen, das sich in sich erhält, vom Schöpfer
unabhängig. Was sich bewahrt, erhält, die Sache oder das Kunstwerk, ist ein Empfindungsblock, das heißt
eine Verbindung, eine Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten. / Die Perzepte sind keine
Perzeptionen mehr, sie sind unabhängig vom Zustand derer, die sie empfinden; die Affekte sind keine
Gefühle oder Affektionen mehr, sie übersteigen die Kräfte derer, die durch sie hindurchgehen. Die
Empfindungen, Perzepte und Affekte, sind Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben
hinausreichen. Sie sind, so könnte man sagen, in der Abwesenheit des Menschen, weil der Mensch, so wie
er im Stein, auf der Leinwand oder im Verlauf der Wörter gefasst wird, selbst eine Zusammensetzung, ein
Komplex aus Perzepten und Affekten ist. Das Kunstwerk ist ein Empfindungssein und nichts anderes: es
existiert an sich.« (Deleuze/Guattari 2000, 191f.)
500
Deleuze/Guattari 2000, 197
501
Heiner Müller gebraucht dieses Bild in einem Gespräch mit Alexander Kluge: »Es gibt bei Brecht im Ui so
einen Satz: Wer raucht sieht kaltblütig aus. Und wer raucht, wird kaltblütig.« (LV 91f.)
166
Die Aufzählung der Beispiele, die sich thematisch auf das Kriegsende und die Folgen des
Krieges für die unmittelbare Nachkriegszeit beziehen, verdeutlicht, dass die Suche nach
Urtexten lediglich neue Texte, beziehungsweise Textvarianten zu Tage fördert. Eine
›erinnerte Wirklichkeit‹ hinter diesen Texten existiert nicht, weshalb es schlüssig erscheint,
wenn der Autobiograf selbst feststellt, die »eigent[liche] Biografie« seien »die Texte« (HMA
4480).
Das fünfte Kapitel, »Rückkehr nach Sachsen, Frankenberg 1947–51«, schließt Kindheit und
Jugend des Ich-Erzählers ab. Am Ende dieses Kapitels werden mit der Flucht der Eltern nach
Westdeutschland die Weichen gestellt für die Durchtrennung der letzten Nabelschnur und den
Beginn eines eigenverantwortlichen Lebens für die und in der Literatur. Wie bereits in den
vorangegangenen Kapiteln mehrfach der Fall, steht am Kapitelbeginn eine Lehrerfigur. Kam
im ersten Kapitel noch dem Vater die Rolle des (literarischen) Erziehers zu, übernahm diese
Funktion im zweiten stellvertretend ein »Deutschlehrer […], der mir Bücher borgte« (KOS
33). Im Kriegskapitel verhalf der »ehemalige Bewohner« eines leerstehenden Hauses,
»vielleicht der Lehrer des Dorfes« (KOS 35), dem Ich-Erzähler zu Kant und Schopenhauer.
Nach dem Krieg säuberte er »[z]usammen mit einem ehemaligen Lehrer von der Oberschule«
(KOS 45) die Bibliotheken des Landkreises – »die Grundlage meiner eigenen Bibliothek«
(KOS 46). In Frankenberg nimmt der Lehrer nunmehr nicht mehr allein durch die
Bereitstellung von Büchern Einfluss auf das Ich der Erzählung, er tritt zudem als
unmittelbarer Förderer dessen literarischer Ambitionen in Bild. In seiner Funktion als Lehrer
kommt ihm indes neben der Rolle des Mäzens die des Zensors zu: »Wir hatten einen guten
Deutschlehrer, der mich auch mit Literatur versorgte. Er hat mir sogar Geld angeboten für ein
Debüt als Schriftsteller. […] Er kannte von mir nur Aufsätze. Und damit gab es sogar Ärger.
Ein Aufsatzthema war ein Schiller-Spruch: ›Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber
kein Ganzes werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.‹ Ich hatte gerade
Anouilh gelesen. Bei Anouilh stand ein Spruch gegen den Pöbel, der Wurst isst und Kinder
zeugt, wogegen die Elite, die man sich nur mit einem Loch in der Schläfe vorstellen kann
usw. Das habe ich in dem Aufsatz zitiert und geschrieben, dass der Satz von Schiller eben
doch inzwischen den Geruch der Gaskammern hätte. Das war ein großes Problem für meinen
Lehrer. Er sagte, als literarische Leistung müsste er es mit Eins bewerten, als Aufsatz mit
Fünf. Er hat sogar mit meinem Vater darüber gesprochen, wie mit mir an der Schule zu
verfahren sei, mein Verhältnis zur Schulordnung. Hinzu kam, dass ich immer mit einem roten
Halstuch in die Schule kam, meistens zu spät. Außerdem rauchte ich in der Pause.
Andrerseits: Ich erinnere mich an einen Text aus ›Jubiabá‹ von Amado, den er uns vorgelesen
hat. Der Held war ein Neger auf Montage, der onaniert, weil er allein ist und ›seine Hand war
die Frau‹. Das hat er uns vorgelesen, eine Leistung für einen deutschen Lehrer.« (KOS 55f.)
Dass der Deutschlehrer dem Erzähler trotz des problematischen Schulaufsatzes zum
literarischen Debüt verhelfen will, spricht für die – in der Amado-Lesung explizit zur Schau
gestellte – prinzipielle Anerkennung einer Berechtigung der Kunst, von moralischen
Kategorien abzusehen. Zugleich zeigt die Haltung des Lehrers dem Schüler gegenüber die
Gefahren einer sich über allgemein anerkannte Werte hinwegsetzenden Künstlerschaft auf. So
167
nimmt die Krisensitzung von Lehrer und Vater die spätere Maßregelung durch den
Ausschluss aus dem Schriftstellerverband im Zuge der UMSIEDLERIN-Affäre vorweg.
Darauf verweist auch die 1961 wieder auftauchende (teilweise auch umgekehrte)
Argumentation von einer gelungenen Darstellung des falschen Themas. Mit dem Angebot
eines Auftragswerkes, dass das künstlerische Talent unter Aufsicht stellt (»Er meinte, […] er
wäre bereit, mir Geld vorzustrecken, wenn ich eine Novelle schriebe«, KOS 55), ist ein
Scharnier geschaffen zwischen dem folgenschweren Diktat des Vaters (Autobahn-Aufsatz),
dass den Sohn langfristig in die Literatur trieb, und späteren staatlichen Zensurmaßnahmen,
welche die künstlerische Produktivität unter andere kunstfremde Prämissen stellen wollen. Es
ist mithin der Versuch, die ästhetische Flut in ein politisch korrektes Flussbett umzuleiten und
so nicht nur Schadensbegrenzung zu betreiben, sondern gezielt gesellschaftlichen Nutzen aus
ihr zu ziehen. Bezug genommen ist damit zugleich auf die Praxis einer Integration, die als
Fortsetzung der Ausgrenzung mit anderen Mitteln beschrieben werden kann, wie die
Darstellung der Entgegennahme des Nationalpreises 1986 im vorletzten Buchkapitel zeigt
(»Natürlich war der Nationalpreis 1986 ein Friedensangebot, eine Aufforderung zum
Waffenstillstand«, KOS 356). Der Außenseiter – kenntlich auch durch sein eigensinniges
Verhältnis gegenüber der Schulordnung – muss domestiziert werden. Die Amado-Lesung
dient vor dieser Folie gleichermaßen zur ironischen Illustration seiner gesellschaftlichen
Nutzbarmachung (»Neger auf Montage«) und die Aufhebung seiner moralischen
Verwerflichkeit im ›schönen‹ Bild des Hand an sich legenden Schwarzen. Wird der Vortrag
Amados großen Romans JUBIABÁ in KRIEG OHNE SCHLACHT als »Leistung für einen
deutschen Lehrer« bezeichnet – was bis heute als durchaus zutreffend bezeichnet werden
muss –, spielt die Metapher in diesem Zusammenhang zugleich auf ein repressives
Kunstverständnis an, das die gesellschaftliche Rolle der Kunst auf ihren Erbauungswert
begrenzt sehen will. Sie führt dem literarisch begabten Schüler, der als Außenseiter mit dem
Neger identifiziert wird, im Bild des onanierenden Negers auf Montage die Folgen einer
ästhetizistischen/selbstbezüglichen Kunstauffassung vor Augen. Der Entwurf einer noch in
Waren entstandenen Novelle, die ein gänzlich anderes Hand-Bild aufruft 502 wird folglich
nicht gegen das erste Schriftstellerhonorar eingetauscht, sondern bleibt in der Schublade.
Dass als Stein des Anstoßes ausgerechnet ein Aufsatz über Schillers Distichon PFLICHT
FÜR JEDEN aus den 1796 gemeinsam mit Goethe verfassten TABULAE VOTIVAE
herhalten muss, kann angesichts der frühen Auseinandersetzung des Erzählers mit Schiller (s.
a. KOS 32) kaum verwundern. Schiller hatte 1791 in seiner Rezension ÜBER BÜRGERS
GEDICHTE die Individualität als zentrale Wertkategorie in die Kunst eingeführt: »Alles, was
der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor Welt
und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu
veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes
Geschäft …« 503 Diese geistige Elite, könne man sich mit Blick auf die Gaskammern heute in
letzter Konsequenz nur als Selbstmörder, mit Loch im Kopf, vorstellen. Denn, so offenbar die
502
Im Gegensatz zum vitalistischen Bild des onanierenden Negers, der seine überschüssigen Kräfte nicht zu
zügeln imstande ist, weist das Bild der aus dem Grab wachsen Hand die Kunst als »Dialog mit den Toten«
(W 1 165 u. JN 31) aus: »Und ich schrieb in der Zeit im Landratsamt eine Novelle, sie ist verschollen, die
Geschichte eines Mannes, der aus dem KZ zurückkommt seine Familie ist zerstreut, seine Frau hat einen
Liebhaber. Und der Mann sucht den, der ihn ins KZ gebracht hat. Ich weiß nicht mehr, wie es ausging Ich
erinnere mich an ein Bild: eine Hand, die aus einem Grab wächst.« (KOS 46f.)
503
Schiller-SW 5, 972
168
ebenso gewagte wie originelle (und in anderen Texten Müllers gut gepflegte) These des
Aufsatzes, die Gaskammern waren nichts anderes als die Überführung Schillers Ideal eines
menschheitlichen Läuterungsprozesses in den technologischen Prozess der
Massenvernichtung. Damit läge die ideologische Begründung der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik auf einer geistigen Linie mit Schiller – eine These, die weit darüber
hinausgeht, lediglich der Wiederaneignung der ›Klassischen Deutschen Literatur‹ und ihrer
Indienstnahme durch das DDR-Regime zu widersprechen.
Obwohl die »literarische Leistung« möglicherweise gerade auf der Fähigkeit beruht, eine
solch radikale Zusammenschau vorzunehmen, steht das schriftstellerische Debüt im Dienst an
der neuen Gesellschaft – es verhandelt die Aufdeckung eines Sabotageaktes –, allerdings mit
alten Mitteln. »Es gab einen Hörspielwettbewerb, und ich hatte ein Stück geschrieben und als
Hörspiel eingeschickt. Es spielte in einem volkseigenen Betrieb, im Jahr 1948, und es ging
um die Entlarvung eines bösen Buchhalters, der für den Klassenfeind sabotiert, indem er
falsche Berechnungen macht. Am Schluss wird er enttarnt und bricht zusammen. Sehr
dramatisch. Ich hatte damals gerade Bruckner gelesen. Bei Bruckner gibt es diese
Maschinengewehr-Dialoge, flach und schnell. Das konnte man leicht nachmachen. »Die
Morgendämmerung löst die Ungeheuer auf«, hieß das Ganze sehr pathetisch. […] Eine
Bruckner-Kopie über die Krankheit der Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Böse zitiert
Ernst Jünger, der Gute will den Sozialismus aufbaun, aber der Böse zieht den Guten in den
Abgrund.« (KOS 56f. u. 60) Zwei Szenenentwürfe des Hörspiels konnten aus dem Nachlass
veröffentlicht werden 504 . Sie stimmen mit den Aussagen zu Form und Inhalt in KRIEG
OHNE SCHLACHT überein. Das Jüngerzitat (»Glücklich ist die Einfalt, die die gegabelten
Wege des Zweifalls nicht kennt, doch ein wilderes und männlicheres Glück […] blüht am
Rande der Abgründe auf«, W 3 454), ergänzt um eine Nietzsche-Referenz (»Im echten Manne
– / – ist ein Kind versteckt, ich weiß – / – das will spielen«, W 3 453f.) finden sich in der
ersten Szene des Fragments. Die knappen Szenen lassen sich allenfalls durch diese Einfügung
von Nietzsche- und Jüngerzitaten als Müller-Texte identifizieren. Im Zusammenhang mit der
Autobiografie ist das Hörspiel die Realisierung eines Vorhabens, das wenige Seiten zuvor
angekündigt wurde: »Ich habe den ganzen Schiller gelesen, die Stücke jedenfalls, von Hebbel
auch alle Stücke. Und von da an wollte ich Stücke schreiben.« (KOS 32) An die Stelle der
Aufzählung von Lektüren treten nun in zunehmendem Maße jene die gesamte Autobiografie
durchziehenden Rekurse auf die literarische Produktion des Autors Heiner Müller. In diesem
Zusammenhang wird vielfach Bezug genommen auf die Abhängigkeit der eigenen Arbeiten
vom Vorhandensein ästhetischer Folien, die mitunter auch explizit benannt werden. Damit
wird der Übergang von der literarischen Rezeption zur ästhetischen Produktion vollzogen,
ohne dass tatsächlich eine Ablösung vom Vorgang der Rezeption stattgefunden hätte. Die
Produktion erscheint als deren Fortsetzung. Die Arbeit bleibt, zumindest formal, einer
Vorlage verbunden, dessen Stil sie kopiert. Doch mitnichten ist die Kopie als ein mimetischer
Akt zu missverstehen. »Die Kopie reproduziert nur sich selbst, wenn sie glaubt etwas anderes
zu reproduzieren.« 505 Die Darstellung der Bruckner-Kopie, so suggeriert Müllers
Rekapitulation der Textgenese, zielt auf den Effekt, die Überrumpelung des Lesers/Zuhörers
504
[Wohnung Frank …] und [1947. VEB. Direktor …] (W 3 451–460)
505
Deleuze/Guattari, 1976, 23. »Die Kopie ist entgegen ihrer ex negativo-Funktion nicht wesentlich abbildend
oder imitierend. Die Kopie ist immer schon eine Selektion innerhalb eines Ausschnittes und damit
einhergehend die Konstitution eines Originals.« (Jäger 1997, 152)
169
durch dramaturgisches Sperrfeuer. Lassen sich Müllers späteren Arbeiten technisch bei
weitem nicht ganz so einfach beschreiben, liegt im postumen Rekurs auf den frühen Text
dennoch ein Kern Müllers Arbeitsweise verborgen: Immer wieder wird auf (literarische)
Vorlagen zurückgegriffen, die adaptiert, modifiziert, kombiniert, bisweilen auch kontaminiert
oder gesprengt werden.
Die Folge dieser frühen schriftstellerischen Betätigung ist die Einladung zu einem
Schriftstellerlehrgang »1949 in Radebeul bei Dresden« (KOS 57). Es ist der erste von zwei
Lehrgängen, die in KRIEG OHNE SCHLACHT beschrieben werden. Die ›dramatischen‹
Ereignisse des zweiten werden ausführlich im Folgekapitel verhandelt. Der Lehrgang in
Radebeul nimmt in der Darstellung der Autobiografie eine Erfahrung vorweg, die sich Anfang
der neunziger Jahre als wortreiches Schweigen im Langgedicht MOMMSENS BLOCK
wiederholt. »Das wesentliche Ereignis für mich war, dass ich für ein, zwei Tage die Sprache
verlor. Ich konnte kein Wort sagen, für zwei Tage war die Stimme weg, vielleicht eine
Reaktion auf diesen Lehrgang.« (KOS 58) Unverkennbar ist die Anspielung auf
Hofmannsthals CHANDOS-BRIEF, in dem dieser 1902 unter dem Eindruck einer schweren
persönlichen Krise seinem Ungenügen an der Sprache als Kommunikationsmittel Ausdruck
verlieh und damit einer ganzen kulturellen Strömung (fin de siecle) das Wort redete. Die
›Sprachlosigkeit‹, von der bei Müller die Rede ist, wird somit lesbar als Ausdruck einer
Krisenerfahrung. Diese Erfahrung dürfte in der Einsicht begründet sein, dass der mit
»swinging country« (GI 1 55) identifizierte Freiheitstaumel der Nachkriegszeit unweigerlich
zu Ende ist. Mit der beginnenden Institutionalisierung des Nachwuchses einer spezifisch
sozialistischen Literaturelite, die die Voraussetzung für Müllers Existenz als Schriftsteller in
der jungen DDR bildet, ist dieser »Freiraum« (ebd.) verschwunden, beziehungsweise in
Bereiche abgedrängt, die von der neuen Gesellschaft mit äußerstem Misstrauen beäugt und
zuweilen mit rüden Mitteln geahndet werden. Die Lehrgänge dienen vor allem der
ideologischen Indoktrination und spiegeln den Beginn der Steuerung und Sanktionierung
künstlerischer Produktion durch den Staatsapparat wider. Müllers frühe literarische Arbeiten
dürften in diesem Rahmen vor allen Dingen Irritation ausgelöst haben. Das Schweigen stellt
insofern den kohärenten Ausdruck des Wissens um die eigene Fehlbesetzung in diesem
Lehrgang dar.
»Vor dem Stück über den sabotierenden Buchhalter hatte ich schon ein anderes geschrieben,
frei nach Sartre, über einen KZ-Kommandanten, der im Jenseits eine Jüdin wiedertrifft, die er
im KZ hat umbringen lassen. Und die beiden verlieben sich ineinander. Dann ein
Heimkehrerdrama im Stil von Georg Kaiser. Ein Mann kommt aus dem Krieg. Bevor er
Soldat wurde, hatte er eine Kneipe. Nun kommt er zurück, und die Frau treibt es mit dem
Kellner und der Kellner heißt Napoleon.« Drei Szenen dieser Kaiser-Adaption wurden aus
dem Nachlass veröffentlicht. 506 Im Gegensatz zur Darstellung in KRIEG OHNE SCHLACHT
wird dort der Kellner »Napoleon« als Liebhaber der Wirtin, deren Mann im Krieg ist, von
dem Arbeitslosen »Leo«, der mittlerweile das Bett der Wirtin »Marie-Luise« teilt, verprügelt,
woraufhin er sich mit dem Küchenmädchen »Sofie« tröstet. Die Dialoge arbeiten vor allen
Dingen die sozialen Unterschiede und Geschlechterdifferenzen zwischen den Figuren heraus.
Im Text der Figur des Kellners Napoleon, einem sich durch Feigheit auszeichnenden
Heißsporn, deutet sich bereits die von Brecht entlehnte Konstruktion der »Epochenkollision«
506
[Die Liebe der Marie A.] (W 3 461–472)
170
(W 8 176) an, die historisch weit auseinander liegende Vorgänge in einem Bild
zusammenzieht. »Schau dir die großen Männer an, Sofie. Den Cäsar, den Napoleon, den
Hitler. Es ist immer ein Trick dabei. Die Größe ist ein Trick, Sofie. […] Das Werk, Sofie, ist
mehr als der Mensch. Es verbirgt ihn. Nur der Umfang des Verbrechens schützt vor Strafe.
[…] Das ist die historische Perspektive.« (W 3 471) Auch der moralische Gehalt dieser
Sentenz scheint bei Brecht entlehnt, obwohl der Beginn der Brechtrezeption dem Text der
Autobiografie zufolge zeitlich später einsetzt (s. a. KOS 54).
In einer vorangegangenen Arbeit sei es um ein traumatisches Erlebnis mit einer
Schwangerschaft gegangen. »Ich hatte versucht, in dieser mecklenburgischen Kleinstadt, in
Waren, eine Abtreibung zu organisieren. Natürlich war das ein aussichtsloses Unternehmen.
Daraufhin habe ich also ein Stück geschrieben über einen jungen Mann, der noch zur Schule
geht, und eine Frau ist von ihm schwanger, und damit der Vater nichts erfährt, bringt er den
Vater um und seziert ihn im Keller. Das waren große Monologe, wenn der Knabe seinen
Vater im Keller seziert.« (KOS 60) Ein Hinweis auf den Text, den Müller in KRIEG OHNE
SCHLACHT als sein »erste[s] Stück überhaupt« (KOS 60) bezeichnet, findet sich in der
Textcollage PROJEKTION 1975, die erstmals 1992 im Gedichtband der im Rotbuchverlag
erschienen Texte-Edition abgedruckt wurde. Das Gedicht gehört zu einer Reihe von Texten,
die die eigene Arbeit kritisch reflektieren, beziehungsweise nach Sinn hinterfragen. Dort heißt
es: »Ich erinnere mich an meinen ersten Versuch, ein Stück zu schreiben. Der Text ist in den
Nachkriegswirren verloren gegangen. Es begann damit, dass der (jugendliche) Held vor dem
Spiegel stand und herauszufinden versuchte, welche Straßen die Würmer durch sein Fleisch
gehen würden. Am Ende stand er im Keller und schnitt seinen Vater auf.« (W 1 199) In
seinem Gedicht betrachtet Müller die eigenen Texte als Teil jenes Prozesses, der das virtuell
immer gegenwärtige emanzipatorische Potenzial durch den Terror jeden gesellschaftlichen
Fortschritts widerlegt. Er beschreibt damit eine Erfahrung des Scheiterns und der
Infragestellung der Legitimität seiner Arbeit als Dichter. Die Texte, so der Befund der
PROJEKTION, sind nicht länger in der Lage, die (für den Fortschritt notwendigen) Opfer zu
zählen, geschweige denn zu legitimieren. Sie generieren vielmehr die Erinnerung an einen
verloren gegangenen, nur mehr in der Erinnerung präsenten Text. Doch der Rückzug auf den
eigenen Körper und den vermeintlichen Vorgang seiner Auflösung gibt keinen Aufschluss
über die Frage nach dem Verlust der Sinnzusammenhänge. Mit der Untersuchung der eigenen
historischen Voraussetzungen (Obduktion des Vaters) wird der Geburtsfehler zumindest
lesbar. Ödipus, der andere Vatermörder und Inbegriff der tragischen Ironie gerät zur
abendländischen Lachnummer angesichts der Konfliktlage, die die aus ihren Exilen (Elektras
innere Emigration, Orests Flucht nach Phokis) heimkehrenden, den Vatermord rächenden
Kinder des Agamemnon heraufbeschwören: »Im Jahrhundert des Orest und der Elektra, das
heraufkommt, wird Ödipus eine Komödie sein.« (ebd.)
Im folgenden Abschnitt wird das Verhältnis des Ich-Erzählers zum Kommunismus als
Rollenspiel dargestellt. »Vor diesem vom Kulturbund vermittelten Lehrgang habe ich vier
Wochen oder länger in Frankenberg in einem Betrieb gearbeitet, um das Milieu für dieses
Buchhalter-Stück, ›Morgendämmerung‹, kennenzulernen. Allerdings gab es keine andere
Arbeit als Drehbänke entrosten, was ziemlich mühsam und schwachsinnig war. Da standen
lauter verrostete Drehbänke herum, die entrostet werden mussten. Ich habe täglich acht
Stunden Rost abgeschabt. Dann fand ein Jubiläum zur Oktober-Revolution statt, und ich
musste vor den mürrischen Werktätigen die Rede halten. Ich habe es sehr deutlich
171
empfunden, dass sie überhaupt nicht interessiert waren. Die standen da herum, haben mich
angeglotzt und sich das angehört. Solange ich redete, mussten sie nicht arbeiten. Die Situation
war klassisch. Da steht man als junger Kommunist – ich fühlte mich als Kommunist – und
langweilt die Leute.« (KOS 60f.) Auf die Frage, was das heiße, »als junger Kommunist?«
(KOS 61), antwortet Müller: »Ich konnte nie sagen, ich bin Kommunist. Es war ein
Rollenspiel. Es ging mich im Kern nie etwas an. Ich habe oft gesagt und behauptet, dass ich
mich mit dieser Gewalt, mit diesem Terror identifizieren konnte, weil es eine Gegengewalt
war, ein Gegenterror gegen den vorigen. Das ist aber vielleicht schon eine Konstruktion. Im
Grunde bin ich da unberührt durchgegangen.« (ebd.) Der Erzähler verfolgt eine doppelte
Strategie, die eine Identifizierung mit der politischen Idee erst behauptet, um sie daraufhin zu
verwerfen. Im ersten Teil der Aussage geht es um die Konstellation des idealistischen
kommunistischen Intellektuellen, der sich mit den entgegengesetzten, pragmatisch-
egoistischen Interessen einer unpolitischen Arbeiterschaft konfrontiert sieht. Während der
sechziger Jahre sollte die Trennung von Intelligenz und Werktätigen auf Betreiben Walter
Ulbrichts hin endgültig zementiert werden: »Keine Kontakte von Intellektuellen zu Arbeitern,
die Schichten oder Klassen trennen.« (KOS 130) Die als Feldversuch angelegte Tätigkeit des
Schriftstellers in der Produktion (als Umkehrung des Bitterfelder Modells) läuft leer. Die von
Rost überzogenen Produktionsmittel des kapitalistischen Produktionsprozesses lassen sich
einer selbstbestimmten Arbeit nicht zuführen, solange die Arbeiter nicht in der Lage sind, ihre
Produktivität als Äußerung ihres Selbstbestimmungsrechts zu begreifen. Die Freilegung der
Werkbänke vom Rost ihrer Geschichte muss daher als ebenso »mühsam« wie
»schwachsinnig« bezeichnet werden. Wenige Seiten später wird die im ersten Teil des obigen
Zitats angelegte virtuelle Identifikation mit der kommunistischen Besatzungsmacht,
beziehungsweise der von ihr installierten sozialistischen Führung des ostdeutschen Sektors,
noch einmal aufgerufen, erfährt indessen eine gänzlich anders gelagerte, radikal subjektive
Begründung: »Zudem war das ein Problem, dass ich viel mehr als mein Vater mit dem, was
da passierte, zum Beispiel Enteignungen, konform war. Ich fand das in Ordnung. Ich habe
mich viel mehr damit identifiziert, als mein Vater das konnte. […] Ich war grundsätzlich für
jede Enteignung. Ich wäre auch für eine Enteignung des Totengräbers gewesen. Ich hatte eine
rachsüchtige, links- sektiererische Einstellung zu dem Ganzen. Und was da so an
Dummheiten und Lächerlichkeiten passierte, war mir nicht wichtig. Das wusste man, und es
war nicht so wichtig wie die Tatsache, dass da gegen Leute Gewalt ausgeübt wurde, die ich
nicht ausstehen konnte, gegen die ich vielleicht auch ein Vorurteil hatte. Das hängt natürlich
mit dieser frühkindlichen Demütigung mit dem Freitisch bei dem Unternehmer zusammen.
Ich bin überhaupt, glaube ich, ein sehr rachsüchtiger Mensch.« (KOS 67f.) Unter Berufung
auf die als soziale Herabsetzung empfundene solidarische Geste des Fabrikanten-Freitischs im
ersten Buchkapitel, wird die Gewalt, die sich nunmehr umgekehrt gegen Besitzer und
Unternehmer wendet, als Vergeltung und Genugtuung für die frühen Verwundungen erfahren.
Der Geschichtsprozess wird Gerichtsprozess, durch den der Erzähler stellvertretend
Wiedergutmachung erfährt, »weil es eine Gegengewalt war, ein Gegenterror gegen den
vorigen«. Die Reduzierung der sozialen Maßnahmen der sozialistischen Führung auf (niedere)
soziale Instinkte lässt Geschichte somit nicht als sinnvollen Plan und gesellschaftlichen
Fortschritt erscheinen, sondern als Summe persönlicher Ressentiments, die in der Politik
lediglich ihre Fortsetzung finden. Hass und Rache werden kenntlich als maßgebliche
historische Triebkräfte. Diese Einsicht findet ihren Niederschlag auch in Müllers frühen
Stücken, die den Kulturbehörden vor allem deshalb problematisch erscheinen, weil die
172
Biografien und Probleme ihrer Protagonisten immer wieder den Rahmen (nämlich die Arbeit
am gesellschaftlichen Fortschritt im Zeichen des Kommunismus) sprengen oder das System
abstürzen lassen, weil sie von menschlich-allzumenschlichen Impulsen angetrieben werden.
Die »Kommunismus«-Passage erweitert darüber hinaus das im vorangegangenen Kapitel
beschriebene Repertoire der Generierung von Material für die zukünftige literarische
Produktion, in deren Rahmen die Beschreibung letztendlich eingebunden bleibt. Die
Darstellung erweist sich somit als Selbstbeschreibung, die das Potenzial des eigenen Wortes
erkundet. Die Wirkung politisch engagierter Rede wird von der Menge absorbiert und damit
verworfen. »Klassisch« ist die Situation aber nicht nur hinsichtlich der Wirkungslosigkeit des
in ihr hervorgebrachten Wortes, das den Intellektuellen nicht an eine historische Bewegung
anschließt, ihn im Gegenteil gerade von denjenigen trennt, die er fälschlicher Weise für eine
politische Klasse hält. Die Konnotation der Revolution mit dem Gedenken (»ein Jubiläum zur
Oktober-Revolution«) – das in der beschriebenen Situation insofern durchaus als
Eingedenken an noch zu Erreichendes lesbar ist – findet kein Gehör. Das Wort des
Intellektuellen trennt ihn von seinem Publikum, das in gegenläufigem Interesse (»Solange ich
redete, mussten sie nicht arbeiten«) geeint scheint. Damit ist die Situation auch hinsichtlich
des Modellcharakters der gesellschaftlichen Konstellation, in der der Intellektuelle das Wort
führt, das die Menge interesselos über sich ergehen lässt, »klassisch«.
Durch die Frage des fiktiven Gesprächspartners wird die vom Ich-Erzähler im vorangehenden
Absatz behauptete emotionale Identifizierung mit dem Kommunismus auf eine Ebene
kritischer Reflexion gehoben und als »Rollenspiel« und »Konstruktion« entlarvt. Die
unbedingte Distanz zu den Vorgängen, die den Protagonisten »im Kern« unberührt durch die
Hölle unangreifbarer Identität passieren ließ, markiert zugleich das Grundprinzip der
Gestaltung von KRIEG OHNE SCHLACHT. Das Ich des Textes erweist sich als permanente
Konstruktion, die aus der Projektion poetischer Feindbilder die Kraft schöpft, im Widerspruch
sich selbst zu setzen. Die Identifizierung mit, respektive Verwerfung von ideologischen
Modellen, wie gleichfalls von Staaten und/oder Diktaturen, bleibt Folie eines nicht
abschließbaren Bewegungsmusters, das die Erscheinungsformen dessen verzeichnet, der da
»ich« sagt. Die Distanz zielt sowohl auf den Abstand des Ich-Erzählers von der Erzählung, als
auch auf denjenigen der von ihm entworfenen poetischen Figur zu den im Text
vergegenwärtigten Vorgängen einer imaginären Vergangenheit. Im weiteren Verlauf des
Kapitels wird diese auf einer doppelten Distanz beruhende Argumentationsstruktur fortgeführt
und ausgebaut. »Ich war noch in Waren in die SPD eingetreten, noch vor der
Zwangsvereinigung mit der KPD. […] Nach der Vereinigung von KPD und SPD hatte ich
eine Funktion, ich war Literaturobmann. Das heißt, ich sollte Broschüren verkaufen, die
keiner kaufen wollte. Meistens habe ich sie selbst gekauft und weggeworfen. […] Ich weiß
nicht, ob mir das so wichtig war, diese SED-Mitgliedschaft, politisches Engagement
überhaupt. Nein, so einfach ist das nicht. Natürlich hat es mich beschäftigt, aber es gibt da
einen Kern, der von allem unberührt war bei mir. Der war von der Nazizeit unberührt und von
der Zeit danach auch. […] Was dieser Kern war, weiß ich nicht. Wahrscheinlich das
Schreiben, ein Bereich von Freiheit und Blindheit gleichzeitig, völlig unberührt von allem
Politischen, von allem, was draußen vorging. Meine Sache war die Beschreibung.« (KOS
62ff.) Erscheint der Eintritt in die SPD und die Übernahme einer Funktion in der
zwangsvereinigten SED als grundsätzliche Zustimmung zur sozialistischen Ausrichtung der
sowjetischen Besatzungszone, wird das politische Engagement als Rolle kenntlich, mit der zu
173
identifizieren dem Erzähler in der Reflexion nur unter Vorbehalt gelingt. Als Begründung für
das Scheitern einer vorbehaltlosen Identifikation wird der künstlerische Ausdruck selbst
angeführt, der als »ein Bereich von Freiheit und Blindheit« gekennzeichnet ist. Die
Diskrepanz zwischen (zielgerichtetem) politischem Engagement und eines von
vordergründiger Intention absehenden Bereiches der Kunst entzieht den Künstler der
Möglichkeit seiner gesellschaftlichen Verwertung. Er steht außerhalb des Geschehens, das er
beschreiben kann. Bewirken kann er, will er die Voraussetzungen seiner Kunst nicht ernsthaft
gefährden, nichts. Ist die gewöhnliche Wahrnehmung ständig bestrebt, die Wirklichkeit als
sinnvolle Abfolge von Vorgängen zu betrachten, sieht der Dichter die empirische
Wirklichkeit lediglich als Material, dass er nach rein subjektiven Gesichtspunkten neu ordnet,
um es so von ›Sinn‹ zu befreien. Bereits in der Abschrift der autobiografischen Gespräche ist
von dieser grundsätzlichen Intentionslosigkeit des künstlerischen Ausdrucks die Rede, die das
Dasein nicht als Konstruktion, respektive Reproduktion kohärenter Bedeutungen begreift,
sondern als Schaffensprozess und endlose Dekonstruktion von Be-Deutung. »Dasselbe kam
dann wieder […] [19]61. Ich denke schon oft und lange darüber nach, wie ich damals reagiert
habe. Das war eine ziemlich für mich lebensgefährliche Geschichte. Aber es hat mich nicht
berührt.« (TA 72) »Diese Dumpfheit war eine Überlebenschance als Autor. Die Blindheit war
Freiheit.« (TA 73) »Meine eigentliche Existenz war das Schreiben.« (TA 76)
Im Gespräch mit der »Süddeutschen Zeitung« betont Müller 1991, Schreiben sei »eine andere
Existenz« (GI 3 129). Die Blindheit als Voraussetzung der Beschreibung spielt in KRIEG
OHNE SCHLACHT eine wesentliche Rolle für die Struktur des Textes und die poetische
Bedeutungsproduktion. Als »blinder Fleck« (KOS 66) werden etwa die Umstände der Flucht
der Eltern und des Bruders in die Bundesrepublik beschrieben. »Ich kann mich da an nichts
erinnern.« (KOS 66) Das Fehlen der Erinnerung macht die Texte zum Gedächtnis. Müller
hatte bereits Ende der fünfziger Jahre die eigene Erinnerung an den Vater durch einen
literarischen Text ersetzt, der in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach zur Verdeutlichung
Müllers intertextueller Arbeitsweise herangezogen wurde. In der Erzählung DER VATER
markiert diese Episode als letztes Kapitel, das Ende einer Beziehung, die mit der Erzählung
literarisch erst eröffnet wird. Mit KRIEG OHNE SCHLACHT erfolgt der Versuch, die
Selbstwahrnehmung dieser Beziehung unter neuen Bedingungen wieder aufzunehmen, um
mit dem »Gespenst meiner Kindheit« (HMA 4477) ein für allemal fertig zu werden.
Textfragmente aus dem Nachlass deuten jedoch darauf hin, dass die Geisteraustreibung
scheitert. 507 Die Autobiografie konstruiert parallel zum faktologischen ein emotionales
Gedächtnis, das den historischen Tatsachen beschreibend gegenübersteht. »Wenn ich
versuche, mich an meine damalige ›Befindlichkeit‹ zu erinnern, muss ich sagen, mich hat
eigentlich nichts erschüttert. Das war für mich alles als Erfahrung interessant, alles war
Erfahrung. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich da etwas besonders betroffen gemacht
hat. Die Flucht, zuerst meines Vaters, später auch meiner Mutter mit dem Bruder, hat mich
auch nicht überrascht. Ich wusste schon, dass es da Probleme gab, nur viel Konkretes wusste
ich nicht.« (KOS 68) Einen Anhaltspunkt für die »damalige ›Befindlichkeit‹« ist auch der
Erzählung DER VATER nicht zu entnehmen, die den Versuch darstellt, die scheiternde
persönliche Beziehung literarisch für ein gesellschaftliches Projekt nutzbar zu machen. Die
frühe Schilderung des Abschieds vom Vater scheint im Gegenteil die in der Autobiografie
507
s. a. [Im Herbst 197.. starb …] (W 2 177–188)
174
erwähnte Teilnahmslosigkeit zu bestätigen, die es erlaubt, Erfahrungen der emotionalen
Verarbeitung zu entziehen, um sie der literarischen Textproduktion einzuspeisen. Von daher
kann es kaum verwundern, dass sich die Verabschiedungsszenerie in KRIEG OHNE
SCHLACHT von derjenigen der frühen Erzählung kaum unterscheidet.
Ich sah ihn zuletzt auf der Isolierstation eines Krankenhauses in Charlottenburg […]. Wir
standen, zwischen uns das Glas, und sahen uns an. Sein mageres Gesicht war blass. Wir
mussten mit erhobener Stimme sprechen. Er rüttelte an der verschlossenen Tür und rief
die Schwester. Sie kam, schüttelte den Kopf und ging. Er ließ die Arme sinken, sah durch
das Glas auf mich und schwieg. Ich hörte, wie in einem der Krankenzimmer ein Kind
schrie. Als ich ging, sah ich ihn hinter der Glastür stehen und winken. Im Licht, das durch
das große Fenster am Ende des Ganges fiel, sah er alt aus. (W 2 85f.)
Mein Vater war in einem Krankenhaus in Charlottenburg, wo ich ihn besucht habe,
Isolierstation. Wir konnten nur durch Glasscheiben miteinander reden. Ich erinnere mich
nur, dass wir uns nicht verständigen konnten und dass er nach der Schwester rief.
Zwischen uns waren doppelte Scheiben. Er rief nach der Schwester, sie kam, schüttelte
den Kopf und ging wieder. Dann haben wir uns mit Gesten verabschiedet. (KOS 70)
508
Werner 2001, 157
176
morsch: eine Ruine des Denkens. 509 Sie bildet den dankbaren Rahmen der
Auseinandersetzung mit brüchigen, aufgebrochenen und gänzlich zerstörten Selbstansichten.
Das Kapitel »Die ersten Jahre in Berlin, seit 1951« behandelt den Zeitraum zwischen dem
Weggang des Erzählers aus Frankenberg im Zuge der Flucht des Vaters und dem 17. Juni
1953. Es ist mit fünfundfünfzig Buchseiten (in den Ausgaben bei Kiepenheuer & Witsch) das
mit Abstand umfang- und materialreichste Kapitel des Buches. Die oftmals zufällig
erscheinende Ordnung der behandelten Gegenstände, das Fallenlassen und Wiederaufnehmen
von Themen und die zum Teil stark an den mündlichen Ausdruck angelehnten
Formulierungen, lassen für diesen Textteil auf eine minder konzentrierte Textarbeit gegenüber
anderen Passagen des Buches schließen. Der Blick auf frühere Fassungen scheint diese
Annahme zu bestätigen. Neben zahlreichen kulturpolitischen Anekdoten aus der
Frühgeschichte der DDR und kolportierenden Zitaten aus Werken damaliger Kollegen werden
in zunehmendem Maße historische, politische und ästhetische Diskurse in die Erzählung
eingeflochten, die den Text als ein Konglomerat ganz unterschiedlicher Textsorten erscheinen
lassen: als Collage.
Mit dem Schauplatzwechsel nach Berlin begibt sich der Protagonist der Erzählung mitten ins
Herz der historischen, politischen und kulturellen Vorgänge der Zeit. Die Vier-Sektoren-Stadt
Berlin verkörpert wie kein anderer Ort in Deutschland die zunehmende Spaltung des Landes
in die an den westlichen Demokratien der Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich
orientierte Bundesrepublik (einer Replik Müllers zufolge der gesundgeschrumpfte,
ökonomisch potente Torso des Deutschen Reiches in den Grenzen vor 1914, s. a. GI 2 168;
GI 3 92, 166, 209 u. W 8 227) und die politisch von der Sowjetunion abhängige DDR.
Zugleich ist Berlin das symbolische Zentrum der jüngsten deutschen Geschichte,
»Knotenpunkt der historischen Niederlage der Arbeiterbewegung im Revolutionswinter
1818/19 (Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts) [und] Hauptstadt des
nationalsozialistischen Deutschen Reichs« 510 . Im Ostteil, der Hauptstadt der DDR, haben
nicht nur die wichtigsten Institutionen, Organisationen und Verlage der SBZ/DDR ihre
Zentralen, hier erarbeitet sich auch das Berliner Ensemble Bertolt Brechts, dass bis 1954 auf
der Bühne des traditionsreichen Deutschen Theaters spielt, seinen Weltruf: »… es gab kein
anderes Ziel mehr, als zum Berliner Ensemble zu gehören und da zu arbeiten. Gott sei Dank
ging das schief. Das Gott sei Dank ist natürlich eine spätere Erkenntnis.« (KOS 94) Die
spätere Erkenntnis bezieht sich auf die Schicksale der Brecht-Meisterschüler Martin Pohl und
Horst Bienek, die beide dem Staatssicherheitsdienst zum Opfer fielen. 511 Ebenso wie der
509
»Das Ruinieren wäre also ein Verfahren, die für jede Erkenntnis notwendige Differenz von Gegenwart und
Vergangenheit, von Wunsch und Wirkung, von Plan und Verwirklichung herzustellen. Durch Ruinieren
erzwingen wir Differenzen im unterschiedslos Vorgegebenen; die Ruine ist Vergegenständlichung der
erzwungenen Differenz.« (Brock 1986, 179)
510
Eke 199, 173
511
Pohl wurde 1953 aufgrund einer Denunziation verhaftet und nach vierjähriger Inhaftierung im »Stasiknast
Bautzen II« nach Westberlin abgeschoben. Der bereits im November 1951 verhaftete Bienek, der zunächst
zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager in Sibirien (Workuta) verurteilt wurde, konnte 1955 in die
177
Versuch, am Berlin Ensemble Fuß zu fassen, scheitert das literarische Debüt im Berliner
Aufbau-Verlag: »Ich habe Auszüge aus meinen Jugendwerken geschickt, Szenen aus
angefangenen oder auch fertigen Stücken, mit einem Eigenkommentar. […] Es wurde mir mit
der Bemerkung zurückgeschickt: ›Machen Sie weiter, Sie sagen ja selbst, dass es noch nicht
soweit ist.‹« (KOS 220) In der Folge entstehen Gedichte, Prosatexte und dramatische
Versuche, denen allesamt vorerst kein Erfolg beschieden ist. Gedruckt werden lediglich eine
Reihe Nachdichtungen von Stalin-Oden und sozialistischen Freundschaftsliedern 512 im Zuge
der Weltfestspiele. Wie das spätere Leninlied für Paul Dessau werden auch die
Übersetzungen, die im Zusammenhang mit den Jugendweltfestspielen 1951 entstehen, als
reine Geldarbeiten beschrieben: »Ich kam etwas zu spät, es waren nur noch polnische
Volkslieder und Stalin-Hymnen übrig. Stalin-Hymnen gab es bergeweise aus aller Welt, es
gab Rohübersetzungen, das metrische Schema und die Melodie. Und 300 bis 350 Mark pro
Hymne.« (KOS 117) Im gleichen Absatz schildert er sein Verhältnis zu Kuba (Kurt Barthel),
der ihn wiederholt der ›Dekadenz‹ bezichtigt, einem neben dem Vorwurf des ›Formalismus‹
bevorzugten kulturpolitischen Totschlagargument. »Dekadent war eine moralische Kategorie.
Dekadent war alles, was nicht auf die Linie passte oder auf der Linie lag.« (KOS 95) Wegen
eines Textes, den Müller zu einem anlässlich der Weltfestspiele ausgeschriebenen
»Preisausschreiben für Kurzgeschichten« (KOS 119) verfasst haben will 513 , soll das Jury-
Mitglied Dieter Noll bemerkt haben, »das sei Kafka, dekadent, formalistisch.« (ebd.) Die
mitunter entsetzlichen, meist jedoch lediglich klischeehaften Huldigungshymnen auf Stalin
sind im ersten Band der Suhrkamp-Werkausgabe nachzulesen (138–152). Soweit inhaltlich-
formale Nachlässigkeiten nicht bereits auf die Vorlagen zurückgehen, zeugen sie in den
meisten Fällen vom Ausbleiben einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Texten.
Erwähnenswert scheint in diesem Zusammenhang nur ein Vers aus dem LIED ÜBER
STALIN, der eine (zufällige) Strukturverwandtschaft zu dem späten Gedicht
DRUCKFEHLER MISPRINT (NACH GOETHE) aufweist: »Die Heimat blüht von Stalin
befreit.« (W 1 138) In DAS LIED AN STALIN findet sich eine ausgesprochen (und
besonders der Sicht Polens) zynische Strophe: »Singe Polen, nun singe – / du Leben, du
schmück dein Haar. / Hauptstadt und Dörfchen nun bringe / dankbar dein Lied ihm dar.« (W
1 139) Der Refrain des Liedes lautet: »Völker der Welt, eine große / Wahrheit ist klar und
entschieden: / Der Frieden, das ist Stalin – / Und Stalin ist der Frieden.« (ebd.)
Abgesehen von derlei Gelegenheitsarbeiten hält sich Müller ökonomisch als freier Autor über
Wasser. Er schreibt für die Monatsschrift des Aufbau-Verlags, »Aufbau«, die vom
Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands herausgegebene Wochenzeitung
für Kultur, Politik und Unterhaltung »Sonntag« sowie die vom Schriftstellerverband der DDR
publizierte Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur«. Darüber hinaus profiliert er sich als
Verfasser von Klappentexten und »Waschzettel[n]« (»Besprechungsunterlage für Zeitungen«,
W 8 19) Auf diesem (Um)Weg verschafft er sich Zutritt zu der unter strenger kulturpolitischer
Bundesrepublik ausreisen.
512
Eine der Übertragungen findet sich samt zweistimmigem Satz als »Dokument 1« im Materialanhang von
KRIEG OHNE SCHLACHT (s. a. KOS 374 u. W 1 136).
513
Es handelt sich dabei um die LEGENDE VOM GROSSEN SARGVERKÄUFER, deren Endfassung als
verschollen gilt. Müller rekonstruierte den Text Anfang der neunziger Jahre auf der Basis eines Entwurfs,
den er 1989 aus dem Nachlass Wilm Weinstocks zurückerhielt, bei dem er 1951 wohnte. Unter dem Titel
DER BANKROTT DES GROSSEN SARGVERKÄUFERS erschien die Prosaarbeit erstmals 1993 (s. a. W
2 11–16 u. 198).
178
Aufsicht stehenden literarischen Szene der frühen DDR. Der Zutritt durch den Hintereingang
zwingt ihn, die eigenen künstlerischen Ambitionen vorerst zurückzustellen. »Das war
eigentlich die durchgehende Erfahrung, dass alles, was ich ernst meinte oder für gut hielt,
abgelehnt wurde. Mein Hauptproblem war immer Geld. Die Rezensionen haben viel Zeit
gekostet und wurden schlecht bezahlt. Ich konnte das nicht so schnell. Das war ein Alptraum.
Es bedeutete immer, Eigenes zu unterdrücken. Eh ich fertig war, war das Geld schon
ausgegeben. […] Ein paar Abfallprodukte sind erschienen, im ›Sonntag‹ DAS VOLK IST IN
BEWEGUNG, oder Gelegenheitsarbeiten wie DAS EISERNE KREUZ, in der ›NDL‹.« (KOS
111f.) Vor dem Text DAS VOLK IST IN BEWEGUNG, der auf einen Spiegel-Bericht über
einen Streik in Hessen zurückgeht, war im »Sonntag« vom 15. April 1951 bereits die
Prosaskizze PARABELN abgedruckt worden, die als Folge Müllers früher Brechtrezeption
angesehen werden kann. In einem redaktionellen Begleittext zum Abdruck der Erzählung
DAS VOLK IST IN BEWEGUNG heißt es »Ihr knapper, fast an ein Filmexposé erinnernder
Stil und die eigenwillige Behandlung des Themas scheinen uns der Diskussion wert.« (W 8
634) Auf den Stoff der Erzählung DAS EISERNE KREUZ wurde bereits im Kapitel »Waren
nach dem Krieg, 1945–47« Bezug genommen: »Den Mann, der seine Familie nach Hitlers
Tod mit Eva Braun getötet hat und dann nicht den Mut hatte, sich selbst umzubringen, habe
ich danach gesehen. Er lief mit grauem Gesicht und einem Schäferhund durch die Stadt.«
(KOS 48) Unter dem Szenentitel KLEINBÜRGERHOCHZEIT findet diese Episode später
Eingang in das Stück DIE SCHLACHT. Immerhin lassen die in KRIEG OHNE SCHLACHT
als Gelegenheitsarbeiten und Abfallprodukte bezeichneten Texte eine Tendenz des
Prosaschreibers zur Reduzierung von Erzählen und Erzähltem »auf den äußeren Ablauf des
Geschehens« 514 erkennen, die von moralischen Bewertungen zugunsten einer scheinbar
objektiven Handlungsstruktur weitgehend absieht. Die knappe Wiederaufnahme des
KLEINBÜRGER-Stoffes in KRIEG OHNE SCHLACHT, die vorgeblich auf die Urszene der
späteren Literarisierung zurückgreift, erschöpft sich dabei nicht lediglich in dem Berichts-,
respektive Zitatcharakter der Autobiografie. Vielmehr sprengt sie das Bild aus seinem
bisherigen Bedeutungsgefüge heraus und fügt es in einen lebensgeschichtlichen
Zusammenhang jenseits der Texte ein, auf die es Bezug nimmt. Dabei werden dem Bild neue
Nuancen beigemischt, die es unmittelbar auf diesen Zusammenhang beziehen. Als
graugesichtiges Gespenst geistert ein ursprünglich »unbekannter Flüchtling, durchschnittlich
und arbeitsam« (W 2 74), der mit Schiller/Hitler 515 auf den Lippen von der Bühne abging
(»Wo ein Ende war wird ein Anfang sein. / Der Starke ist am mächtigsten allein«, W 4 476),
nunmehr durch die Autobiografie Müllers und hinterlässt dort gemeinsam mit dem
nationalistisch domestizierten Raubtier (ein Revenant Hitlers Lebens(= Todes)philosophie:
»Es lebe der deutsche Schäferhund. Erschießt seine Hündin«, W 5 270) seine Spuren.
Die Rezensionen und Reportagen der fünfziger Jahre sind nicht lediglich Stilübungen. Sie
weisen in einigen Fällen bereits charakteristische Merkmale des müllerschen Schreibens auf.
Die wichtigsten journalistischen Arbeiten und Zuarbeiten sind in Band 8 der Werkausgabe
dokumentiert. Einige dieser Texte greifen gezielt in kulturpolitische Debatten ein und führen
aufgrund eigensinniger politischer und ästhetischer Werturteile (»Starke Verrisse, starke
Lobgesänge«, KOS 80) zu Differenzen mit den Redaktionen. Die Redaktion des »Sonntag«
514
Eke 1999, 278
515
Hitler benutzte die Replik aus Schillers Wilhelm Tell (Erster Aufzug, Dritte Szene) als Überschrift des
achten Kapitels seiner Schrift MEIN KAMPF.
179
habe Müller sogar regelrecht eingesetzt. »Wenn irgendwas stark verrissen werden sollte,
musste (oder durfte) ich das tun.« 516 In KRIEG OHNE SCHLACHT wird die Haltung des
Kritikers Müller ex post mit einer grundlegenden Abneigung gegen die Brotarbeit begründet.
»Dieses Geldverdienen fraß eigentlich die ganze Zeit auf. So viele gute Bücher gab es nicht,
und das führte zu diesem aggressiven Ton in meinen Rezensionen und manchmal auch zu
Arroganz. Es gab Leute, die das lange vor mir begriffen haben und mich dann
instrumentalisieren, also für ihre Interessen einsetzen konnten.« (KOS 98f.) Die Äußerung
macht eine geradezu kafkaeske Diskrepanz zwischen beabsichtigter Wirkung und
tatsächlichen Folgen subjektiven Handelns deutlich. Zwar vermag die nachträgliche
Erzählung dieses Missverhältnis aufzulösen, doch der Hinweis auf die Naivität hinsichtlich
eines politisch korrekten Auftretens und ihre Ausbeutung seitens Dritter wirft ein Licht auf
die journalistischen Arbeiten Müllers, das sie als Vorspiel zu einem Drama erkennen lässt, das
Jahre später mit der Aufführung der UMSIEDLERIN seinen Höhepunkt erreichen wird.
Der Konflikt mit Redaktionen und kulturpolitischen Instanzen eskaliert nach einem Beitrag
über ein »öffentliches Gespräch mit deutschen Schriftstellern« (W 8 106). Die
Diskussionsveranstaltung des Schriftstellerverbandes in Zusammenarbeit mit der »Deutsch-
Sowjetischen Freundschaft« hatte am 22. Oktober 1954 im Plenarsaal der Akademie der
Künste der DDR mit Roman Samarin, Konstantin Fedin und Alfred Kurella stattgefunden.
Müllers Text, der sich als »Dokument 4« im Materialanhang der Autobiografie findet, war am
31. Oktober 1954 unter der Überschrift GESPRÄCHE ÜBER LITERATUR erschienen. In
dem Artikel heißt es unter anderem: »Die Art, in der sie [Fedin und Samarin] Fragen
beantworteten und selbst Fragen aufwarfen, zeigte, dass sie an der Entwicklung unserer
Literatur ernsthafter und tiefer interessiert sind als viele unserer Kulturfunktionäre und
Theoretiker. Sie servierten nicht Dogmen und Lehrsätze, was einige Teilnehmer zu erwarten
schienen. Sie gaben Anregungen auf der Grundlage ihrer persönlichen Erfahrung mit Theorie
und Praxis der Literatur, die in der Sowjetunion schon ist, was sie bei uns erst werden muss:
ein Ensemble.« (W 8 106f.) Der Autor des Textes polemisiert gegen eine Literaturtheorie, die
»vor der Literatur da war« (W 8 107). Der Vorwurf an die Kulturfunktionäre und
Literaturwissenschaftler, die künstlerische Praxis aus einer Theorie gewinnen zu wollen – ein
Vorwurf der sich leicht auf alle Kunstgattungen und über die Grenzen der Kulturpolitik auf
andere Politikbereiche ausweiten ließe –, traf ins Schwarze einer politischen Realität, die
gesellschaftlichen Fortschritt aus ideologischen Hohlformen beziehen zu können glaubte.
Dass auch die sowjetische Literatur bereits seit den dreißiger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts unter der dogmatischen Vereinheitlichung im Namen eines vermeintlichen
›sozialen Auftrags‹ litt, wird hier verschwiegen. Spätestens seit 1948 wurde dieser Auftrag
auf die Künstler und Kulturinstitutionen der SBZ übertragen. Dass man einer (institutional
gesteuerten) Literatur überhaupt zutraute, den Menschen verändern, geschweige denn
erziehen oder gar verbessern zu können, war dabei zweifelsfrei dem sowjetischen Einfluss
geschuldet. Wozu dieser Irrglauben führte, lässt sich an den Verboten Eislers DOKTOR
FAUSTUS (1952) und Brechts/Dessaus LUKULLUS (1951) erahnen. »Der Marxismus ist
vom Staat, von der Partei, allmählich zersetzt worden, der revolutionäre Diskurs vom
staatlichen erstickt. Gefährlich waren die Marxisten. Auch das Subversive an Brecht war sein
Marxismus. Politische Gefangene durften Marx nicht lesen. Diese Entwicklung in der DDR
516
KOS 80, s. a. »Dokument 3« im Anhang von KRIEG OHNE SCHLACHT (KOS 376–379).
180
war ein Reflex auf die sowjetischen Entwicklungen, also Stanislawski gegen Meyerhold oder
Majakowski, die Linke wurde zerschlagen, mit ihr die Avantgarde. […] Ulbricht hat das dann
als erster formuliert, es hieß dann sozialistische Menschengemeinschaft, nicht mehr
Klassenkampf, es gab keine Klassen mehr, und das bis in die letzten Verästelungen der
Kulturpolitik hinein, deswegen auch die Bekämpfung von Eisler und Dessau, Bekämpfung
von Avantgarde, von Moderne. Es war nur Tradition, bürgerliche Ethik, bürgerlicher
Kunstbegriff zugelassen. […] die bürgerliche Tradition blieb unangetastet, sie war die
offizielle, die Parteiposition.« (KOS 123f.) Die Erklärung (klein)bürgerlicher Ethik zur
sozialistischen Moral war nicht allein der Beschränktheit einiger ideologisch verantwortlicher
Parteikader geschuldet, sie stellte zugleich den Versuch dar, das Gros der systemkritischen
Bevölkerung durch die Übernahme eingeübter Verhaltensmuster auf Linie zu bringen.
Dadurch sah sich eine intellektuelle Minderheit, die politisch weit links außen operierte und
die Konservation der Revolution im sozialistischen Kessel sowie dessen ökonomische
Liquidierung durch den kapitalistischen Westen befürchtete, im Zugzwang. Dass Müller bei
seinem Hieb gegen die bornierte Kulturpolitik nicht eigenmächtig handelte ist zu vermuten;
dass er seitens der Redaktion entsprechende Ermunterung zur offenen Kritik erhalten haben
muss ebenso. In der Autobiografie heißt es dazu: »Ich habe das benutzt, um unsere
Kulturpolitik zu kritisieren, was offenbar auch das Interesse der Redaktion war, sonst hätten
sie es nicht fett gedruckt.« (KOS 102) Müller gerät durch seine Kritik in einen politischen
Kontext, den er selbst nicht zu überschauen imstande ist: »Ich schrieb über Liberalität, und
Leute, die mehr Liberalität in der DDR durchsetzen wollten, kritisierten mich, um ihre
Vorbereitungen weiter betreiben zu können. Ich wusste nichts davon. […] Ich war nur
Lieferant. Ich habe die Polemik gegen meinen Text nicht dramatisch erlebt. Man wurde
dadurch zur Kenntnis genommen. Danach erschienen beim ›Sonntag‹ nur noch
Buchrezensionen unter H. M. Das war die Zurückstufung. Da musste ich dann
Erbauungsliteratur amerikanischer Kommunisten oder serbokroatische Heimatdichtung
rezensieren.« (KOS 102f.) Die Darstellung der Ereignisse in KRIEG OHNE SCHLACHT
erklärt die Abstrafung des Erzählers als Bauernopfer, das den von unbekannten
Hintermännern betriebenen politischen Liberalisierungsbestrebungen gebracht wurde. Erst ein
knappes Jahr später schrieb Heiner Müller wieder für den »Sonntag«, allerdings nur noch
Kurzrezensionen unter der Rubrik »Bücherschau«.
Das blinde Agieren in einem für das Subjekt undurchschaubaren »politischen Kontext«
begründet in KRIEG OHNE SCHLACHT ein immer wiederkehrendes Verhaltensmuster, das
eine notwendige Grundlage der eigenen literarischen Arbeit darstellt. Das Schreiben wird als
blinde Praxis vorgestellt (»In gewisser Weise ist ja Kunst eine blinde Praxis«, W 8 244), der
nichts entgeht (»Was geht mich die Welt an Ich / Esse ihre Bilder«, W 1 156). Ihren Grund
hat diese blinde Distanz im Schock, der die traumatischen Erfahrungen nicht verarbeitet,
sondern die von ihnen geschlagenen Wunden offen hält (»Erfahrungen, die so schockhaft
sind, dass man sie nicht ohne Störungen verarbeiten kann«, KOS 72f.). Die Positionierung des
Autors zwischen den Fronten antagonistischer kulturpolitischer Interessen (»Ich habe
Rezensionen geschrieben und mir viele Feinde gemacht«, KOS 80f.) entspricht dem selbst
formulierten Anspruch, dass die (Auto)Biografie nur insofern relevant sei, als die
(Selbst)Beschreibung Zeitgeschichte transportiere (s. a. HMA 4480). Das bedeutet nicht, dass
sie damit kollektive Repräsentanz beanspruche. In einem Interview zu KRIEG OHNE
SCHLACHT äußert sich Müller zur Bedeutung historischer Brüche für seine Existenz als
181
Künstler: »… das erste wichtige Datum ist 1933. Das zweite wichtige Datum ist 1945, das
dritte ist 1953, das vierte 1961, das nächste 1968 und das nächste 1989. Das sind
merkwürdigerweise alles historische Daten, die mit Geschichte zu tun haben, und das ist
vielleicht das einzig Interessante an dem, was ich da versucht habe zu erzählen, die
Verbindung einer Biografie mit der Geschichte eines Landes.« (Müller 1992, 9) Die
Verknüpfung der Biografie mit einem Land, aus dem im Laufe dieses Lebens mehrere Staaten
hervorgehen, darunter zwei Diktaturen, lässt den Konstruktionscharakter der Autobiografie
deutlich zu Tage treten. Bewusst werden Lebensabschnitte und -einschnitte auf historische
Daten projiziert, die sowohl der eigenen Biografie im historischen Sinne eine Bedeutung
verleihen als auch die geschichtlichen Daten vornehmlich in ihrer Bedeutung für das Subjekt
der lebensgeschichtlichen Erzählung spiegeln. Damit ist Bezug genommen auf die Verortung
des Protagonisten im Zentrum des Kampfes, in dem sich das Autor-Ich immer wieder neu
konstituiert.
Als Folge des vorläufigen Schreibverbots im »Sonntag« wird der »Griff nach dem
Pseudonym« dargestellt. In der Arbeitsfassung der Autobiografie findet sich eine Passage, die
die Ursache dieser Maskierung auf den für den Text der Autobiografie konstitutiven Begriff
der Fremdheit zurückführt. »… die Konstellation war immer wieder die gleiche. Nie dazu zu
gehören, keiner Gruppe anzugehören, von keiner akzeptiert werden, als Künstler sowieso. Ich
glaube, das ist der Hauptpunkt. Es ist immer wieder passiert. Ich war immer wieder in der
gleichen Konstellation. Ich bin nie ohne Verdacht, ohne Misstrauen akzeptiert worden. Ich
habe dann einige Texte unter Pseudonym veröffentlicht, auch weil der Allerweltsname Müller
natürlich eine Belastung ist. Aber sicher hat der Griff nach dem Pseudonym auch mit der
langen Folge von Ablehnung zu tun. Ich dachte, jetzt verkleide ich mich …« (HMA 4487,
123f.) In KRIEG OHNE SCHLACHT heißt es: »Das war eigentlich die durchgehende
Erfahrung, dass alles, was ich ernst meinte oder für gut hielt, abgelehnt wurde. Mein
Hauptproblem war immer Geld. Die Rezensionen haben viel Zeit gekostet und wurden
schlecht bezahlt. Ich konnte das nicht so schnell. Das war ein Alptraum. Es bedeutete immer,
Eigenes zu unterdrücken.« (KOS 111) Wie sich mit Blick auf die vorangegangenen Kapitel,
die sich mit Kindheit und Jugend des Erzählers auseinandersetzen, herausstellte, geht aus der
Erfahrung der Fremdheit ein ästhetisches Bewegungsprinzip hervor: das Fremd-Werden, das
Bedingung der Ich-Setzung im Text ist. Der Gebrauch der Pseudonyme kann in diesem Sinne
als Versuch angesehen werden, durch die Selbstverfremdung nicht nur den lästigen
Allerweltsnamen abzuschütteln (»Der Deutschlehrer in Frankenberg […] hatte einmal gesagt,
und da war ich tief getroffen: ›Richtige Dichter heißen schon so: Hölderlin, Grillparzer,
Strittmatter.‹«, KOS 103) und endlich eigene Texte unter fremdem Namen zu veröffentlichen,
die damit wiederum enteignet werden. Die Maskierung ist vielmehr als wirklicher Prozess des
Werdens zu verstehen, als Praxis der Fremdwerdung. Voraussetzung dafür ist das
Einverständnis mit der »Konstellation« des Nicht-dazu-Gehörens, die Suche nach der
»Fluchtlinie« 517 und das Annehmen der Rolle des Fremden.
Diesem »nomadischen Denken« (Deleuze/Guattari) entspricht die Heimatlosigkeit. Statt
517
Der abstrakten Maschine der Übercodierung, welcher die Makro-Segmentarität zugeordnet ist, die das
Prinzip der Reterritorialisierung hervorbringt, stellen Deleuze/Guattari »am anderen Pol eine
Mutationsmaschine, die decodiert und deterritorialisiert« gegenüber: »Sie zieht Fluchtlinien: […] Sie ist
selber auf der Flucht und errichtet auf ihren Linien Kriegsmaschinen« (Deleuze/Guattari 1992, 304f.)
182
Wurzeln zu schlagen, werden Rhizome gebildet: »Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann
und muss mit jedem anderen verbunden werden.« 518 Als ein Versuch, so viele Punkte als
möglich zu durchqueren, können sowohl Müllers Texte angesehen werden. Davon ist jener
Text, mit dem er sein Leben übermalt nicht auszunehmen. Auf die Frage des fiktiven
Gegenüber nach den Lebensumständen in Berlin antwortet der Erzähler ostentativ:
»Nomadisch.« (KOS 87) Wechselnde Domizile bei alten und neuen Bekanntschaften sind die
Regel. Später »ein möbliertes Zimmer in Pankow.« (KOS 108) »Ich habe nie wirklich
gewohnt. … die Möbel, die ich mir ausgesucht habe, wie ich mich eingerichtet habe, das ist
immer zufällig.« (TA 135) An der nomadischen Lebensweise hat sich auch nichts geändert,
als er, gemeinsam mit seiner zweiten Frau, Inge, 1959 den Heinrich-Mann-Preis
entgegennimmt. »Mein erstes Problem war, dass ich keinen Anzug hatte, auch keine
vorzeigbare Jacke, und so erschien ich schon in einem unpassenden Aufzug. Das war übrigens
auch schon kurz vorher bei der Premiere von ZEHN TAGE, DIE DIE WELT
ERSCHÜTTERN in der Volksbühne der Fall gewesen, da waren die Schauspieler zu Tode
beleidigt über meine Gummijacke, weil sie dachten, ich wollte damit meine Missachtung ihrer
Arbeit zum Ausdruck bringen. Ich hatte aber keine andere Jacke. Ich bin dann zusammen mit
Hans Henny Jahnn und Ludwig Renn im Taxi gefahren. Mich interessierte Hans Henny Jahnn
natürlich am meisten, der wohnte bei Ludwig Renn in Pankow. Jedenfalls fuhr ich mit den
beiden Taxi und wagte es, mir eine Zigarette anzuzünden, worauf beide mir einen großen
Vortrag hielten, dass das Rauchen gesundheitsschädlich sei. Und Ludwig Renn erzählte mir,
wie er sich im Spanischen Bürgerkrieg in der Schlacht von Teruel das Rauchen abgewöhnt
hatte, im Kugelhagel.« (KOS 154f.) Ironischerweise übernimmt hier gerade Jahnn, Vertreter
einer inkommensurablen Ästhetik, die sich jedem moralischen Zugriff radikal verweigert, die
Rolle des väterlichen Mahners. Und auch Ludwig Renn, der mit seinem 1957 zuerst
erschienenen Roman KRIEG OHNE SCHLACHT zugleich den Titel für Müllers
Autobiografie geliefert hat, entpuppt sich unter dem Druck der Materialschlacht als gelehriger
Schüler in der Tradition der Habitus-Ethik eines Aristoteles, mit ihrem vom Protestantismus
tradierten asketischen Ideal. Die mangelnde Rücksichtnahme auf Konventionen durch den
jungen Dramatiker fügt sich lückenlos in das Bild des Großstadtnomaden.
Die Selbststilisierung als Nomade, respektive Asozialer ist evident. Sie bildet die
Voraussetzung für das Einverständnis auch mit den Schattenseiten des Lebens und den
grundlegenden Störungen, die Bedingung Müllers Schreiben sind. Einen Großteil ihrer
Wirkung verdanken seine Stücke dieser beinahe unbegrenzten Fähigkeit zur Empathie mit
Verlierern, Ganoven und Saboteuren des gesellschaftlichen Fortschritts. Vom Gründer
unterscheidet sich der Nomade dadurch, dass er keine Punkte besetzt, sondern Fluchtlinien
zieht. Müllers Identifikation mit der zweiten Diktatur seines Lebens steht dazu nur scheinbar
im Widerspruch. Er brauche den Staat »einfach als Widerstand. Ich kann immer am besten
arbeiten, wenn es einen Rahmen gibt, der nicht von mir ist, den ich dann anders ausfülle, als
er bisher ausgefüllt worden ist. So ein Rahmen ist eine große Erleichterung. Was da zugrunde
liegt, ist vielleicht die Angst vor Gründung, die Angst davor, das zu behaupten.« (LV 108)
Ein Großteil der Zeit verbringt der Erzähler in Kneipen, die er für die »beste
Informationsquelle über die Lage in Deutschland« (KOS 89) hält: »Man lernt ja in Kneipen
ungeheuer viele Leute ganz anders kennen. Das war der Bauch von Berlin. […] Das war die
518
Deleuze/Guattari 1976, 11
183
Hauptzeit der Stoffsammlung. […] Das war wirklich eine gute Zeit, viel Arbeitsmaterial. Die
Gestrandeten tauchten in diesen Lokalen auf.« (KOS 89f.) Das Bild der Kneipe markiert in
der Autobiografie den Bereich der Begegnungen, es stellt die flüchtige Behausung des
Nomaden dar. Müller beschreibt die proletarischen Kneipen als Nicht-Orte und
Durchgangspunkte, an denen »die Gestrandeten« auf- und wieder abtauchen. Er selbst rechnet
sich fraglos zu ihnen. Die Beschreibung der Kneipe als gesellschaftlicher Mikrokosmos und
potenzielle Theaterbühne 519 transformiert das Geschehen im Bauch der Stadt in Literatur. Die
Funktion des Erzählers lässt sich mit dem Bild beschreiben, das Deleuze/Guattari anhand
Kleists Marionettenmetapher 520 verdeutlichen: »Als Rhizom oder Vielheit verweisen die
Fäden der Marionette nicht auf den angeblich einheitlichen Willen des Künstlers oder
Marionettenspielers, sondern auf die Vielheit seiner Nervenfasern.« 521 Es komme nicht auf
die Wahrnehmung eines Künstlersubjekts an, sondern auf die Wahrnehmung selbst. Im
Rhizom werde die Trinität unseres Denkens aufgehoben: »Es gibt keine Dreiteilung mehr
zwischen einem Feld der Realität: der Welt, einem Feld der Repräsentation: dem Buch und
einem Feld der Subjektivität: dem Autor. Eine Verkettung stellt Verbindungen zwischen
Vielheiten aus allen diesen Ordnungen her, so dass ein Buch weder im folgenden Buch eine
Fortsetzung findet, noch die Welt zum Objekt oder einen oder mehrere Autoren als Subjekt
hat. Kurzum, wir glauben, dass die Schrift nie genug auf ein Außen bezogen werden kann.
Das Außen kennt kein Bild, keine Bedeutung und keine Subjektivität. Das Buch als
Verkettung mit dem Außen gegen das Bilderbuch der Welt. Ein Rhizombuch, das nicht mehr
dichotomisch, zentriert oder gebündelt ist. Niemals Wurzeln schlagen …« 522 Folglich stellt
die Gasthausfunktion der Kneipen eine nebengeordnete Rolle dar (»Ich hatte höchstens eine
Couch zum Übernachten […] und war sehr auf Kneipen angewiesen«, KOS 89). Wichtiger
erscheint die Beschaffung von »Arbeitsmaterial«, beziehungsweise die »Stoffsammlung«
durch eine nach außen gekehrte Wahrnehmung des Geschehens. Damit ist die in Kneipen
verbrachte »Zeit« nicht als Zeitvergehen zu verstehen (»Die Kneipen sind die Paradiese, aus
denen man die Zeit vertreiben kann«, KOS 91). Die Zeit wird vielmehr umgewandelt in ein
Werden: Die Stoffsammlung gehört zum Text. Der Erzähler in KRIEG OHNE SCHLACHT
führt diesen Vorgang anhand der Genese einer Szene aus GERMANIA TOD IN BERLIN
exemplarisch vor. Indem der Text der Autobiografie auf das Stück aus den siebziger Jahren
rekurriert, ist er zugleich als Zitat ausgewiesen (s. a. W 4 344–352). »Zum Beispiel hörte ich
dort die Geschichte von dem Stalingrad-Kämpfer, die ziemlich wörtlich in GERMANIA
steht. Ich habe nichts dazu erfunden. Der Stalingrad-Kämpfer kam besoffen herein, der Wirt
gab ihm nichts mehr, und er setzte sich zu mir. Ich habe dann etwas bestellt, und er fing an,
diese Geschichte zu erzählen. Auch die mit dem Staatssekretär, den er später in der DDR
wiedergetroffen hatte, ist von ihm. Der Staatssekretär hatte bei ihm in Stalingrad gedient und
konnte immer noch robben. Wörtlich: ›Kannst du noch robben, Willy, altes Schwein?‹ So was
kann man nicht erfinden, oder ich hätte es nicht erfinden können.« (KOS 90)
Auch die Figur des »gegen die zeitlichen Verheißungen« (W 4 352) immunisierten
519
»His detailed description condenses the pup into microcosm of the stage, a potentially theatrical space, that
offers dance, ritual, trancparency, sensuality, matter, materials, and people along with the conflicts linked to
them, a place set aside for stranded stories an human history …« (Gleber 1994, 133)
520
s. a. Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Kleist-WuB 3, 473–480
521
Deleuze/Guattari 1976, 13
522
Deleuze/Guattari 1976, 36f.
184
Totengräbers, die in der gleichen Szene auftritt, geht auf einen solchen ursprungslosen Text
(»Das erzählte mir jemand anderes, ich weiß nicht mehr, wer«, KOS 90) aus der Kneipenzeit
zurück. Ergänzt wird diese Art »Stoffsammlung« durch die Rezeption literarischer Texte.
Dabei wird die Vergil- und Eliot-Lektüre vom Erzähler unmittelbar auf die eigene Situation
bezogen. »Merkwürdig war, wie das mit meiner Lektüre zusammenging, zum Beispiel das
Motiv der Polizeistunde am Schluss von WASTE LAND von T. S. Eliot: HURRY UP
PLEASE IT‘S TIME. 523 Bei Eliot ist das religiös fundiert: der Aufruf zum Jüngsten Gericht.
Der graue Morgen, wenn die Kneipen schließen. Die Kneipen sind die Paradiese, aus denen
man die Zeit vertreiben kann. Und wenn man nach Hause geht, bricht das Jüngste Gericht an.
Das konnte ich in GERMANIA auch politisch verwenden: die Unterbrechung des Vergil über
das goldene Zeitalter durch den Wirt, der die Polizeistunde ausruft.« (KOS 91) Die
Erledigung der kommunistischen Utopien durch ihren Totengräber Stalin wird am Schluss der
Szene HOMMAGE À STALIN 2 durch die Figur des Schädelverkäufers in den Versen der 4.
Ekloge Vergils BUCOLICA bestätigt. Doch die wiederholte Absage an die Einlösung der
kommunistischen Idee mittels der Desavouierung ihres Sprechers als abgehalfterter Nazi-
Historiker hält sie zugleich als Möglichkeit im Stücktext lebendig. In KRIEG OHNE
SCHLACHT ist der Ruf des Wirts aus GERMANIA – »Herrschaften heben sie den Arsch von
meinen Stühlen. Polizeistunde.« (W 4 352) – in die Beschreibung politischer
Trockenlegungsmaßnahmen überführt. »Diese Kneipen sind nach und nach planiert und zu
Cafés gemacht worden, kontrollierbar, nicht mehr proletarisch. […] Es lief alles darauf
hinaus, die Zeit von 1933 bis 1945 zu verdrängen. Das durfte es nicht gegeben haben, nur das
alte Berlin, das davor.« (KOS 89) Eine Folge der Ausrottung des authentischen proletarischen
Milieus und ihrer Agora, der Kneipe, ist der Rückzug der proletarischen Öffentlichkeit in die
eigenen vier Wände, wie sie Müller Anfang der achtziger Jahre beschreibt. Auf den
Trümmern ihrer ausgelöschten Kultur entsteht »DAS NEUE Fickzellen mit Fernheizung« (W
5 81). In KRIEG OHNE SCHLACHT wird diese Rückzugsbewegung als Festungsbau
begründet: »Nach der Machtübernahme [der SED] in der DDR konnte man keinen Schuh
mehr vor die Tür stellen, das Leben fand zwischen vier Wänden statt. In einem System, das
auf der Verwaltung des Mangels beruht, wo Macht nicht durch Geld definiert ist, bedeutet
Macht das Gegenteil von Freiheit. Die ersten Gefangenen des Systems sind die Führer, die
herrschende Schicht ist die unterdrückte.« (KOS 97) Die fatalen Folgen findet Müller
ebenfalls in Vergils Hirtengedichten vorgeprägt: »ZU SCHIRMEN DIE STADT MIT
MAUERN … IST DA KEINE NOT MEHR.« (W 4 352) Die kommunistische Utopie wird
einem trügerischen, ideologisch nur unzureichend zu bemäntelnden Status quo geopfert, deren
Führern die »Verwaltung des Mangels« obliegt, »die Paranoia der Befestigung auf Kosten der
Substanz« (s. a. W 8 705). Gezwungen sich einzumauern, betreiben sie die »Kolonisierung
der eignen Bevölkerung.« (KOS 245)
Im Interview räumt Müller eine in der Erfahrung des Faschismus gründende partielle
Identifizierung mit der Macht ein: »Ich war immer auf beiden Seiten.« (GI 3 106) Daraus
ergibt sich ein überaus ambivalentes Verhältnis zum Staat und seinen Organen. »Der Zweck
von unserm Staat ist, dass er aufhört. / Nicht wenn die Posten verteilt sind, ist er fertig /
Sondern, wenn er nicht mehr gebraucht wird« (W 3 277), zitiert der Parteifunktionär Flint in
523
Das Zitat entstammt dem zweiten Teil von Eliots THE WASTE LAND, A GAME OF CHESS.
185
Müllers Stück DIE UMSIEDLERIN Nietzsches ZARATHUSTRA 524 . Den staatlichen
Behörden der DDR war die Sprengkraft Müllers Formulierungen – im Gegensatz zu Müller
selbst – durchaus bewusst: Sie führte zu seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der
DDR, zu Publikations- und Aufführungsverboten. Dass Müller auf der anderen Seite der
Mauer Bühne und Publikum fand, war die andere Bedingung seines Nichtverstummens. Trotz
seines gespannten Verhältnisses zur Macht, war Müller die Existenz der DDR als
(ästhetische) Idee – weniger die Verwurstung dieser Idee in der Praxis – zeitlebens wichtig.
Sie lieferte die selbst behauptete Voraussetzung seines Schreibens und stellte einen Motor
seiner künstlerischen Produktivität dar. Dass Partei und Staat an sich nicht genügend
legitimiert, im Gegenteil, sogar »denunziert und diskreditiert« (HMA 4487, 101) waren,
spielte keine Rolle, so lange die Alternative zu »Sozialismus oder Barbarei […] Untergang
oder Barbarei« (KOS 411) hieß. Als Gegenargument führt Mülle in KRIEG OHNE
SCHLACHT Brecht an: »Brecht war das Beispiel, dass man Kommunist und Künstler sein
konnte – ohne das oder mit dem System, gegen das System oder trotz des Systems.« (KOS
112)
Im Gespräch mit Hellmuth Karasek äußerte Müller bereits 1983 den Zusammenhang von
Schreiben und Staat, beziehungsweise dem Erfahrungsdruck als Movens seiner Arbeit als
Dramatiker: »Die DDR ist mir wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses Land
gehen. Das ist der wirkliche Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner
Mauer. In der DDR herrscht ein viel größerer Erfahrungsdruck als hier, und das interessiert
mich ganz berufsmäßig: Erfahrungsdruck als Voraussetzung zum Schreiben.« (GI 1 135) Der
topgrafischen Begründung einer historischen Erfahrung, die vermag, in der Berliner Mauer
»Stalins Denkmal / Für Rosa Luxemburg« (W 5 243) zu sehen, wird hier bereits die
subjektive Abhängigkeit des Dramatikers von einem »Rahmen […], der nicht von mir ist, den
ich dann anders ausfülle, als er bisher ausgefüllt worden ist« (LV 108), angezeigt: Der Staat
als künstlicher Widerstand, an dem sich der Künstler abarbeitet. Besonders in den zahlreichen
Gesprächen der frühen neunziger Jahre, aber auch in essayistischen Entwürfen – wie der hier
zuletzt zitierte Ausschnitt aus einem Nachlasstext zu den Stasi-Vorwürfen zeigt – wiederholt
Müller beinahe staccatohaft, die Grunderfahrung von Macht, Gewalt, Gegengewalt,
Ausgrenzung und partieller Identifikation.
Ich bin unter der einen Diktatur aufgewachsen und unter der nächsten erwachsen
geworden. Die war zuerst eine Gegendiktatur, eine Gegengewalt für mich, selbst in
stalinistischer Form. Ich konnte mich damit halb identifizieren. […] Sogar mit der
Gewalt, so lange sie nicht mich selbst betraf. Man gewöhnt sich an die Gewalt, man ist
sogar fasziniert von ihr. (GI 3 78f.)
Wenn man schreibt, ist man angewiesen auf eine Grunderfahrung, von der man geprägt
wurde. Meine Grunderfahrung war: Staat als Gewalt. Auf der einen Seite die faschistische
Gewalt, auf der anderen die kommunistische – in Klammern: stalinistische –
Gegengewalt. Mit der konnte ich mich identifizieren. Auch aus ganz subjektiven
autobiografischen Gründen. Das war für einen Dramatiker natürlich eine produktive
Situation. (GI 3 154)
524
»Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des
Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.« (Nietzsche-W 2, 316)
186
Ich konnte mich identifizieren mit dem (diktatorischen) Gegenentwurf zur Nazidiktatur,
die meine Kindheit zum Trauma gemacht hat […] und manchmal […] auch mit dem
Terror der Besatzungsmacht, der von der Intention her gegen Angehörige von Schichten
gerichtet war, die ich, mit vielleicht schon ideologischem Blick, aus den Demütigungen
meiner Kindheit, für meine Feinde hielt. (W 8 603)
Die Zitatfolge ließe sich beliebig um weitere Textpassagen aus diesen und weiteren
Interviews ergänzen (s. a. GI 3 58, 85, 97f., 140). Die Struktur bleibt immer die gleiche. Die
traumatische Grunderfahrung latenter und tatsächlich erfahrener Gewalt, die mit dem
»Verratsschock« (KOS 24) durch den Autobahnaufsatz auch in die häusliche »Festung«
(ebd.) Einzug hält und zumindest einen »Riss« (ebd.) hinterlässt, bildet deren Ausgangspunkt.
Die soziale Ausgrenzung aufgrund der politischen Verfehlungen des Vaters (unter den Nazis
erst, dann in der SBZ/DDR), beziehungsweise infolge der kulturellen Differenzen im Zuge
des Umzugs von Sachsen nach Mecklenburg, schärfen die Ressentiments des Ausgegrenzten
gegen die ihm feindlich gesinnte Umgebung. Die Genugtuung über die Erniedrigung der
Feinde nach dem Untergang des Dritten Reichs hat ihre Ursachen, so suggeriert Müller, in
diesen frühen Verwundungen. Doch der Racheimpuls allein ist mitnichten in der Lage, einen
künstlerischen Impuls zu induzieren. Dazu bedarf es der frühen Verwundungen. Die neuen
Verletzungen dienen dazu, die alten Wunden offen zu halten, aus denen die Produktivkraft
Müllers Kunst erwächst. Dies geschieht über die Identifizierung mit einer zum Zeitpunkt der
Identifikation schon mit dem stalinistischen Todesvirus infizierten Idee des Kommunismus.
Die »produktive Situation« besteht eben nicht in der Befreiung von der einen, sondern in ihrer
Ersetzung durch die andere Diktatur, die ihrem Anspruch, eine gerechtere Welt zu schaffen –
Müllers Beharren auf »Chancengleichheit« (W 8 208) als Minimalforderung des
Kommunismus stellt eine bewusst entideologisierte Variante dieses Anspruches dar – nicht
gerecht werden kann. Im Gegenteil zementiert sie von Beginn an eine bürgerliche Moral unter
sozialistischem Vorzeichen. Ansätze des Neuen werden auf allen gesellschaftlichen Ebenen
institutionell abgewürgt. Die Arbeit an der sozialistischen Gesellschaft weicht einer ebenso
hohlen wie verräterischen Rhetorik, die das Ziel zum Vorwand macht. Trotz der oder gerade
wegen dieser Müller bewussten und von ihm wiederholt problematisierten Diskrepanz
zwischen Anspruch und Wirklichkeit, bleibt die Folie der Diktatur die einzige Alternative zur
westlichen Welt, die infolge der Unterwerfung des Ethos unter die Ökonomie zunehmend von
»Zombies« (GI 1 121) besiedelt werde. Dies lässt die Aufrechterhaltung des Status quo
notwendig erscheinen. Zumal für den Dramatiker gilt hier jener Satz Müllers späteren
Bühnenbildners, des griechischen Künstlers Jannis Kounellis, dem zufolge der autoritäre Staat
das Drama impliziere. »Drama hat mehr mit Staat zu tun als andre literarische Gattungen. Da
gibt es auch ein bestimmtes Verhältnis zur Macht, auch eine Faszination durch Macht, ein
Sich-Reiben an Macht und an Macht teilhaben, auch vielleicht sich der Macht unterwerfen,
damit man teilhat. Und was dann im Laufe der Jahre mit meinen Texten passiert ist, geht
weniger von mir aus, es ist ein Reflex auf die Aushöhlung der Macht. Zuletzt war da nur noch
ein Vakuum, und darauf reagieren die Texte. Das ist dann die Suche nach einer Macht, an der
man sich noch reiben kann.« (KOS 113)
Der Staat im Verhältnis zum Künstler ist spätestens seit Platons POLITEIA Thema der
Literatur. Bei Platons Staat handelt es sich bekanntlich um eine Idealkonstruktion. Dass die
Künstler und insbesondere die Dichter aus seinem Ideal-Staat verbannt werden sollen, liegt
nicht zuletzt in der mimetischen Verführungskraft ihrer Kunst begründet, die die einfachen
187
Bürger von ihren eigentlichen Aufgaben für die Polis abzuhalten imstande ist.525 Bereits bei
Platon wird die Befürchtung des Staatsphilosophen deutlich, dass die mimetische Funktion
der Kunst, die Nachahmung, vielmehr eine Vorahnung sein könnte, ein virtueller, mithin
realer Gegenentwurf. Eine ähnliche Position wie bei Platon kommt der Literatur in der
Gesellschaft der DDR zu, indem ihr durch eine angemaßte Erziehungsfunktion, ein
ungerechtfertigt hoher Stellenwert für die Entwicklung einer sozialistischen Ethik
zugestanden wird. Das Zurücktreten ästhetischer Belange hinter das Primat einer
kulturpolitischen Funktionalisierung der Künste in der ›Literaturgesellschaft‹ (Becher) DDR
wird in KRIEG OHNE SCHLACHT gleichzeitig als Voraussetzung für die eigene Arbeit und
Grund ihrer erfolgreichen Verhinderung anerkannt. So verhindert etwa das Verbot der
UMSIEDLERIN, wie der Erzähler zynisch feststellt, dass aus dem Dramatiker ein
erfolgreicher und mithin überflüssiger Komödienautor werden konnte. Er vergleicht die
eigene Situation mit der Brechts. »Ohne Hitler wäre aus Brecht nicht Brecht geworden,
sondern ein Erfolgsautor. DREIGROSCHENOPER, MAHAGONNY, das wäre glänzend
weitergegangen, aber Gott sei Dank kam Hitler, dann hatte er Zeit für sich.« (KOS 187) Den
Stellenwert des Künstlers in der Gesellschaft sowie die Auseinandersetzung mit der Frage des
»staatlichen Misstrauens gegen die Kunst von Plato bis Shdanow« (HMA 4414) greift Müller
wiederholt auf. Immer wieder kommt Müller auf Autoren wie Shakespeare, Grabbe, Kleist
oder Büchner zurück, die ihm als Figuren und Folien der Konfrontation von Kunst und
Macht, mithin der gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers dienen.
Angesichts dieser Tatsache liegt es nahe, das oben beschriebene Verhältnis des Künstlers zum
Staat als »Beziehungsdrama zwischen einem Staat und seinem bestgehassten und
meistgefürchteten Stückeschreiber« 526 zu bezeichnen. Doch vernachlässigt eine solche
Reduzierung, dass dieses »Drama« Bestandteil einer poetischen Konstruktion ist, deren Kern
nicht primär im Verhältnis Künstler – Staat zu suchen ist, sondern in der Kunst selbst. Zwar
macht der »Aufenthalt in einem Material« den Autor zum Teil dieses Materials und bezieht
ihn so auf die empirische Wirklichkeit, in die er eingestellt ist. Doch gehen sowohl Impetus
der Texte als auch die Texte selbst weit über dieses Beziehungsgeflecht hinaus. Nicht im
Aufeinanderprallen der Interessen des Staates mit den subjektiven Impulsen des Künstlers ist
der Konflikt zu suchen, vielmehr bildet das gespannte Beziehungsgeflecht zwischen beiden
die Bühne, auf der der Autobiograf den Konflikt mit seiner Biografie ansiedelt. Denn der
autobiografische Akt besteht nicht in der Beschreibung eines Geworden-Seins, sondern ist
selbst ein Werden, mithin in ständigem Wandel begriffen. Im Gefüge dieses Konfliktes ist der
Staat als poetische Konstruktion oder Kunstprodukt kenntlich, zu der sich die Ich-
Konstruktionen ins Verhältnis setzen. Die Grundstruktur dieses Erzähler und Staat
umfassenden Materials ist das Phänomen der Macht als Widerpart. Entscheidender noch ist
die Erfahrung des Bruchs: »Gerade diese schwarze Folie der Diktatur und dieses gebrochene
oder ambivalente Verhältnis zum Staat war für mich ein Movens, also eine Inspiration zum
Schreiben.« (GI 3 98) In der DDR habe die Differenzerfahrung vorrangig in der Diskrepanz
525
In Platons POLITEIA (10. Buch) heißt es: »Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, dass alle Künstler in
der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen
Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit
nicht erfassen; sondern, um in dem Beispiel von vorhin fortzufahren, der Maler stellt einen Schuhmacher
nur zum Scheine hin, ohne dass er selbst etwas von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für die er
ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben und Umrissen gucken, nicht wahr?« (Platon-SW 2, 375)
526
Löffler, Sigrid: Feind im Spiegel. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 17. 7. 1992
188
»zwischen der Phrase und der Realität« (GI 3 140) bestanden oder, wie der Reflex auf die
Autobiografie im Interview zeigt, in der zunehmenden »Diskrepanz zwischen einer Utopie im
Programm, die für mich eigentlich nie in Frage stand, und der Realität des Programms, die
miserabel war.« Müller fügt hinzu: »Und aus dieser Diskrepanz ergab sich eine Spannung,
und das Leben in so einer Struktur brachte einen sehr großen Erfahrungsdruck. Ich würde es
mal ganz ästhetizistisch formulieren: Es gibt einen Text von T. S. Eliot, wo er schreibt: Der
Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Das heißt, man schreibt einfach
besser, wenn der Erfahrungsdruck höher ist.« (Müller 1992, 9) Das Eliot-Zitat rekurriert auf
ein existenzielles Kunstverständnis, das eine Trennung von Leben und Kunst nicht kennt. Die
Selbstbedeutung des Autors erfolgt demzufolge nicht als Introspektion des Ich-Erzählers,
sondern als Inszenierung einer Dichterrolle, die ihr Selbstverständnis aus einem Konflikt
bezieht. Aus dem permanenten Krieg (einem Krieg, der bereits im ersten Satz der
Autobiografie erklärt wurde) leitet der Autor-Krieger seine poetische Autorität ab. Sie bezieht
ihre Legitimation aus der unablässigen »Suche nach einer Macht, an der man sich noch reiben
kann.« (KOS 113)
Eine alternative Darstellung der Gründe für das Verbleiben in der Sowjetischen
Besatzungszone nach der Westflucht des Vaters unterläuft die Beziehungsstruktur zwischen
Staat und Künstler, welche die künstlerische Produktivität in der »Grunderfahrung« von
(staatlicher) Gewalt begründet wissen will. »Es war auch eine Flucht vor der Schwangerschaft
meiner Freundin in Frankenberg. Ich habe Schwangerschaft immer als Freiheitsberaubung
betrachtet. Brecht: ›Aber Kinder fürchtet sogar Baal.‹ Kinder machen erpressbar und
abhängig.« (KOS 109) Die Konjunktion »auch« zeigt an, dass es sich um eine Möglichkeit
handelt, eine virtuelle Alternative oder Variation zur offenbar bevorzugten »politischen«
Konstruktion der Bedingungen eigenen Schreibens. Im Gespräch mit Gabriele Dietze und
Otto Kallscheuer räumt Müller bezüglich dieser Situation ein: »Das war also meine
historische Entscheidung für den Sozialismus. Später hatte ich mir eine politische
Entscheidung nacherfunden und das Ursprungsmotiv absolut vergessen.« (LN 88) Man darf
freilich davon ausgehen, dass es sich bei den »persönliche[n] Gründe[n]« (KOS 109) –
ebenso wie im anderen Fall der »politische[n] Entscheidung« um Texte und also
Konstruktionen handelt, im umfassenden Sinn also um Literatur.
Zugleich nimmt das Bild der »Schwangerschaft« als Entscheidungshilfe für den Osten auf
eine literarische Praxis Heiner Müllers bezug, der Texte Jahre, oft Jahrzehnte lang in der
Schublade ließ, bevor er sie zur Veröffentlichung/Aufführung freigab oder zu neuen
Textgebilden fügte. Die Möglichkeit, Texte ruhen zu lassen, beziehungsweise die
Unmöglichkeit ihrer Publikation, entzogen die poetischen ›Embryonen‹ dem Druck der
unmittelbaren ›Austragung‹ und somit der Unterwerfung des »Marktes«, beziehungsweise
bezüglich der DDR, in der aufgrund staatlicher Lenkung von einem Marktzwang kaum die
Rede sein kann, besser: ihrer Rezeption. Diese Praxis lässt sich nur schwer vorstellbar nicht
mit dem »Druckgenehmigungsverfahren« in der DDR in Zusammenhang bringen.
Unabhängig davon beweist sie indes eine den Äußerungen Müllers gegenläufige Tendenz der
Angewiesenheit seiner künstlerischen Produktion auf den öffentlichen Raum des Theaters: So
lange ihr materieller Bestand (und sei es in der Schublade oder gerade dort) gesichert war,
waren die Texte auch jenseits des Diskurses und unabhängig von ihrer Rezeption Bestandteil
der Wirklichkeit. Im einem Gespräch mit Alexander Kluge das den Titel HERZKÖNIGIN
189
AM JÜNGSTEN TAG 527 trägt, findet sich diese zunächst verstörende Passage, die auf eine
assoziativ und terminologisch vollkommen anders gelagerte Art und Weise auf das Verhältnis
Müllers zum Staat rekurriert:
Kluge: Wie würdest du dein Land, was immer das ist, wie würdest du das vergleichen?
Würdest du das mit `ner Frau vergleichen so wie Frankreich?
Müller: Das ist eine Frage, auf die ich überhaupt nicht gefasst bin. Aber ich würde es
natürlich mit einer Frau vergleichen, ja. Auf keinen Fall mit einem Vater oder einem
Mann. Das ist schon eine Frau.
Kluge: Du könntest es ja auch mit einer Sache vergleichen.
Müller: Nein, das ist schon eine Frau.
Kluge: Und wie sieht diese Frau aus? Wie auf den Fünf-Mark-Scheinen des Dritten
Reichs, bei der Währungsreform, eine Arbeiterin?
Müller: Das war eine schöne Frau.
Kluge: Eine Kellnerin?
Müller: Eine Kellnerin könnte es sein, ja.
Kluge: Arbeitende Bevölkerung, nicht eine Prinzessin oder keine Jeanne d’Arc, keine
bewaffnete Frau? In Frankreich hat sie eine Mütze auf und ein Schwert in der Hand.
Was hier geschieht ließe sich als Umkehrung dessen beschreiben, was Müller in KRIEG
OHNE SCHLACHT als Verdrängung des revolutionären Diskurses durch den staatlichen
Diskurs im Zuge der Gründung der DDR beschreibt (»Der Marxismus ist vom Staat, von der
Partei, allmählich zersetzt worden, der revolutionäre Diskurs vom staatlichen erstickt«, KOS
123). Man muss sogar noch weiter gehen und von der Aufhebung des politischen Diskurses
selbst sprechen. Die politischen Begriffe »Staat« und »Diktatur« sind der unbestimmten
Bezeichnung »Land« gewichen, die im zitierten Dialog keine unmittelbare topografische
Entsprechung erkennen lässt (Kluges Versuch der Herstellung einer Verbindungslinie zu
Jeanne d’Arc/Frankreich wird verworfen). Es handelt sich um eine
Deterritorialisierungsbewegung, die eine Fluchtlinie zieht. Diese Fluchtlinie findet im Titel
Kluge/Müllers letzten Interviewbandes einen Bezugspunkt: dem »Landvermesser« 528 . Die
Vermessungsinstrumente zerteilen die Landschaft, ohne sie zu segmentieren. Wie in Kafkas
Roman DAS SCHLOSS bleiben Auftraggeber und Auftrag unbekannt. Die Bevorzugung der
Kellnerin vor einer schwertbewehrten Jeanne d’Arc kann als weiterer Hinweis darauf gelesen
werden, dass Müller die Kriegsgeräte zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits gegen die
Instrumente des Landvermessers eingetauscht hat. 529
527
Der Titel des wenige Wochen vor Müllers Tod im RTL ausgestrahlten Gesprächs zitiert die den letzten Vers
des Gedichts aus den siebziger Jahren (s. a. W 1 215), das Müller während des Gesprächs vorlas.
528
Alexander Kluge/Heiner Müller: ICH BIN EIN LANDVERMESSER. Gespräche mit Heiner Müller. Neue
Folge. Berlin 1996
529
In Kafkas Roman DAS SCHLOSS, spielt die Figur des Wirtsmädchens eine zentrale Rolle.
190
6.7. 1953, Zweiter Clown im kommunistischen Frühling
In Müllers zwischen 1956 und 1971 entstandenem Stück GERMANIA TOD IN BERLIN, das
bis zur politischen Auflösung der DDR weder aufgeführt (DDR-Erstaufführung 1989) noch
gedruckt (DDR-Erstdruck 1988) werden durfte, finden sich zwei Szenen, die Reminiszenzen
an den 17. Juni 1953 enthalten. Grotesker Weise sind es gerade diese Szenen, die auch in der
Bundesrepublik (Erstdruck 1977 in Berlin, Uraufführung 1978 an den Münchner
Kammerspielen) auf heftige Kritik stießen. Müller wurde vorgeworfen, die Propagandalügen
der SED zu kolportieren. Die Szene DAS ARBEITERDENKMAL nimmt Bezug auf das
historische Epizentrum des Aufstands in Berlin, die Großbaustelle der Stalinallee. Die
Bauarbeiter (darunter bei Müller ein ehemaliger Nazigeneral und ein in die ›Produktion‹
versetzter Minister) reagierten mit ihrem Protest damit unmittelbar auf die im Mai
beschlossenen Normerhöhungen durch das Zentralkomitee der SED, die auch nach der
Verkündung des »Neuen Kurses« im Zentralorgan der SED, dem »Neuen Deutschland«, nicht
rückgängig gemacht wurden. Bei Müller steht im Mittelpunkt der Szene der alte Maurer
Hilse 530 , der wie bereits DER GLÜCKLOSE ENGEL der Geschichte in der Verschüttung (die
hier von Steine werfenden Jugendlichen ins Werk gesetzt wird) verschwindet und zum
»Arbeiterdenkmal« (W 4 364) erstarrt. Eine zweite Szene (DIE BRÜDER 2), die vor dem
Hintergrund der Juniereignisse von 1953 handelt, endet mit der Ermordung eines
Kommunisten im Gefängnis 531 . In der Gefängniszelle trifft der KOMMUNIST seinen Bruder
wieder, der in den Folterkellern der Gestapo zum NAZI umgeschmiedet wurde. Der
Kommunist hatte dem Bruder die Kugel verweigert (»Ich wollte mir die Hand nicht dreckig
machen«, W 4 370), die ihn davor bewahrt hätte, zum Rädchen in der Mordmaschinerie der
Nazis zu werden (»Im Knochenbrechen war ich Spezialist. / Männer, Frauen und Kinder in
Orel«, W 4 369). Während die rasselnden Ketten der gegen den Aufstand aufgefahrenen
Panzer »die Internationale« (W 4 372) auf den Asphalt schreiben, stürzen sich der Nazi-
Bruder und die beiden anderen Zelleninsassen (Ein Brückensprenger und ein Serienmörder
namens Gandhi) auf den Kommunisten. Dessen letzte Worte, »Wer bin ich?« (ebd.), liefern
nicht nur einen Hinweis auf den Stellenwert des Individuums im sozialistischen Kollektiv
(»Einer ist keiner«) und stellen damit eine Reminiszenz an den Grundwiderspruch
kommunistischer Teleologie dar. Sie weisen zugleich auf eine alternative Bruderszene aus
dem Stück DIE SCHLACHT voraus: »Ich bin der eine und der andre ich. / Einer zuviel. Wer
zieht durch wen den Strich.« (W 4 473). Auch das Eingangszitat der Autobiografie aus
LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN wird darin aufgerufen: »Soll ich von mir reden Ich
wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich wer ist das« (KOS 9). Die
Aussagen formulieren die Frage nach dem Sprecher, dem Ich, beziehungsweise dem –
möglicherweise aufgelösten – Aussagesubjekt, zuletzt nach dem Sprechen selbst. Als Material
spielt der 17. Juni in GERMANIA eine untergeordnete Rolle. Der Fokus der entsprechenden
530
Norbert Otto Eke weist darauf hin, dass Müller hier nicht nur die Figur aus Gerhart Hauptmanns DIE
WEBER zitiert, sondern auch Hinweise auf den »Lohndrücker« Balke und den »Held der Arbeit« (W 4 383)
der Szene BRANDENBURGISCHES KONZERT 2 aus dem GERMANIA-Stück enthält (s. a. Eke 1999,
180f.).
531
Im Zuge des Aufstandes vom 17. Juni 1953 war es auch zu Gefangenenbefreiungen gekommen. Der
Kommunist in der Szene DIE BRÜDER 2 hofft darauf, dass der Aufstand niedergeschlagen wird
(»Genossen, haltet das Gefängnis. Schießt«, W 4 369), eine Hoffnung die – nicht nur symbolisch – seinen
sicheren Tod einschließt (»Seinen Kommunismus erlebt er sowieso nicht«, W 4 372).
191
Szenen richtet sich nicht auf die empirischen Vorgänge des sogenannten Arbeiter- oder
Volksaufstandes, er dient vielmehr als Folie zur Darstellung grundlegender Widersprüche der
gesellschaftlichen Entwicklung, die in der ersten Szene auf ein geschichtsphilosophisch
grundiertes Bild verweist (das ARBEITERDENKMAL als Metamorphose des benjaminschen
Engels der Geschichte) in der zweiten ins Mythologische gewendet wird (Bruderkonflikt). Im
Gewaltakt der Niederschlagung des Aufstandes mithilfe der sowjetischen Panzer wird dabei
das Dilemma der kommunistischen Utopie kenntlich. Müllers beklemmendes Fazit: Die Idee
einer allumfassenden humanen Gesellschaft lässt sich nur mit den Mitteln äußerster Gewalt
und Freiheitsbeschneidung herstellen.
Der Blick auf die Darstellung des 17. Juni 1953 in GERMANIA TOD IN BERLIN wirft ein
Schlaglicht auf die Beschreibung der Ereignisse im Kapitel »Der 17. Juni 1953« in KRIEG
OHNE SCHLACHT. In beiden Fällen tritt das brisante – von der DDR-Führung als vom
Westen gelenkter ›faschistischer Putschversuch‹ bezeichnete, im Westen als Beweis für die
brutal niedergeworfenen Demokratie- und Freiheitsbestrebungen der ostdeutschen
Bevölkerung mythologisierte – Ereignis in den Hintergrund. Es wird zur Folie für die
Darstellung tiefer liegender Konflikte, die im 17. Juni lediglich eine aktuelle
Projektionsfläche finden. Im Text der Autobiografie wird dabei eine klare Zweiteilung
unternommen. Schildert Müller im ersten Teil die Geschehnisse aus der subjektiven
Perspektive des scheinbar unbeteiligten Flaneurs, der »den 17. Juni […] nur als Beobachter
erlebt« (KOS 132), richtet sich sein Blick im zweiten Teil auf die Strukturen des Geschehens,
die Dramatik, die die eigenen Erlebnisse in den Bereich der Fabulation verweisen: »Man sieht
ja immer nur Segmente, wenn man selbst dabei ist. Es war einfach interessant, ein
Schauspiel.« (KOS 133) Verdeutlicht wird das durch die Berufung auf eine
Geistererscheinung. »Ich wohnte damals in Pankow, ich hatte im Radio gehört: Streik, Stalin-
Allee, Demonstrationen. Ich wollte mir das ansehn und ging zur Straßenbahn, die
Straßenbahn fuhr nicht, dann bis zur U-Bahn, die U-Bahn fuhr auch nicht. Aus dem U-Bahn-
Schacht stieg Stephan Hermlin, pfeiferauchend. Er war der einzige bekannte Prominente, den
ich auf der Straße gesehen habe. (Ich muss ein Gespenst gesehen haben. Hermlin sagt, dass er
zu dieser Zeit in Budapest war.) Ich bin dann zu Fuß ins Zentrum, bis in die Leipziger Straße,
vor dem Haus der Ministerien stand ein Pulk von Leuten, Funktionäre, einen davon kannte
ich. Ich merkte, die Leute waren eher angenehm erregt. Dann bin ich in Richtung
Alexanderplatz gelaufen, und da wurde es dann schon turbulent, da brannten Kioske, da war
schon zu sehen, was der Brecht ganz gut beschrieben hat: Es bildeten sich Klumpen von
Leuten, und es stiegen Redner daraus hervor. Ein fast biologischer Vorgang. Für Brecht
waren das die Feme-Gesichter, hagere, fanatische Gesichter. ›Spitzbart weg! Russen raus!‹-
Rufe.« (KOS 132) In einem späteren Interview wird auf die Unschärfe der Erinnerungsbilder
erneut Bezug genommen. »Es ist schwierig sich zu erinnern, weil sich das, was man erlebt hat
und das, was man später gelesen hat, überschneidet.« (GI 3 196) Die Erinnerung an die
Ereignisse ist durch spätere Einsichten und Lektüren (Brecht, Heym 532 ) perforiert, was
Müllers primärem Interesse an der »Verarbeitung von Realität« (GI 1 64) entspricht. Der Text
erscheint in diesem Sinne als Schnittstelle unterschiedlicher Diskurse. Der Darstellung geht es
nicht um empirische Annäherung oder historische Bewertung, sondern um die Dramaturgie
der Ereignisse, die Bewegungen unter der Oberfläche. »Mir sind da nur ein paar
532
Stefan Heyms Roman 5 TAGE IM JUNI erschien erst im November 1989 in der DDR.
192
Zusammenhänge aufgefallen. Vorher gab es so was wie den Neuen Kurs, und das war auch
im ›Sonntag‹ so, der ganze Propaganda- Apparat wurde in Frage gestellt. Mein kritischer
Artikel über Radiosendungen in der DDR, geschrieben im Auftrag der Redaktion, war dann
schon nicht mehr gedruckt worden. Der Wind hatte sich schon wieder gedreht.« (KOS 133f.)
Der »Neue Kurs«, als Kommuniqué der SED am 10. Juni 1953 im »Neuen Deutschland«
abgedruckt, war eine Folge der Rücknahme Stalins DDR-Politik (Stalin war am 5. März 1953
gestorben), die der Staatsführung, die zu diesem Zweck eigens nach Moskau beordert wurde,
wenige Tage zuvor nahegelegt worden war. 533 Der Kurswechsel zieht eine Folge kritischer
und selbstkritischer Veröffentlichungen nach sich, zu denen auch der von Müller erwähnte
Beitrag über [Das Staatliche Rundfunkkomitee …] (W 8 518–525) gehört. Dass der »Neue
Kurs« nicht zur Entspannung der Lage führte, mochte einen schwerwiegenden Grund in der
Aufrechterhaltung der Arbeitsnormerhöhung haben, die erst im »Neuen Deutschland« vom
17. Juni zurückgenommen wurde. Der Erzähler beschreibt die Haltung der sowjetischen
Führung als »die wirkliche Geschichte« (KOS 137). Ulbrichts Ruf nach den sowjetischen
Panzern wäre nach den geheimen Gesprächen zwischen der DDR-Führung und Moskau die
einzige Möglichkeit gewesen, die eigene Macht zu erhalten. So hätte der Aufstand – Ironie
der Geschichte – genau das verhindert, was er erreichen wollte: Demokratisierung, freie
Wahlen, das Ende der sowjetischen Fremdbestimmung – und darüber hinaus die rasche
Zurücknahme des »Neuen Kurses«.
»Der Ausgangspunkt in Berlin war die Stalin-Allee, Bauarbeiter. Da gibt es eine ganz gute
Untersuchung drüber. Die Bauarbeiter-Gewerkschaft war vor dem Krieg die Gewerkschaft
mit den meisten Kommunisten, also dann danach mit den meisten Lücken. Nach dem Krieg
wurde nichts so dringend gebraucht wie Bauarbeiter, die Russen haben alles, was Nazi
gewesen war – außer den, nach ihren Kategorien, Kriegsverbrechern –‚ auf den Bau
geschickt, das waren Offiziere, Studienräte, Lehrer, Angestellte, Beamte. Die wurden alle
Bauarbeiter, das heißt, sie kriegten die beste Verpflegung, Schwerstarbeiterzuschläge, ihre
Kinder waren Arbeiterkinder und durften bevorzugt studieren.« (KOS 134f.) Der Aufstand
wird hier als Folge der Kommunistenverfolgung im Dritten Reich beschrieben. Durch die mit
Privilegien verbundene Strafversetzung der Nazi-Elite auf die Baustellen der Republik (ein
Thema das Müllers frühen Stücke wiederholt aufgreifen), wo sie die Plätze der Opfer des von
ihnen getragenen Systems einnehmen, erfährt die Propaganda-Lüge des SED-Zentralkomitees
scheinbar eine nachträgliche Legitimation. Eine sich anschließende Anekdote schildert, wie
Walter Ulbricht dem Schriftsteller Jan Koplowitz den 17. Juni erklärt, und zwar gerade nicht
wie im offiziellen Sprachgebrauch als »faschistischen Putschversuch«, sondern als Intrige
»eines geschassten Funktionärs« (KOS 137). Eine Begründung für das schnelle Verebben des
Aufstandes wird vom Erzähler mit dem Hinweis auf die Semesterferien gegeben: »… dass die
Niederwerfung des Aufstandes so reibungslos geklappt hat […] hing wohl auch damit
zusammen, dass der 17. Juni in die Semesterferien fiel, die Studenten konnten sich gar nicht
beteiligen, weil sie nicht da waren.« (KOS 134)
533
Die SED-Politbüromitglieder Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und der Chefideologe der Partei, Fred
Oelßner, wurden zu Geheimberatungen nach Moskau bestellt. Hier wurde ihnen das Memorandum "Über
Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik" übergeben,
in dem der 1952 von Stalin veranlasste politische Kurs von seinen Erben im Kreml zurückgenommen
wurde. Die Delegation kehrte mit der strikten Auflage nach Ostberlin zurück, die Krise in der DDR durch
eine Revision des bisherigen politischen Kurses zu entschärfen.
193
Die Äußerungen zeigen deutlich, dass der Erzähler an einer differenzierten Darstellung
historischer Tatsachen nicht interessiert ist. Er begnügt sich mit dem Material, das durch die
Reflexe auf dieses Ereignis zutage gefördert wird. »Ich hatte selbst keine Hoffnungen, auch
keine zerschlagenen, ich war Beobachter, nichts weiter.« (KOS 134) Der Satz gibt die
(interesselose) Haltung des Künstlers wieder. Für ihn besitzen die historischen Vorgänge
lediglich Materialwert. Als Künstler kann er das Geschehen nicht nach moralischen Kriterien
beurteilen. Er muss sich mit allen Positionen identifizieren können oder sich selbst zerreißen.
Der vierte Teil des Stücks DIE HAMLETMASCHINE, der die Ereignisse in Ungarn 1956 als
Déjà-vu des 17. Juni 1953 zeigt, kann auch als Versuch gelesen werden, diese schizophrene
Position des »Autors« poetisch in den Griff zu bekommen. »Mein Drama, wenn es noch
stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt. Der Aufstand beginnt als
Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit. Die Straße gehört den
Fußgängern. Hier und da wird ein Auto umgeworfen. Angsttraum eines Messerwerfers:
Langsame Fahrt durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von
bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Polizisten, wenn sie im Weg stehn, werden an den
Straßenrand gespült. Wenn der Zug sich dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einem
Polizeikordon zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Auf dem
Balkon eines Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit schlecht sitzendem Frack und
beginnt ebenfalls zu reden. Wenn ihn der erste Stein trifft, zieht auch er sich hinter die
Flügeltür aus Panzerglas zurück. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem
Sturz der Regierung. Man beginnt die Polizisten zu entwaffnen, stürmt zwei drei Gebäude, ein
Gefängnis eine Polizeistation ein Büro der Geheimpolizei, hängt ein Dutzend Handlanger der
Macht an den Füßen auf, die Regierung setzt Truppen ein, Panzer. Mein Platz, wenn mein
Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten,
darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten
Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge
und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen
mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der
andrängenden Menge mich, Schaum vor meinem Mund, meine Faust gegen mich schütteln.
Ich hänge mein Uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm,
mein Kopf ist leer unter dem Helm, der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die
Schreibmaschine. Ich knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe
den Schemel weg, breche mein Genick. Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen
Daten die Computer. Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf Messer und Wunde Zahn
und Gurgel Hals und Strick. Ich bin die Datenbank. Blutend in der Menge. Aufatmend hinter
der Flügeltür. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase über der
Schlacht. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen. Die
Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten
verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine
Hand. Ich gehe nach Hause und schlage die Zeit tot, einig / Mit meinem ungeteilten Selbst.«
(W 4 550f.) Der Textausschnitt aus der Szene PEST IN BUDA SCHLACHT UM
GRÖNLAND verarbeitet sowohl die Eindrücke des 17. Juni sowie deren Reflexion: die
Haltung des Künstlers gegenüber den Vorgängen und den sich aus ihnen ergebenden Folgen
für sein Schreiben. Das ungeteilte Selbst ist durch den Übergang in den Vers gebrochen und
zeigt an, dass die poetische Reaktion auf die politischen Vorgänge die dem Künstler gemäße
Art des Ausdrucks darstellt, die ihn freilich von der politischen Bewegung isoliert. In der
194
Rolle des fiktiven Hamletdarstellers, der sich infolge der Absetzung seines Stücks
(HAMLET, DIE SCHLACHT UM GRÖNLAND – der Aufstand) in alle Rollen des Dramas,
das der Aufstand in seiner Möglichkeitsform böte, hineinprojiziert, erkennt, dass ihm die
Handlung dieses Dramas (die Zeit des Aufstands) nichts mehr bedeuten kann, weil er ihm
keinen Sinn zu verleihen weiß. Im Gegensatz zur Zerrissenheit des shakespeareschen
Hamlets, der im Abgrund einer Zeitenwende zerschellt, den müllerschen Schauspielern, die
nach dem Verlust des Textbuches aus dem Spiel nicht mehr in die Wirklichkeit zurückfinden
und den toten, aber wohl präparierten Zuschauern, schlägt der (nicht mehr) Darsteller der
(unmöglich gewordenen) Rolle die Zeit tot. Nur so kann er in Eintracht mit seinem
»ungeteilten Selbst« vegetieren, um sich letztendlich in der Selbstauflösung wieder zu
objektivieren. Eine umgekehrte Bewegung vom Objekt der Beschreibung zum Subjekt des
Textes findet in KRIEG OHNE SCHLACHT statt. Die autobiografische Übercodierung wird
durch die permanente Verwandlung der Subjekte des Textes unterlaufen. Auch hier findet am
Ende (ERINNERUNG AN EINEN STAAT) eine Zerreißung des Autor(portrait)s (s. a. W 4
552) statt. Die Rissnaht wird nicht geglättet, sie bleibt im text virulent. So zeugt sie vom
Verschwinden eines Imperativs, den die historische Realität begraben musste. Die fünfte
Szene der HAMLETMASCHINE enthält einen weiteren Kommentar zur Autobiografie
bereit. Wie die reglose Ophelia der Tiefsee zum Schluss nur die weiße Verpackung (auf der
Bühne) zurücklässt, stehen wir nach dem Ende Müllers Leben vor einem Berg von Texten. Es
wäre vergeblich, darunter nach Heiner Müller zu suchen.
Das Kapitel »DER LOHNDRÜCKER« zeichnet sich durch eine diffuse Erzählstruktur aus.
Inhaltliche Wiederholungen und Sprünge in der Chronologie, die Unterbrechung der
Erzählung durch eine Reihe Anekdoten und Äußerungen von und über Nebenfiguren (Hans
Garbe, Peter Hacks) und historische Ereignisse (Vertuschung eines KPD-Skandals) oder
Reflexionen über Kulturpolitik (Ulbrichts Kampf gegen das »Didaktische Lehrtheater« oder
Seitenhiebe auf den »Bitterfelder Weg«) lassen den Text des Kapitels brüchig und unfertig
erscheinen. Als sinnstrukturierendes Bezugsfeld, auf das die divergierenden Elemente der
Erzählung bezogen werden können, dient der Stücktext Müllers 1956/57 entstandenen
Stückes DER LOHNDRÜCKER. Das Stück ist Müllers erster umfangreicher Theatertext. Die
Verwendung von Stücktiteln (häufig in Verbindung mit Jahreszahlen) wird im weiteren
Textverlauf zur bevorzugten Form der Kapitelgliederung, was Müllers explizitem Diktum
entspricht, die Vita losgelöst vom Werk nicht sinnvoll betrachten zu können. Das
LOHNDRÜCKER-Kapitel umkreist thematisch vor allen Dingen die Umstände und das
Umfeld der Entstehung sowie insbesondere die Querelen um die Aufführung und den
Umgang mit den staatlichen Zensur- (Verbot) und Huldigungsmaßnahmen (Preisverleihung).
Auf den Text des Stückes selbst wird indes kaum Bezug genommen. Der ursprünglich für den
Rundfunk geschriebene Text DIE KORREKTUR – Hauptargument für das vorläufige
Aufführungsverbot von LOHNDRÜCKER / KORREKTUR am Maxim-Gorki-Theater in
Berlin 1958 – ist in diesem Kapitel mindestens so präsent wie der titelgebende
LOHNDRÜCKER.
195
Ein zweiter thematischer Schwerpunkt liegt auf der Schilderung des Verhältnisses zu Inge,
der zweiten Frau Heiner Müllers, mit der er in dritter Ehe bis zu ihrem Suizid im Jahr 1966
zusammenlebt. Das Kapitel setzt zum ersten Mal mit einer Frage des Interviewpartners ein:
»Dein erster fester Wohnsitz in den 50erJahren war bei Inge, Deiner zweiten Frau …« (KOS
139) Der ›feste Wohnsitz‹ befindet sich in Lehnitz bei Oranienburg, nördlich von Berlin, in
einer »Siedlung, die für SS-Offiziere des Lagers Sachsenhausen gebaut worden war, da
wohnten nach dem Krieg Funktionäre. Es waren sehr solide gemauerte Klinkerhäuser mit
großem Komfort, von Häftlingen gebaut.« (ebd.) Im gleichen Haus, »allerdings auf einer
anderen Etage« (KOS 140) wohnt weiterhin der (frühere) Ehemann Inges, der anfangs
versucht, den Erzähler »per Staatssicherheit aus dem Haus herauszukriegen.« (ebd.) Der Wahl
des festen Wohnsitzes widersprechen die ungeordneten Verhältnisse ebenso wie der
Frauenraub. Sie bedeutet keinesfalls die Aufgabe des nomadischen Lebensstils. Dennoch
signalisiert die Niederlassung ein Zu-sich-Kommen als Autor. Die eigenen Arbeiten, von
denen im Kapitelverlauf die Rede ist, sind abgesehen von der Besprechung eines
Novellenbandes von Boris Djacenko in der »NDL« (s. a. KOS 141 u. W 8 73–75),
ausschließlich ästhetische Texte, wenngleich der Eigenanteil an der künstlerischen Gestaltung
im Hinblick etwa auf die Übersetzung Pogodins ARISTOKRATEN nicht in jedem Fall gleich
groß ist. Der Journalist und Gelegenheitsautor hat sich zum Schriftsteller gemausert. Mit
Aufträgen für den Rundfunk und das Theater wird der frühe Plan (»Ich habe den ganzen
Schiller gelesen, die Stücke jedenfalls, von Hebbel auch alle Stücke. Und von da an wollte ich
Stücke schreiben«, KOS 32) ins Werk gesetzt. Müller lernt seine zweite Frau Inge in der
»Arbeitsgemeinschaft junger Autoren im Schriftstellerverband« (KOS 139) kennen, genauer:
bei einem nachbereitenden Kneipenbesuch. Der offenstehende »oberste Knopf dieser
schönen, teuren Bluse« erregt dessen »proletarische Gier auf die Oberschicht.« (KOS 139f.)
Das Motiv der Verführung (der offene Knopf) wird durch die Anspielung auf den sozialen
Status (die teure Bluse) unmittelbar konterkariert. In den Tonbandabschriften ist das eigene
Verhalten auf die Handlungsimpulse eines Figurentypus der COMÉDIE HUMAINE bezogen:
»Das hatte sehr viel zu tun mit bestimmten Balzac-Figuren, die Aufsteiger und die Gier nach
dem, was man nie hatte. Das war der erste Impuls.« (TA 113) Über die Umstände des
Kennenslernens wird bis auf diese als literarisches Zitat ausgewiesene Haltung nichts weiter
bekannt. Die Aussage bezieht sich allein auf die als Begehren formulierte soziale Struktur.
Auch emotionale Aspekte der Beziehung bleiben von vornherein ausgeblendet. Stattdessen
richtet sich der Fokus der weiteren Schilderung auf die Differenzen. »Inge schrieb damals
Kinderbücher – ein Kinderbuch war schon erschienen – und Kinderreime, Kinderverse,
Programme für Kinder, Revuen oder auch mal ein Programm für den Friedrichstadt-Palast.
Ich habe den großen Fehler gemacht, ihr zu sagen, was ich davon hielt. Ich war jung und
arrogant. Dann begann ihr großer Kampf, mir zu beweisen, dass sie auch anders schreiben
konnte. Selten hat sie mir etwas davon gezeigt.« (KOS 140) Infolge der desaströsen
partnerschaftlichen Ausgangssituation erscheint es geradezu als Bedingung, dass die Kunst
der Frau im Verborgenen entsteht, als marginalisierte Äußerung einer »Minderheit«
(Deleuze/Guattari), die ihre Kraft aus der Machtlosigkeit bezieht. In dieser Hinsicht steht die
Arroganz des Erzählers gegenüber den frühen literarischen Arbeiten seiner Frau und das
Ignorieren ihrer eigentlichen ästhetischen Produktion – der Lyrik – durchaus im Einklang mit
einer sozialen Funktionsbestimmung der Kunst, wie sie etwa der Essay zur Postmoderne-
Diskussion entwirft. »Solange Freiheit auf Gewalt gegründet ist, die Ausübung von Kunst auf
Privilegien, werden die Kunstwerke die Tendenz haben, Gefängnisse zu werden, die
196
Meisterwerke Komplicen der Macht.« (W 8 211) Das Verhältnis zu seiner Frau als Künstlerin
erscheint als Verlängerung der Machtstrukturen des Staates. In seinem Auftreten ihr
gegenüber wiederholt sich das repressive Auftreten des Staatsapparates gegenüber den von
ihm verfassten Texten. Es wäre demzufolge der Erzähler selbst, der seine Frau in die Kunst
treibt, indem er ihre künstlerische Souveränität in Abrede stellt.
Vor dieser Folie ist die Verweigerung der Anerkennung einer Co-Autorschaft Inges an den
Texten LOHNDRÜCKER und KORREKTUR in KRIEG OHNE SCHLACHT zu verstehen,
der als Mitautorin in den Augen Heiner Müllers kein anderer Stellenwert zukomme als den
Identitäten der von ihm verwendeten Pseudonyme. »Andrerseits: Was ist ein Autor?« (KOS
141), zitiert Müller in diesem Zusammenhang den Titel des gleichnamigen Aufsatzes von
Michel Foucault. 534 Die Frau wird explizit auf der Materialebene des Stückes angesiedelt, die
allerdings für das Stück selbst kaum von belang gewesen sei (»ich brauchte wenig Material«,
KOS 140). Für die Qualität der Texte LOHNDRÜCKER und KORREKTUR ist der Umstand
der geistigen Urheberschaft irrelevant – von Interesse ist er allein im Bereich des
Urheberrechts. Foucaults Frage nach dem Autor zielt weder auf die Person des
Textproduzenten noch auf den Ursprung der Schöpfung, sondern verortet die Funktion Autor
im Text selbst: »die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser
Trennung und dieser Distanz« 535 zum realen Schriftsteller ebenso wie zur Subjekt-Instanz des
Textes, also des Sprechers. Somit bedürfe der (fiktive) Text zwar der Autorfunktion, komme
aber ohne die Person des Schriftstellers aus. Dass die Schriftstellerin Inge Müller mit dem
Text WEIBERBRIGADE zum Teil auf das gleiche Material zurückgreift wie die Müllers in
DIE KORREKTUR, ist für das Erscheinungsbild des jeweiligen Textes belanglos – ebenso
belanglos wie die Nennung Inges als Mitautorin oder die postume Leugnung einer (wie auch
immer gearteten materiellen) künstlerischen Mitwirkung ihrer Person. Die Texte selbst seien
es, wie Müller im oben bereits erwähnten Essay herausstellt, die am »Verschwinden des
Autors« (W 8 211) im Sinne einer vom text transportierten Intention des Schriftstellers zu
arbeiten hätten: »Die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes« (W 8 208), konstatiert
Müller mit Kafka – eines »kommenden Volkes« 536 . Im Jahr 1956 entsteht, »unter Mitarbeit
von Inge« (KOS 143), wie der fiktive Gesprächspartner anmerkt, das Stück DER
LOHNDRÜCKER. Eine künstlerische Mitarbeit Inges als Co-Autorin am LOHNDRÜCKER
wird indes von Müller kategorisch abgelehnt: »Geschrieben habe ich es allein, und zwar
lediglich am Schreibtisch.« (ebd.) Der Hinweis, dass es sich beim LOHNDRÜCKER
ausschließlich um Schreibtischarbeit handelt, zielt auf die vorangehenden »Feldstudien«
Inges, die angeblich in das Stück selbst keinen Eingang gefunden haben. Insofern ist die
Titelbeigabe »Mitarbeit: Inge Müller.« (W 1 27), wie der Titel und das Figurenverzeichnis,
unmittelbar dem Textkorpus des Stücks zuzuschlagen, hätte also tatsächlich die Funktion, am
»Verschwinden des Autors« mitzuarbeiten.
Ursprünglich war LOHNDRÜCKER, wie auch die etwa zeitgleich entstandene Erstfassung
von KORREKTUR als Hörspiel konzipiert, »mit Zwischenberichten von Figuren, die über
sich erzählten. 537 Das war einfach der schnellste Weg, zu Geld zu kommen. Dieser Text ist
534
s. a. Foucault 1988, 7–31
535
Foucault 1988, 22
536
Deleuze 2000, 15
537
Nach dieser Darstellung entspräche diese frühe Textform von DER LOHNDRÜCKER jener der
KORREKTUR, in der die eingeschobenen Zwischenberichte von Figuren die Handlung kommentierend
197
leider verschollen, er war, glaube ich, ganz gut.« (KOS 152) Bezeichnend für die Darstellung
in KRIEG OHNE SCHLACHT ist die Begründung der Stoffwahl für LOHNDRÜCKER, die
vielmehr in einem Akt der Verschleierung besteht. »Der erste Impuls war die Garbe-
Geschichte aus der Zeitung, danach ein unsägliches Buch HELDEN DER ARBEIT. Das
waren die ersten Quellen. Dann kam das Buch von Claudius, MENSCHEN AN UNSERER
SEITE, das ich allerdings nie gelesen habe. Der eigentliche Anlass war, dass auf einer
Parteikonferenz den Schriftstellern dieser Stoff ans Herz gelegt worden war.« (KOS 143)
Dass ausgerechnet die Produktionsempfehlung einer Parteikonferenz als eigentlicher Anlass
für die Entstehung des Stücks herhalten soll, erscheint für einen Autor, dem bereits die
Stoffwahl als schöpferischer Akt gilt 538 unwahrscheinlich. Wenn Müller in seiner
Autobiografie auf dieser Darstellung besteht, so tut er das vermutlich, um die Unsäglichkeit
der literarischen Vorlagen zu unterstreichen, die er im Akt des Schreibens entweder
ausblendet oder verwirft. Eine möglicherweise brauchbare Materialsammlung, die auf eine
von Käthe Rühlicke mitstenografierte Garbe-Befragung durch Bertolt Brecht und Slatan
Dudow im Frühjahr 1951 zurückgeht, sei ihm »nur als Gerücht« (KOS 143) bekannt
gewesen. 539 Immerhin hilft Brechts Interesse an dem Thema die eigene Stoffwahl jenseits des
DDR-Mainstreams zu legitimieren (»Mein unmittelbarer Anschluss an Brecht war eigentlich
der LOHNDRÜCKER«, KOS 229), denn der »Held der Arbeit« Hans Garbe ist Anfang der
fünfziger Jahre tatsächlich schwer en vogue. Im Gegensatz zu Eduard Claudius’ Roman
MENSCHEN AN UNSERER SEITE (1951), Karl Grünbergs Erzählung DER MANN IM
FEURIGEN OFEN (1951) oder auch Uwe Bergers Gedicht SIEMENS-PLANIA aus der
Anthologie BEGEISTERT VON BERLIN (1952), die Müller 1953 für den »Sonntag«
rezensiert hatte, betreibt das Stück die bewusste Ausblendung der Heldenproblematik. Es geht
im LOHNDRÜCKER nicht um den »DDR-Helden der Arbeit Hans Garbe« (KOS 143). Der
explizite Verweis auf die Verwendung fiktiver Namen und einer frei erfundenen Fabel (»Die
Geschichte der Ringofenreparatur ist historisch. Die Personen und ihre Geschichten sind
erfunden«, W 3 28) machen deutlich, dass der Autor von einem unmittelbaren Bezug zum
›Helden der Arbeiterklasse‹, Hans Garbe, abgesehen wissen möchte. »Ich habe dann ganz
instinktiv ein Stück ohne Protagonisten geschrieben. Es wurde dann immer so inszeniert, als
wäre da ein Held, der ›Aktivist‹. Dieser Blick ist aber rein ideologisch. Man hat dadurch das
Subversive im Text nicht gesehn. Das lief als Heldenstück.« (KOS 230) Als Heldendrama sei
es »sogar Schulstoff gewesen, ein glückliches Missverständnis.« (KOS 352)
Dabei galt das Stück, wie der Erzähler bereits im Kapitel »Die ersten Jahre in Berlin«
geschildert hatte, anfangs mitnichten als linientreue Aufbau-Dramatik. Es erhielt sogar das
Etikett »trotzkistisch«, was unter gewöhnlichen Umständen den direkten Weg in den
Giftschrank der Zensur-Behörden bedeutet hätte. »Ich hatte damals, 1956, gerade
LOHNDRÜCKER zu Ende geschrieben. Auf dem Flur gegenüber [der wissenschaftlichen
begleiten.
538
In der Rezension des Novellenbandes DAS GELBE KREUZ von Boris Djacenko, abgedruckt in der vom
Schriftstellerverband der DDR herausgegebenen »Monatsschrift für Literatur und Kritik«, der »NDL« vom
März 1954 heißt in Parenthese »und die Stoffwahl ist bereits ein schöpferischer Akt« (W 8 73).
539
Es ist nicht zu vermuten, dass es sich bei diesem Material um das 1952 bei Rütten & Loening erschienene
Buch HANS GARBE ERZÄHLT handelt, das auf diese Protokolle zurückgeht und das Müller mit großer
Wahrscheinlichkeit als Quelle verwendet haben dürfte. Die Äußerung bezieht sich mit vielmehr auf Brechts
Verarbeitung des Stoffes im Garbe-Fragment (Brecht-BFA 10, 971–979). Zu Brechts Begründung, das
Garbe-Projekt aufzugeben s. a. KOS 229f.)
198
Abteilung des Schriftstellerverbandes, in der der Erzähler für Dramatik zuständig ist] war die
Redaktion der NEUEN DEUTSCHEN LITERATUR […]. Und da habe ich ihm [dem
Redakteur Claus Hammel] LOHNDRÜCKER gegeben, das ging gleich in den Satz. Er hatte
selbst kaum Zeit, es zu lesen, sonst wäre es vielleicht nie gedruckt worden. Das war ein
Glücksumstand. Danach fing das Geraune in der Redaktion an: ›Kann man so was
publizieren?‹, und Hammel fragte mich: ›Kannst du nicht etwas dazu schreiben?‹ Deshalb
habe ich einen Vorspruch geschrieben. Wir hielten das beide für eine Absicherung, aber es
war ein Bumerang, jedenfalls in seiner Langzeitwirkung auf die Kulturabteilung der SED. Es
fehlte die ›offene Parteilichkeit‹; in einem Gutachten stand, wie ich später erfuhr, das Verdikt
›trotzkistisch‹. Im Grunde war es immer noch und wieder der Kampf gegen Brecht und die
Folgen.« (KOS 108) Gibt Müller an, beim Schreiben des Stücks davon ausgegangen zu sein,
einen – wenngleich kritischen – Beitrag zum Aufbau des Sozialismus geleistet zu haben,
macht ihm die Inszenierung des Stücks am Deutschen Theater im Jahr 1988 klar, dass er
1956/57 tatsächlich »die Diagnose eines Krankheitsbildes« (KOS 352) gestellt hatte. 540 Das
Schlussbild Müllers LOHNDRÜCKER-Inszenierung von 1988 zeigt den »Lohndrücker«
Balke (Garbe) im Würgegriff des Parteisekretärs und ehemaligen Widerstandskämpfers
Schorn, den der Aktivist ins Zuchthaus gebracht hatte (»Er hat mir unters Beil geholfen 44«,
W 3 42), weil er ihn, um seine eigne Haut zu retten, der Sabotage überführte. Der »Held der
Arbeit« hatte also auch unter nationalsozialistischem Vorzeichen störungsfrei funktioniert. An
der Peripetie des Stücks fragt Balke Schorn: »Was gewesen ist, kannst du das begraben?« (W
3 45), was letzterer verneint. Im 1968 entstandenen HORATIER hieß es: »In Erwartung des
Feinds ein vorläufiges Beispiel / Reinlicher Scheidung, nicht vergessend den Rest / Der nicht
aufging im unaufhörlichen Wandel.« (W 2 85) Denn: »Was nicht getan wird ganz bis zum
wirklichen Ende / Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang.« (W 2 83) Die
Argumentation der reinlichen Scheidung ist auch für die Konfliktstruktur des
LOHNDRÜCKERS entscheidend: Sabotage war aus kommunistischer Sicht unter den
Bedingungen der faschistischen Diktatur legitimer Widerstand gegen ein inhumanes System,
die Denunziation Schorns durch Balke demzufolge Verrat. Unter den veränderten
Bedingungen des sozialistischen Aufbaus wird umgekehrt der Sabotageakt (Lerka,
Brillenträger) Verrat an der Zukunft, die Denunziation des Saboteurs (durch Balke) zum
Dienst am Fortschritt. Dieser Widerspruch, hervorgerufen durch den gesellschaftlichen
Wandel, verweist auf ein Kernproblem des Stücks, nämlich das Scheitern des Neuen an der
Archaik der Verhaltensmuster. Das Konfliktpotenzial, das jenseits der moralischen Bewertung
der im Stück vorgeführten Verhaltensmuster von der gestrichenen Versöhnungsszene nur
mühsam zusammengehalten wurde zeigt den bodenlosen Abgrund unter dem unter neuen
Klassenbedingungen fortgesetzten Projekt der Befreiung des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit. Das Beharren auf der Differenz erschien Müller 1988
angesichts des nahenden Endes der DDR realistischer, ihre Aufhebung in der ursprünglichen
Schlussszene angesichts der Perspektivlosigkeit des sozialistischen Projekts in Deutschland
als illusorisch und also nicht mehr vertretbar.
540
Auch im Gespräch mit Alexander Kluge 1995 will sich Müller an eine Intention beim Schreiben des
Lohndrückers erinnern können, eine optimistische oder zumindest konstruktive Grundhaltung: »Ich kann
mich an eine Intention beim Schreiben des Stücks erinnern, und die Intention hat mit diesem Text nichts zu
tun oder der Text nichts mit den Intentionen. Es war eine Diagnose, eine sehr pessimistische Diagnose, was
ich dann bei der Inszenierung entdeckt habe. Gedacht war es aber als aufbauend, optimistischer Beitrag zum
Aufbau von irgendwas. Geschrieben habe ich aber ein Krankheitsbild.« (LV 61)
199
1988 ist eine derart radikale Lesart des Stücks zumindest am Deutschen Theater Berlin ohne
größere Einschränkungen durch die Zensurbehörden möglich und aus politischer Sicht keine
Heldentat, zumal Müller aufgrund seines internationalen Renommees inzwischen beinahe
unantastbar ist. Anders sah die Situation für den Nachwuchsdramatiker am Gorkitheater aus.
So wurde die Aufführung von LOHNDRÜCKER 1958 zunächst verboten. »Bei der
Generalprobe war Schluss« (KOS 146). Das Problem sei dabei nicht DER LOHNDRÜCKER
gewesen – »LOHNDRÜCKEr war durch die Aufführung vorher in Leipzig schon gegessen«
(KOS 145) – sondern DIE KORREKTUR. Doch auch eine Überarbeitung der Korrektur
(»Die Korrektur der KORREKTUR ist nur als Dokument interessant«, ebd.) stimmt die
Funktionäre nicht um. Nach einer Versuchsaufführung – »eine geschlossene Vorstellung für
Funktionäre und geladene Gäste« (KOS 147) – wird beschlossen: »Das Stück wird nicht
aufgeführt. Mäde, der Regisseur der Aufführung, hat mir hinterher erzählt, er hätte mich nie
so bleich gesehen wie bei dieser Debatte. Das Ganze hat mich wahrscheinlich tiefer getroffen
als später die Kampagne gegen die UMSIEDLERIN.« (KOS 150) So groß die Enttäuschung
über das Verbot der Inszenierung, so überraschend kommt die Aufhebung des Verbots der
Bezirksleitung durch das Zentralkomitee der SED. »Plötzlich war es dann ein großes Werk
des sozialistischen Realismus. Ich weiß nicht, was da an Machtkämpfen im Hintergrund
gelaufen ist.« (ebd.) Wiederum war Müller »in einen politischen Kontext geraten, den [er]
nicht kannte« (KOS 102), und vor allem: den er nicht zu durchschauen vermochte. An einer
ernsthaften Aufklärung der im Hintergrund ablaufenden Geschehnisse scheint indes kein
Interesse zu bestehen. Der Erzähler verweist die Gründe für den kulturpolitischen
Schlingerkurs der SED-Führung in den Bereich »ökonomisch-politische[r] Machtkämpfe […]
Die wurden ja oft in der Kultur ausgetragen.« (KOS 150f.)
1959 erhalten Inge und Heiner Müller für ihre Arbeiten DER LOHNDRÜCKER und DIE
KORREKTUR den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste. Der Erzähler weiß zu
berichten, dass ursprünglich der Kulturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes
(FDGB) vorgesehen war (»das waren 10.000 Mark mehr«, TA 126), aber aufgrund der
»Polemik von Ulbricht gegen das didaktische Lehrtheater« (KOS 151), das sich unter
anderem gegen die Brecht-Nachfolge als Abirrung vom staatlich verordneten »sozialistischen
Realismus« richtete, von staatlicher Seite nicht in Frage kam. Allerdings konnten mit
veränderten Rahmenbedingungen in der Folge auch LOHNDRÜCKER und KORREKTUR
dem Kanon des »sozialistischen Realismus« im Sinne Ulbrichts zugeschlagen werden, als
Texte, »die die Richtung angeben, in der die Literatur sich weiterentwickeln muss«, denn sie
bemühten sich um »neue Stoffe« 541 . Diese Stoffe waren in der Tat nicht schwer zu finden,
allerdings passten sie in den seltensten Fällen ins Bild der Partei. Als wenig glorreiche
Ausnahme, die als Dokument umso interessanter erscheint, mag der von Müller später als
»Auftragswerk« (das waren im Übrigen auch LOHNDRÜCKER und KORREKTUR)
verleugnete KLETTWITZER BERICHT herhalten, der im Grunde nichts anderes darstellt als
eine apollinische Sichtblende (»Hymne«, KOS 144) gegen die dionysischen Exzesse brutaler
Wirklichkeit (»finstere Geschichten über dumpfe Verwicklungen, Sabotage, Stasi«, ebd.). »Es
war der erste Text, der in der Parteizeitschrift EINHEIT lobend erwähnt wurde, weil ich mich
auf dem Weg zum sozialistischen Realismus befände.« (ebd.)
541
Walter Ulbricht: Rede vor Wissenschaftlern, Lehrern und Künstlern in Halle, 21. April 1958 (zitiert nach W
3 541)
200
Noch im Auftrag des DDR-Rundfunks hatten Inge und Heiner Müller 1957 die Großbaustelle
»Schwarze Pumpe« besucht, um für ein Hörspiel zu recherchieren. Müller beschreibt den
Eindruck in seiner Autobiografie durch den Filter seiner literarischen Arbeiten (DER
LOHNDRÜCKER, DIE KORREKTUR, DIE UMSIEDLERIN). »Damals war ›Schwarze
Pumpe‹ das größte Industrie-Projekt der DDR. Das Ziel war, die DDR autark zu machen. Auf
der Baustelle ging ein Volkslied um: ›Der Pole kriegt die Kohle, der Tscheche kriegt das
Licht, der Deutsche kriegt nischt!‹ [s. a. W 3 113 u.133] Die hatten das da schon erfasst.
›Schwarze Pumpe‹ war das erste Renommierobjekt von Ulbricht, das zweite war dann das
Eisenhütten-Kombinat Ost, ein Stahl- und Walzwerk. Wir waren zwei Wochen dort. Wir
trafen dort einen Haufen von Abenteurern, von Goldgräbern, sie nannten sich Goldgräber.
Kriminelle, Asoziale, ein wüster Haufen, nomadische Figuren, die von einer Großbaustelle
zur andern zogen, auch alte Nazis, die einfach nur für viel Geld das Ding dort aus dem Boden
gestampft haben, Anarchisten, Figuren wie Fondrak aus der UMSIEDLERIN, die in allen
meinen Stücken auftauchen. Keine domestizierten Industriearbeiter, eher entwurzelte Bauern
oder Kleinbürger.« (152f.) Wie bereits in LOHNDRÜCKER, stellt die Arbeiterschaft der
KORREKTUR keine homogene Masse dar, sondern setzt sich aus »roten« und »braunen«
Arbeitern, ehemaligen Beamten, Wehrmachtsangehörigen, Systemgegnern oder schlichtweg
Asozialen zusammen. Sogar innerhalb der Gruppe der Befürworter des Sozialismus klaffen
die Haltungen und Ansichten in Müllers frühen Stücken auseinander zwischen pragmatischen
Parteiarbeitern, Karrieristen, kritischen Intellektuellen und enttäuschten Veteranen
kommunistischer oder sozialdemokratischer Couleur. Dennoch bewirkt die Atomisierung der
Haltungen und Interessen keinen Naturalismus sondern wird in DIE KORREKTUR in eine
strenge, lehrstückähnliche Ästhetik (als Chor fungiert hier das Publikum der
Versuchsaufführung, der freilich noch viel zu lernen hat 542 ) zurückgenommen. Zu bewähren
hat sich in Korrektur vor allen Dingen das Fortschrittsbewusstsein, dem die historisch
begründeten Moralvorstellungen geopfert werden müssen. Der Parteisekretär, Sprachrohr der
Notwendigkeit im Dienst des Aufbaus des Sozialismus, ermahnt den alten Kommunisten und
Brigadier Brehmer, der (in der ursprünglichen KORREKTUR) in die »Produktion« relegiert
worden ist, weil er »einem Nazi in die Fresse geschlagen« (W 3 111) hat, dass er sich auf der
Großbaustelle erst recht zu bewähren hätte (denn auf ihr wimmle es von Zeitgenossen, die
nationalsozialistisches Gedankengut tradieren). »Der Sozialismus wird nicht nur mit
Sozialisten aufgebaut, hier nicht und woanders nicht, am wenigstens hier. Das Kombinat ist
eine Großbaustelle, kein Musterbetrieb, und wir müssen schnell baun. Unsre Industrie braucht
Strom und Kohle und beides braucht sie schnell. Du kommst nicht durch, wenn du dich nicht
an die Partei hältst.« (W 3 111) Doch Bremer ist außerstande von seinen (moralischen)
Überzeugungen abzuweichen und beschimpft wiederum einen (für den Aufbau wichtigen)
Ingenieur als Nazi, was innerhalb des gegebenen Bezugssystems den Tatsachen entspricht,
sich aber hinsichtlich der notwendigen Produktion des Neuen als unkonstruktiv erweist: Der
542
Die Kritik, die im Anschluss an diese Versuchsaufführung geäußert wurde und zur »Korrektur der
KORREKTUR« führte, fasst Müller in einer ZWISCHENBEMERKUNG in der Zeitschrift »NDL« selbst
zusammen. Dort heißt es u. a.: »Die Selbstkritik der Autoren ist in die exekutive Phase getreten: Die
Korrektur wird korrigiert. Die neue Literatur kann nur mit dem neuen Publikum entwickelt werden. […] Die
Aufführung bewirkte Depression statt, wie erwartet, Aktivität. Was nicht auf das Konto des Stücks geht:
Offenbar nahm sogar dieses Publikum zu der Vorführung seiner Schwierigkeiten auf dem Theater eine
andere(passive) Haltung ein als zu ihrem Vorkommen in der Wirklichkeit. […] Zu untersuchen bleibt, wie
der in Korrektur unternommene Versuch, eine geschlossene Form herzustellen, weil verfrüht, die Inhalte
beschneidet, wie der ästhetische Vorgriff einen politischen Rückschlag auslöst.« (W 8 136ff.)
201
(dringend gebrauchte) Ingenieur droht (in der ursprünglichen KORREKTUR) mit Kündigung,
was eine erzwungene formale Entschuldigung und die erneute Relegation Brehmers zufolge
hat. Damit hat Brehmer am Ende des Stückes im Sinne Brechts FATZER KOMM, die Tiefe
erreicht, derer es bedarf, sich zum Nutzen der Gesellschaft zu neuen Höhen aufzuschwingen
(»Auf dem Grunde / Erwartet dich die Lehre« 543 ). Sein Widerpart ist jedoch nicht die
Nazipräsenz in der Bauleitung, sondern der Parteisekretär, sein eigentlicher Lehrmeister,
dessen Bewusstsein bereits eine Stufe über den politisch-weltanschaulichen Konflikten
operiert und seine subjektiven Impulse rein pragmatischen Gesichtspunkten für den Aufbau
des Sozialismus unterordnet. »Damals dachte ich: wir müssen jede Hand abhacken, die sich
für Hitler gerührt hat. Jetzt seh ich, wie das Kombinat gebaut wird, auch mit solchen
Händen.« (W 3 123 u. 140f.) Er hat die Dialektik von Erreichtem und noch zu Erreichendem
bereits verinnerlicht und ist in der Lage, die noch vorhandenen Widersprüche auf einen
utopischen Fluchtpunkt zu beziehen. »Wir können es uns leisten, den Sozialismus auch mit
Leuten aufzubauen, die der Sozialismus nicht interessiert. Soweit sind wir. Wir können nicht
auf sie verzichten, soweit sind wir noch nicht. Und wenn wir soweit sind, ist es nicht mehr
nötig, weil sie sich interessieren werden für den Sozialismus.« (W 3 124 u. 141) Die
moralischen Bedenken Bremers, der von dem Ideal der reinen Lehre nicht abzusehen vermag,
werden kommentiert von der ERZÄHLUNG DES INGENIEURS MARTIN E., die in der
»Korrektur der KORREKTUR« fehlt. »Beim Menschen geht der Umbau langsamer. Ich weiß,
was los ist, abends in den Kneipen: Das sitzen die wandernden Goldgräber. Sie gehen immer
der Nase nach. Geld riechen sie auf hundert Kilometer. Sie sind abonniert auf die
Großbaustellen. Sie grinsen über die Schwierigkeiten. Sie verdienen viel und trinken mehr,
gehen heim und schimpfen im Vorbeigehn auf die Transparente, auf denen Sozialismus steht,
und stehn früh an ihrem Platz und baun mit schwerem Schädel am Sozialismus. […] Beim
Menschen geht der Umbau langsamer.« (W 3 115) Es sind wohl genau diese ambivalenten
Figuren, die »wandernden Goldgräber« 544 , die Müller an dem Stoff interessieren,
beziehungsweise die den Stoff in Müllers Augen überhaupt interessant erscheinen lassen. Sie
sind der Sand im Getriebe der reinen Lehre, der Grund der notwendigen Umgestaltung und
zugleich tragen sie den Keim des Scheiterns in das utopische Projekt. In ihnen besteht der
Einspruch der Körper gegen die Ideen, »das Korrektiv der Politik« (LN 19). Die Arbeit an der
neuen Gesellschaft wird von den alten Menschen betrieben. Erst im Verlauf ihrer Arbeit kann
dieser Widerspruch überwunden werden – oder er überwindet sie.
Ein ähnlich gelagertes Interesse wie an den »nomadisierende[n] Bauarbeiter[n]« (TA 134) auf
den Bauplätzen des Sozialismus, die für Müller in erster Linie Schauplätze sind, äußert Müller
in KRIEG OHNE SCHLACHT an der Übersetzung Pogodins ARISTOKRATEN gehabt zu
haben, die er als Dramaturg für das Maxim-Gorki-Theater übertrug. Das Stück beleuchtet mit
dem Gulag einen bizarren, mithin längst »überholten« Ausschnitt sozialistischer
Frühgeschichte, an den man nicht gern erinnert sein wollte. Obwohl Müller auf eine
Zuspitzung und Aktualisierung der Widersprüche des in den dreißiger Jahren entstandenen
Stücks verzichtete, wurde die Aufführung auf die Intervention der sowjetischen Botschaft hin
unterbunden. Auf die Erwähnung dieses (neuerlichen) Verbots scheint Müller in der
Autobiografie verzichten zu können (s. a. W 7 842). »… das war ein Stück über die ersten
543
Brecht-BFA 10, 512
544
Der Terminus erscheint zugleich als Referenz an die frühkindliche und nie vergessene Begeisterung für die
»Indianerliteratur« (s. a. Thomas Kramer: Heiner Müller am Marterpfahl. Bielefeld 2006)
202
Straflager in der Sowjetunion am Eismeerkanal, die natürlich nicht Straflager hießen. Es
waren die ersten von der Tscheka bewachten Lager, wo Tausende umgekommen sind. Das
Stück von Pogodin beschreibt das eher lustig als eine Umerziehung von Kriminellen zu
fröhlichen Bolschewiken, trotzdem wurde die Aufführung verboten. Mich hat das interessiert
wegen des Themas, das hier zum ersten Mal vorkam, auch wegen der Figuren, der
Kriminellen, Nutten, Zuhälter. Ich habe eine Fassung gemacht mit einem – von heute aus
betrachtet – blamablen Prolog, der aber Gott sei Dank verloren ging. Ich erinnere mich noch
an ein paar Zeilen: »Sie sehn in unserm Musentempel / heut mit Erlaubnis ein Exempel / wie
die Sowjetmacht mit Gaunern verfuhr / im Jahr 23 in freier Natur …« (KOS 155f.) In einer
Notiz zum (nicht – oder eben nur in dieser Form – erhaltenen) Prolog des Stückes heißt es:
»Prolog: / Stück = Argument gegen die Ansicht: Kommunismus gut [und] schön, aber die
Menschen sind nicht so // Kommunismus schön [und] gut / aber die Köpfe passen nicht [in
den Hut]« 545 . Mit Blick auf das Stück scheint das eher zynisch: »Die Schere« 546 zwischen
gesellschaftlichem Anspruch und historischer Realität spiegelt die Konflikte und Figurationen
Müllers Großbaustellen in die stalinistischen Arbeitslager zurück: Der Gulag als
Schmiedestätte des Neuen Menschen.
Die Uraufführung der UMSIEDLERIN durch das Studententheater der Hochschule für
Ökonomie in Berlin im Rahmen der Internationalen Studententheaterwoche am 30. September
1961, nur wenige Wochen nach der Schließung der deutsch-deutschen Grenze, ist zugleich
die letzte Aufführung des Stückes bis 1975. Unter dem Originaltitel durfte es erstmals 1985
wieder über die Bühne gehen. Das Verbot ist für Müller ein Verhängnis. Es bedeutet zugleich
die zwölfjährige Bühnen-Abstinenz für seine Stücke in Theatern der DDR. Mit der
Beschreibung der »UMSIEDLERIN-Affäre, 1961« erreicht der Text der Autobiografie seine
Peripetie. Dem entspricht die Stellung etwa in der Mitte des Buches, gleichwohl diesem
neunten von dreißig Buchkapiteln noch mehr als doppelt so viele – in der Mehrzahl allerdings
recht kurze – Kapitel folgen. Im Zentrum des Kapitels wiederum findet sich die Darstellung
der Versammlung des Schriftstellerverbandes, die Müllers Ausschluss aus dessen »elitehaften
Reihen« (KOS 404) infolge der Aufführung des Stücks DIE UMSIEDLERIN als Farce
wiedergibt. Es erstaunt nicht, dass gerade diese zentrale Szene sehr stark mit wörtlicher Rede
und den Mitteln szenischer Kommunikation arbeitet. Überhaupt scheint sich das Kapitel an
der Komödienstruktur des Stückes, auf das die Kapitelüberschrift bezug nimmt, zu
orientieren. Der Autor bedient sich aus dem dramatischen Formenarsenal des Stückes selbst,
um der Darstellung der Geschehnisse rund um die Aufführung der UMSIEDLERIN größere
Plastizität zu verleihen und – wie es im Text einer früheren Bearbeitungsstufe heißt – »es ist
wahrscheinlich richtiger, die widersprüchlichen Faktoren einer Situation nebeneinander
stehen zu lassen« (TA 299). Gerade in den Passagen, die sich mit der Abstrafung des
Stückautors Müller und des Regisseurs der Uraufführung, B. K. Tragelehn, befassen, entsteht
oft der Eindruck einer komisch-grotesken Farce, worauf der Terminus »Affäre« in der
545
Arbeitsfassung des Regisseurs der Inszenierung, Thomas Vallentin, Privatbesitz
546
ebd.
203
Überschrift bereits hindeutet. Auch korrespondiert die große Anzahl der im Kapitel
auftretenden, stark typisierten Figuren mit der umfangreichen Figurenliste der
UMSIEDLERIN. Dabei bezieht das Kapitel seine groteske Wirkung nicht aus einer im
Bericht über die Ereignisse hinzugefügte Übertreibung, sondern ist allein der Tatsache
geschuldet, dass die Ereignisse aus der zeitlichen Perspektive ihrer Beschreibung kaum mehr
verständlich und in ihrer Auswirkung daher geradezu monströs erscheinen: Die Parteistrafe
für den Regisseur, der sich in der »Produktion«, dass heißt im Fall Tragelehns, im Klettwitzer
Tagebau, zu bewähren hat, wie die »Aristokraten« in Pogodins gleichnamiger Komödie, die
Müller wenige Jahre zuvor im Auftrag des Gorki-Theaters übertragen hatte, auf der einen
Seite, auf der anderen der Ausschluss des Autors aus dem Berufsverband und damit der
Entzug jeglicher Publikationsmöglichkeit oder Bühnenpräsenz seiner Arbeiten.
Das Kapitel setzt mit der Etablierung einer Traditionslinie durch den Erzähler ein, deren
temporalen Endpunkt das Stück DIE UMSIEDLERIN ODER DAS LEBEN AUF DEM
LANDE bildet. Die Linie beginnt mit Shakespeares TITUS ANDRONIKUS, wird fortgesetzt
mit Schillers und Goethes Sturm-und-Drang-Stücken DIE RÄUBER und GÖTZ VON
BERLICHINGEN, Kleists DIE FAMILIE SCHROFFENSTEIN, Grabbes HERZOG
THEODOR VON GOTLAND und – als unmittelbarer Vorläufer Müllers UMSIEDLERIN –
Brechts spätexpressionistischem BAAL. Mit dieser Kanonisierung wird die UMSIEDLERIN
aus dem primär politischen Kontext befreit, in den sie sich durch die Folgen der Uraufführung
nahezu unauslöschlich eingeschrieben hat und auf seine primäre ästhetische Qualität eines
nunmehr selbst im maßgeblichen Kanon verorteten dramatischen Textes zurückgeführt. Dabei
bleiben alle hier aufgezählten Texte auf ein politisches Feld bezogen, indem sie aufgrund
ihrer Entstehung in Zeiten politischen Umbruchs jeweils eine gesellschaftliche Sprengkraft
bargen. Der vorläufige Endpunkt bezieht sich indes nicht auf die ästhetische Unmöglichkeit
einer Fortsetzung dieser Linie in die Gegenwart und Zukunft. Vielmehr ist es die (unsere)
Gegenwart selbst, die sich der Fortsetzung der Linie sperrt, indem die gesellschaftlichen
Bedingungen in der Jetztzeit der Erzählung ein Fortschreiben der Tradition, die eine Tradition
emanzipativen Bestrebens ist, wenig sinnvoll erscheinen lassen: »Das Problem mit einer
repressiven Kulturpolitik ist ja – damals im Westen und jetzt überall in Deutschland auf
andere Weise durch den Druck des Kommerzes –, dass keiner dazu kommt, sich
›auszukotzen‹. Und das ist ja die Voraussetzung für ein dramatisches Œuvre, dass man
wenigstens einmal die Gelegenheit hat, den ganzen ›Glanz und Schmutz‹ seiner Seele von
sich zu geben. […] in einer repressiven politischen Struktur kommt man schwer dazu, da wird
alles schnell verbindlich und orientiert auf ein Bezugssystem.« (KOS 160) Zwar ermöglichte
der Zeitraum der Entstehung des Stücks die ihm innewohnende gesellschaftliche Sprengkraft,
zum Zeitpunkt der Aufführung hingegen kehrte sich dieses Potenzial nur noch gegen die
Produzenten.
Auf den Gründervater der von Müller konstruierten Rezeptionslinie, Shakespeare, nehmen
bereits die Produktionsverhältnisse Bezug: »Ich schrieb in unmittelbarer Verbindung mit der
Probenarbeit. Ich habe die Szenen geschrieben, habe sie auf der Probe angesehen, neu
geschrieben. Das fängt an mit einer ganz zögernden Prosafassung, bis ich auf den Vers kam.
Das war eine Befreiung, das ging immer mehr weg vom Naturalismus. Am Anfang klebte ich
am Milieu.« (KOS 260f.) Im Gegensatz zu seinem Stück DIE KORREKTUR (s. a. KOS 143)
ist Müllers UMSIEDLERIN demzufolge keine »Schreibtischarbeit«. Die kollektive
Entstehung und spätest mögliche Fixierung von Text und Aufführung entspricht dem Ideal
204
»einer möglichen Aufhebung des Spezialistentums unter sozialistischen Bedingungen« 547 und
einer Vorstellung vom Theater als »Laboratorium sozialer Fantasie« (W 8 176), wie es Müller
seit den siebziger Jahren für sich reklamierte. Die Funktion des Autors besteht konkret in der
Ablösung der Figurenrede von der jeweiligen Figur, die Rücknahme der sprachlichen
Intention in den Vers und schließlich in der Befreiung des Textes von einem vordergründig
empirischen Anlass. Die Herstellung eines solchen, im Falle der UMSIEDLERIN über einen
Zeitraum von zwei Jahren angelegten sozialen Experiments, birgt jedoch nicht nur die Gefahr,
dass die Laienschauspieler die Lust verlieren, ihre Freizeit in einem nie enden wollenden
Probenprozess zu erschöpfen. Zugleich bedeutet die zäh gegen äußere Versuche der
Einmischung und Kontrolle behauptete Isolation auf der künstlichen »Insel« der
künstlerischen Arbeit die bewusste Ausblendung der aktuellen politischen Vorgänge, die zwar
auf der Materialebene eine Rolle spielen können, ihre empirische Relevanz jedoch gänzlich
verloren zu haben scheinen. »Ich schrieb mit dem Gefühl der absoluten Freiheit im Umgang
mit dem Material, auch das Politische war nur mehr Material. Es war wie auf einer Insel, es
gab keine Kontrolle, keine Diskussion über den Text. Wir haben einfach probiert, und ich
habe geschrieben. Der Spaß bestand auch darin, dass wir böse Buben waren, die dem Lehrer
ins Pult scheißen.« (KOS 161f.) Die ästhetische Blindheit, die sich für die Produzenten als
politischer Bumerang erweisen sollte, ist ein poetischer Glücksfall. In keinem anderen Stück
Müllers wird mit ähnlichem Enthusiasmus ›dem Lehrer ins Pult geschissen‹, wie in der
UMSIEDLERIN. Ja, es werden gleich ganze »Eimer [Scheiße] ausgekippt« (KOS 160), mit
der Folge, dass der Boden, der bestellt wird, gut gedüngt ist. Das Stück ist daher alles andere
als »antikommunistisch« und »antihuman« – wie die späteren Vorwürfe behaupten –, denn es
führt den menschlichen Anspruch auf Selbstverwirklichung radikal vor, die Körper der
Menschen als Argument für die und Einspruch gegen die Utopie. DIE UMSIEDLERIN lebt
nicht nur von der betonten Leiblichkeit, seit ihrer ›Erfindung‹ im antiken Griechenland
Bedingung der Komödie 548 , sie macht sie auch zum Thema. Vom sinnesfeindlichen
protestantischen Preußentum der DDR muss sowohl diese Haltung, die Grundbedingung der
Komödie ist – Katharsis infolge der Verlachung –, als auch die offene Darstellung und
Thematisierung der Körperlichkeit, von der der Mensch auch im Kommunismus nicht
absehen kann, als Hybris der Produzenten und Angriff auf die vermeintliche Unbescholtenheit
der sozialistischen Funktionäre missverstanden werden.
Die Befreiung von der im Zusammenhang mit der Entstehung des Stücks gleich mehrfach die
Rede ist, hat ihren Grund in zwei außerhalb des Stückes liegenden Ursachen. Zum einen legt
die mit der umfassenden und vollständigen Kollektivierung der Landwirtschaft im Frühjahr
1960 nunmehr endgültig abgeschlossene Bodenreform ein reales Bezugsfeld des Textes
endgültig zu den Akten und lässt die Handlung des Stücks als »historisch« im Hinblick auf
die Verhältnisse erscheinen, die dem Stück zugrunde liegen. Andererseits bewirkt die
Abriegelung der Westgrenze ein produktives Missverständnis: Viele Intellektuelle und
Künstler in der DDR verstanden die Schließung der Grenze als Signal zur inneren Öffnung,
als Hoffung auf einen umfassenden Dialog aller gesellschaftlichen Schichten – »eine der
547
Streisand 1986, 1358
548
In der auf den Fruchtbarkeitskultus zurückgehenden attischen Komödie trugen die Darsteller Phalli,
machten mit unanständigen Gebärden auf ihre leiblichen Bedürfnisse aufmerksam und zogen die jeweils
amtierende Obrigkeit in den Schmutz.
205
zahlreichen linken Illusionen in Bezug auf diesen Staat.« 549 Die Mauer stellte eine »ganz neue
Möglichkeit zu arbeiten« (KOS 487) dar, wie Müller im Gespräch mit Thomas Assheuer
rückblickend erklärt. »Die Mauer als Schutz gegen das Ausbluten, und nun konnte man im
Land kritisch und realistisch mit allem umgehen. Und zur gleichen Zeit sagte Otto Gotsche,
der Sekretär von Ulbricht: Jetzt haben wir die Mauer, und jetzt werden wir jeden daran
zerquetschen, der gegen uns ist.« (ebd.) Von weit wichtigerer, weil ästhetisch weitreichender
Bedeutung, ist vor diesem Hintergrund die Ersetzung der Prosa durch den Vers. Der Vers
bewirke, wie Marianne Streisand feststellt, das Herausfallen aller »überflüssigen, unnötigen
Reden und Vorgänge« 550 . Scheinbar gewinnt das Stück erst mit dem Vers einen Überbau, der
in der Lage ist, die divergierenden Elemente der fabellosen Handlung zusammenzuhalten.
»Die Figuren wurden ganz auf ihre sozial repräsentative Rolle reduziert; die Beziehungen
zwischen ihnen verloren jede nur private Dimension. Die historische Tragweite der Vorgänge
wurde dadurch hervorgehoben. Über den Vers gelang es, die ›große Linie‹ herzustellen.« 551
Dabei geht die Literarisierung volkstümlicher Sprache im Vers – bis hin zur Zote – ebenfalls
auf Shakespeare zurück und nicht, wie viele Interpreten betonen, hauptsächlich auf Brechts
KATZGRABEN-NOTATE 552 .
In KRIEG OHNE SCHLACHT datiert Müller die ebenso schicksalhafte wie politisch
folgenschwere Uraufführung (die historischen Quellen nennen den 30. September 1961) um
knappe drei Wochen zurück. »Am 11. September war die Premiere« (KOS 165). Damit bringt
er die Premiere zeitlich in näheren Zusammenhang mit dem Mauerbau, der einen wichtigen
Fluchtpunkt der Konfliktstruktur des Kapitels darstellt. »… davor gab es den 13. August
1961, und das war natürlich entscheidend. Danach fing der Zentralrat an, sich genauer
anzusehn, was wir dort machten. Die Inszenierungsarbeiten liefen, während die Mauer gebaut
wurde.« (ebd.) Zugleich verweist das ›falsche‹ Datum auf ein anderes – zum Zeitpunkt der
Entstehung nicht absehbares – Ereignis mit katastrophalen Folgen, das Müller mit Sicherheit
als eine Folge des Mauerfalls und der mit ihr verschwundenen Zweiten Welt beschrieben
haben würde, den 11. September 2001. Die Verschwörungstheorien, die sich bereits heute um
dieses Ereignis ranken und seine historische Dimension in den Mythos zu verlagern scheinen,
verweisen auf die Struktur eines Systems, das die Kategorie des Schicksals durch jene der
Verschwörung ersetzt hat. Darin gleichen sich die Regierung der DDR und die amerikanische
(wie jede andere ›westliche‹) ebenso wie in der Funktionsweise ihrer Geheimdienste, die die
Paranoia für das ›Seelenleben‹ des Staatsapparates kultiviert haben.
»Außerdem gab es einen Kontext: In der Akademie der Künste lief eine Ausstellung junger
Künstler, die ein Skandal wurde, in Leipzig gab es ein Kabarett-Programm der
›Pfeffermühle‹. Diese Dinge wurden nun plötzlich als ein Bermudadreieck, als Umsturzplan
gesehen. Die Funktionäre dachten ja immer in Verschwörungen, da gab es keinen Zufall. Die
Verschwörung begann schon damit, dass ich kein Expose abgeliefert hatte.« (KOS 165)
549
Streisand 1991, 430
550
Streisand 1986, 1375
551
ebd.
552
Brecht hatte 1953 im Zuge der KATZGRABEN-Inszenierung von Strittmatter als dem ersten deutschen
Dichter gesprochen, der »eine jambisch gehobene Volkssprache« (Brecht-GW 16, 777) verwende; im
Gegensatz etwa zu Kleist: »Die Bauern im ZERBROCHENEN KRUG sprechen das Deutsch ihres
Schöpfers Kleist.« (ebd.)
206
Neben der Ausstellung in der Akademie der Künste Berlin553 und dem Programm des
Kabaretts der Universität Leipzig »Rat der Spötter« anlässlich der Leipziger Herbstmesse 554 ,
das bereits vor der Aufführung verboten wurde und mehrere Verhaftungen nach sich zog,
weist das ZK-Mitglied (»der ehemalige SA-Mann«, KOS 171) Siegfried Wagner in einem
Brief an Walter Ulbricht auf ein weiteres an der Verschwörung beteiligtes Glied in der Kette
»feindliche[r] Kräfte« 555 hin. So hatte die vom Schriftstellerverband der DDR
herausgegebene Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« Beiträge gedruckt, die im Nachhinein
als Beweis für die Unzuverlässigkeit des DSV angesehen wurden. 556 Das Fehlen eines
Exposés für die in Karlshorst im Entstehen begriffene Arbeit und die wiederholte
Verzögerung bei der Textlieferung durch Heiner Müller, irritiert nicht nur gelegentlich die
Darsteller, die ihre Texte nicht lernen können, sondern führt auch dazu, dass das Stück zur
Aufführung nicht fertig wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass DIE UMSIEDLERIN
auch zu einem späteren Aufführungszeitpunkt nicht fertiggestellt worden wäre. Die offene,
von einem vordergründigen Ziel im Sinne eines abschließbaren Werkes absehende
Arbeitsweise entsprach schließlich dem Experimentalcharakter des gesamten Projekts. Von
den Behörden wurde dieser Fakt als Beweis der gezielten Diffamierung der Verhältnisse »auf
dem Lande«, sprich: der DDR (»Das Leben auf dem Lande steht für das Leben im Land.« 557 )
herangezogen. »Das galt aber nachher als Beweis, als der Skandal da war, dass ich etwas zu
verheimlichen hatte, ihnen in tückischer Absicht die Konzeption vorenthalten hätte.« (KOS
166) Vom Erzähler in KRIEG OHNE SCHLACHT wird die Tatsache des Nichtfertigwerdens
allerdings auf einen asozialen Grundzug im Arbeitsverständnis des Dramatikers zurückgeführt
und im Bild des pfändenden Gerichtsvollziehers veranschaulicht. »Termine habe ich nie
gehalten. Die einzige Möglichkeit, mich zu Terminen zu verhalten, war für mich immer, dass
ich sie überschritt. Das Geld wurde zurückgefordert, der Gerichtsvollzieher kam, aber es war
dann meine Sache. Ich konnte nicht anders damit umgehen.« (KOS 161) Diese an Fondraks
Hedonismus (»die Welt muss verbraucht werden«, W 3 253) gemahnende Haltung wird hier
geradezu als Voraussetzung der eigenen Produktivität dargestellt.
553
»Die Ausstellung ›Junge Kunst‹ in der Akademie der Künste, die Genosse [Fritz] Cremer eröffnet hat, zeigt
im wesentlichen Werke des Teils junger Künstler, der von modernistischen Auffassungen stark beeinflusst
ist. Der überwiegende Teil der ausgestellten Werke beweist die weitgehende Loslösung dieser Künstler vom
neuen Leben und ist objektiv eine Verneinung der Prinzipien des sozialistischen Realismus.« (Brief von
Siegfried Wagner, Abteilung Kultur im ZK der SED, an Walter Ulbricht vom 5. Oktober 1961, zitiert nach
Braun 1996, 132ff., hier 133)
554
»Die Vorgänge am Studenten-Theater der Hochschule für Ökonomie Karlshorst sind ein außerordentlich
ernstes Signal, da offensichtlich gegnerische Kräfte in ihrer Arbeit sich nach dem 13. August besonders auf
die Hochschulen konzentrieren. Das beweist auch das Programm des Kabaretts der Universität Leipzig ›Rat
der Spötter‹ zur Leipziger Herbstmesse. Durch das Eingreifen der Bezirksleitung Leipzig war es möglich,
den Auftritt dieses Kabaretts während der Herbstmesse zu verhindern. Gegen die ideologischen
Haupträdelsführer wurde mit aller Schärfe vorgegangen.« (ebd.)
555
ebd.
556
»Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen muss nochmals darauf verwiesen werden, dass das September-
Heft der Zeitschrift ›Neue Deutsche Literatur‹ in der überwiegenden Zahl seiner Beiträge keineswegs den
politischen und künstlerischen Anforderungen entspricht.« (ebd.) Neben einer gereimten Satire auf den
DDR-Literaturbetrieb von Paul Wiens (»ABGELEITETES UND WUNSCHGEMÄSS REINGEREIMTES
ÜBER DEN INTERNEN ZUSAMMENHANG VON SATIRE UND HEITERER MUSE«, NDL 9/1961,
3f.), die das September-Heft der Zeitschrift »NDL« eröffnet, finden sich in dieser Ausgabe Beiträge von Jan
Koplowitz, Peter Hacks, Franz Fühmann, Karl-Heinz Tuschel, Karl Stitzer, Lothar Kusche, Jupp Müller und
Herausgeber Wolfgang Joho.
557
Heiner Müller über das Stück im Programmheft der Uraufführungsinszenierung.
207
Dass Müller und Tragelehn mit ihrer Arbeit dem Lehrer nicht nur ›ins Pult geschissen‹ hatten,
sondern sich tatsächlich auf dem Weg befanden, eine Bombe zu legen, deutet auch die
Autobiografie an. Als point of first attack dient der Abdruck einer Szene aus dem Stück im
»Sonntag«, der Wochenzeitung des Kulturbundes. Danach, so wird geschildert, gab es auf
Druck eines der Protagonisten der späteren Abstrafung, dem Leiter der Kulturabteilung beim
ZK der SED (vermutlich Siegfried Wagner, der aber in diesem Zusammenhang nicht
namentlich erwähnt ist), eine »besorgte Anfrage« (KOS 162), die dazu führt, dass ein
Szenendurchlauf vor der Kaderleitung der Hochschule zustande kommt. Die anschließende
Diskussion spitzt der Erzähler zu, indem er den Schriftsteller Boris Djacenko als Deus ex
Machina ins Spiel bringt (»Wir hatten Djacenko nicht vorgestellt, das wurde uns später als
Bösartigkeit ausgelegt« 558 ), dem es gelingt, die Bedenken der Hochschulleitung in blauen
Dunst aufzulösen (»… der Russe, den wir eingesetzt hatten, um einen Rauchvorhang zu
erzeugen. Das war alles Verschwörung«, KOS 166). Kurz vor dem Termin der Uraufführung
veranlasst der neue politische Kontext des Mauerbaus den Zentralrat der FDJ, sich plötzlich
für die Arbeit des Laientheaters zu interessieren. »Der Zentralrat kriegte Angst.« (KOS 167)
Doch es ist zu spät, die Aufführung abzusetzen (»Ihnen stand aber diese Studenten-
Theaterwoche bevor, also etwas Internationales, was sich nicht abblasen ließ«, ebd.) Aus
Protest der Grenzschließung hatten bereits mehrere Ensembles aus Westdeutschland und
anderen Staaten ihre Teilnahme abgesagt. Die Staatsführung hatte aufgrund der politischen
Situation ein starkes Interesse daran, Normalität zu demonstrieren.
Um den befürchteten Imageschaden durch die Aufführung in möglichst engen Grenzen zu
halten, seien diejenigen Zuschauer, auf die der Zentralrat unmittelbaren Zugriff hatte, im
unmittelbaren Vorfeld der Aufführung instruiert worden, die Aufführung durch ihren
lautstarken Protest, wenn nicht zu verhindern, so doch grundsätzlich zu sabotieren. Doch die
Strategie der FDJ-Leitung ging nicht auf, »unter anderem wegen Manfred Krug, der spielte
eine führende Rolle. Er saß vorn in der Mitte, ein Kleiderschrank, und lachte grölend über
jeden Witz. Einige Genossen mussten dann auch lachen und haben nicht mehr protestiert,
dadurch wurde es zur Katastrophe.« (KOS 168) Der Erzähler verdeutlicht, dass es die ebenso
beabsichtigte wie unwillkommene Wirkung der Komödie war, die zum Anlass der folgenden
»Katastrophe« wurde. Im Bericht eines inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit heißt es
dazu: »Es ist interessant, dass eine Reihe von Schauspielern Berliner Bühnen […] sich
köstlich amüsiert haben unter lautem Lachen und auch im Saal von einer großen Anzahl von
Freunden die widerwärtigen Beschimpfungen unserer Staatsmacht, die hässlichen Szenen, die
moralisch schmutzigen Szenen, die enthalten sind, mit lachen quittiert wurden.« 559 Dass
genau dies die (ursprüngliche) Funktion einer Komödie ist, scheint dem Informanten nicht
bewusst gewesen zu sein.
»Danach gab es die rituelle Premierenfeier, und Hacks kam zu mir und sagte ›Eine große
Komödie, aber dramaturgisch müssen wir harte Worte reden. Politisch werden sie dich
totschlagen.‹ Er hatte damit recht, und er hatte auch eine gute Begründung: ›Sie werden dich
politisch totschlagen, weil du sie entschuldigst.‹ / An den Nebentischen sagten die Kenner der
Sachlage: ›Die können jetzt bald die Bautzener Gefängnisfestspiele eröffnen.‹ Wir wunderten
558
KOS 163, s. a. die Anmerkung B. K. Tragelehns im Materialanhang zu KRIEG OHNE SCHLACHT (KOS
420)
559
zitiert nach Braun 1996, 104
208
uns nur, dass die Studenten, die gespielt hatten, einer nach dem anderen verschwanden. Die
haben sie dann in der gleichen Nacht versammelt. Sie mussten die ganze Nacht lang ihre
Texte aufsagen, sie konnten sie ja alle noch aus wendig, und sie mussten selbst herausfinden,
warum das konterrevolutionär war, was sie dort getan hatten, antikommunistisch,
antihumanistisch und so weiter. Die ganze Nacht haben sie denen das Gehirn gewaschen. /
Kurz, sie sind alle umgefallen.« (KOS 168f.) Die szenische Darstellung der Ereignisse ist
paradigmatisch für die Textarbeit Müllers im UMSIEDLERIN-Kapitel, dass – ähnlich Kleists
ZERBROCHNEM KRUG – zugleich als Komödie und als Prozess angelegt ist, dem der
Rezipient als Schöffe beiwohnt. Mit der wiederholten Warnung vor dem vermeintlichen
›politischen Totschlag‹ durch den Dramatikerkollegen und Widerpart, Peter Hacks, wird die
Erwartungshaltung gegenüber den dramatischen Folgen der Aufführung Müllers
UMSIEDLERIN gesteigert. Zugleich wird im zynischen Kommentar vom Nachbartisch (der
nicht zufällig auf dem komödischen Niveau der UMSIEDLERIN angesiedelt ist, weil er auf
die Folgen und also die Perspektive der Kunstproduktion reflektiert) die Höhe des
potenziellen Strafmaßes benannt, auf das die Künstler sich einzustellen hätten. Der Abschnitt
liest sich wie der Entwurf zu einem Filmexposé. Zieht man die im Anhang unter »Dokument
6« versammelten Aussagen der Studenten hinzu, eröffnet sich indes eine gespenstische
Szenerie. Die Vorstellung einer gesonderten ›Aufführung‹ des Textes aus dem Zeugenstand –
der zugleich Anklagebank ist – vor einem kommissarischen Tribunal der Hochschul- und
FDJ-Leitung ist ebenso beklemmend wie real. Sie zeigt die im Ritus der Partei verankerte
Affinität zum theatralen Akt, der grotesker Weise den Text der UMSIEDLERIN reproduziert,
um ihn schließlich in den vorgeformten Kategorien des Partei-»Newspeak« 560 zu übermalen.
Die ›selbstkritischen‹ Stellungnahmen der Studenten, die aus diesem Verhör hervorgingen,
geben wenig Aufschluss über die tatsächliche Haltung der Darsteller. In der stereotypen
Terminologie spiegelt sich vielmehr die Vorgabe des Zentralrates, Stück und Regie als
»antikommunistisch, konterrevolutionär und antihumanistisch« (KOS 387) und »Provokation
gegen unseren Staat« (KOS 386) zu denunzieren, weil es »den Feinden unserer Republik in
die Hände« (KOS 387) arbeiten würde. Die selbstkritischen Stellungnahmen dienen weniger
der Absolution der Studenten und ihrer Reintegration ins Kollektiv der FDJ, respektive der
Hochschule, sondern in erster Linie der Rehabilitierung des Zentralrates, der mit der
Aufführung des Stückes seine »Kontrollpflicht« verletzt hatte und nunmehr mit
übertriebenem Aktionismus zu Strafmaßnahmen aufruft. Die Strategie der FDJ-Leitung ist der
Angst geschuldet, selber für die Folgen der Aufführung zur Verantwortung gezogen zu
werden. Wie in den sowjetischen Schauprozessen der Stalinära, hat die Selbstkritik damit
lediglich die Funktion, die Weste der Partei rein zu waschen, das Individuum – und sei es
durch seinen Tod – in den Dienst am großen Ganzen zu stellen. Sie ist fester Bestandteil im
Ritual der kommunistischen Partei stalinscher Prägung. Die drei Tage später formulierte
zusammenfassende Selbstkritik, die mit der Aufführung die Gefahr eines Dritten Weltkriegs
heraufdämmern sieht, macht das groteske Ausmaß dieser Praxis deutlich. »Heute weiß jeder
einzelne von uns, dass wir mit der Aufführung des Stücks entgegen unserer ehrlichen
Auffassung und entgegen unserem Willen dem Klassengegner, den westdeutschen
Militaristen, gedient und die Bestrebungen, unsere Republik aufzuweichen, unsere Arbeiter-
560
In seinem 1949 erschienen Roman NINETEEN EIGHTY-FOUR benutzt Orwell diese Sprache zur
Charakterisierung der sprachlichen Deformation in einer totalitären Struktur. »Newspeach was the official
language of Oceania.« (Orwell 1973, 7)
209
und Bauern-Macht zu beseitigen und die Menschheit in die Katastrophe eines 3. Weltkriegs
zu stürzen, aktiv unterstützt haben. Damit sind wir der Partei, unserer Regierung und allen
friedliebenden Kräften in den Rücken gefallen.« (KOS 388)
Für das SED-Mitglied Tragelehn, dem die Darsteller der Studentenbühne nach ihrer
»Gehirnwäsche« Hausverbot erteilen, wird ein eigenes Parteiverfahren inszeniert, in dessen
Folge er »aus der Partei ausgeschlossen und […] zur Strafarbeit beim Gleisbau in der
Braunkohle in Klettwitz« (KOS 171) verurteilt wird. »Sein tragisches Los war, dass er dort
dann der einzige in seiner Brigade war, der für die DDR eintrat und für die Partei, und die
Arbeiter meinten so blöd darf man nicht sein, und haben ihn nach jeder Diskussion
verprügelt.« (ebd.) Den schlagenden Argumenten der Arbeiterklasse zeigt sich der
Intellektuelle nicht gewachsen. Tragische Ironie steckt zudem in der Tatsache, dass Müller
wenige Jahre zuvor die Harmonie sozialistischer Produktion und die alle gesellschaftlichen
Schichten umfassende grundlegende Solidarität beim Aufbau des Sozialismus in seiner
Hörfolge KLETTWITZER BERICHT 1958 gerade in jenem Tagebau angesiedelt hatte, in
dem sich sein Künstlerkollege nunmehr ›bewähren‹ sollte. Durch die Restriktionen selber in
ökonomische Bedrängnis geraten, ist es wiederum Tragelehn, der die Schreib-Maschine
Müller mit Treib-Stoff versorgt: »Materiell sind wir nach 1961 ziemlich in Stress geraten. Das
einzige, was wir hatten, war Deputatschnaps, weil es den beim Bergbau umsonst gab, wo
Tragelehn seine Zeit verbrachte.« (KOS 187) 561 Darüber hinaus bringt er den Ausspruch eines
Arbeiters mit, der 1975 die Rehabilitierung und Aufführung der UMSIEDLERIN unter dem
Titel DIE BAUERN rechtfertigt. »›Zeig mir ein Mausloch und ich fick die Welt.‹ […] das ist
der einzige Unterschied zu der ersten Fassung …« (W 8 477)
Eine Parteistrafe kann den Autor der UMSIEDLERIN nicht treffen. Bereits 1951 sei er, wie
es in KRIEG OHNE SCHLACHT heißt, schriftlich aufgefordert worden, sein Parteibuch zu
erneuern. Weil er versäumt hatte, die fehlenden Passbilder für das neue Dokument
nachzureichen, war er »wegen Unauffindbarkeit« (KOS 121), beziehungsweise »wegen
mangelnder Parteiverbundenheit gestrichen« (ebd.) worden. 562 »In Konfliktsituationen war es
561
Der Text der Buchausgabe ist hier identisch mit dem der Fassung HMA 4487, 223f. In den
Tonbandabschriften wird der erste Satz dieser Sentenz noch einem anderen Sprecher als Frage zugeordnet:
»Und danach bist du doch auch materiell in Stress geraten? Ja, sicher. Das einzige, was wir hatten, war
[Deputatschnaps von Tragelehn, der beim Bergbau seine Zeit verbrachte,] den gab es da umsonst.« (TA
301f.)
562
Die Angaben zur SED-Mitgliedschaft Müllers sind der Quellenlage nach widersprüchlich. Ein
handschriftlicher »Lebenslauf« im Anhang der Autobiografie (»Dokument 2«) der die Datierung »24. 9. 56«
trägt, gibt keine Auskunft über eine Parteimitgliedschaft Müllers. In einem undatierten handschriftlichen
Lebenslauf bis 1955 aus dem Nachlass, der vermutlich als Arbeitsmaterial zur Autobiografie diente, findet
sich folgende Beschreibung der Parteimitgliedschaft: »Mitglied der SED seit Gründung, gestrichen wegen
mangelnder Parteiverbundenheit einige Monate nach der Überprüfung, 1951, da ich von Frkbg.
[Frankenberg] nach Berlin umgezogen, zwar zur Überprüfung in Frkbg. gewesen war + mein Dokument
abgegeben hatte, aber versäumte, die Passbilder von Berlin aus nachzuschicken […] + mit der Parteigruppe
keine Verbindung mehr aufnahm.« (HMA 4470) In einem maschinenschriftlichen Lebenslauf, der auf den
28. April 1957 datiert ist, heißt es dazu: »[Mitglied der] SED seit 1947 (Waren/Müritz /
Frankenberg/Sa[chsen]) / Überprüfung 1951 in Frankenberg. Dokument abgegeben, schriftliche Bestätigung
hinterlegt bei Kreisleitung Oranienburg. / Funktionen: WBG-Sekret[är] f[ür] Agitat[ion] + Propag[anda]
(Frankenberg)« (HMA 4471). Und auf einem gesonderten Blatt: »Zur Überprüfung 1951 kam ich aus
Berlin, wo ich arbeitete (freier Mitarbeiter der Zentralen Kulturkommission beim Zentralrat der FDJ), aber
ohne Aufenthaltsgenehmigung wohnte, nach Frankenberg, wo ich polizeilich gemeldet war, aber, durch die
Republikflucht meiner Eltern, keine Wohnung hatte./ Nach der Überprüfung gab ich mein Dokument ab,
210
immer besser, nicht in der Partei zu sein.« (ebd.) Oder wie es vier Jahre nach der
UMSIEDLERIN-Affäre in Anlehnung an das Buch des Lebens in der Offenbarung des
Johannes im Stück DER BAU heißt: »Spätestens seit ihr Name in einem Parteidokument
steht, kann er gelöscht werden« (W 1 345f.). Dennoch ist die Gefahr einer Verhaftung
zumindest zeitweise äußerst real (»Es war von Verhaftung die Rede«, KOS 170). Nur forciert
die Staatssicherheit die Suche nach Belegen einer gezielten Feindarbeit vergeblich. 563 Die
Vorwürfe, der Autor der UMSIEDLERIN habe den Begebenheiten und Vorgängen in der
DDR eine Deutung gegeben, »wie sie in der Presse der ›freien Welt‹ oder der ›Stimme
Amerikas‹ üblich« 564 seien, scheinen in diesem Zusammenhang als Vorwurf der Verbreitung
feindlicher Propaganda und der »organisierte[n] Provokation« 565 durchaus bedeutsam und
hätten im Falle der Erhärtung eines derartigen Verdachts zwangsläufig zu strafrechtlichen
Konsequenzen geführt. In der Autobiografie wird die diese Bedrohung durch eine kafkaeske
Anekdote illustriert: »Dann kriegte ich Anrufe, zum Beispiel von Gustav von Wangenheim:
›Ich habe gehört, du bist verhaftet. Stimmt das?‹ Ich sagte: ›Dann könnte ich jetzt nicht mit
Ihnen reden.‹ Inge sagte dann: ›Geh doch einfach zur Stasi und frage, ob du verhaftet wirst.‹
Ich bin dann also zum Polizeirevier marschiert und sagte ›Ich will einen Mitarbeiter der
Staatssicherheit in einer persönlichen Angelegenheit sprechen.‹ Dann musste ich erst einmal
eine Stunde warten. Dann führten sie mich in ein Hintergebäude in einen Raum, in dem ich
eine weitere halbe Stunde warten musste. Dort gab es Beobachtungslöcher. Schließlich wurde
ich in den nächsten Raum geholt und wurde gefragt: ›In welcher Angelegenheit? Gibt es
Probleme?‹ Ich sagte: ›Ja, ich kriege Anrufe von Leuten, die wissen wollen, ob ich schon
verhaftet bin. Das ist geschäftsschädigend. Nun wollte ich wissen, was gegen mich vorliegt.‹
Wieder in einen anderen Raum, wieder eine halbe Stunde warten. Dann kam die Auskunft:
›Von Seiten der Staatssicherheit liegt gegen Sie nichts vor.‹« (KOS 176)
Unter DDR-politischen Gesichtspunkten bildet das Verbot der UMSIEDLERIN mit allen
personellen und institutionellen Folgen lediglich einen Vorwand zur Etablierung einer
stärkeren staatlichen Kontrollstruktur nach dem 13. August 1961, der weit über den
kulturellen Bereich hinaus wirksam werden sollte. Ein Grund für die radikale Reaktion der
zuständigen Stellen in FDJ-Zentralrat, Parteiapparat, Zentralkomitee und Staatssicherheit war
ihr vorheriges Versagen, die umfassende Vernachlässigung ihrer »Kontrollpflicht« (KOS
166). Zum einen stellte dies eine Folge der Art und Weise des Entstehungsprozesses dar:
»Zwei Jahre lang liefen die Proben, Schreiben und Proben immer Parallel« (KOS 162).
Andererseits hatten die Behörden den Künstlern unfreiwillig einen gewissen Grad an
Autonomie zugestanden, etwa, indem das Kulturministerium Müller ein bereits bewilligtes
Stipendium strich (s. a. KOS 161) und sich damit seiner Kontrollfunktion selbst enthob. Diese
Ausgangslage führte im Nachhinein nicht nur zu flächenbrandartigem Aktivismus auf Seiten
versäumte aber, die 2 Passbilder nachzureichen und meldete mich nach meinem endgültigen Umzug nach
Berlin nicht bei der zuständigen Parteigruppe.« (ebd.)
563
Tatsächlich ist es bereits wenige Tage nach der Aufführung der UMSIEDLERIN am 30. Oktober 1961
erklärtes Ziel der Staatssicherheit, Müller und Tragelehn konterrevolutionäre Absichten und »bewusste
Feindarbeit« nachzuweisen und »beide festzunehmen« (Bericht von Höppner, Abteilung V/6 der
Verwaltung Groß-Berlin, 4. Oktober 1961, zitiert nach Braun 1996, 116f.). Wenige Wochen später, am 10.
November sieht sich das Ministerium für Staatssicherheit allerdings gezwungen, den »Vorlauf Operativ« zu
Heiner Müller und B . K. Tragelehn einzustellen: »In der Bearbeitung konnten keine weiteren Hinweise für
eine Feindarbeit ermittelt werden.« (zitiert nach Braun 1996, 77)
564
Gutachten des geheimen Informators »Wolff« vom 3. Oktober 1961, zitiert nach Braun 1996, 103
565
Bericht von Höppner … a. a. O. 116
211
der Behörden und einer Vielzahl kultureller Institutionen, sondern auch zu
Ergebenheitsadressen und »selbstkritischen« Stellungnahmen auf allen Ebenen des kulturellen
Betriebs. So heißt es etwa in einer »Stellungnahme des Sekretariats des
Schriftstellerverbandes«, das als »Dokument 8« im Anhang der Autobiografie abgedruckt ist:
»Das Sekretariat kann sich den Vorwurf der mangelnden Wachsamkeit nicht ersparen. Die
Sektion Dramatik hat ungenügend und oberflächlich gearbeitet. Es sollte alles unternommen
werden, um die Sektionsarbeit im Verband zu aktivieren.« (KOS 394) In der Folge
übernahmen eine Vielzahl von Institutionen, darunter die SED, die Ministerien für
Staatssicherheit und Kultur, die FDJ, das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen, der
Magistrat von Berlin sowie mehrere kulturelle Einrichtungen und Theater gewichtige Rollen
in dem »Drama um eine Komödie« 566 ein: »Jedes gesellschaftliche Organ hat nicht nur eine
spezielle Aufgabe zugewiesen bekommen, es musste sich zugleich auch selbst politisch
›bewähren‹« 567 und stand damit unter erheblichem »Erfolgsdruck« 568 . Die Maßnahmen
zielten in erster Linie auf die »Erhöhung der ideologischen Wachsamkeit« 569 . Damit war das
weitere Vorgehen gehen »negative Tendenzen« in der Kunst weitgehend definiert. Aus der
Wachsamkeit wurde Überwachung; der Überwachungsapparat legitimierte sich durch die
»Überproduktion von Staatsfeinden« (KOS 217), dem, so Müller, einzigen blühenden
Produktionszweig in der DDR.
Der legendären Versammlung des Schriftstellerverbandes, auf der der Grundstein für den
Ausschluss Heiner Müllers aus dem DSV gelegt wurde, ging eine Sitzung der Sektion
Literatur der Akademie der Künste voran, in der sich die Mitglieder (unter ihnen Arnold
Zweig , Ludwig Renn und Wieland Herzfelde) auf ein von Franz Fühmann vorgelegtes
Thesenpapier zur UMSIEDLERIN einigten. Der Wortlaut dieses »negativen Gutachten[s]«,
das sich als »Dokument 14« im Materialanhang der Autobiografie befindet, gibt
paradigmatisch die offizielle Haltung vieler Künstlerkollegen wieder, die das Stück als
»misslungen« (KOS 406) und wirklichkeitsfremd bezeichnen, ihm eine »negative Aussage«
(KOS 407) attestieren, zugleich aber dem Autor eine überdurchschnittliche Begabung
bescheinigen. So heißt es in der sechsten und letzten These: »Ich bin aber trotz allem, was
gegen dieses Stück eingewendet werden muss, der Meinung, dass es sich lohnen würde, mit
Heiner Müller, der einer unserer fähigsten Dramatiker ist, ernsthaft zu arbeiten und ihm
kameradschaftlich zu helfen, zu einer für sein Schaffen günstigen Position zu gelangen.«
(ebd.) Fühmann geht offenbar von einer grundsätzlichen »Erziehbarkeit« der Begabung
Müller aus, eine Position, wie sie auch Walter Ulbricht lange zu optieren schien. »Der
einzige, der außer Hacks gegen den Ausschluss war, war Ulbricht, aber Gotsche, sein
Sekretär, kam zu der Vorstandssitzung zu spät. Da waren die Genossen schon auf den
Ausschluss eingeschworen, und Gotsche kam mit der Information zu spät, dass der Chef
dagegen sei. Ulbricht war für Erziehen, nicht für Ausschluss.« (KOS 182) So wurde etwa eine
frühzeitige Verhaftung Müllers und Tragelehns, wie sie die Abteilung V/6 der
Staatsicherheitsverwaltung Groß-Berlin unter dem Vorwand »fortgesetzter staatsgefährdender
Propaganda« 570 vorsah, möglicherweise auf Ulbrichts Einspruch hin verhindert. 571
566
Titel der Publikation Matthias Brauns
567
Braun 1996, 48
568
ebd.
569
Brief von Siegfried Wagner an Walter Ulbricht … a. a. O. 133
570
Vorschlag des Oberleutnant Freiberg, Abteilung V/6 der Verwaltung Groß-Berlin zur Festnahme Müllers
212
Abweichend von der Darstellung in KRIEG OHNE SCHLACHT, der Ausschluss wäre allein
dem Umstand geschuldet gewesen, dass der Deus ex Machina, der Bote mit der frohen
Nachricht, zu spät eingetroffen wäre, deutet der Ausschluss Müllers aus dem
Schriftstellerverband eher auf den Abzug der »schützenden Hand« Ulbrichts hin. Damit
entgeht der Dramatiker dem Schicksal Brechts Macheath, der per königlicher Verfügung
durch die Queen unter dem Galgen stehend statt ins Jenseits in den »erblichen Adelsstand« 572
befördert wird.
Der Beschreibung der »Versammlung des Schriftstellerverbandes zum Fall UMSIEDLERIN,
die ein Diskussionsforum sein sollte, aber eher wie ein kleiner Schauprozess ablief« (KOS
172), eignen entsprechend der Anlage des Kapitels Elemente der Farce. »Das erste Referat
hielt Siegfried Wagner, der Chef der Kulturabteilung: konterrevolutionär und bla bla, nur
Phrasen, nichts Konkretes. Die schlimmste Beschimpfung war: ›Ein Beckett des Ostens‹. Das
hat mir über ein paar Minuten hinweggeholfen.« (KOS 173) Das Politbüro-Mitglied Alfred
Kurella – Leiter der Kommission für Fragen der Kultur beim ZK der SED – stellt den
Verfasser der UMSIEDLERIN in die Reihe der »beiden großen Zyniker« (ebd.) in seinem
Leben, den beiden im Zuge der Großen Säuberung (1935 bis 1939) verhafteten und nach
Schauprozessen hingerichteten »Verrätern« der Revolution: »Radek und Bucharin« (ebd.). In
einem späteren Kapitel der Autobiografie kommt Müller auf diesen Vorwurf zurück, den er
dort dialektisch zu begründen und als Voraussetzung seiner Kunst zu beschreiben vermag.
»Bei der Hinrichtungsversammlung im Schriftstellerverband 1961 gegen UMSIEDLERIN
sagte Kurella einen Satz, der mich getroffen hat: ›Aus diesem Text spricht ein ungeheurer
Ekel an der Wirklichkeit.‹ Aus diesem Ekel wächst das Bedürfnis, die Wirklichkeit
unmöglich zu machen.« (KOS 271) Zynisch scheint hier eher die Art und Weise der
Darstellung ex post. Ebenso zynisch wie hintergründig kommt in diesem Zusammenhang die
im Anschluss an den ›kleinen Schauprozess‹ geäußerte Feststellung des Komponisten Hanns
Eisler daher: »Müller, Sie sollten froh sein, in einem Land zu leben, in dem Literatur so ernst
genommen wird.« (KOS 175) Was Eisler mit ›ernst nehmen‹ bezeichnet, ist wohl in erster
Linie der erzieherische Stellenwert, der der Kunst in der DDR als quasi kulturpolitischer
Auftrag mit auf den Weg gegeben war. Inhaltlich steht dagegen der ästhetische Dilettantismus
in einem krassen Missverhältnis zum gesellschaftlichen Anspruch an eine Kunst, die zur
ästhetischen Erziehung des Menschen taugen sollte. So stellt Gerhard Piens, nach Heinar
Kipphardts Weggang Chefdramaturg am Deutschen Theater auf der Parteiversammlung des
DSV fest, er könne bei dem Stück keine Fabel erkennen – laut der vorherrschenden Ästhetik,
die Brechts Fabelbegriff 573 verinnerlicht hatte, ein substanzielles Manko. Allerdings sagt
Piens’ Feststellung weniger über das Stück oder die Inszenierung aus, als dass sie auf die
Beschränktheit Piens’ Vorstellung hindeutet, was eine Fabel sei. Immerhin mag der Befund
des Dramaturgen in den Augen der Funktionäre gefundenes Fressen für die Argumentation
gegen Müller und sein Stück gewesen sein. Differenzierter dagegen ist die Forderung Hans-
Joachim Bunges, der in einem Brief an den Zentralrat der FDJ auf ein Versäumnis in der
und Tragelehns, datiert vom 11. Oktober 1961 (zitiert nach Braun 1996, 145)
571
s. a. Braun 1996, 62
572
Brecht-GW 2, 485
573
»Auf die Fabel kommt alles an, sie ist das Herzstück der theatralen Veranstaltung. […] Das große
Unternehmen des Theaters ist die Fabel, die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge, enthaltend die
Mitteilungen und Impulse, die das Vergnügen des Publikums nunmehr ausmachen sollen.« (Brecht-GW 16,
693)
213
bisherigen Verfahrensweise gegen Müller (und Tragelehn) hinweist: »… warum Müller ›so
ein Stück mit so einer Dramaturgie‹ geschrieben hat, das zu erklären hätte er unbedingt die
Gelegenheit bekommen müssen und zwar vor dem Publikum, das die Aufführung gesehen
hat.« 574 Doch dazu ist von den maßgeblichen Kulturfunktionären kaum jemand in der Lage.
So äußert sich etwa Alfred Kurella gegenüber Helmut Baierl, der 1961 das Amt des
Parteisekretärs am Berliner Ensemble übernommen hatte: »Hinter der ›offenen‹ Dramaturgie
steckt in der Tat der Verzicht des Künstlers auf Erfassung des Wesens der Dinge und auf die
Ordnung der verschiedenen ›Einzelheiten‹ zu einem Ganzen, das Typisches aussagt. […]
Dass dieser Verzicht bei der Erfassung von Gegenwartsstoffen unserer Republik angewandt,
eben so konsequent ins Lager der Reaktion führt – das ist die eigentliche Lehre, die es hier zu
ziehen gilt.« 575 Schlüssiger, weil mit den Augen des Dramatikers betrachtet, wird die
Diskussion in KRIEG OHNE SCHLACHT als Fabel erzählt. »Dann stand Paul Dessau auf
und schlug sich an die Brust und sagte, er müsse der Partei natürlich glauben, dass das Stück
konterrevolutionär sei, aber es gäbe in dem Stück eine Szene – er zitierte die
Traktoristenszene –‚ da sei doch auch das Positive. Er habe mit mir gearbeitet, und ich sei
sein Freund, er werde weiter mit mir arbeiten. Wolfgang Heinz sagte, mit Begabungen, da
könne man sich eben doch täuschen, und es wäre ja ein schlimmes Stück. Hacks hielt
dagegen, das sei der beste Dialog, den er in der Gegenwartsdramatik kenne, und die
Geschichte der Umsiedlerin sei eine große Darstellung einer Emanzipation. Das Ganze hätte
natürlich einen etwas mürrischen Ton, das sei doch vielleicht nicht ganz die richtige
Einstellung zur Realität der DDR, aber trotzdem. Piens hatte vorher gesprochen und das
objektiv Konterrevolutionäre nachgewiesen. Dann sprach Bunge, sehr lange und sehr gut, er
gab seine Stellungnahme zu dem Stück ab und erklärte am Schluss, dass der falsche Umgang
mit diesem Stück, dieser Aufführung, dass die ganze Diskussion über dieses – seines
Erachtens – im Ganzen gelungene Stück, ihn dazu veranlassen würde, bei seiner
Grundorganisation die Aufnahme in die Partei zu beantragen. Das war ein guter taktischer
Schachzug. Siegfried Wagner war verwirrt und sagte: ›Wer ist dieser Wirrkopf?‹ Der Bunge
war wirklich gut, es war auch sehr klug, wie er versuchte, denen beizubringen, was sie falsch
gemacht hatten und wie man damit umgehen müsste. Nach der Rede von Siegfried Wagner
war Anna Seghers aufgestanden und zu mir und Inge herübergekommen, sie gab uns beiden
die Hand und ging. Das war ihr Beitrag. Ansonsten saßen wir ziemlich verloren herum. Einer
kam zu spät, das war Werner Baum, Leiter der Abteilung Belletristik im Ministerium für
Kultur, den ich schon aus dem Moralprozess in Bad Saarow kannte, der mich damals darauf
hingewiesen hatte, dass ›wir aus der Bourgeoisie‹ besonders dienen müssten. Nur neben mir
war noch ein Platz frei, da musste der arme Exbourgeois sich nun hinsetzen. Ich sah, wie er
mit weichen Knien heranschlich, er nickte mir freundlich zu und sagte ›Du kannst dich ja
nicht beschweren, ein großer Bahnhof, alle sind gekommen. Ich bin auch in dienstlicher
Eigenschaft hier. Ich muss hier dienstlich eine kleine Rede halten.‹ Mit dem Bahnhof hatte er
recht. Rodenberg, der Denunziant von Moskau, Abusch und andre Kreaturen. Dann war
Baum mit seiner kleinen Rede an der Reihe und verwandelte sich in einen flammenden
Propheten gegen den Antichrist, er verglich das Stück mit den Scherben des Teufelspiegels in
einer Erzählung von Gorki. 576 Er gestikulierte grässlich mit verzerrtem Mund. Dann kam er
574
Brief von Hans-Joachim Bunge an den Zentralrat der FDJ. In: Sinn und Form 3/1991, 440
575
aus einem Brief Alfred Kurellas an Helmut Baierl vom 17. Oktober 1961 (zitiert nach Braun 1996, 71)
576
Gemeint ist vermutlich der Prolog Hans Christian Andersens Erzählung DIE SCHNEEKÖNIGIN.
214
zurück, setzte sich wieder neben mich, nickte mir wieder freundlich zu.« (KOS 174f.) Die
zitierte Passage veranschaulicht die dramatische Qualität der Vorgangsbeschreibung, die aus
der »Hinrichtungsversammlung« im Schriftstellerverband den Kern der theatralen
Veranstaltung herausschält. Ganz im Sinne der brechtschen Fabelerzählung fasst sie die
wichtigsten gestischen Vorgänge zusammen, hebt die Drehpunkte hervor und erweist sich
darüber hinaus als geradezu modellhaft dialektisch. Der komödische Aspekt im Agon um die
»Wahrheitsfindung« über Müllers Stück liegt nicht allein im Missverhältnis von Mitteln und
Gegenstand des Prozesses begründet, er zeigt sich auch in der Gegenüberstellung der Lager.
Beziehen die Verteidiger des Erzählers ihre Argumente aus dem Bezug auf den Text des
Stückes selbst, tragen die Stückgegner nur ideologische Banner ins Feld. Die konträren
Positionen werden hart gegeneinander geschnitten, ihr szenisches Potenzial angedeutet und
ein überraschender Abschluss konstruiert – bis hin zur stummen Geste Anna Seghers’, deren
Abgang den letzten grotesken Auftritt dieser Szene einleitet und Eislers bereits oben zitierten
zusammenfassenden Kommentar, der das Geschehen dialektisch auf eine neue Stufe hebt.
»Müller, Sie sollten froh sein, in einem Land zu leben, in dem Literatur so ernst genommen
wird.« (KOS 175)
Eisler ist es auch, der Müllers Autobiografie zufolge den Kontakt zu seinem vermeintlichen
Rettungsengel, Helene Weigel, herstellt. Mit dem Hinweis, »denken Sie an Schiller. Ein
österreichischer Tyrann wird in der Schweiz ermordet. Solche Stücke müssen Sie in
Deutschland schreiben« (KOS 178), treibt er ihn Brechts Witwe, der Intendantin des Berliner
Ensembles in die Arme. Mit PHILOKTET, seinem nächsten Stück, scheint Müller Eislers
ersten Tipp beherzigt zu haben: Ein griechischer Fürst wird auf dem unbewohnten Eiland
seiner Verbannung ermordet, als er sich der Rückkehr an die Front des Trojanischen Krieges
widersetzt. Allerdings greift Müller mit dem zeitgleich entstandenen Stück DER BAU schon
wieder verdächtig zeitnah in die Probleme des sozialistischen Auf- und
Menschenumbauprogramms ein. Bei der Weigel meldet er sich indes nicht. Es ist Brechts
Witwe, die Kontakt zu Müller aufnimmt. »Zwei Tage später rief die Weigel mich an. Das war
der Rettungsversuch. Sie sagte, die Anna Seghers hätte mit ihr gesprochen […] und sie,
Weigel, wäre jetzt mein Engel. Ich müsste eine Selbstkritik schreiben, und sie würde mir
dabei helfen, weil sie wüsste, wie man so etwas macht. Ich kriegte das Turmzimmer. ›Da hat
der Brecht auch immer gesessen‹, und: ›Du darfst nichts erklären, nichts entschuldigen. Du
bist schuld, sonst hat es gar keinen Zweck.‹ Ich habe dann im Turmzimmer diese Selbstkritik
geschrieben, und der Weigel jede halbe Seite vorgelegt, zur Korrektur. Und korrigiert, und
weitergeschrieben. Es hat Tage gedauert.« (KOS 178) Zwar folgt dem Besuch des
Turmzimmers, das die leer ausgegangene Fee in Gestalt des Flachs spinnenden Mütterchens
dem Dornröschen als Schlafkammer auserkoren hat, kein hundertjähriger Schlaf, sondern ein
lediglich zweijähriges Verstummen als Dichter. Es steht indes auch nicht die Suche nach
Wahrheit im Mittelpunkt beim Antritt des ebenso schweren wie ehrenhaften Erbes. Der einst
gehegte und glücklich gescheiterte Wunsch, in Brechts Schatten zu arbeiten, wird nunmehr
Wirklichkeit. Freilich ist es nur die Dreckarbeit, in der Müller dem anderen Dramatiker hier
folgen darf. Aber nicht erst seit Aschenputtel ist gerade diese Arbeit die langfristig betrachtet
fruchtbarste. Bereits Herakles, dem Götterbastard, hatte die Dreckarbeit zu Ruh verholfen. 577
577
Heiner Müller widmet sich diesem Teil des Herakles-Mythos in seinem Satyrspiel HERAKLES 5 (W 3
397–410)
215
Trotz der prominenten Lokalität erweist sich der Schreibprozess als zäh. Und zwar nicht
zuletzt deshalb, weil der Versuch, »unrecht zu haben« (KOS 183) und davon abzusehen, den
eigenen Text zu erklären, angesichts der Tatsache, dass der Autor an dessen poetischer
Qualität alles andere als Zweifel hegt, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Am Ende
des fünften Kapitel hieß es vorausschauend auf die Querelen um die UMSIEDLERIN: »Für
mich war das nie ein Problem, ungerecht behandelt zu werden. Ich wusste es gibt keine
Gerechtigkeit, weder von der einen noch von der anderen Seite, also konnte ich mich nie
wirklich dagegen empören.« (KOS 75f.) Glatt geht dem Autor der UMSIEDLERIN die
SELBSTKRITIK deshalb nicht von der Hand. Ausdruck findet dieses Problem in der
permanenten Kritik der Selbstkritik, einer Vielzahl von Übermalungen, Verwerfungen und
Neuansätzen, die im Ergebnis dennoch »als unzureichend verworfen wurde, obwohl die
Weigel mit mir geübt hatte. Ich hatte auch bei dieser Geschichte noch den Ehrgeiz, alles gut
zu formulieren.« (KOS 179) In KRIEG OHNE SCHLACHT ist die SELBSTKRITIK von
vornherein als Strafarbeit im Turmverlies des Brecht-Olymps angelegt, als inszenierte
Persiflage einer Praxis die der Erzähler andernorts als »die sowjetische Form der
Psychoanalyse« (KOS 94) bezeichnet hatte. Es ist die mangelnde List des Künstlers, den,
obwohl in allen Rollen zu Hause, sein intellektueller Stolz, wenn man will, seine Arroganz,
daran hindert, seine Funktionsfähigkeit innerhalb dieses Systems, dem er sich aus historischen
Gründen verpflichtet fühlt, unter Beweis zu stellen. In diesem Sinne ist es auch das
stellvertretende Versagen des Opfers. Müller selbst nennt dies in Anspielung auf die
Moskauer Prozesse, den »Bucharin-Punkt« (KOS 184), den Willen zur Wahrheit, die keinem
etwas nützt, weil sie die (politische) Realität verkennt. Zugleich kommt in ihr das Bedürfnis
des Intellektuellen nach »ein bisschen Theater, ein bisschen Glanz« (GI 1 26), zum Ausdruck,
insbesondere dann, wenn die Revolution sich nicht einmal mehr »im Alltag vollzieht« (ebd.),
sondern vollkommener Stagnation gewichen ist.
Die SELBSTKRITIK HEINER MÜLLERS »an die Abteilung Kultur beim Zentralkomitee
der SED«, wie es im Untertitel heißt, ist im Materialanhang der Autobiografie als »Dokument
12« abgedruckt. Sie gliedert sich in einen kurzen Prolog und drei numerisch gegliederte
Abschnitte. Erfolgt im ersten Teil eine zeitgeschichtliche Verortung des Stückes, die auf die
politische Situation in der DDR nach dem Mauerbau zielt, gerät der Text im zweiten
Abschnitt entgegen der eigentlichen Intention dennoch in eine Verteidigungsrede, in der
lediglich ein Mangel selbstkritischen Urteilens zur Disposition gestellt wird, zumal in einer
Sprache, die derjenigen des Jungen Genossen aus Brechts MASSNAHME entlehnt scheint.
Überhaupt vermittelt Müllers SELBSTKRITIK den Eindruck, hier sei ein Spielmodell
aufgerufen worden, nämlich das des Lehrstücks brechtscher Provenienz. »Ich hatte jede
Kontrolle über meine Arbeit verloren, jede Selbsteinschätzung, jede Selbstkritik. Mit nicht
ausreichendem politischen Wissen ein politisches Stück schreibend, habe ich die Diskussion
mit politischen Funktionären nicht gesucht, sondern gemieden. Isoliert von der Partei,
verstand ich ihre Kritik nicht, die mir aus meiner Isolierung geholfen hätte, und versteifte
mich auf Vorbehalte gegen die Formulierung der Kritik durch einzelne Funktionäre.« (KOS
402) Das vermeintlich revolutionäre Kollektiv »Partei« wird dabei deutlich von der Identität
einzelner Funktionäre abgegrenzt. Der Autor der Selbstkritik beruft sich damit auf die
Interessen der Gesamtheit einer revolutionären Bewegung, die er in der versammelten
Mannschaft aus »Politprominenz und Schriftstellern« (KOS 179) mitnichten gesehen haben
dürfte: eine Dreistigkeit, die der Mehrzahl der Anwesenden dieser »große[n] Szene« (ebd.)
216
nicht entgangen sein dürfte. Der dritte Abschnitt der SELBSTKRITIK besteht in der Bitte um
Absolution und der Wiederaufnahme in das Kollektiv, von dem sich der Autor des Stücks in
Unkenntnis der Ernsthaftigkeit der politischen Lage durch eigenes Verschulden isoliert hätte.
Allein die Forderung nach einer neuerlichen Diskussion des Themas, dessen Schlussstrich auf
dem Papier bereits gezogen war, dürfte die eisernen Mienen der Zuhörerschaft endgültig zum
Erstarren gebracht haben. Schließlich war die SELBSTKRITIK in deren Augen nicht als
Rechtfertigungspodium und Rehabilitationsangebot an den Autor gedacht, sondern der
rituellen Legitimation seines Abschusses vorbehalten gewesen. »Mein Wunsch ist eine harte
Diskussion, in die ich ohne Ressentiments gehen werde. Eine Diskussion, die mir hilft auf
einer höheren Stufe weiterzuarbeiten, mehr als bisher, besser als bisher, produktiv. / Ich
wollte der Partei helfen, selbst isoliert von ihr. Ich sehe das Ergebnis meiner Arbeit in der
Isolierung: einen Schaden für die Partei. Ich sehe, dass ich ihre Hilfe brauche, wenn ich ihr
nützen will, und nichts anderes will ich. / Ich arbeite an dem Versuch einer Fehleranalyse von
UMSIEDLERIN, meiner Grundlage zur Diskussion gegen das Stück, die ich mir wünsche.
Ich bin damit nicht fertig geworden. Ich werde sie in zwei bis drei Wochen vorlegen.« (KOS
403) Diese Zeilen hätte ihr Autor noch Jahrzehnte später ohne Scham unterschreiben können,
was freilich die Verwerfung der SELBSTKRITIK durch den Schriftstellerverband und den
Ausschluss des Autors aus demselben umso verständlicher erscheinen lässt. Einer
Ausarbeitung der »Fehleranalyse« kam diese Entscheidung zuvor. Sie ersparte Müller nicht
nur neuerliche Terminnöte, denn die zwei bis drei Wochen dürften zum Erfinden von Fehlern
selbst Müller nicht ausgereicht haben. Auch bewahrte sie den Autor, der seine Intentionen
grundsätzlich im Schreibprozess zu verbrennen vorgibt, vor der prometheischen Arbeit am
Felsen im Vogelkot, der Masturbation mit dem ›fertigen Text‹.
Eine Rechtfertigung der Selbstkritik, wie sie KRIEG OHNE SCHLACHT nachliefert, dient
denn auch nicht der (Selbst)Kritik, eine solche SELBSTKRITIK (eine Praxis, die nicht nur in
der DDR, sondern im gesamten Ostblock zum rituellen Protokoll gehörte) verfasst zu haben.
Sie soll vielmehr die Haltung des Erzählers gegenüber der eigenen Erinnerung begründen.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass mich größere Scham befallen hätte beim Verfassen der
SELBSTKRITIK. Es ging um meine Existenz als Autor. […] Mir war das Schreiben
wichtiger als meine Moral.« (KOS 179f.) Auf die Frage, »Hast Du Dich anschließend wegen
Deiner Selbstkritik geschämt?«, antwortet Müller: »Ich hatte damals kein Gefühl von Scham,
ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Selbst wenn ich diesen Text jetzt lese, habe ich
dieses Gefühl nicht.« (KOS 184) Vor diesem Hintergrund ist die SELBSTKRITIK
selbstverständlich nicht als moralisches Problem zu fassen, sondern eines künstlerischer
Praxis, das eine – im Sinne Herrn Keuners MASSNAHMEN GEGEN DIE GEWALT 578 –
pragmatische Lösung erfordert. Der Handlungsspielraum für die Ausübung der künstlerischen
Tätigkeit ist dabei alles andere als unbegrenzt, denn der Autor bedarf eines Spannungsfeldes,
das unabhängig von Marktzwängen die Kunst zumindest ideell an einen emanzipatorischen
gesellschaftlichen Anspruch anschließt, der freilich weit links außen an der offiziellen Linie
der Partei vorbeischießt. »Ich konnte mir eine Existenz als Autor nur in diesem Land
vorstellen, nicht in Westdeutschland. Ich wollte ja nicht nur dieses Stück geschrieben haben,
sondern auch noch andere Stücke schreiben. Knast war keine Alternative, und weggehen war
auch keine. Meine eigentliche Existenz war die als Autor, und zwar als Autor von
578
s. a. Brecht-GW 12, 375f.
217
Theaterstücken, und die Realität eines Theaterstücks ist seine Aufführung.« (KOS 181) Das
Primat des Werkes erkennt keinen Künstler an, der es objektiv hervorbringt. Künstler und
Kunstwerk sind heillos miteinander verschlungen, so dass der Wille des Künstlers nichts
anderes als der Wille des Werkes, seine Rechtfertigung gegenüber seinem In-der-Welt-Sein
darstellt. Die Realität der Aufführung als existenzielle Bedingung des Autors sichert dem
Künstler das Überleben jenseits seiner Unspielbarkeit in der Jetztzeit des Künstlerlebens. Sie
bemisst ihre Qualität nicht nach dem durchschlagenden Erfolg in einer voraussetzungs- und
ziellosen Gegenwart, sondern in der unkalkulierbaren Wirkung an den Schnittstellen zwischen
Vergangenheit und Zukunft. Ein solcher Anspruch ist auf das Interesse des Autors
angewiesen, als Bestandteil des gesellschaftlichen Prozesses wahrgenommen zu werden. Das
schließt die Selbstwahrnehmung ein. »Ich erinnere mich nur noch ganz dumpf an diese
Veranstaltung, in der ich die Selbstkritik vorgetragen habe. Es hatte durchaus auch einen
Theateraspekt, wie die Leute an mir vorbeigingen und mich nicht grüßten. Ich war nicht
verletzt, ich habe das alles mit Interesse beobachtet.« (KOS 181) Das Interesse, von dem hier
die Rede ist, besteht womöglich gerade in der Verletzung, die durch ihre Beschreibung und
also Überführung in den Kunstprozess der emotionalen Verarbeitung nicht mehr zur
Verfügung steht. Damit ist sie zugleich einem psychischen Vernarbungsprozess entzogen. Der
Text hält die Wunde offen.
Kann die SELBSTKRITIK als Versuch gelesen werden, die Verletzung notdürftig hinter dem
zerschlissenen Kleid eines geflickten individuellen Selbstbewusstseins zu verbergen, lässt der
aus dem Nachlass Müllers ans Tageslicht beförderte Text GRUSSADRESSE AN EINE
AKADEMIE die ganze Dimension der tatsächlichen Verletzung erahnen. Sie ist die
Voraussetzung einer Haltung, die eine Aussage wie die folgende nicht lediglich erlaubt,
sondern glaubwürdig erscheinen lässt: »Ich habe das Ganze als dramatisches Material
betrachtet, ich selbst war auch Material, meine Selbstkritik ist Material für mich.« (KOS 183)
Vor dieser Folie sind nicht nur die Gedichte zu lesen, die unter dem Signum der
SELBSTKRITIK eine ganze Epoche zur Disposition stellen 579 – gegen Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts in Müllers Augen anscheinend die letzte Möglichkeit, die Ideen jener Epoche in
die Währung der Zukunft zu transferieren: durch Fehleranalyse. Auch die späte Revision des
einst in den Stein der Ewigkeit gehauenen Wortes vom Werk, das »auf Geschichte warten«
(W 8 187) könne, fällt unter diese in Schrift materialisierte Erfahrung eines galileischen
Widerrufs der SELBSTKRITIK, die den Delinquenten vor der Inquisition schützen und sein
Werk retten sollte. Die GRUSSADRESSE zeigt die frische Wunde unmittelbar nachdem sie
dem Autor beigebracht wurde. Was aus dieser Wunde quillt, ist der poetisch kalkulierte Hass,
der das Eigentum des Künstlers bleibt und Jungbrunnen seines Schreibens ist. Indem sich der
Text unmittelbar auf den Vorgang der Verwundung/Ausgrenzung/Verbannung bezieht,
schließt er den Schmerz ein, wie das »Insekt im Bernstein« (W 8 260) und lässt ihn dadurch
zum Fetisch und rituellen Zentrum künstlerischer Praxis gerinnen. Der Text
GRUSSADRESSE AN EINE AKADEMIE (der ursprüngliche Titel lautete
GRUSSADRESSE AN EINEN SCHRIFTSTELLERVERBAND) ist datiert von 1961. Die
maschinenschriftliche Datierung ist ebenso wie die Überschrift integraler Bestandteil des
Textes und verortet ihn im Bezugsfeld der Auseinandersetzungen um die Aufführung sowie
579
s. a. die Gedichte FERNSEHEN (W 1 232f.) und SELBSTKRITIK 2 ZERBROCHENER SCHLÜSSEL (W
1 253).
218
das Verbot der UMSIEDLERIN im Herbst 1961. Zugleich erlauben diese Markierungen, den
Text aus diesem Kontext zu lösen und ihn unter poetischen Gesichtspunkten zu betrachten.
Insbesondere durch die Änderung des Titels wird der Bezug auf Kafkas Erzählung EIN
BERICHT FÜR EINE AKADEMIE geradezu suggeriert.
Ich habe nichts zu schaffen mit eurem Paradies für Dauerredner. Eh ihr nicht gelernt habt
euch selber in die Fresse zu spein braucht ihr mir nicht mehr unter die Augen zu kommen.
Die Hoffnung dass ihr nicht aufhören werdet mit Lügen ist was mich am Leben hält.
Spart den Trauerflor, ich werde mich nicht auf die Schienen legen. Warum stürzen sich
die Lemminge ins Meer auf Spitzbergen? warum sehen die Bäume bei Windstille
unschuldig aus? wen morde ich nachts? warum lebt ihr? warum will ich die Antwort nicht
wissen? warum frage ich? Man sollte euch Scherben ins Maul stopfen, bis der Wind auf
euren zerrissnen Gedärmen spielt. Ich hab euch den Spiegel gehalten für ein Trinkgeld.
Auf meinem Schädel habt ihr ihn zertrümmert, weil euch eure Nase nicht gefallen hat.
Jetzt ist keiner mehr übrig der euch eure Visagen zeigt. Wenn der Misthaufen wächst ist
der Hahn dem Himmel näher. Die Misthaufen wachsen, die Hähne spreizen sich und
hacken nach den Wolken. // 1961 (W 8 154)
Eine kohärente Analyse des Textes kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden, sie
würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Immerhin soll versucht werden, einige
Überlegungen zu formulieren, die hinsichtlich des reflexiven Beschreibungspotenzials
gegenüber der Autobiografie relevant werden könnten. Der Text der GRUSSADRESSE
gliedert sich in vier Teile, die in einem dichten Bedeutungsgeflecht aufeinander verweisen.
Mit den ersten vier Sätzen richtet sich der Sprecher, der mit einem klaren »Ich« den Text
betritt, unmittelbar an die Adresse des (fiktiven) Schriftstellerverbandes. Die Kennzeichnung
»Paradies für Dauerredner« erscheint dabei als ironische Brechung eines (metaphysischen)
Ursprungszusammenhanges, der den Schriftstellerverband als maßgeblich wertschaffende
Instanz kennzeichnet, die eine ›endlose‹, aber gleichsam ›leere‹ Textproduktion ausstößt, die
als Reminiszenz an Benjamins »leere Zeit« 580 gelesen werden kann. Von einem Ausschluss
ist in der GRUSSADRESSE nicht die Rede. Allerdings weist die Metaphorik darauf hin, dass
es sich bei dem »Paradies« um einen Ort handelt, dem der Sprecher keine Träne nachweint.
Mithin bezieht sich die GRUSSADRESSE auf eine dem Text vorgängige Formation, die dem
Sprecher des Textes sowohl unerreichbar als auch verzichtbar und letztendlich überwunden
scheint – verwunden mitnichten: Die Verwundung, welche dem Ich infolge des Heraustretens
aus dem Ursprungszusammenhang beigebracht worden ist, provoziert den zweiten Teil des
Textes. Indem der Sprecher die gegebenen Diskurse kritisch hinterfragt, konstituiert er sich
als Subjekt. Zugleich schneidet das Eintreten in eine Existenz jenseits der kollektiven Wahr-
und Gewissheiten den Rückweg ab. Im Gegensatz zur Heilserwartung der Heiligen Schrift
oder Kleists Utopie einer Aufhebung des Sündenfalls durch die bewusste Wieder-Holung
desselben nach dem Gang durch ein Unendliches, stehen bei Kafka und Müller Wände oder
Abgründe. Entfernt sich Kafkas Erzähler mit jedem Schritt in seine neue Identität weiter von
dem »immer niedriger und enger« werdenden »Tor«, das ihm den Rückweg in seinen
»Eigensinn« als ›freier Affe‹ ermöglichen würde 581 , schneidet der Sprecher der
GRUSSADRESSE den rückläufigen Faden durch die Fragen nach dem Sinn und Unsinn des
580
Benjamin-GS I, 701
581
Kafka-GW 5, 139
219
Daseins selbst ab. War es Müllers GLÜCKLOSEM ENGEL wie Benjamins Referenz an
Klees ANGELUS NOVUS noch möglich, angesichts der Unmöglichkeit einer Neuordnung
der in Trümmer geschlagenen Geschichte zu scheitern, vermögen Kafkas Affe und der als
Absender scheiternde Schreiber der GRUSSADRESSE ihren Herkunftszusammenhängen
keinen Sinn mehr beizumessen. Der Rückweg ist identisch mit der Auslöschung. Der Sturm
aus der Vergangenheit, der die Erlösung einfordert und zugleich verhindert, bei Kafka als
kühlender Luftzug an des Affen Ferse gleichsam Warnung, von jeglichem emanzipatorischen
Bestreben abzusehen, läuft bei Müller leer. Denn der Sprung durchs Nadelöhr der dem
Rückkehrwilligen »das Fell vom Leib […] schinden« 582 würde, weicht bei Müller der Frage
nach dem Grund, beziehungsweise der Grundlosigkeit jeden Handelns. Heißt es bei Kafka:
»Wäre ich ein Anhänger jener erwähnten Freiheit, ich hätte gewiss das Weltmeer dem
Ausweg vorgezogen, der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte« 583 , verweisen
Müllers Lemminge auf das Paradox ebendieser Freiheit im Tod, die zugleich determiniert ist,
denn sie existiert allein im Augenblick zwischen Absprung und Aufprall. Aber die Lemminge
fragen weder nach der Tiefe des Abgrunds, der Beschaffenheit seines Bodens, noch nach dem
Motiv des Absprungs. Ihr ökologischer Kontext hat sie infolge eines Defekts anderweitiger
Regulierungsmechanismen ihrer Population zum Springen konditioniert. Die Frage, »warum
frage ich?« intendiert bereits das Motto der Autobiografie (»Von wem ist die Rede …«, KOS
9), welches auf das Verschwinden der Sprecherinstanz hinweist. Dem vermeintlichen Verlust
der Bedeutung entspricht die Hinterfragung dessen, der (be)deutet. Dem entspricht die
Liquidierung des Sprechers im dritten Teil der GRUSSADRESSE. Die Zerstörung des Ich,
das zu seiner Selbstwahrnehmung auf die Reflexion eines sozialen Gegenüber angewiesen
bleibt, führt die Abschaffung der Reflexion vor, die als Folge der Ablösung jeglichen
Sinnpotenzials des Daseins erkennbar wird. Bedeutung wird ersetzt durch Aktion, die Kafkas
Bild der rückwärtsgewandten Schindung umkehrt. Müllers Sprecher kehrt die
selbstzerstörerische Haltung des Mensch gewordenen Affen um und projiziert sie auf die
Körper seiner Schinder. Indem er ihnen die Scherben des Spiegels, die ihr als fremd erkanntes
Abbild zugleich fragmentieren und unendlich streuen, in den Hals stopft, verhindert er die
Fortsetzung der leerlaufenden Endlosproduktion des Dauerredens. Nur im
Naturzusammenhang würde der Mensch dieser Phantasie zufolge noch eine Rolle spielen –
identisch mit der Bewegung seiner Trümmer im Wind, der weder aus der Zukunft noch aus
der Vergangenheit weht, sondern unterschiedslose Gegenwart anzeigt. In den beiden
abschließenden Sätzen wird diese nihilistische Vision zurückgenommen in die Wirklichkeit
einer nicht enden wollenden Kotproduktion, die die (flugunfähigen) Hähne dem Himmel
immer näher bringt – ein Bild, das jeglichen utopischen Potenzials entbehrt, gleichsam jedoch
der Entwicklung des Menschen – auch jenseits der Konfliktlage des Kalten Krieges – unter
ökonomischen, ökologischen wie sozialen Gesichtspunkten erstaunlich nahe kommt. Konnte
Kafkas Affe mit seinem BERICHT die »Richtlinie zeigen« 584 , die sein Verschwinden als Affe
festhielt, zeichnet Müllers Text die Fluchtlinie nach, auf welcher das Subjekt sich jenseits der
vorgegebenen Ordnung in seiner Vernichtung konsolidiert. Der Gestus des Textes verweist
auf eine Freiheit, beziehungsweise die Struktur einer Befreiung, die dem vielfach
eingebundenen und determinierten Subjekt letztendlich nicht möglich ist. Allein seine
582
ebd.
583
Kafka-GW 5, 144
584
Kafka-GW 5, 139
220
Bindung an die Sprache legt Zeugnis von dieser fatalen Verkettung ab. Das sprecherlose
Geschrei der Hähne deutet indes auf einen ewigen Morgen, dem der Verfasser des Textes mit
der Verbannung in die Schublade Vorschub leisten wollte. Müllers Herausgeber haben diese
Perspektive nach vier Jahrzehnten aus dem Verlies befreit, auf dass der Text uns in die
Zukunft leuchten möge, die, während wir alle daran arbeiten, keiner von uns sich wünscht.
Die GRUSSADRESSE legt Zeugnis davon ab, wie die in der Autobiografie behauptete
Distanz zu den traumatischen Erlebnissen der UMSIEDLERIN-Affäre aus deren literarischer
Verarbeitung entsteht. Der Text hebt (in der doppelten Bedeutung des Wortes) den Affekt auf.
Trotz der behaupteten Distanz dürfte der Brief des renommierten Literaturwissenschaftlers
Hans Mayer, der als »Dokument 13« der Autobiografie abgedruckt ist, den Dichter in seiner
Sicht auf die Dinge bestärkt haben. Darin spricht der Literaturprofessor mit dem
Allerweltsnamen dem Dichter mit dem anderen Allerweltsnamen nicht nur den Glückwunsch
zu seiner Entfernung aus den »elitehaften Reihen« (KOS 404) des Schriftstellerverbandes aus,
sondern bescheinigt seinen Arbeiten zugleich »die Weiterentwicklung der Brechtschen
Dialektik« (ebd.). Der sachliche Teil des Briefes schließt mit einem Querschuss gegen den
»geschickten Opportunisten« Baierl: »… ich bin nicht der einzige, dem die Wahl zwischen
Müller und Frau Flinz nicht schwerfällt.« (KOS 405)
Der formale Ausschluss Heiner Müllers aus dem Schriftstellerverband erfolgte am 28.
November. Im entsprechenden Beschlussprotokoll der Versammlung des DSV werden
Müllers Nachlässigkeit bei der Entrichtung der Verbandsbeiträge sowie sein »unkorrektes
persönliches Verhalten« 585 als Begründung für den Ausschluss angeführt. Der ursprüngliche
Grund für den Ausschluss, Kritik und Verbot der UMSIEDLERIN, geraten zur Fußnote: »Das
Stück musste abgesetzt werden, weil es eine Entstellung er Wirklichkeit darstellt und objektiv
dem entspricht, was unsere Feind über die Zustände in der Deutschen Demokratischen
Republik verbreiten.« 586 Müller selbst konnte an der nichts mehr entscheidenden
Versammlung nicht teilnehmen. Die Autobiografie begründet das Fehlen mit der Arbeit an
einem Drehbuch zu einem Dokumentarfilm über die Verlegung einer Pipeline durch die Oder.
Müller befand sich bereits dort, an der Ostgrenze der DDR, in der völligen Isolation, die ihm
eigener Auskunft zufolge als »Konzentrationszeit« (KOS 194) dienen und in den kommenden
zwei Jahren die Arbeit an den Stücken PHILOKTET und BAU ermöglichen sollte. »Es gab
dort zwar ein Telefon, aber das funktionierte nicht. Ich konnte also nicht anrufen. Es gab auch
kein Auto und keine Zugverbindung.« (KOS 195) Ein Brief an den Schriftstellerverband, den
Müller eine Woche nach seinem Ausschluss an die ehemaligen »Kollegen« richtete, bestätigt
– bis auf die Existenz eines Telefons – die Darstellung der Autobiografie und ist darüber
hinaus als Zeugnis kaum verhohlener Abscheu gegenüber diesen lesbar.
Liebe Kollegen,
dies ist der Text einer Stellungnahme an die Kulturabteilung des Zentralkomitees. Ich
glaube, Ihr solltet sie kennen. Ich habe ihr nicht viel hinzuzufügen.
Am Dienstag war ich, mit einer DEFA-Gruppe, an einer Baustelle bei Schwedt, wo ein
Stück Erdölleitung durch die Oder verlegt wurde. Diese Arbeit sollte gegen Mittag
beendet sein. Sie war es, durch den Ausfall einer Maschine, einen Schienenbruch und
585
Beschlussprotokoll der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin am 28. November 1961. In:
Sinn und Form 3/1991, 459–463, hier 462
586
ebd.
221
andere Schwierigkeiten, erst am späten Abend. Eine Möglichkeit, vorher wegzukommen,
bestand nicht. Wir waren gegen ein Uhr in Berlin. Die Baustelle hatte ein Telefon, das
ständig gebraucht wurde. Für meinen Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, wenn er
für nötig oder für nützlich gehalten wird, gibt es Gründe genug. Sie abzuschaffen wird
meine Aufgabe sein, als Person und als Schriftsteller, ob im Verband oder außer ihm,
unter welchen Bedingungen immer. (W 8 153)
Der Brief ist von Müller unterzeichnet und auf den 4. Dezember 1961 datiert. Durch die
Exposition ist die eigentliche Mitteilung explizit als Abschrift ausgewiesen, genauer: als
Kopie des Textes einer Stellungnahme. Hinter der zweifachen Perspektivbrechung tritt die
Person des Schreibers dieser Zeilen nahezu vollständig in den Hintergrund. Der knappe
Einleitungsteil, bestehend aus Anrede und Erklärungsabsicht, respektive die Verweigerung
von Aussagen, die über das folgende Schreiben hinausgingen, kennzeichnen die im doppelten
Konjunktiv (»Ich glaube«, »solltet«) beinahe zurückgenommene und somit deutlich zur Schau
gestellte Absicht, den Schriftstellerverband überhaupt von den im Folgenden genannten
Tatsachen in Kenntnis zu setzen. Die eigentliche Erklärung wird durch die dichte poetische
Verweisstruktur und die am Dramatischen geschulte Spannungserzeugung nach allen Regeln
der Kunst unterminiert, um zum Schluss die Berechtigung des Adressaten, eine
Stellungnahme eingefordert zu haben, generell in Frage zu stellen. Im ersten Teil des Textes
der Stellungnahme wird knapp das Szenario einer sozialistischen Baustelle entworfen, wie es
als Schlachtfeld der Zukunft aus Müllers Stücken LOHNDRÜCKER und KORREKTUR
bereits hinlänglich bekannt (und berüchtigt) war und sich späterhin in DER BAU und
ZEMENT fortschreiben sollte. Dass die Bereitstellung eines der zukunftsträchtigsten
Produktionsmittel (das Erdöl als Grundlage der Petrochemie zugleich als industrieller
Revolutionsimport aus der Sowjetunion) beinahe an den Veralteten Produktionsmethoden
scheitert (»Ausfall einer Maschine«, »Schienenbruch«), erscheint in diesem Zusammenhang
evident. Um sich die ›anderen Schwierigkeiten‹ vor Augen zu führen, sei auf die oben
genannten Stücke verwiesen und nicht zuletzt auf DIE UMSIEDLERIN selbst, die das Projekt
der Erschaffung einer neuen Welt aus dem Stoff des alten Menschen anschaulich vorführt.
Insofern ist der Autor des Briefes, der sich genau auf diese Störungen spezialisiert hat, als
Autor des Dokumentarfilms die richtige Besetzung. Nur nebenbei sei angemerkt, dass die
Unmöglichkeit dem eigenen Ausschluss aus dem »Paradies für Dauerredner« beizuwohnen,
auch auf die lächerliche Absurdität der Ausschlussversammlung gegenüber der Meisterung
eines Problems auf dem Schlachtfeld der Industrialisierung des deutschen Ostens hinweist.
Veranschaulicht wird dies explizit an der Beschreibung des Telefongebrauchs. Es spielt
faktisch keine Rolle, sagt dieser Satz, was in Berlin die Dichter umtreibt, während wir an der
Oder mit blutigen Fingernägeln die sozialistische Industrie aufbauen, mit der wir den
Imperialismus an die Wand arbeiten müssen, wollen wir nicht, dass er uns das Fleisch von
den Knochen reißt. Die beiden letzten Sätze schließlich beinhalten die deutliche Absage an
das Prozedere des Ausschlusses durch die Formulierung der eigenen Gleichgültigkeit und
damit einer Zurücknahme des Vorgangs der SELBSTKRITIK (deren Text selbst der Intention
bereits entgegensteht). Zum einen werden die vielfältigen »Gründe« für den Ausschluss,
dessen Notwendigkeit und Nutzen massiv in Zweifel gezogen werden, nicht näher benannt
und dürfen, folgt man dem Duktus der Zeilen, schon gar nicht auf Seiten des Autors zu
suchen sein, wird zum anderen die Berechtigung der Institutionen, auf den Schriftsteller und
sein Werk zuzugreifen, unter welchen Bedingungen auch immer, kategorisch
222
zurückgewiesen. Der Brief bringt unverhohlen zum Ausdruck, dass sein Autor den
Ausschluss aus dem DSV und seine Umstände als Möglichkeit begreift, seinen Weg, den der
Schritt pflanzt, zukünftig ohne das Gängelband der kulturpolitischen Instanzen zu suchen –
eine echte Chance.
Tatsächlich wird dem Autor, wie die Autobiografie weiß, die letzte Fessel wenig später
abgenommen. »Der Abschluss der Geschichte war: Ich musste den Mitgliedsausweis abgeben
beim Sekretär des Schriftstellerverbandes, das war Otto Braun […] und der sagte zu mir: ›Ich
habe dein Stück gelesen. Wenn du von mir einen Rat willst, es ist Schund. Ich weiß, du hast
es gut gemeint, du hast das Beste gewollt, aber was du geschrieben hast, ist Schund. Nimm es
und verbrenne es. Mein Rat: Geh dorthin, wo dein Stück spielt, damit du die Wirklichkeit
kennenlernst. Arbeite als Traktorist und schlage dich dort erst mal durch. Zwei Jahre lang
wird kein Hund dir ein Stück Brot geben. Und zwei Jahre lang wird kein Hund von dir ein
Stück Brot nehmen. Mach‘s gut.« (KOS 184f.) 587 Der vom 14. Dezember datierte Brief, der
die Empfehlung Otto Brauns schriftlich dokumentiert und den »Kollegen« zur Abgabe des
Mitgliedsbuches an den Verband auffordert, ist als »Dokument 12« in den Materialanhang der
Autobiografie aufgenommen. Interessant ist in Anbetracht der Kenntnis des Stücks die
Empfehlung Otto Brauns an Heiner Müller, als Traktorist zu arbeiten: »Es war die
Himmelfahrt, der Traktor auch hin.« (W 3 225) Neben der Unterschrift findet sich eine
handschriftliche Notiz Brauns: »Vielleicht rufen sie vorher an, wenn sie in den Verband
kommen, und machen eine Verabredung mit mir. Ich hätte gerne mit ihnen über ihre letzte
Stellungnahme und die Zukunft gesprochen.« (KOS 399) Wie diese Zukunft im Rückblick
aussieht, schildert der Schluss des Umsiedlerin-Kapitels.
Marianne Streisands Feststellung, »die Wirkungsgeschichte der UMSIEDLERIN« sei »die
Geschichte einer unterbrochenen Wirkung« 588 , berücksichtigt lediglich die Rezeption eines
Textes, respektive seine Aufführung. Tatsächlich übertraf die (politisch-institutionelle)
Wirkung der für eineinhalb Jahrzehnte einmaligen Aufführung von DIE UMSIEDLERIN
alles, was an ähnlichen Zensurfällen in der DDR-Literatur jemals vorkam. Der Darstellung in
KRIEG OHNE SCHLACHT zufolge ist die ursprüngliche Intention der Behörden, den Text
der UMSIEDLERIN nicht lediglich zu verbieten, sondern ganz und gar auszulöschen. Um
»einen zweiten Fall Pasternak zu verhindern« 589 , werden alle Manuskripte beschlagnahmt.
Bis zum Ausschluss Müllers aus dem DSV liegen Exemplare des Textes in der Akademie und
im Schriftstellerverband »an der Kette« (KOS 176). Auch das Manuskript des Autors wird
eingefordert. Dass der Text über zehn Jahre später unter einem neuen Titel wieder auftaucht,
587
Im Gutachten der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege und der Sektion Darstellende Kunst der Deutschen
Akademie der Künste, datiert vom 1. Februar 1962, heißt es dazu: »Es wäre sicher gut für ihn [Heiner
Müller], ein bis zwei Jahre keine Feder anzurühren und sich eine Arbeit dort zu suchen, wo er die
Grundtendenzen unserer Entwicklung, die Menschen und ihre Arbeit wirklich kennen lernen kann. Das
wäre durchaus keine Strafe, sondern könnte als Erziehungsmaßnahme seine Begabung fördern und seiner
Weiterentwicklung dienen. Müller muss ernsthaft an sich arbeiten.« (zitiert nach Braun 1996, 164)
588
Streisand 1991, 429
589
KOS 177. Die Anspielung auf Pasternak bezieht sich auf dessen ersten und einzigen Roman, DOKTOR
SCHIWAGO. In der Sowjetunion konnte der Roman erst 1987 erscheinen, nachdem Michail Gorbatschow
die Partei- und Staatsführung übernommen hatte. Als Pasternak 1958 der Nobelpreis für Literatur »für seine
bedeutende Leistung sowohl in der zeitgenössischen Lyrik als auch auf dem Gebiet der großen russischen
Erzähltradition« – also seinen verbotenen Roman – verliehen werden sollte, nahm er diesen zwar zunächst
an, lehnte aber später auf Druck der sowjetischen Obrigkeit ab. Dennoch wurde er in der Folge aus dem
sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen.
223
sei der Geistesgegenwart des Autors und seiner Frau zugute zu halten, die den Text, um »das
Manuskript zu retten« (KOS 177), in der Nacht vor der Abgabe im Ministerium noch einmal
abgetippt hatten. »Dieses Manuskript hatte dann auch wieder sein Schicksal: Jahre später, als
die zweiunddreißig Parteistrafen, die wegen UMSIEDLERIN vergeben worden sind, schon
gestrichen waren, saßen die gleichen Leute bei einer Abschiedsfeier wegen der Pensionierung
des Theaterministers zusammen, der auch damals schon während dieser Affäre
Theaterminister gewesen war. Sie erinnerten sich an die alten Tage, und so kamen sie auch
auf dieses schlimme Manuskript, besonders dachten sie an die Pornographie und an die
Parteistrafen. In gehobener Stimmung sagte dann der Minister: ›Dann holt es doch mal her.‹
Sie haben sich dann die schlimmsten Stellen im Suff vorgelesen, und danach sagte der
Minister Bork: ›Verbrennt es.‹ Dann haben sie es verbrannt.« (KOS 177) Die barbarische
Geste ist kein Zufall. Sie zitiert bewusst die totalitäre Praxis der Bücherverbrennung, die ihren
Ursprung im Kult hat. Die Feier der Vernichtung im bacchantischen Reinigungsritual aber,
das der Selbstverständigung und Selbstbestätigung durch das Austreiben der in den eigenen
Reihen befindlichen bösen Geister dienen soll, lässt den Text nicht verschwinden, sondern
knapp fünfzehn Jahre später wiederauferstehen wie Phoenix aus der Asche. »Die einzige
Bedingung der Partei war damals ein anderer Titel: […] Es ging um die [Verhinderung der]
Erinnerung an den Skandal 1961. Ein Funktionär formulierte das so: Die Partei demütigt sich
nicht.« (KOS 202) Die erste Aufführung nach dem Verbot erfuhr das Stück 1975 demzufolge
unter einem neuen Titel (DIE BAUERN) in der Regie von Fritz Marquardt an der Volksbühne
in Berlin. »Der neue Intendant der Volksbühne war Dr. Rödel, in dessen Dissertation die
UMSIEDLERIN in den Bereich der Staatssicherheit verwiesen worden war.« (ebd.) Den
Premierenabend beschreibt Christoph Hein: »Am Tage der Uraufführung von den BAUERN
(der wiederholten Uraufführung der UMSIEDLERIN), stand ich mit ihm vor der Volksbühne.
Einige der Premierengäste kamen auf Müller zu, begrüßten ihn und wünschten ihm Glück.
Plötzlich brach es aus ihm heraus. ›Diese Ratten‹, sagte er leise. Auf meinen erstaunten Blick
hin, bemerkte er verbittert: ›Das sind dieselben, die mir das Stück vor fünfzehn Jahren
verboten haben.‹ Dann näherte sich die nächste Ratte und wünschte Heiner Müller Glück, und
Müller lächelte dankend, die Lippen schmal, den Mund spöttisch verzogen, die Augen halb
geschlossen, die Freundlichkeit in Person, alles verstehend, alles verzeihend und
angeekelt.« 590 Nur für Sekunden bricht der Ekel über die Ratten hinter der Maske der
Freundlichkeit hervor, die die fünfzehn Jahre alte, längst vernarbt geglaubte Wunde verbirgt.
Aus der Perspektive des Rückblicks Mitte der siebziger Jahre erscheint das Stück nicht mehr
als Aufbruch in eine neue Zeit, sondern als Abschluss eines archaischen Prozesses, der die
alten Haltungen – und das ihnen zugestandene utopische Potenzial – noch ein letztes Mal
aktualisiert, bevor sie gemeinsam mit dem »Weltgeist« von deutschem Boden verschwinden.
»Das Problem ist, dass man dieses Stück heute nicht mehr schreiben könnte. Auch schon vor
fünf Jahren hätte man das nicht mehr schreiben können, weil es diese Bauern nicht mehr gab.
Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist der eigentliche Vorgang – ob privat oder
kollektiv ist eigentlich sekundär. Und die Anfänge dieses Prozesses in der DDR beschreibt
das Stück. […] Die Hauptsache war dabei, dass ein Bild von einer Welt auftauchte, in der
etwas andres gedacht werden konnte als das Bestehende, der Glanz des Märchens, der Utopie.
Geschildert wird eine weit zurückliegende, fast archaische Situation, in der alles in Bewegung
war, alles möglich schien. Dass die Bauern in Versen reden, fällt gar nicht auf. Karl Mickel
590
Christoph Hein: Wunden. Für Heiner Müller zum 9. 1. 1996. In: KALKFELL, 24
224
hat das Stück 1961 mit Hegel kommentiert: Der Weltgeist arbeitet in den kleinsten Köpfen.
Das ist das, was man da noch spürt; danach hat sich der Weltgeist entfernt.« (KOS 185f.) Im
Rückblick konstatiert Müller ironisch, das Verbot der UMSIEDLERIN sei »eigentlich eine
Bestätigung unserer Arbeit« (GI 1 151) gewesen.
6.10. Lemnos
Aus der Perspektive des Rückblicks erfahren die Affäre um die Aufführung der
UMSIEDLERIN und der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, der einem Berufsverbot
gleichkommt, am Ende des neunten Kapitels der Autobiografie eine Umwertung ins Positive.
»Die Isolierung nach der UMSIEDLERIN war aber auch sehr wichtig, zwei Jahre Isolation.
Das ist ja das Schwierigste in so einer Gesellschaft, wie kommt man zu einer Insel, zumal mit
einem bestimmten Bekanntheitsgrad. Danach, von 1961 bis 1963, war ich zwei Jahre tabu,
selbst eine Art Insel, und in der Zeit habe ich dann PHILOKTET geschrieben.« (KOS 187)
Der Entzug jeglicher Publikations- oder Aufführungsmöglichkeit treibt den Autor gleich der
sophokleischen Figur Philoktet in die Isolation – sein »Lemnos«. Die stinkende Wunde 591 ,
das verbotene und nun den Geiern zum Fraß vorgeworfene Stück DIE UMSIEDLERIN, kettet
den Erzähler an das öde Eiland seiner Verbannung. Dabei ist die Identifikation mit dem
befallenen Körperteil nicht nur grundsätzlich möglich. Sie lässt den neu entstehenden Text
geradezu zum Kommentar des authentisch empfundenen Schmerzes werden und rettet ihn so
in die Schrift. Müllers Kommentar zur bulgarischen Erstaufführung des Stückes durch
Dimiter Gotscheff ist auch ein Selbstkommentar: »In der Zeit, die dem Schmerz gehört, wird
der Mann zur Fußnote, brüllender Kommentar des kranken Glieds. Die Wunde kann als
Waffe eingesetzt werden weil der Fuß das Loch im Netz bezeichnet, die Lücke im System,
den immer neu bedrohten und neu zu erobernden Freiraum zwischen Tier und Maschine, in
dem die Utopie einer menschlichen Gemeinschaft aufscheint.« (W 8 261) Der gehobene
Duktus der Zeilen lässt erahnen, von welch außerordentlicher Bedeutung die »zwei Jahre
tabu« für Müllers Schreiben gewesen sein müssen, wie wichtig der massive institutionelle
Widerstand gegen die ihm gemäße Form des künstlerischen Ausdrucks. Die Wunde markiert
den historischen Riss, der durch die Figur geht wie durch den Autor. Die schwärende Wunde
als der tragische Rest, der im Geschichtsprozess nicht aufgeht, der Einspruch des Körpers
gegen die Idee von einer imaginären (Welt)Herrschaft des Kommunismus oder eben deren
»Fußnote«. Philoktet verkörpert das fehlende Versatzstück, das Ausgeschlossene, Verdrängte.
Sein Fuß wiederholt für Philoktet das Strukturverhältnis der Griechen zum ausgestoßenen
Helden. Er ist die Metapher für »das Versäumte« (W 1 15). »Ich war die Wunde, ich das
Fleisch, das schrie / Der Flotte nach und dem Gesang der Segel / Ich der die Geier fraß unter
dem Reißzahn / Wohnend der Jahre. Ich und ich und ich. / Mit hohem Preis gekauft mein
Hass gehört mir.« (W 3 313) Müllers Trost: Der stinkende Fuß, DIE UMSIEDLERIN mit all
ihren Folgen, stand in jener Tür, die ihm die kulturpolitischen Institutionen der DDR vor der
Nase zuschlagen wollten. Der Weg zurück auf die Bühne des Landes, das seine Texte
angingen, stand außer Frage. Doch als die Stücke endlich ohne Zeitverzögerung dort
591
»Mit stinkender Frechheit abgrundtief das eigene Nest beschmutzt« (KOS 171), lautete ein Vorwurf im
Parteiverfahren gegen Tragelehn.
225
ankamen, war das Land verschwunden.
Die Identifikation mit dem Ort der Verbannung macht deutlich, dass die Fremdheit – vor
allem auch sich selbst gegenüber – als Bedingung der künstlerischen Produktivität begriffen
werden muss. Mithilfe dieser Sinngebung wird die schwierige Zeit nach dem Verbot der
UMSIEDLERIN in eine Struktur überführt, die es erlaubt, das Leben als Krieg ohne Schlacht
zu betrachten: »Sag mir, wie lang / War ich in meinem Krieg mein eigner Feind.« (W 3 302)
Die Verbannung/Wüste/Insel ist Klausur. Wie im Stück ist der Ort der Verbannung der
Schauplatz des Dramas. Die Tötung des Verbannten ist die Bedingung seiner Reintegration in
das und seine Nutzbarmachung für das Kollektiv. Dazu bedarf es allerdings »eine[r] Figur der
Grenzüberschreitung« (W 8 262) wie Odysseus. »Mit ihm geht die Geschichte der Völker in
der Politik der Macher auf, verliert das Schicksal sein Gesicht und wird die Maske der
Manipulation.« (ebd.) Auch Müller ist als Autor des PHILOKTET in gewisser Hinsicht
»Macher«. Durch seine Schrift macht er nicht nur den toten Philoktet als Modell handhabbar,
denn »[e]rst wenn das Modell geändert wird, kann aus der Geschichte gelernt werden.« (W 8
158). Der Text selbst lehrt den infolge Verbots unmöglich gewordenen Autor zu schweigen
und bewahrt ihn damit vor dem Verstummen. Im Drama seines Lebens bildet diese Einsicht
den ›Zentralen Punkt‹ 592 .
Die Situation, in die der Autor durch die Verbannung geraten ist, ist ambivalent. Zum einen
zwingt sie ihn, seine Arbeit einzustellen, beziehungsweise jenseits jeglicher Form von
Öffentlichkeit zu betreiben. Auf der anderen Seite eröffnet sie, gerade als Folge der
gesellschaftlichen Ausstoßung, die durchaus als Chance zu begreifende Option des Bruchs,
der zugleich Abbruch und Aufbruch ist. So bringt der Erzähler im letzten Absatz des
UMSIEDLERIN-Kapitels seine Situation nach dem Verbot in Analogie zu der Brechts nach
der Machtergreifung Hitlers. »Ohne Hitler wäre aus Brecht nicht Brecht geworden, sondern
ein Erfolgsautor. DREIGROSCHENOPER, MAHAGONNY, das wäre glänzend
weitergegangen, aber Gott sei Dank kam Hitler, dann hatte er Zeit für sich.« (KOS 187) Wie
die Werkgeschichte Müllers eindrucksvoll bestätigt, verfügt Müller über die Fähigkeit, Dinge
ästhetisch konsequent zu Ende zu denken, an ein Ende zu bringen, das kein ›Weiter so‹
zulässt. Und er macht von dieser Gabe, die möglicherweise auf die »zwei Jahre« verordneten
Scheintod nach den Querelen um die UMSIEDLERIN zurückgeht, obsessiv Gebrauch. Die
Folge ist, dass sich seine Texte – inhaltlich wie formal – kaum sinnvoll dem traditionellen
Gattungsgefüge einstellen lassen. Sie bestehen aus der Explosion dramatischer und anderer
poetischer Folien und sprengen so jeden formal-ästhetischen Rahmen. Nicht nur dem einen
Verbot der UMSIEDLERIN kommt eine grundlegende Funktion für den poetischen Ausdruck
zu. Die immer wieder durch Druck-, Publikations- und Aufführungsverbote belegten Texte
sind zugleich Chance und Bedingung der Arbeit des Künstlers, indem sie die künstlerische
Produktion von der Intention einer unmittelbaren Wirkung befreien: »… ich hatte insofern
Glück, dass ich bei den Stücken immer in Konfliktsituationen geriet und eher in der Wüste
landete als im Theater. Ich bin heute noch ungeheuer dankbar für das Verbot von
UMSIEDLERIN. Das hat mich vor vielem bewahrt. Das hat mir zwei, drei Jahre die
Möglichkeit gegeben zu schweigen.« (LN 96) Eben dieses Schweigen bezeichnet Müller im
Zusammenhang mit dem Text PHILOKTET und der Inszenierung des Stücks durch Dimiter
592
›Der Zentrale Punkt‹ ist ein Begriff aus der Filmdramaturgie zur Beschreibung der Peripetie (s. a. Field
1991, 143ff.).
226
Gotscheff Anfang der achtziger Jahre am dramatischen Theater in Sofia als »Grund der
Sprache« seines Theaters. (W 8 269) Im Gespräch betont Müller die generelle
Unabhängigkeit der Kunstwerke von Ort und Zeitpunkt ihrer Rezeption: »Es ist doch
zunächst uninteressant, ob das fertige Produkt morgen in einem Museum steht oder wie eine
Flaschenpost auf dem Atlantik treibt. Ich muss diese Arbeit so gut machen, wie ich kann,
ohne Rücksicht auf Folgen, Umstände und auch auf die Überlebensfähigkeit des Materials,
aus dem ich sie mache.« (GI 1 176)
Das »PHILOKTET«-Kapitel selbst umfasst im Drucktext nicht einmal fünf Buchseiten, von
denen sich wiederum nur drei Seiten mit dem Stück, seiner Entstehung und Aufführung
befassen. Dennoch ist es alles andere als ein Appendix des ebenso umfangreichen wie
dramatischen vorangegangenen über die »UMSIEDLERIN-Affäre«. Wie im Fall des
»LOHNDRÜCKER«-Kapitels der Autobiografie ist die Überschrift durch die
Anführungszeichen zwar explizit als Zitat ausgewiesen. Eine den meisten
Kapitelüberschriften zugeordnete Zeitangabe oder Jahreszahl, die auf einen lebens- und
entstehungsgeschichtlichen Kontext verweist und dem Text den Anschein des
Dokumentarischen verleihen soll, fehlt jedoch. Damit ist eine strukturelle Identität zwischen
dem Ich der Erzählung und dem Stücktext hergestellt, die den Ich-Erzähler der
Lebensgeschichte nicht nur mit der titelgebenden Figur des Philoktet kurzschließt, sondern
gleichfalls mit den anderen Figuren des Textes, Odysseus und Neoptolemos. Dass im Stück,
das sich bis auf den Schluss weitgehend an Sophokles’ Bearbeitung des mythischen Stoffes
hält, der Chor fehlt (bei Sophokles besteht er aus der Mannschaft des Neoptolemos), könnte
ein Hinweis darauf sein, dass von einem übergeordneten gesellschaftlichen
Gesamtzusammenhang vorläufig ganz abgesehen werden muss.
Am Anfang des Kapitels wird noch einmal auf die schwierige ökonomische Situation nach
Stückverbot und Ausschluss aus dem DSV angeknüpft, die bereits im vorangegangenen
Kapitel als einigermaßen trostlos beschrieben wurde (»Das einzige was wir hatten war
Deputatschnaps«, KOS 187). »Das einzige, was ich nach der Affäre UMSIEDLERIN
verkaufen konnte, war ein Kriminalhörspiel, DER TOD IST KEIN GESCHÄFT, unter dem
Pseudonym Max Messer. Das lief über Beziehungen zum Rundfunk und ging nur per
Pseudonym. Da kriegte ich einiges an Geld, denn es wurde sehr oft gesendet. Geschrieben
habe ich in dieser Zeit PHILOKTET.« (KOS 188) Die »Beziehungen zum Rundfunk«
bestanden bereits seit der Arbeit an LOHNDRÜCKER und KORREKTUR. Beide Stücke
gingen ursprünglich auf Rundfunk-Aufträge zurück. Auch KLETTWITZER BERICHT 1958
war als »Hörfolge« angelegt. In früheren Textfassungen wird die Verbindung zum Rundfunk
ausdrücklich als »geheim« (TA 303, HMA 4487, 225) bezeichnet, was darauf schließen lässt,
dass das Berufsverbot nach der Abstrafung im Schriftstellerverband ausnahmslose Gültigkeit
besessen haben muss. Die Folge des Schreibverbots ist, wie zuvor im Zusammenhang mit der
journalistischen Tätigkeit für den »Sonntag«, der »Griff nach dem Pseudonym« (HMA 4487,
124), der nun bereits als selbstverständlich angesehen wird. Allerdings scheint die
Rehabilitation schneller zu erfolgen, als es die Autobiografie dargestellt, denn im gleichen
Jahr wie das Max-Messer-Hörspiel wird im Berliner Rundfunk am 10. Dezember 1962 ein
weiteres Hörspiel ausgestrahlt – ALJOSCHAS HERZ, nach Michail Scholochow –, für das
Müller auf ein Pseudonym verzichtet.
Mit dem Stück PHILOKTET manifestierte sich in Müllers Arbeit die künstlerische Praxis des
Rückgriffs, die für sein Schreiben fortab bestimmend werden sollte. So gehen manche Texte
227
Müllers auf eine Jahrzehnte lange Entstehungszeit zurück. Im PHILOKTET-Kapitel nimmt
die Autobiografie zum ersten mal auf diese Technik bezug. »PHILOKTET war für mich
schon ein uralter Stoff, als ich anfing, daran zu arbeiten. Ich hatte das Stück von Sophokles
schon in Sachsen gelesen, Ende der 40er Jahre. Es hatte mich seitdem immer beschäftigt. Die
Erfahrungen, die gerade hinter mir lagen, haben mir den Stoff ganz anders aktuell gemacht.
Vorher hatte ich an einen anderen Verlauf, an einen andern Schluss gedacht. Ich hatte ein
PHILOKTET-Gedicht um 1950 geschrieben, eine stalinistische Version, in der der beleidigte
einzelne eher ins Unrecht gesetzt wird. Später, 1953, gab es schon eine Szene eines Stücks zu
dem Thema, dann, nach 1961‚ habe ich das Ganze fertiggeschrieben, und es wurde dann
natürlich etwas anderes, als ich mir vorher gedacht hatte.« (KOS 188f.) Der Erzähler blickt
hier auf eine der Fertigstellung vorangegangene individuelle Stoffgeschichte von über zehn
Jahren zurück und deutet zugleich die Metamorphosen an, die das Material in diesem
Zeitraum durchlaufen hat: vom stalinistischen Lehrgedicht, dass den Einzelnen gegen seinen
eigenen Willen dazu bringt, das von ihm »Versäumte« (W 1 15) nachzuholen und wieder in
den Dienst der Gesellschaft zu treten bis hin zum »Umschlag der Tragödie in die Farce« (W 8
265), wie es 1983 im Brief an Gotscheff heißt, der die Stoffgeschichte noch einmal um zwei
Jahrzehnte in die andere Richtung verlängert. In einem späteren Kapitel der Autobiografie ist
im Zusammenhang mit der PHILOKTET-Adaption von einer Ȇbersetzung des Sophokles
ins Römische« (KOS 321) die Rede. Eine Problematik, die Müller immer wieder thematisiert
und variiert: »der Griff des Staates nach den Toten« und ihre Einverleibung in eine
Maschinerie, die tief ins Lebendige schneidet und die Körper erst freigibt, wenn sie – wie in
Kafkas Modell der Strafkolonie vorgeführt – zu neuerlicher Beschreibung nicht mehr taugen.
PHILOKTET wurde 1965 – wie auch das Stück DER BAU – ebenso überraschend wie
zufällig in »Sinn und Form« publiziert. 593 Der Abdruck bescherte Müller infolge des 11.
Plenums des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965 neuerliche Beschränkungen und
Verbote. Der Vorwurf, der ebenfalls Schriftsteller wie Volker Braun, Günter Kunert, Werner
Bräunig und Wolf Biermann (der absolutes Auftritts- und Publikationsverbot erhält) traf, galt
in erster Linie der ›Entfremdung‹, einem bevorzugten Totschlagargument, sowie der
›gröblichen Verletzung unverrückbarer Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und
Sitte‹, wie es im Wortlaut des Parteijargons tautologisch heißt. An eine Aufführung der
Stücke ist nach diesem Kesseltreiben gegen maßgebliche Künstler der DDR nicht zu denken.
In KRIEG OHNE SCHLACHT wird jedoch ein weiterer Grund dafür angeführt, warum sich
die Pläne, das Stück am Berliner Ensemble herauszubringen (»mit Bühnenmusik von
Strawinski und mit Picasso als Bühnenbildner«, KOS 189) zerschlagen: »… die Weigel vor
allem war dagegen, sie fand, dass dem Stück der Kies fehlt, das gleiche Problem wie bei der
MASSNAHME.« (KOS 189) Der Brecht-Vergleich geht auf den Text zurück, den Müller als
Reflex auf die Inszenierung Dimiter Gotscheffs in Sofia verfasst hatte. Dort heißt es: »Helene
Weigel hielt Philoktet, wie Brechts Maßnahme für unspielbar. Ihr fehlte das Zufällige, der
›Kies‹.« (W 8 260)
Die Uraufführung fand 1968 in München statt. Im darauffolgenden Jahr wurde Hans Lietzaus
Inszenierung zum Theatertreffen nach Westberlin eingeladen. »Die [Aufführung] war sehr
erfolgreich und das war der sogenannte Durchbruch im Westen.« (TA (Band 19) 26f.) In
KRIEG OHNE SCHLACHT bezeichnet Müller diese Aufführung als »ziemlich flach« (KOS
593
Sinn und Form 5/1965, 733–765
228
189), es »fehlte eine Dimension« (ebd.). Die Kritik bezieht sich auf die einseitige Festlegung
das Odysseus auf die Rolle des bösen, weil stalinistischen Helden, eine Verkürzung, die die
Rezeption des Stückes im Westen eine Zeit lang wesentlich prägte. Dagegen ist in den Augen
des Erzählers »Odysseus die wichtigste, die tragische Figur 594 « (KOS 189). Der
Stückkommentar von 1968 (DREI PUNKTE. ZU »PHILOKTET«) ist ein erster Reflex auf
diese verkürzte Lesart, der den Modellcharakter der Handlung betont. Es gehe darum,
»Haltungen zu zeigen, nicht Bedeutungen« (W 8 158) zu erzeugen. In einer im Drucktext der
Autobiografie gestrichenen Passage berichtet der Erzähler im Zusammenhang mit der
PHILOKTET-Aufführung in München von seiner ersten Westreise. »Ich selbst war nicht [bei
der Premiere] dabei, habe aber die Aufführung später gesehen. Gysi war Kulturminister, mein
Reiseantrag wurde abgelehnt, weil das Stück in der DDR nicht aufgeführt war. Dann habe ich
ihm noch mal einen Brief geschrieben, und dann durfte ich schließlich fahren. Das war dann
die erste erlaubte Westreise, bei der ich allein fuhr, vorher war ich beim Gastspiel des
Deutschen Theaters mit ÖDIPUS in Zürich gewesen.« 595 Der vom Kulturministerium
angeforderte Bericht über die Westreise wurde den Behörden vorenthalten: »… gar nicht aus
einem heroischen Widerstand heraus, nur aus Schlamperei, aus Faulheit. Ich sah keinen Sinn
darin. Und dann bin ich nie mehr gefragt worden.« (KOS 216f.)
Wurde das Stück im Westen primär auf die Stalinismusproblematik hin zugespitzt, verlieh es
Müller im Osten den Ruf eines »Spezialist[en] für Antike. Immer, wenn jemand ein antikes
Stück machen wollte, wurde man gefragt. Zum Beispiel war das nächste meine Ödipus-
Bearbeitung.« (HMA 4487, 228) Auf der Bühne der DDR sollte PHILOKTET erst 1977
ankommen (am Deutschen Theater Berlin als Gemeinschaftsarbeit von Alexander Lang,
Christian Grashof und Roman Kaminski). in der Autobiografie ist davon keine Rede.
Stattdessen berichtet der Erzähler von zwei weiteren Begegnungen, die auf dem
Missverständnis der stalinistischen Lesart gründen. »Eine Germanistin kam zu mir, sie hatte
entdeckt, dass das Stück den Stalinismus behandelt. Das war mir nicht aufgefallen, sonst hätte
ich das Stück vielleicht so nicht schreiben können. Dann kam ein Student zu mir, der bei
Walter Jens promovierte, mit einer Zettelsammlung in einer Socke, aus Angst vor dem DDR-
Zoll, und meinte, das sei doch offenbar ein Schlüsselstück über Trotzki, denn die erste Insel
vor der Türkei, auf der Trotzki nach seiner Austreibung aus der Sowjetunion sich aufgehalten
594
Erst in der Rohfassung aus dem Nachlass ist die Einfügung »die tragische Figur« (HMA 4487, 226)
vorgenommen. Vor dieser handschriftlichen Änderung hieß es nur »die wichtigste Figur« (ebd.).
595
HMA 4487, 228. Im gleichen Fragment beschreibt Müller anlässlich des Ödipus-Gastspiels in Zürich seine
»erste Erfahrung mit Prostitution« (HMA 4487, 259): »Es war wie beim Zahnarzt, eigentlich ganz simpel.
Ich wollte es mal ausprobieren. Sie standen immer auf der Limmat herum. Prostitution ist in Zürich
verboten, in der Schweiz überhaupt. Der Trick besteht darin, dass die einen nicht ansprechen dürfen. Die
müssen so lange herumstehen und sich bewegen, bis sie angesprochen werden. Dann erlaubt die Polizei
alles. Und ich habe also eine angesprochen, die ganz gut aussah, und so halb hinter, halb neben mir stand
einer, der wollte sie auch anquatschen. Sie fragte so auf Schwitzerdütsch: ›Gehört der zu Ihnen?‹ Ich sagte
›Nee‹. Darauf hat sie ein Taxi rangewinkt, und dann sind wir in das Kabuff gefahren, wo sie ihre Zelle hatte,
ihre Arbeitsstätte, so eine Etage, in der sie wirkte. Es war wirklich klinisch dort, fürchterlich. Das Größte
war der Moment, in dem sie während unseres Pflichtbeischlafs fragte, ob ich schon in Urlaub gewesen wäre,
ich wäre so schön braungebrannt. Und dann sagte sie: ›Nicht an die Haare fassen!‹ Und außerdem erzählte
sie mir natürlich pflichtgemäß auch noch, dass sie das nur macht, um sich eine Boutique zu erarbeiten. Sie
war noch ziemlich jung. Es war absolut schweizerisch klinisch. Ich kam mir hinterher nicht sehr heroisch
vor. Ich habe die Sache durchgestanden, ja, aber ich kam mir nicht wie ein Held vor. Später habe ich es
dann noch einmal mit einer polnischen Prostituierten gemacht, aber das war noch deprimierender. Die
erzählte von einem schwedischen Grafen, der für sie auf einer Insel ein Schloss baut, fürchterlich. Irgendwie
bejammernswert.« (HMA 4487, 259f.)
229
hatte, bestand aus rotem Stein. Darauf wäre ich auch nie gekommen, aber so kann man es
natürlich lesen. Man muss es dann nur noch einmal lesen, oder dreimal. Oder so lange, bis
man Stalin und Trotzki vergessen hat.« (KOS 190) Müller kommt hier noch einmal
ausdrücklich auf die Blindheit der Intention beim Schreiben zurück, die er bereits im
Zusammenhang mit seinem Stück DER LOHNDRÜCKER konstatiert hatte. Immerhin hatte
Müller mit dem frühen Gedicht PHILOKTET 1950 selbst die Fluchtlinie von Philoktet zu
Stalin, in seinen späteren Stückanmerkungen die von Etzels Saal nach Stalingrad gezogen (s.
a. W 8 158). In einer Neuadaption des PHILOKTET-Stoffes auf dem Scheitelpunkt atomarer
Aufrüstung entdeckt Müller 1979 die touristische/archäologische Dimension des Materials:
Am Ende des als »Drama und Ballett (Entwurf)« untertitelten Beitrags für die »Zeit« erfindet
Schliemann, Vater des »klassischen« Blicks auf die Antike, die Neutronenbombe, »die
Traumwaffe der Archäologie, das Finalprodukt des Humanismus« (W 5 10). Wenn Stalin,
Trotzki und Schliemann vergessen sein werden, wird sich zeigen, ob die Struktur Müllers
PHILOKTET haltbar und offen genug ist, neue Vorgänge aufzunehmen, »gleiche, ähnliche
Vorgänge in der Geschichte« (W 8 158).
Dafür, dass der Autor der UMSIEDLERIN und der GRUSSADRESSE sein Exil überwandt
und immer wieder neu überwinden musste, ist PHILOKTET das ästhetische und
gleichermaßen biografische Modell. Dass der Krieg um Troja nicht den Kampf des
sozialistischen Ostblocks gegen die Festung des Kapitalismus symbolisiert, sondern »die
Utopie einer menschlichen Gemeinschaft« (W 8 261) am Leben hält, die mit dem
Verschwinden der kommunistischen Idee von der politischen Landkarte nicht aus der Welt ist,
muss nicht betont werden. »Die Steine weg. Lad mir den Leichnam auf. / Ich will dem Toten
meine Füße leihn.« (W 3 325) Die Füße, die Heiner Müller aus seiner staatlich verordneten
Verbannung trugen (in dem dramatischen Gedicht MOMMSENS BLOCK wiederholte sich
die Situation infolge des Wegbrechens des Staates und der Idee, die damit verloren ging noch
einmal) waren sein Schreiben. Die Spuren sind seine Schrift.
Die ökonomischen Schwierigkeiten im Zuge des Ausschlusses aus dem DSV und der sich
daran anschließenden zweijährigen Karenzzeit konnten von Inge und Heiner Müller nur
dürftig überbrückt werden. Erwähnt werden in diesem Zusammenhang Drehbücher für
Dokumentarfilme über westdeutsche Schulbücher, den Bau einer Pipeline durch die Oder und
einen Film über Buchenwald. In früheren Textstufen der Autobiografie ist zudem die Rede
von einem gemeinsamen Filmprojekt mit Tragelehn: »DIE FAHNE VON KRIWOJ ROG
[…] war eine Art Bewährungseinsatz von Tragelehn. Er führte Regie bei diesem Fernsehfilm
nach einem Roman von Otto Gotsche, einer Geschichte aus der Nazi-Zeit. Das war überhaupt
das erste, wa[s] wir wieder machen durften.« (HMA 4487, 233) Dieser Erinnerung liegt eine
falsche zeitliche Einordnung zugrunde, weshalb sie in der Druckfassung getilgt ist (ein
weiterer Grund mag in dem geringen künstlerischen Stellenwert bestehen, den der Erzähler
diesem Auftragswerk beimisst). Für die Verfilmung des Romans von Ulbrichts Sekretär, Otto
Gotsche, hatten Heiner und Inge Müller 1959/60 das Drehbuch geschrieben. Der Fernsehfilm
wurde am 6. Mai 1960 im Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt. Dass diese Arbeiten jenseits
230
der eigenen künstlerischen Produktion und somit außerhalb des abstrakt als »Werk«
verstandenen Textkorpus’ angesiedelt werden, geht aus dem diese Passage beschließenden
Satz hervor: »Das Bedrückende ist, wie viel Zeit man mit diesen Brotarbeiten vertan hat, tote
Zeit.« (KOS 195) In einer früheren Fassung ist die Konstatierung der Zeitverschwendung
durch einen Hinweis auf das angespannte Verhältnis zu Inge Müller, deren Suizidversuche
sich häufen, zusätzlich problematisiert. »Das Bedrückende ist, wie viel Zeit man mit diesen
Brotarbeiten verbraten [hs. geändert in ›vertan‹] hat, in denen es nur um das Geld ging. Was
das für Zeit gekostet hat. Eigentlich war es eine tote Zeit, und ich glaube, dass [hs. geändert in
›das‹] war auch die schlimmste Zeit mit [hs. geändert in ›für‹] Inge.« (HMA 4487, 233) Diese
Darstellung widerspricht der am Ende des UMSIEDLERIN-Kapitels als Chance
beschriebenen Isolation, die den PHILOKTET gebar, nur scheinbar. Durch die
handschriftliche Änderung der Präposition »mit« in »für« wird der interpersonelle Konflikt in
einen Konflikt Inges mit ihrer Situation umgewandelt. Für den Erzähler hingegen wird die
»tote Zeit« nicht »leere Zeit« 596 , sondern mit dem Tod verbrachte Zeit. Das entspricht der
Herkunft des Dramas aus dem Totenkult, es ist »Dialog mit den Toten« (W 3 165 u. JN 31).
»Der Auftrag für BAU kam 1963/64 vom Deutschen Theater.« (KOS 193) Geplant war eine
Bühnenadaption des Romans SPUR DER STEINE (1964), für den der Autor Erik Neutsch
den Nationalpreis der DDR erhalten hatte. Als Müller die Arbeit an dem Stück begann, war
der Roman noch nicht einmal erschienen. Wie im elften Kapitel der Autobiografie, »DER
BAU, 1964«, berichtet wird, ergaben sich bereits in dieser frühen Entstehungsphase erste
Differenzen zwischen dem Romanautor und dem Stückeschreiber. »Irgendwann bin ich mit
dem Neutsch-Manuskript sehr frei umgegangen. Dann gab es Differenzen mit Neutsch
darüber, dann die Einigung, dass die Namen geändert werden, der Titel geändert wird, dass es
nur noch heißt: ›Nach Motiven von Erik Neutsch‹ …« (KOS 193). Müller diente die Baustelle
lediglich als thematische Klammer für die Gestaltung von Konflikten, die in ihrem poetisch-
philosophischen Gehalt weit über das hinaus gehen, was man geneigt ist,
»Produktionsliteratur« im Sinne des »Bitterfelder Weges« zu bezeichnen. »In meinem Stück
der Bau […] ist der Anlass absolut lächerlich. Das Kraftwerk, das gebaut wird, ist nur da, um
die Leute auspacken zu lassen, was sie so auf dem Herzen haben.« (GI 1 34) Dennoch ist das
Stück alles andere als ein Kommentar zur politischen Situation in der DDR nach dem
Mauerbau, die als Material des Stücks eine vergleichsweise geringe Rolle spielt.
Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte 597 macht deutlich, dass die kulturpolitischen
Kontrollinstanzen ihre Lektion aus der UMSIEDLERIN-Affäre gelernt hatten. In der
Autobiografie ist von einem langen »Hin und Her im Ministerium« die Rede, »die üblichen
Diskussionen. Mein Manuskript lag im Ministerium, in der Bezirksleitung der Partei, im
Zentralkomitee. Es gibt ein Manuskript, wahrscheinlich die zweite Fassung, mit
596
Benjamin-GS I, 701
597
»Von Bau gab es mindestens vier Fassungen, oder fünf, ein Riesenkonvolut. Diese fünf Fassungen waren
Reaktionen auf Reaktionen.« (KOS 196) Im Archiv des Deutschen Theaters finden sich sieben Fassungen
des Stücks. Die (maßgebliche) vierte, Grundlage der Publikation in Heft 1/1965 von »Sinn und Form« ist
zugleich die ästhetisch radikalste. Mit den späteren Fassungen »versucht Müller, die an ihm geübte Kritik
umzusetzen und die ›Errungenschaft DDR‹ als in wesentlichen Ansätzen schon vollzogene geschichtliche
Erfahrung zu würdigen.« (W 3 550) Diese Ansätze werden mit der Aufnahme in den Stückeband (Berlin,
Henschel-Verlag 1975) wieder verworfen. Zur Entstehungsgeschichte und den Fassungen s. a. auch den
Anmerkungsapparat in der Werkausgabe (W 3 549ff.) sowie Frank Hörnigks Aufsatz: »BAU-Proben 1965
bis 1996«. In: KALKFELL, 25–29
231
Randbemerkungen aller Abteilungen, Apparate und Personen. Das ist urkomisch. Ministerium
und Partei schrieben immer nur: ›Falsche Sicht der Partei‹.« (KOS 193f.) Die
Auseinandersetzung innerhalb der Institutionen dürften vor allem der Rolle der Arbeiterklasse
gegolten haben, die Müller, entsprechend der Auslotung der Konfliktlage »auf dem Lande« in
DIE UMSIEDLERIN, wiederum nicht als Überwinder der alten Verhältnisse, sondern als
Heer von Maulwürfen darstellt, die im Schlamm der Geschichte nach den Versatzstücken der
Zukunft graben. Eine Notiz aus dem Nachlass bestätigt diese Lesart: »Bau / Die toten Maurer
/ Das unterirdische Kraftwerk« (HMA 4488) Das Notat aus dem Entstehungszusammenhang
von KRIEG OHNE SCHLACHT verdeutlicht, dass es sich bei der (babylonischen) Baustelle
vor allen Dingen um ein poetisches Grabungsfeld zur (Re)Konstruktion von Zukunft handelt
und weniger um den Aufbau der schönen neuen Welt des Sozialismus. Auf die institutionelle
Kritik reagiert der Autor nicht etwa mit der Umarbeitung in eine parteikonforme Fassung.
Vielmehr löst er das Stück sukzessive von der stofflichen Grundlage ab: »Ich habe immer
mehr von dem Stoff weggeschrieben, obwohl oder weil der Stoff mich von Anfang an
interessierte. Es wurde immer metaphorischer, immer mehr Parabel, von Neutschs Titel auf
den Kafkatitel zu. Es fiel immer mehr konkreter Romanstoff weg. Parallel dazu liefen die
Debatten. Für die Kontrolleure wurde die Sache immer undurchsichtiger.« (KOS 196) Eine
dezidierte Untersuchung der BAU-Texte Kafkas und Müllers würde sicherlich zu
erstaunlichen Ergebnissen hinsichtlich ihrer strukturellen Verwandtschaft führen, die über die
Identität der Titel weit hinausgeht. An dieser Stelle soll nur ein Aspekt grob angedeutet
werden. Bildet der »Bau« für Kafkas Tier die Grundlage subjektiver Identität, wird die Arbeit,
die zur Erhaltung des »Baus« notwendig ist zum Anlass der Selbstentfremdung. Im ersten
Satz wird der »Bau« als abgeschlossenes Ganzes eingeführt (»Ich habe den Bau eingerichtet
und er scheint wohlgelungen.« 598 ) und durch die Beschreibung der reproduzierenden
Tätigkeit seiner Erhaltung und jeweiligen Neuaneignung im Textverlauf dekonstruiert. Das
»Zischen« 599 erscheint als Äquivalent zu dem fatalistischen Eingeständnis einer nicht
bekannten und doch anerkannten Schuld, die, wie in Kafkas Roman DER PROZESS zu einer
Verurteilung des Beschuldigten führen muss. Müllers BAU ist dagegen als Versuchsfeld zur
Erprobung sozialer Verhaltensweisen konstruiert. Im Stück tritt an die Stelle des Subjekts das
Kollektiv aller am Bau beteiligten und mit ihm in Beziehung stehenden Figuren und deren
Haltungen. Die Geräusche aus der Baugrube sind von Beginn an als Störgeräusche angelegt
(etwa das Zertrümmern der alten / neuen Fundamente), die den »Geschäftsablauf« immer
wieder unterminieren. Liegt bereits bei Kafka unter der sich in unendlichen syntaktischen
Schleifen vollziehenden Begründung der Subjektivität eine chorische Qualität verborgen, die
tendenziell an ihrer Auflösung arbeitet, ist sie bei Müller von vornherein in einen Chor
divergierender Stimmen aufgelöst, die ein im Bühnenboden/Bühnenturm des Textes
verborgener, mithin nicht genau zu verortender Bauplatz (die »Stimmen« kommen von oben
und unten) nur mühsam verklammert. Die Metapher erscheint heute, betrachtet aus der
Distanz zu den historischen Aufbauprozessen in der DDR eher geräumiger als dies in den
sechziger Jahren der Fall gewesen sein dürfte. Kafkas Erzählung schließt mit dem
Verschwinden des Subjektes. Der letzte Satz seiner (zwangsläufig?) unvollendeten Erzählung
hat keinen Sprecher: »Aber alles blieb unverändert. – –« 600 Ein paralleler Vorgang findet im
598
Franz Kafka: Der Bau. In: Ders.: Das Werk. Ffm. (Zweitausendeins) 2004, 940
599
Franz Kafka: Der Bau … 954
600
Franz Kafka: Der Bau … 968
232
Text DER BAU statt. Zwar sind die Worte hier unbestreitbar der Figur der Ingenieurin Schlee
zugeordnet, die ein außereheliches Kind des Parteisekretärs Donat erwartet, doch wird auch
hier auf die Dominanz der Personalpronomen im letzten Teilsatz zugunsten einer
referenzlosen Aussage verzichtet: »Wer braucht die Sterne? Ich werde also lügen für dich und
das ist die Wahrheit: dein Kind wird keinen Vater haben, wir werden uns mit Genosse
anreden wie vorher, ich werde den Vogel nicht einscharren, der im Frühjahr singt, du wirst
die Sonne nicht aus dem Himmel reißen, der Schnee wird nicht liegen bleiben, bis zum
nächsten Winter.« (W 3 396) Kündigt der in der Szenenüberschrift »SCHNEE« symbolisierte
über das utopische Projekt verhängte Baustopp 601 die Erstarrung (Unveränderbarkeit) der
Verhältnisse an, die sich auch im Verhältnis der Figuren Donat und Schlee (wie Schnee)
spiegelt, lässt der letzte Satz der Schwangeren, der das Stück beschließt, ein späteres
Morgenrot oder die Schneeschmelze jenseits des Textes doch zumindest als denkbar
erscheinen. Nicht zufällig bleibt die schwangere Ingenieurin in DER BAU wie die
Neubäuerin Niet in DIE UMSIEDLERIN in anderen Umständen auf der Bühne des Textes
zurück. Der Geburtsvorgang bleibt einer Zukunft jenseits des Stückes vorbehalten. Was da zu
gebären sein wird, hängt wohl von der jeweiligen historischen Perspektive der Aufführung
des Textes ab. Im Laufe Müllers Arbeit als Dramatiker gewannen indes die Frauenbilder an
den Stückenden an Radikalität, man denke nur an die Ophelia/Elektra der
HAMLETMASCHINE oder den Schlusssatz der Merteuil in QUARTETT: »Jetzt sind wir
allein/ Krebs mein Geliebter.« (W 5 65)
Die Reaktion eines deutschen Germanisten auf die legendäre Kafka-Konferenz von 1962 in
Liblice bei Prag, die ausgehend von Kafkas Werk die normative Gültigkeit des
»Sozialistischen Realismus« grundsätzlich in Frage stellte, spiegelt das geistige (geistlose)
Klima der Zeit. »Ein Literaturwissenschaftler an der Humboldt Universität sagte damals ›Die
Methode Franz Kafkas, einen Menschen in einen Käfer zu verwandeln, ist für uns nicht
akzeptabel.‹ Sie hatten andre Methoden.« (KOS 194) Dessen ungeachtet erschien Mitte der
sechziger Jahre ein umfangreicher Kafka-Band (Berlin, Rütten & Loening 1965), der die
wichtigsten Erzählungen – darunter Kafkas Tierwerdungen EIN BERICHT FÜR EINE
AKADEMIE, DIE VERWANDLUNG und DER BAU – sowie die Romane DER PROZESS
und DAS SCHLOSS enthält. Dass an eine Aufführung des Müller-Stücks dennoch nicht zu
denken war, deutete sich an, als in der Zeitung »Junge Welt«, dem Organ der FDJ, ein Artikel
des Germanisten Hermann Kähler, »einer gestandenen Kreatur« 602 gegen das in »Sinn und
Form« abgedruckte Stück 603 erschien. Auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember
1965 zogen Ulbricht und Honecker (damals Beauftragter für Sicherheitsfragen beim ZK)
bereits den Schlussstrich unter Müllers Stücke PHILOKTET und DER BAU und entzogen sie
so für länger als eine Dekade den Bühnen der DDR und einer damit verbundenen breiteren
Rezeption. Auch der inszenierte Rettungsversuch, ein im Januar 1966 in »Sinn und Form«
abgedrucktes Gespräch zwischen dem Herausgeber der Zeitschrift, Wilhelm Girnus, den
601
Eine Referenz an den »Turmbau« (W 3 486) zu Babel findet sich bereits in der vorangegangenen Szene
ZYKLOGRAMM ODER TANZ DER STEINE.
602
KOS 196. Interessant ist die Genese dieser Charakterisierung, die im Resultat eine durch Zusammenziehung
bewirkte semantische Neubewertung erfährt: »Herrmann Kähler, das war eine richtige Kreatur, aber ein sehr
gestandener Germanist« (TA (Band 18) 1); »Hermann Kähler, […] eine richtige Kreatur, aber ein
gestandener Germanist« (HMA 4487, 234).
603
Heiner Müller: Der Bau. Nach Motiven aus Erik Neutschs Roman »Die Spur der Steine«. Sinn und Form
1/1965, 169–227
233
Theaterwissenschaftlern Werner Mittenzwei und Rudolf Münz sowie Heiner Müller über
BAU und PHILOKTET, schlug fehl. »Da musste gelogen werden. Es war mehr ein Verhör
als ein Gespräch. Ich bekam die Chance, durch gutes Lügen meine Texte vor der Verurteilung
zu retten das Verhör war auch eine Verschwörung.« (KOS 198) Wiederholt betont Müller in
dem Gespräch das produktive Potenzial der abgedruckten »Arbeitsfassung« (Müller 1966, 31)
von DER BAU und resümiert seinen Standpunkt: »PHILOKTET behandelt Ereignisse aus der
Vorgeschichte der Menschheit, die in großen Teilen der Welt noch geschieht, wo die
Qualitäten der Figuren für sie tödlich sind, DER BAU ist ein Bericht aus der Geschichte der
Deutschen Demokratischen Republik, wo die Qualitäten produktiv werden.« (Müller 1966,
47) Doch die härtere Gangart, die das 11. Plenum gegenüber von der Vorgabe des
»Sozialistischen Realismus« abweichenden Künstlern eingeschlagen hatte, setzte sich durch.
Die proben wurden ausgesetzt. »Im Theater wurde mir der Abdruck in ›Sinn und Form‹
übelgenommen. Sie meinten, jetzt könne die Aufführung nicht mehr stattfinden. Das Verbot
kam nicht sofort, nach der Erwähnung des Stückes auf dem 11. ZK-Plenum liefen die Proben
erst noch weiter. […] Dann hat Besson die BAU-Inszenierung übernommen, und nach einer
Probenwoche wurde es verboten. Ein klares Verbot, eine Weisung, als Folge des 11 .
Plenums, mit dem Referat von Honecker, in dem er verschiedene Untaten der Künstler
aufgedeckt hatte unter anderem mein Stück. Aber diesmal hatte das kein Nachspiel wie bei
UMSIEDLERIN, ich hatte nur wieder kein Geld.« (KOS 198ff.) Trotz des
Aufführungsverbots hatte Müller mit Benno Besson erstmals einen Regisseur von
internationalem Rang, der bei seiner Rehabilitation als Dramatiker in der DDR eine nicht
unerhebliche Rolle spielen sollte. Im Gegensatz zu dem Stück PHILOKTET, das bereits 1968
in München seine erfolgreiche Uraufführung erfahren hatte, musste DER BAU warten, bis die
Volksbühne sich 1980 des Textes annahm. Im Westen bestand an dem vermeintlichen
›Produktionsstück‹ kein Interesse. »Als das Stück 1980 an der Volksbühne von Fritz
Marquardt aufgeführt wurde, gab es eine Empfehlung der Partei, das Stück nicht zu machen.
Der neue Intendant hat es riskiert, wie Besson fünf Jahre vorher die Umsiedlerin. […] Die
Kritik war langweilig. Es gab nur noch Zustimmung.« (KOS 202) Aus einem »Gebilde, das
aus seiner eigenen Explosion besteht« (W 3 394) war eine zeitlich entrückte Parabel
geworden.
Nachdem die Probenarbeit an DER BAU am Deutschen Theater unter der Leitung des Chef-
Regisseurs, dem ehemaligen Brechtmitarbeiter Benno Besson »als Folge des 11. Plenums«
(KOS 200) bereits wenige Tage nach ihrem Beginn wieder eingestellt wurde, erhielt dieser
das Angebot, Sophokles’ ÖDIPUS TYRANN zu inszenieren. Müller nahm den Auftrag, eine
Stückfassung für die Aufführung herzustellen, gern an. »Der ÖDIPUS war in der
Zwischenzeit eine gute Nebenbeschäftigung, und es war sehr interessant, am Deutschen
Theater mit Besson zu arbeiten. […] Es hat mich sehr interessiert, weil es die Hölderlin-
Fassung gab. Ich habe gedacht, das kann man einfach in die Schreibmaschine nehmen, ein
paar Kommata anders setzen, und fertig. Dann hat es mich aber wirklich interessiert.« (KOS
203) Die Textfassung stellte Müller in enger Absprache mit dem Regisseur her. Sie folgt mit
minimalen aber akzentuierten syntaktischen und semantischen Veränderungen der
234
Übersetzung Hölderlins. Der Fokus liegt in Müllers Fassung stärker als bei Hölderlin auf dem
Scheitern gesellschaftlicher Emanzipation infolge der Bindung von Wissen an Macht. »Für
Sophokles ist Wahrheit nur als Wirklichkeit, Wissen nicht ohne Weisheit im Gebrauch; der
Dualismus Praxis Theorie entsteht erst. Seine (blutige) Geburt beschreibt das Stück. Seine
radikalste Formulierung ist der Atompilz über Hiroshima. Die Haltung des Ödipus bei der
Selbstblendung (denn süß ist wohnen / Wo der Gedanke wohnt entfernt von allem) ist ein
tragischer Entwurf zu der zynischen Replik des Physikers Oppenheimer auf die Frage, ob er
an einer Bombe mitarbeiten würde, wirksamer als die H-Bombe, wenn dazu die Möglichkeit
gegeben sei: Es wäre technisch süß (technically sweet), sie zu machen.« (W 8 155) Die
Überwindung der Sphinx vermittelst einer von der unmittelbaren Praxis abstrahierenden
Verstandeskraft befreit die Stadt Theben nicht nur von der Abhängigkeit eines
undurchschaubaren Naturzusammenhangs, die Anwendung der Gewalt (Tötung des Vaters
Lajos) beraubt sie zugleich ihres legitimen Herrschers. Die offene Wunde/Leerstelle bewohnt
Ödipus, dessen Fuß die Schleifspur des Fortschritts markiert. Das Drama führt den Rückweg
auf dieser Spur vor, der den Erkenntnisprozess, das zu sich selbst Kommen, als Prozess der
Selbstentfremdung kenntlich macht (»er hat die Zeit überrundet: / In den Zirkel genommen,
ich und kein Ende, sich selber«, W 1 158). Der Augenblick tiefster Einsicht ist für Ödipus nur
durch Blendung zu ertragen, dem Rückzug in sein selbst. Damit entzieht er sein Beispiel dem
Nutzen der Gemeinschaft. Müller fokussiert die Handlung auf das Moment der
Selbstblendung, die Verweigerung der Wahrnehmung, die das subjektive Drama für das
Kollektiv handhabbar machen könnte, zugunsten der Ansiedlung in der eigenen Ideologie
(»Denn süß ist wohnen …«). Zugleich stürzt das Kollektiv zurück in die alte Abhängigkeit
einer nicht durchschaubaren, in Grenzen jedoch manipulierbaren Natur, wie Kreons Abwarten
des Seherspruchs am Ende des Stückes andeutet. Eine inhaltliche Scheidung von Verdienst
und Verbrechen, wie sie Müller nur ein Jahr später exemplarisch im HORATIER
durchspielen sollte, ist im ÖDIPUS nicht möglich. Deshalb gibt es im Stück keine Lösung:
Die Verwerfung der Haltung Ödipus/Oppenheimers »bleibt folgenlos, wenn ihr nicht der
Boden entzogen wird.« (W 8 155) Diese Aufgabe wird als Forderung an die Zuschauer
zurückgegeben.
Besson ist der erste einer Reihe von Künstlern, auf deren Arbeit Müller in seiner
Autobiografie mehr oder weniger ausführlich Bezug nimmt. Die erste Hälfte des Kapitels
widmet sich fast ausschließlich der Charakterisierung Bessons Arbeit, weniger des Ödipus im
besonderen, als vielmehr ihrem Stellenwert im Kontext des DDR-Theaters im Allgemeinen.
Die Polemik, Besson hätte einen artifiziellen Manierismus einer klaren politischen Haltung
vorgezogen und insbesondere mit seiner legendären Inszenierung Jewgeni Schwarz’ DER
DRACHE (Deutsches Theater 1965) maßgeblich zum Tod des politischen Theaters in der
DDR beigetragen, mag unzutreffend sein. In einer früheren Textfassung der Autobiografie
wird ausgehend von Brechts (unvollendeter) CORIOLAN-Inszenierung (1952/53) und den
sensationellen Arbeiten des Theaterplastikers Eduard Fischer näher spezifiziert, was mit dem
»Ende des politischen Theaters in der DDR« (HMA 4487, 252f.) gemeint ist: »… das Ende
der Wirkung. Es war ganz charakteristisch, sobald das Theater sich selbst darstellt, ist es
vorbei und hat keine Wirkung mehr.« (HMA 4487, 253) Die Äußerungen können als Indiz
dafür betrachtet werden, wie der Erzähler (Theater-)Geschichte für sich zurechtbiegt, um
seinen Blick für das eigene Bild zu schärfen: das des kompromisslosen Künstlers, der
Zugeständnisse an die Kunst nur unter dem Vorbehalt der Zensurkeule zu machen bereit ist.
235
Und zwar nicht dadurch, dass er mit selbstzensorischer Geste in seine Arbeit eingreift,
sondern indem er Arbeitseinschränkungen und Publikations- und/oder Aufführungsverbote in
kauf nimmt. Sieht der Erzähler in dem niederen Blick auf ›große Gegenstände‹ eine
subversive Qualität Bessons Arbeitsweise, spricht er ihm zugleich das Gespür für das
Tragische ab, das in Müllers Augen für das Stück konstitutiv ist, wie es in dem oben zitierten
Text NICHT KRIMINALSTÜCK, dem Programmheftbeitrag Müllers zur Uraufführung
seiner Ödipusbearbeitung am Deutschen Theater Berlin 1967 heißt. Dem Mangel an
künstlerischer Akzeptanz (»Mich hat seine Arbeit eigentlich nie wirklich berührt«, KOS 205)
steht die Anerkennung Bessons Arbeit als Chefregisseur des Deutschen Theaters, später als
Intendant der Volksbühne entgegen. So sei insbesondere Bessons Umgang mit den
behördlichen Kontrollinstanzen vorbildlich gewesen. »Besson war eine Voraussetzung für
viele Aufführungen meiner Stücke in der DDR.« (ebd.) Entsprechend dem Verdikt der
Entpolitisierung des Theaters (in der DDR war unpolisches Theater im Grunde undenkbar),
wird die Ödipus-Inszenierung als politisch wirkungslose und künstlerisch erfolgreiche
»Klassikerinszenierung von hoher Qualität« (KOS 206) beschrieben. 604 »Besson hat
politische Ideen, aber sie verschwinden auf der Bühne, in der Kunstfalle, die nicht nur Ideen
frisst. Die Proben waren interessanter als die Aufführung, auch das gehörte zu Besson. Je
mehr es auf die Premiere zuging, desto mehr Brüche und Risse fielen weg.« (ebd.) Damit ist
zugleich auf das ästhetische Selbstverständnis Heiner Müllers Bezug genommen, der – im
Gegensatz zu Besson – nicht nur in seinen späteren Regiearbeiten, sondern vor allen Dingen
auch in der Tätigkeit als Schriftsteller, den Prozess über das Ergebnis stellt.
Ein Text über den mythologischen Arbeiter Herakles und die Ausmistung des Augiasstalls,
HERAKLES 5, den Müller als Satyrspiel zum ÖDIPUS entworfen hatte, lehnte Besson ab. Im
Gegensatz zu Ödipus kann Herakles die Beherrschung der Natur mit dem Wohl der
Gemeinschaft und darüber hinaus seinen eigenen (leiblichen) Bedürfnissen in Einklang
bringen. Dieser Synthese fällt allerdings nicht nur der metaphysische Überbau (»Herakles
rollt den Himmel ein und steckt ihn in die Tasche«, W 3 409), sondern auch eine
Daseinsberechtigung der Natur jenseits der Zielsetzungen und Zwecke des Menschen zum
Opfer. Es überrascht, dass in der Autobiografie davon die Rede ist, »diesen Text als Satyrspiel
vor ÖDIPUS zu inszenieren« (KOS 209). Anlässlich der Theateraufführungen zu den
attischen Dionysien schloss das Satyrspiel, in dem die komisch-leiblichen Aspekte
überwogen, eine Folge von drei Tragödien ab (wie sie einzig mit der Orestie des Aischylos
noch geschlossen vorliegt, allerdings fehlt das dazugehörige Satyrspiel). Angesichts dieser
historischen Tatsache ist es denkbar, dass hinter der Umkehrung der von Müller ursprünglich
beabsichtigten Aufführungssituation geschichtsphilosophische Erwägungen stehen, wie sie
etwa in seinem Text PROJEKTION 1975 zum Tragen kommen: »Im Jahrhundert des Orest
und der Elektra, das heraufkommt, wird Ödipus eine Komödie sein.« (W 1 199)
Den Ausführungen zu ÖDIPUS und Besson schließt sich die erste Zwischenfrage des
ÖDIPUS-Kapitels an, die den Tod Inge Müllers, am 1. Juni 1966, thematisiert. Einen
thematischen Anknüpfungspunkt findet das Suizid-Motiv im Tod der Mutter/Frau des Ödipus,
Jokaste: »CHOR: Die Unglückliche. Tot? Durch welches Unglück? / MAGD: Sie selber
durch sich selbst. Doch ist vom Wort / Das Traurigste entfernt. Der Anblick fehlet.« (W 6 45)
604
Im Gespräch setzt sich Müller wiederholt mit dem von ihm als Widerspruch gedachten Verhältnis von
Erfolg und Wirkung auseinander (s. a. GI 1 22, 47, 67 u. a.).
236
Müllers 1975 zuerst unter dem Rimbaud zitierenden Titel WÜSTEN DER LIEBE erschienene
Prosatext DIE TODESANZEIGE liefert das Bild nach/vor. Müller hatte das Motiv des
Freitods seiner Frau, Inge, in diesem Text bereits literarisch verarbeitet und – insbesondere
durch die Tötungsphantasie der Hühnergesicht-Episode und den TRAUM-Text, der die
ödipale Phantasie eines umgekehrten Geburtsvorgangs beschreibt – einem komplexeren
Bezugsfeld jenseits der subjektiven Wahrnehmung des Todes eingestellt. In KRIEG OHNE
SCHLACHT wirft Müller die in der Stoffgenese des Prosatextes gekennzeichnete
Problematik der Ich-Werdung noch einmal explizit auf: »In einem Stück sind vierzig Morde
kein Problem, aber plötzlich schreibe ich ›Ich erstach ihn.‹ Das war ein Schock, eine ganz
andere Erfahrung. Ich hatte angefangen, das in der dritten Person zu schreiben, dann habe ich
gemerkt, das ist kein Ausweg. Daher die abschreckende Wirkung auf viele, auch auf mich.
Ich war erschrocken über das, was ich da schreibe, aber das gab mir nicht das Recht, es nicht
zu schreiben.« (KOS 211) Hieß es in einem alternativen Textentwurf der Erzählung »Sie war
Tod als er nach Hause kam.« (W 2 164), beginnt der Text der veröffentlichten Fassung »Sie
war tot, als ich nach Hause kam.« (W 2 99). In beiden Textvarianten ist das Bild der toten
Frau (»Sie war tot«) dem In-Aktion-Treten des Aussagesubjekts (»als er/ich nach Hause
kam«) vorgängig. Erst im weiteren Textverlauf der veröffentlichten Erzählung tritt das Ich des
Textes selbst in Aktion, aber sogleich wieder aus sich heraus und wohnt der Szene noch
einmal als ihr Zuschauer bei, der einerseits als Projektion des Akteurs ausgewiesen ist,
andererseits eine grundsätzlich andere Perspektivsteuerung vornimmt und innerhalb des
Textes eine theatrale Ebene schafft, auf der das Geschehen auch innerhalb des Textes nur
mehr als fiktionales stattfindet: »Sie war tot, als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf
dem Steinboden, halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, ein Bein angewinkelt wie im Schlaf,
der Kopf in der Nähe der Tür. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das
Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich Theater
spielte. Ich sah mich, an den Türrahmen gelehnt halb gelangweilt, halb belustigt einem Mann
zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinfußboden hockte, über seine
vielleicht bewusstlose vielleicht tote Frau gebeugt, ihren Kopf mit den Händen hochhielt und
mit ihr sprach wie mit einer Puppe für kein anderes Publikum als mich.« (W 2 99)
In KRIEG OHNE SCHLACHT erfährt die Beschreibung des Freitods der Frau, die auf den
frühen Subtext zweifelsfrei angewiesen bleibt, weil er die Erinnerung perforiert, eine
grundsätzlich neue Ausrichtung. Der Schwerpunkt liegt nicht, wie in der Erzählung, auf der
Wahrnehmung des Todes und einem diese Wahrnehmung transzendierenden Totentanz. Der
Tod – und mit ihm die Tote – verschwindet aus dem Zentrum der Darstellung an seine
Peripherie. Stattdessen wird auf eine Reihe von Ursachen und Folgen verwiesen, die in einem
losen Zusammenhang mit dem schwerwiegenden Ereignis stehen. »Das Zusammenleben mit
ihr war für mich inzwischen auch ein Arbeitsproblem geworden. Ich konnte in unserer
Wohnung nicht mehr arbeiten. Am 1. Juni habe ich zum ersten Mal im Theater gefragt, ob sie
mir eine Wohnung besorgen könnten. Und dann habe ich noch lange auf einem U-Bahnsteig
mit Adolf Dresen über die Zukunft oder Nicht-Zukunft des Marxismus diskutiert. Als ich
nach Hause kam, war sie tot. Das war der Abend, an dem im Fernsehen zum ersten Mal eine
Sendung über den Selbstmord der Monroe lief. Die Wochen und Monate danach habe ich fast
pausenlos das ›Wohltemperierte Klavier‹ gehört. Ich habe mir Schlaftabletten gekauft, aber
keine genommen. Es war schon schwierig. Bei der Beerdigung habe ich mir endgültig Peter
Hacks zum Feind gemacht. Ich stand da so ungünstig, und alle mussten mir kondolieren, und
237
Hacks stolperte über eine Unebenheit und fiel vor mir auf die Knie. Natürlich durfte niemand
lachen. Es waren viele Leute da, viele Schauspieler. Einer hat Gedichte von ihr vorgetragen.
Ich stand kurz unter Mordverdacht, weil sie keinen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Ihr
Abschiedsbrief waren die Gedichte, die sie in ihren letzten acht Jahren schrieb.« (KOS 209f.)
Eine unscheinbare, doch weitreichende Veränderung ergibt sich aus der Umkehrung des
nunmehr einzigen Satzes, der sich unmittelbar mit dem Tod der Frau befasst: »Als ich nach
Hause kam, war sie tot.« Die Tote ist nicht mehr Ausgangspunkt der Beschreibung, zu dem
sich das Aussagesubjekt erst ins Verhältnis setzen muss. Das Ich des Satzes füllt bereits den
Raum, als die Tote in dessen Gesichtsfeld tritt, es gleichsam aus den Gedanken an die
Zukunftslosigkeit des Marxismus reißend. Der Tod erscheint als praktische Folge der
Theoriebesessenheit des Mannes. Das Zufällige – der Mann kommt zu spät; der fehlende
Abschiedsbrief verweist auf den Unfallcharakter des Geschehenen – bestätigt das
Unheroische der Szenerie und lässt den zwar riskierten, doch nicht intendierten Freitod als
missglückten Hilferuf an eine Person erscheinen, deren Hilfsbereitschaft, respektive
Hilfspotenzial als äußerst fragwürdig erscheinen muss. Darauf zumindest lassen
Wohnungssuche und das weiter unten bekundete Misstrauen in medizinische Hilfe (»Und
sicher hatte ich auch keinen großen Glauben an die Psychiatrie«, KOS 210) schließen.
Gespiegelt ist diese Tatsache in dem sich anschließenden Satz über die Monroe. Durch den
entpersonifizierenden Artikel wird der ikonische Charakter der Femme fatale betont, der sich
ebenfalls nicht der starken Frau, sondern dem männlichen Blick auf sie verdankt. Marilyn
Monroe war 1962 an einer Überdosis Schmerztabletten, beziehungsweise einer
Medikamentenunverträglichkeit gestorben. Ein Satz der Arbeitsfassung, der eine direkte
Verbindung zwischen dem Tod der Frau und dem Marilyn Monroes herstellt, ist in der
Druckfassung gestrichen: »Das spielte vielleicht auch eine Rolle. Sie hatte das gesehen,
glaube ich.« (HMA 4487, 253) Dass der Satz in der Druckfassung keine Verwendung findet,
deutet auf die für Müller charakteristische Technik der Auslassung hin, die dazu dient,
kausale Zusammenhänge auszulöschen und harte Bruchkanten zu schaffen, die die Texte
geräumiger erscheinen lassen, aufnahmebereiter für ähnliche Vorgänge und Erfahrungen. Der
nahezu pausenlose Bach-Konsum füllt den verwaisten Raum, den die Tote zurückgelassen
hat. Zum einen fungiert die ebenso strenge wie komplexe musikalische Struktur des
WOHLTEMPERIERTEN KLAVIERS als Requiem. Sie übernimmt die Aufgabe eines
Totenkultes, der von der einen Toten absieht und sich in die Vielzahl der Tonarten auflöst.
Die Musik erscheint als endlose Wiederholung des Verlustaktes. Sie umkreist und
kompensiert die Leerstelle, die Inge zurückgelassen hat. Zugleich aber ist mit dem
WOHLTEMPERIERTEN KLAVIER die Struktur einer über das musikalische
hinausweisenden Utopie aufgerufen. Als Bach die Fugensammlung komponierte (1722/1742)
war sie aufgrund der »reinen« Stimmung der Instrumente praktisch nicht befriedigend
aufführbar. Das Ideal der (heute gängigen) diatonischen Stimmung war ein wesentlicher
Hintergedanke des Werkes, ihre Realisierung stand – aus Bachs Sicht – in den Sternen. Die
nicht zum Einsatz kommenden Schlaftabletten rufen Hamlets berühmten Monolog auf:
»Sterben, schlafen. / Schlafen, träumen vielleicht.« 605 . Im Gegensatz zu Müller, der den
Verlust ästhetisch zu kompensieren imstande ist, verwirft Hamlet jegliche Utopie, weil er in
der ihn umgebenden Wirklichkeit keine glaubwürdigen Anhaltspunkte für ihre sinnvolle
Aufrechterhaltung zu erkennen vermag.
605
William Shakespeare: Hamlet (zitiert nach Heiner Müller, W 7 493)
238
Eine scheinbar komische Brechung findet das Thema des Todes im Kniefall des Dramatikers
und vom Erzähler zum Rivalen auserwählten Peter Hacks. Der ›ungünstige Standpunkt‹
symbolisiert Müllers konträre Haltung, die Bedingung seines künstlerischen Schaffens ist und
ihn zugleich mehrfach ins kulturpolitische Abseits manövriert. Hacks, der den Konflikt mit
der repressiven Kulturpolitik ebenso wenig scheute wie Müller, war nicht nur in der DDR
lange Zeit weit erfolgreicher als Müller. Sein GESPRÄCH IM HAUSE STEIN verhalf ihm
bereits 1974 auch zu internationalem Erfolg. Dass die Szene vor einem Publikum stattfindet,
das in seiner Mehrzahl aus Schauspielern besteht, zeigt in der Verkehrung des
Rezeptionsvorgangs die Verkehrung der Ordnung an, die herausragendes Merkmal des
Komischen ist. Doch die Komik der Situation bleibt ambivalent. Für einen Dichterstreit taugt
die Bühne der Beerdigung kaum. Auch verbietet der tragische Anlass der Trauergemeinschaft
das Lachen, in dem sich der Akt des Komischen erst vollziehen würde. Die Auflösung der
Verkehrung im Gelächter findet nicht statt. Das im Hals stecken gebliebene Lachen wird zum
Knebel. Mithin beschreibt die Szene das Scheitern der Komik.
Bereits im Zusammenhang mit der UMSIEDLERIN war die Beziehung zwischen dem
Erzähler und seiner Frau – die Peter Hacks, lange Zeit Freund des Hauses Müller, im übrigen
als gegenseitigen Terrorkrieg zu bezeichnen pflegte – als problematisch geschildert worden.
Verschärft wurde der Konflikt durch den Versuch der Parteigruppe im Schriftstellerverband,
sie zur Trennung von ihrem Mann zu bewegen. Die sich häufenden Selbstmordversuche der
Frau erscheinen jedoch nur als Indikator eines grundlegenden Persönlichkeitskonfliktes, als
dessen maßgebliche Ursache eine chronische Depression angegeben wird, die laut Müllers
Schilderung in der Biografie der Frau begründet liegt. »Sie hatte traumatische Erfahrungen,
zum Beispiel war sie verschüttet, sogar zweimal, einmal sehr lange, nach Bombenangriffen,
und sie hat ihre Eltern ausgegraben aus einem zerbombten Haus, auf einen Handwagen
geladen und begraben …« (KOS 158f.) Das Bild gemahnt an Benjamins auf Paul Klee
zurückgehende Figuration des ANGELUS NOVUS, vor dessen Blick eine permanente
Katastrophe abläuft, »die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße
schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene
zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen
hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann.« 606 Im Gegensatz zu
Benjamins Engel der Geschichte, hat Inge Müller, wie in Müllers optimistischer Version des
Stoffes (DER GLÜCKLOSE ENGEL) in der Verschüttung das Fliegen gelernt, vermag
jedoch weder die Toten zu befreien, noch die aufgestauten Trümmer der Vergangenheit zu
einem Ganzen zu fügen, das sich sinnvoll in die Zukunft einer von den Katastrophen der
Geschichte befreiten kommunistischen Gesellschaft fortsetzen ließe. Das Gespräch, das
Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT im Augenblick des Todes seiner Frau mit Adolf
Dresen über »die Zukunft oder Nicht-Zukunft des Marxismus« (KOS 209) geführt haben will,
steht mit diesem Desiderat in unmittelbarem Zusammenhang, denn es verweist auf die das
Individuum zerreißende temporale Perspektive des emanzipatorischen gesellschaftlichen
Anspruchs. Zugleich erweist sich Müller mit der zur Unzeit geführten Marxismusdiskussion
als Wiedergänger des Orpheus, dessen verfrühter Blick verschuldete, dass er die Frau auf
ewig dem Hades überlassen musste.
Während es dem Erzähler gelingt, das traumatische Material seines Lebens in den Motor
606
Benjamin-GS I, 697f.
239
seiner künstlerischen Produktivkraft umzubauen, lässt er seine Frau in der Brandung der
kollidierenden Epochen scheitern. Nicht stellvertretend für die Tode der anderen Frauen –
»Die der Fluss nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen
Pulsadern. Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE. Die Frau mit dem Kopf
im Gasherd« (W 4 547), wie es in der HAMLETMASCHINE heißt –, sondern als im Text der
Nachrufe implizierter Aufruf zur Wiederkehr. Die Arbeit des Mannes besteht in der
permanenten Verhinderung des für die Frau erst mit dem Tod abschließbaren permanenten
Suizids. »Acht Jahre vergingen mit Selbstmordversuchen. Ich habe ihr den Arm abgebunden,
wenn sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte und den Arzt angerufen, sie vom Strick
abgeschnitten, ihr das Thermometer aus dem Mund genommen, wenn sie das Quecksilber
schlucken wollte, und so weiter.« (KOS 159) Jeder vereitelte Selbstmord provoziert einen
neuen Tötungsversuch. Das »und so weiter« garantiert die prinzipielle Fortsetzbarkeit, die das
Mitwirken des Mannes in diesem System voraussetzt. Dass die Versuchsreihe bereits nach
acht Jahren beendet ist, führt der Erzähler auf einen Zufall zurück: »Im allgemeinen war es
so: Wenn ich nicht zu Hause war, passierte nichts. Das erste Mal, dass sie es in meiner
Abwesenheit versucht hat, war auch gleich das letzte Mal. Vielleicht hätte es auch noch zehn
Jahre so weitergehen können.« (KOS 210) Die Beziehung scheint in dieser Darstellung
ausschließlich auf den schmalen Grat zwischen Leben und Tod reduziert, der beiden Partnern
jeweils feste Rollen zuweist – der Tod als kommunikatives Bezugssystem. Vorgeprägt ist
diese Beziehungsstruktur, die einem Spiel gleicht, in der TODESANZEIGE. Dort denkt der
Erzähler an sein »… Leben mit der Toten, bzw. an die verschiedenen Tode, die sie dreizehn
Jahre lang gesucht und verfehlt hatte, bis zu der heutigen erfolgreichen Nacht. Sie hatte es mit
einer Rasierklinge probiert: als sie mit einer Pulsader fertig war, rief sie mich, zeigte mir das
Blut. Mit einem Strick nachdem sie die Tür abgeschlossen, aber, mit Hoffnung oder aus
Zerstreutheit, ein Fenster offen gelassen hatte, das vom Dach aus zu erreichen war. Mit
Quecksilber aus einem Fieberthermometer, das sie für diesen Zweck zerbrochen hatte. Mit
Tabletten. Mit Gas. Aus dem Fenster oder vom Balkon springen wollte sie nur, wenn ich in
der Wohnung war.« (W 2 99f.) In der Kette der Suizidversuche wird das archaische
Gewaltverhältnis zwischen Mann und Frau aufgerufen. Dabei steht es nur scheinbar in der
Macht der Frau, ihr Leben in die Hand des Mannes zu legen. Die physische Macht über ihren
Körper überlässt sie dem Mann, dessen Alternative Tod heißt. Die Werkzeuge ihrer Befreiung
entstammen nicht zufällig der (Arbeits)Welt des Mannes oder im weitesten Sinne der
bürgerlichen Lebenswelt. Noch die Befreiung der Frau aus dem Rollengefängnis vollzieht
sich im Klischee der männlichen Dominanz, die der Frau nur die Autoaggression als
Schlupfloch in die Freiheit zugesteht. In der Autobiografie findet sich indes ein Hinweis
darauf, dass der Erzähler das emanzipatorische Potenzial des Suizids der Frau ernst nimmt:
»… irgendwann hatte ich auch wirklich die Haltung: Wenn sie sterben will, dann ist das ihre
Sache. Eine Zigeunerin hatte ihr gesagt, dass sie mit 41 stirbt.« (KOS 210) Als Inge Müller
stirbt, ist sie einundvierzig Jahre alt. Der Spruch der Seherin dreht den scheinbar nur zufällig
»erfolgreichen« Freitod in die Achse fataler Notwendigkeit. Den stummen Abgang der Frau
vermag auch die von Männerhand in die »phallische Schreibmaschine« (HMA 4482)
gehauene Grabinschrift der TODESANZEIGE nicht zu übertönen. Die Konsequenz ist der
wortreiche Abgang des Mannes in der gleichen Erzählung. Er vollzieht sich überraschender
Weise als das Verschwinden des Sprechers, dessen Spur sich im letzten Abschnitt des Textes
in einem Dschungel aus Schamhaar verliert. Das Ende des letzten Satzes kennt kein zwischen
den klaffenden Schenkeln vermittelndes Subjekt mehr: Ȇber mir die ungeheuren Schenkel,
240
aufgeklappt wie eine Schere, in die ich mit jeder Stufe weiter hineingehe, das schwarze
wildbuschige Schamhaar, die Rohheit der Schamlippen.« (W 2 102f.)
Zehn Jahre vor erscheinen der Autobiografie konstatiert Heiner Müller im Gespräch mit
seinem französischen Übersetzer Sylvère Lotringer: »Die Konfrontation mit der Macht – das
ist für mich Geschichte als persönliche Erfahrung.« (GI 1 96) Das Verhältnis des Künstlers
zur Idee eines sozialistischen Staates, dessen Modell er grundsätzlich bejaht, gleichwohl ihm
seine Institutionen und Behörden die Ausübung seiner Tätigkeit nicht nur erschweren,
sondern immer wieder auch verhindern, ist für die Konstruktion der Biografie von
grundlegender Bedeutung. Nachdem die vorangegangenen Kapitel sich um das dichterische
Werk und seine theatrale Praxis, respektive sein Scheitern und dessen Bedingungen
gruppierten, rücken diese Bedingungen im dreizehnten Kapitel Müllers Autobiografie ins
Zentrum der Darstellung und werden anhand zahlreicher, teils personalisierter, teils
allgemeiner Beispiele problematisiert.
Hinsichtlich der Überlieferungssituation besteht für das Kapitel die umfangreichste
Materialgrundlage innerhalb des Textkorpus der Autobiografie. Das betrifft nicht nur die
Anzahl der überlieferten Textvarianten, die die Genese der Druckfassung nachvollziehbar
machen, sondern auch den Umfang des im Buchtext stark komprimierten Inhalts. In der
Werkausgabe der Autobiografie wurde diesem Umstand mit der synoptischen Dokumentation
zweier früherer Textstufen dieses Kapitels Rechnung getragen. Der [Auszug
Tonbandabschrift] basiert auf der Transkription der nach Auskunft des Verlags Kiepenheuer
& Witsch verschollenen Gesprächsmitschnitte, welche die quantitativ umfangreichste
Materialgrundlage und ihre früheste textliche Fixierung darstellen. In der vorliegenden
Untersuchung wird diese Textstufe mit der Sigle TA gekennzeichnet. Laut Typoskript handelt
es sich dabei um Abschriften der Bänder 20 und 21 mit einem Textvolumen von insgesamt 45
Manuskriptseiten (wobei die letzen drei Blatt thematisch dem »Brecht«-Kapitel zugehören).
Der [Auszug Rohfassung] geht auf das 420 Manuskriptseiten umfassende Textkonvolut aus
dem Nachlass Heiner Müllers zurück (HMA 4487), das dort bereits unter der Überschrift »13.
Die Macht und die Herrlichkeit« als komplettes Kapitel ausgewiesen ist (HMA 4487, 262–
287). Die starke Reduzierung des Textvolumens der »Rohfassung« gegenüber den
Tonbandabschriften ist dabei wesentlich nicht inhaltlichen Aspekten geschuldet, sondern
beruht auf der Streichung redundanter Passagen, längerer Kommentare der Gesprächspartner
und typischer mündlichsprachlicher Wendungen. Im weiteren Bearbeitungsverlauf (ein als
Fax mit handschriftlichen Korrekturen versehener Ausschnitt aus dem Kapitel findet sich
unter der Signatur HMA 4486 ebenfalls im Nachlass) erfährt der Text eine neuerliche
quantitative Reduktion, die nur etwa ein Viertel des Umfangs der Tonbandabschriften übrig
lässt und auf zwölf Druckseiten Platz findet. Der qualitative Sprung von der Rohfassung des
Kapitels zum Drucktext besteht in erster Linie in der Kürzung von Passagen, die nicht
unmittelbar mit dem Verhältnis des Erzählers zur (kultur)politischen Praxis der DDR in
Verbindung stehen. Damit gehen zahlreiche dramaturgische Straffungen und eine dezidierte
stilistische Überarbeitung einher. Kommentare zu Schriftstellerkollegen (Hochhuth,
241
Enzensberger, Handke, Simmel, Bernhard) fallen ebenso weg, wie den Text illustrierende
Passagen über Brecht, Wolfgang Heinz, einen nicht benannten Nazi-Regisseur und den Tod
von Peter Weiss oder Erläuterungen wie die partielle Umwandlung von Westgehältern in
Forumschecks. Insgesamt erfährt das Kapitel damit eine stärkere Ausrichtung auf das
personelle Versagen einer (kultur)politischen Elite in der DDR, deren Existenz zugleich als
Bedingung der eigenen Arbeit behauptet wird.
Die Graham Greenes 1940 erschienenem Roman THE POWER UND THE GLORY (in
deutschen Übersetzungen DIE KRAFT UND DIE HERRLICHKEIT) entlehnte
Kapitelüberschrift »Die Macht und die Herrlichkeit« nimmt nicht nur ironisch Bezug auf eine
(religiöse) Utopie, die durch das Auftreten ihrer Exponenten korrumpiert wird. Sie findet im
ersten Absatz des Kapitels zugleich motivische Verwendung, indem sie ein gemeinsames
Strukturmerkmal zwischen dem Roman und der lebensgeschichtlichen Konstruktion in der
Autobiografie aufruft. »Die Geschichte der DDR ist auch eine Geschichte der Dummheit, der
Inkompetenz von Personen. Dass man in der SED von den Personen, die diese Partei vertreten
oder verkörpern, so völlig abgesehen hat, erinnert mich an Graham Greene, DIE MACHT
UND DIE HERRLICHKEIT, POWER AND GLORY, der Roman über den saufenden
Priester in Mexico. In der Revolutionszeit in Mexico wurden unter Juárez katholische Priester
gejagt und von der Bevölkerung versteckt und ernährt. Der Roman ist die Geschichte eines
Priesters, der auch gejagt wird, ein schwerer Alkoholiker, immer betrunken, verkommen und
asozial, aber er bleibt der Priester und verkörpert die Kirche. So sah ich damals auch die
Funktionäre, sonst wäre es gar nicht möglich gewesen, mit den Leuten umzugehen. Viele
waren primitiv, dumm, brutal, verkommen, gierig nach bürgerlichem Standard, überfordert
alle.« (KOS 213) Der erste Satz des Kapitels findet sich in der Rohfassung wörtlich am Ende
des hier zitierten Abschnitts vor einer später gestrichenen Episode über einen Ausfall Brechts
gegen seine jungen Assistenten, die Ulbricht-Witze erzählen (s. a. W 9 417). In den
Tonbandabschriften bildet die Aussage den zweiten Satzbestandteil der vorstehenden
Aufzählung von Negativmerkmalen der Funktionäre, die sie zusammenfasst und mit der
»Geschichte der DDR« kurzschließt. Setzt der als Materialgrundlage für das Kapitel
rekonstruierbare Text im Typoskript der autobiografischen Gespräche mit einem durch
Auslassungszeichen gekennzeichneten Satzappendix ein (s. a. W 9 414; ein Hinweis auf die
Entstehungssituation: das Einschalten des Aufnahmegerätes bei laufendem Gespräch), folgt
der Kapitelüberschrift der Rohfassung eine aus der Erinnerung generierte, beziehungsweise
nachträglich konstruierte Frage des kursiv vom Sprechtext des Erzählers abgehobenen
Gegenübers. »Mit welchen Figuren in Staat und Partei warst Du bei all Deinen Konflikten
konfrontiert.« (W 9 415) Die Eröffnung des Kapitels durch eine Frage des fiktiven
Gesprächpartners geht vermutlich auf konzeptionelle Überlegungen im Vorfeld der
Entstehung von KRIEG OHNE SCHLACHT zurück, die darauf hinausliefen, durch Fragen zu
Beginn des jeweiligen Kapitels den dokumentarischen Charakter des Textes stärker
hervorzuheben. Bestärkt wird diese Vermutung durch eine handschriftliche Notiz, die generell
auf die Problematik des Fehlens einleitender Fragen zu Kapitelbeginn hinweist: »question on
top of chapter 1 / 2 / 3 / 4 …« (HMA 4480). Allerdings deutet bereits die Formulierung der im
Drucktext wieder eliminierten Frage (die Wendungen »Figur« und »Konflikten« legen eine
dramatische Umcodierung der empirischen Tatsachen zumindest nahe) eine Tendenz an, die
sich in der späteren Bearbeitung durchsetzt: die Überführung des Staates als textexternem
Bezugssystem in einen Kunstraum innerhalb des Textes. Das Vorziehen der Aussage über die
242
»Geschichte der Dummheit« sowie die Streichung einer längeren Passage, die sich mit der
Übernahme von Nazis in leitende Funktionen des DDR-Kulturapparates auseinandersetzt (s.
a. W 9 414f.), verleihen dem Text eine völlig neue Gewichtung, die die vorangestellte Frage
zugleich bestätigen und überflüssig machen. Mit der Fassung letzter Hand rücken denn auch
tatsächlich die Erfahrungen und Konfrontationen des Ich-Erzählers mit den Figuren und
Figurationen der »Macht« ins Zentrum der Darstellung. Verhandelt wird in der Folge dessen
Haltung gegenüber einem System, das von ihm durchschaut und denunziert, durch die
Verwandlung in ein Kunstprodukt jedoch prinzipiell nutzbar gemacht wird. Die Bejahung
einer Konstruktion von der Müller weiß, dass ihr Gerüst beschädigt ist, gelingt durch den
Verweis auf Graham Greenes Roman, der den Kunstcharakter dieser Konstruktion betont und
gleichzeitig die inhaltliche Begründung für seine Haltung mitliefert. Die zunächst paradox
erscheinende Simultaneität von kritischer Distanz gegenüber den Einzelteilen bei
grundsätzlicher Identifikation mit dem Ganzen ist gespiegelt in der Aussage über Peter Weiss,
dem der Erzähler eine »mönchische Haltung zur Utopie« (KOS 224) bescheinigt. Die
Gegenüberstellung von eigenem kritisch reflektierten Standpunkt zu Beginn und der blinden
Fortschrittsillusion des anderen Dichters am Schluss des Kapitels bildet die Klammer für die
inhaltlich nur lose miteinander verknüpften Textteile des Kapitels (die vielen Leerzeilen legen
davon Zeugnis ab), in dessen Mitte eine Kernaussage der autobiografischen Konstruktion
fällt, das Rimbaud-Zitat »Ich ist ein anderer.« (KOS 218) 607
Mit der personellen Begründung für die Insuffizienz eines Systems, das an sich nicht in Frage
steht, wird jeglicher Hoffnung auf die Reformfähigkeit des Systems der Boden entzogen. »Es
gab einfach kaum Funktionäre, in die man Hoffnung hätte projizieren können, jedenfalls
keine mit Einfluss und Macht. Ganz am Anfang gab es wohl manchmal integre Figuren, die
wurden dann eliminiert.« (KOS 213) Das Fehlen einer Perspektive durch die Liquidierung der
Intelligenz in der Frühphase der Staatsgründung lassen vom Projekt des Sozialismus kaum
mehr als die Idee zurück, deren Aktualität und Notwendigkeit sich Müller durch den Blick
über den eisernen Vorhang jedoch immer wieder selbst vor Augen führt – eine Möglichkeit
die den meisten DDR-Bürgern vorenthalten bleibt, was die reisenden Künstler zu
Privilegierten macht (und, wie Müller beschreibt, durch Privilegien vom Volk trennt). Reisen
ins westliche Ausland waren »seit 1968/70 für mehr Autoren eine Normalität geworden.«
(KOS 215) Die Möglichkeit des Reisens eröffnet dem Schreiben neue Erfahrungsräume und
erleichtert die Verbreitung der Texte. Dass seine Werke, wie die Texte vieler anderer DDR-
Autoren, im Westen vorbehaltlos rezipiert werden konnten, dürfte den Dramatiker (wie auch
die Devisen abschöpfende DDR) nur in ökonomischer Hinsicht interessiert haben, denn eine
Wirkung muss im Zusammenhang des kapitalistischen Verwertungsprozesses, der vor der
Kunst nicht halt macht und somit auf die »Behinderung von Erfahrung« (W 8 193) zielt, in
den Augen Müllers notwendig ausbleiben. Die Existenz in der DDR bleibt folglich
wesentliche Voraussetzung für die (Arbeits)Reisen Müllers. »Ich habe nie versucht, mehr als
ein Halbjahresvisum zu bekommen, weil man sonst einen anderen Status gehabt hätte. Dann
war man heraus aus dem Kontext, den ich brauchte, auch aus dem Erfahrungsdruck.« (KOS
215) Der »Status« bezieht sich (wie den früheren Arbeitsfassungen besser zu entnehmen ist
als dem Buchtext) vor allen Dingen auf die Akzeptanz unter den Schauspielern und
Mitarbeitern am Theater, die dieses Privileg nicht genossen. Der Druck der Erfahrung, den
607
Rimbaud 1990, 11
243
Müller, wie er wiederholt betont, im Westen nicht wahrnehmen kann, ist die Bedingung
seiner künstlerischen Produktivität. Die von Müller zur Beschreibung seines Verhältnisses
zum Staat gewählte Terminologie verweist in diesem Zusammenhang auf den
Konstruktionscharakter der DDR, die als »Kontext« einen festen Platz in der Ästhetik Müllers
einnimmt. Im Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek für den »Spiegel« 1983
begründet Müller seine Entscheidung für die DDR: »Natürlich hat das Pendeln zwischen zwei
sehr verschiedenen deutschen Wirklichkeiten eine schizophrene Wirkung. Die DDR ist mir
wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses Land gehen. Das ist der wirkliche
Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer. In der DDR herrscht ein
viel größerer Erfahrungsdruck als hier [im Westen], und das interessiert mich ganz
berufsmäßig: Erfahrungsdruck als Voraussetzung zum Schreiben. Das Leben ist verbindlicher
östlich der Mauer, und das bedeutet auch den Zwang, Dinge radikal zu Ende zu denken, zu
Ende zu formulieren, über die man hier noch hinwegspielen kann.« (GI 1 135)
Wurde im UMSIEDLERIN-Kapitel vorgeführt, wie ein ganzer Staatsapparat mit dem Heer
seiner Institutionen den Dramatiker und sein ›konterrevolutionäres Machwerk‹ geradezu
kriminalisiert, wird nun der (politische) Alltag eines Dichters in der DDR schlaglichtartig
dargestellt. Maßregelungen bei Verstößen gegen die politische Zuverlässigkeit, etwa eine
Rezension zu Braschs KARGO 608 im »Spiegel«, werden nun nicht mehr mit der
kulturpolitischen Keule vollzogen, sondern von Müllers »Intimfeind« (KOS 233) Roland
Bauer, dem Ideologie-Chef der Berliner Bezirksleitung der SED, seinem »zuständigen
Wachhund […] wie an der Theke bei Mafiosi« (KOS 214) besorgt. Müller hatte in dem Text
WIE ES BLEIBT, IST ES NICHT nicht nur den westdeutschen Kulturbetrieb, sondern auch
die Kulturpolitik der DDR-Führung kritisiert und zudem an deutschlandpolitischen Wunden
herumgekratzt. Als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens beiderseits der Mauer und
zunehmend gefragter Interviewpartner westlich von ihr, war Müller dennoch prominentes
Objekt des Staatssicherheitsapparats. In der Druckfassung der Autobiografie wird dieser
Tatsache kaum Beachtung geschenkt, was Müller in den gegen ihn erhobenen Stasivorwürfen
1993 teuer zu stehen kommen sollte. Den Stellenwert den Müller den Stasi-Kontakten
beimisst zeigt sich indes gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der der Erzähler der
Autobiografie die Form der staatlichen Überwachung beschreibt. »Ich habe mich nicht
bespitzelt gefühlt, die Präsenz der Staatssicherheit gehörte zum Leben in der DDR. Offene
›Beschattung‹ habe ich erst 1976 kennen gelernt, nach der Austreibung Biermanns. Man sollte
es damals merken. Am Telefon wusste man, es wird abgehört.« (KOS 217) Müller betont:
»Mein Interesse an den mich betreffenden Akten der Staatssicherheit ist gering. Wenn ich
über die Person, die sie beschreiben, einen Roman schreiben will, werden sie ein gutes
Material sein. Ich ist ein anderer. Immerhin bin ich mit andern DDR-Bürgern zum Beispiel
Günter Grass gegenüber im Vorteil, der seine BND falls sie ihn interessieren sollte, erst
einsehen kann, wenn die Bundesrepublik Deutschland untergegangen ist oder aufgegangen in
einer andern Struktur. Was wir beide wahrscheinlich nicht mehr er leben werden.« (KOS 218)
Das vom Erzähler konstatierte Desinteresse an möglicherweise über ihn existierenden Akten
608
Thomas Brasch hatte als Mitunterzeichner gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 die DDR verlassen.
Nach seinem erfolgreichen Buch VOR DEN VÄTERN STERBEN DIE SÖHNE (Berlin 1977), erschien im
Suhrkampverlag KARGO. 32. VERSUCH AUF EINEM UNTERGEHENDEN SCHIFF AUS DER HAUT
ZU KOMMEN (Frankfurt 1977). Müllers Text erschien im Spiegel Nr. vom 12. September 1977, 212–215
(s. a. W 8 193–198)
244
der Staatssicherheit wird in der Autobiografie in eine strukturelle Problematik überführt. Die
Akten und ihr Inhalt taugen in Müllers Augen nicht als dramatisches Material. Die
Verwendung des Rimbaud-Zitats zeugt von dem generellen Desinteresse an der eigenen
»Person«, die immer nur im Bild des anderen zu fassen ist, zu dem das Ich wiederum in ein
agonales Verhältnis treten kann. Der performative Ansatz zur Beschreibung von (A-)Identität
wird hier zugleich als poetisches Prinzip gekennzeichnet. Rimbaud forderte in seinen aus dem
Jahr 1871 stammenden LETTRES DU VOYANT (BRIEFE DES SEHENDEN) die Ablösung
des cartesianischen cogito (»ich denke«) durch sein »Es denkt mich« 609 . Die »lange,
unermessliche und planmäßige Ausschweifung aller Sinne« 610 sollte der poetischen
Vorstellungskraft neue Wahrnehmungsmöglichkeiten und somit einen bisher unzugänglichen
Wirklichkeitsbereich erschließen. Rimbauds Satz drückt die Differenz aus zwischen der
Instanz, die »Ich« sagt und derjenigen, die sich nachträglich für das Subjekt dieser Aussage
ausgibt. Die Bewegung vom Ich zum Anderen, kennzeichnet den Weg, den das Subjekt
zurücklegt, sich selbst verlierend, im Anderen sich selbst fremd werdend, nicht im Sinne der
kantischen Dialektik als Wiederaneignungs- und Erkenntnisprozess, sondern im Sinn von
Deleuze als Metamorphose. Damit rekurriert Müller zugleich auf den alles andere als starren
Konstruktionscharakter, der allen Texten zugrunde liegt – auch denen der Stasiakten und der
Geschichtsschreibung, die einst möglicherweise eher die strukturellen Gemeinsamkeiten der
BND-Akten Günter Grass’ und der Stasiakten Heiner Müllers feststellen wird, als die
ideologischen Differenzen, die zu ihrer Hervorbringung geführt haben. Die Passage ist durch
die Verwendung des Präsenz und eine für Müllers essayistische Arbeiten typischen Technik
der kalkulierten Auslassung und des unausgewiesenen Zitats deutlich aus dem
Erzählzusammenhang herausgehoben. Auch findet sie weder in den Tonbandabschriften, noch
in der Rohfassung eine textliche Entsprechung. Vielmehr geht sie genetisch zurück auf eine
handschriftliche Notiz, die vermutlich dem Bedürfnis des Autors entsprang, einer potenziellen
Stasi-Debatte durch Anhebung des Themas auf ein anderes Reflexionsniveau vorzugreifen.
Sie formuliert damit einen Kerngedanken vor, der in den späteren Stellungnahmen zu den
Vorwürfen immer wieder auftaucht. »Mein Inter[esse] an d[en] mich betreffenden Akten d[er]
St[aatssicherheit] ist gering. Wenn ich über die Person, die dort beschrieben wird, einen
Roman schreiben will, werden sie ein gutes Material sein. Ich ist ein anderer.« (HMA 4480)
Das Rimbaud-Zitat wird hier zum ersten Mal in diesem Kontext verwendet. Der unvermittelte
Textabbruch deutet nicht nur auf den Fragmentcharakter der Notiz, er ist auch deutbar als
Verweis auf die Unabgeschlossenheit des beschriebenen Prozesses, beziehungsweise als
Aufforderung zu lesen, den beschriebenen Standpunkt, der die historische Überwindung der
»BR Deutschland« voraussetzt, tatsächlich einzunehmen. Im Nachlass erscheint dieser Text
im Zusammenhang mit Entwürfen für das Nachwort, in dem die Fremdheit sich selbst
gegenüber erneut thematisiert wird. Eine andere Notiz auf der Rückseite des gleichen Blattes
Notiz scheint diesen Geneszusammenhang zu bestätigen. Sie formuliert Überlegungen, die in
den Text ERINNERUNG AN EINEN STAAT einfließen, der mit der Bezeichnung ›eine Art
Nachwort‹ allerdings nur unzureichend gekennzeichnet ist: »So fremd wie möglich /
Widerspr[üche] leben / mir selber fremd / Ich ist / ein anderer« (ebd.).
In der Passage, die dem oben zitierten reflektierenden Abschnitt unmittelbar vorangeht,
609
Rimbaud 1990, 11
610
Rimbaud 1990, 25
245
entwirft Müller ein Bild des Staates, das die Macht von der Herrlichkeit klar abtrennt und
einen Gedanken impliziert, der in Gesprächen der neunziger Jahre immer wieder formuliert
wird: die Chance, die seines Ermessens in der »Trennung der Kommunisten von der Macht«
(JN 26, GI 3 58 u. 73) liegt. »Die DDR ist im Grunde mehr von der Staatssicherheit aufgelöst
worden, durch Überproduktion von Staatsfeinden, als von den Demonstrationen. Die waren
Schaum auf der Welle, ein Fernseh-Ereignis. Ihr politischer Wille wurde sehr schnell zum
Marktfaktor deformiert. Seit Gorbatschow muss die Staatssicherheit auf Grund ihres
Informationsstandes gewusst haben, dass die Festung DDR militärisch und ökonomisch nicht
mehr zu halten ist. Es gab auch deutliche Signale dafür, dass die Diskrepanz zwischen dem
Wissensstand der führenden Funktionäre und der Staatssicherheit zunahm. Die Intelligenz war
bei der Staatssicherheit, die Blindheit bei der Parteiführung. Und natürlich hatte die
Staatssicherheit nicht erst seit Gorbatschow bessere Kontakte zu den Russen als die
Parteiführung.« (KOS 217f.) Ein von der Staatssicherheit durch Überproduktion von
Staatsfeinden betriebener, inszenierter politischer Zusammenbruch, der dem ökonomischen,
respektive militärischen zuvorgekommen sei, hätte insofern die Funktion der Rettung der
kommunistischen Idee, die in der politischen Praxis des zwanzigsten Jahrhunderts zum
Scheitern verurteilt war. Es ist relativ unwahrscheinlich, dass auch nur ein einziger
hauptamtlicher Staatssicherheitsbeamter der DDR solch kühne Modelle zur Errettung des
Kommunismus jemals erwogen haben mag. Mit Sicherheit ist die Produktion von
(Staats)Feinden die Hauptbeschäftigung eines jeden Geheim- oder Nachrichtendienstes, wenn
der Feind die notwendige Voraussetzung zur Erschaffung der eigenen Gestalt ist, oder
»unsere eigene Frage als Gestalt« 611 , wie Carl Schmitt formuliert. Die Produktion von
Feindbildern ist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts populärer denn je, was vermutlich
damit zusammenhängt, dass nach dem Zusammenbruch der Zweiten Welt, entlang deren
Grenzen mit der Dritten, sich die ›antagonistischen Widersprüche‹ der ganzen Welt aufstauen
konnten, die die Identität nicht nur der westlichen Demokratien ins Wanken geraten ließ.
Entscheidend ist daher nicht der Realitätsgehalt der Äußerung Müllers, sondern das
Sinnpotenzial, das der Text bereitstellt. Die Entmachtung einer realitätsfernen Führungsclique
(in früheren Fassungen ist von »Dummheit«, nicht von »Blindheit« die Rede, s. a. W 9 440 u.
441) bedeutet nicht das Ende der kommunistischen Idee. Sie zeigt vielmehr ihre Befreiung
von einem verklausulierten und auf allen gesellschaftlichen Ebenen in Verruf geratenen »real
existierenden Sozialismus« an. Ebenso wenig wie Müller an einem lediglich »real
existierenden Sozialismus« interessiert gewesen sein dürfte, bekümmerte er sich um die
empirische Beschaffenheit dessen realen Überwachungsapparates. Müllers Stasi ist Fiktion,
mehr Kafka als Mielke.
Die erste Zwischenfrage des Kapitels bezeichnet einen entscheidenden Drehpunkt der
Erzählung. Sie schließt unmittelbar an den Reflexionsteil am Ende der Stasi-Passage an und
lenkt das Interesse des Erzählers auf die Figur Hermann Kants, DDR-Bestseller-Autor (DIE
AULA) und Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR von 1978 bis 1990. Dass Kant im
Zusammenhang mit Heiner Müllers Autobiografie eine Rolle spielt, erscheint zwar nicht
ungewöhnlich, dass der Bezug auf Kant, zumal an so exponierter Stelle, ›künstlich‹ hergestellt
wird, ist umso erstaunlicher, zumal Müller zum Zeitpunkt der Entstehung von KRIEG OHNE
SCHLACHT von den massiven (und umfangreich belegten) Stasivorwürfen gegen seinen
611
Schmitt 1975, 87f.
246
Schriftstellerkollegen nichts ahnen kann. Der Bezug auf Kant lässt sich indes aus dem
textgenetischen Material mit einiger Sicherheit ableiten: Im autobiografischen Interview (TA)
wird Müller mit der Frage nach Kant und dem Hinweis konfrontiert, Kant schreibe/publiziere
gerade seine Erinnerungen (s. a. W 9 446). In der Rohfassung ist die Frage getilgt und wird,
ohne den Hinweis auf die Memoiren, in der Druckfassung wiederhergestellt. Tatsächlich
erschien 1991 Kants ABSPANN. ERINNERUNG AN MEINE GEGENWART im Aufbau-
Verlag. Die Einführung der Figur und ihre (wenig schmeichelhafte) Darstellung beruht
demzufolge auf dem gesteuerten Bedürfnis, nicht waffenlos in den medialen Kampf um den
Nachruhm der Dichter zu treten. Die Reihe der Äußerungen zu Schriftsteller- und
Künstlerkollegen (Hochhuth, Enzensberger, Handke, Bernhard, Simmel oder dem Regisseur
Wolfgang Heinz) ist damit nicht beendet. Allein in der Druckfassung der Autobiografie
kommt nur Peter Weiss noch zum Zuge, dessen »mönchische Haltung zur Utopie« (KOS 224)
das Kapitel beschließen darf. Der Erzähler selbst war mit Weiss in Konflikt geraten, weil er es
für scheinheilig hielt, »in der DDR gegen den Imperialismus zu schreiben, solange man nicht
die Strukturen der DDR auf die Bühne bringen konnte, die eigenen Probleme.« (KOS 223) An
das Überleben der Utopie in der DDR konnte Müller ebenso wenig glauben, wie an ihrer
Reanimation nach deren Zusammenbruch. In seiner Autobiografie hat er dem Dichter Peter
Weiss und diesem Glauben ein Denkmal gesetzt: als Vermächtnis und noch »zu
Besorgendes« 612 .
Gut die erste Hälfte des Kapitels »HORIZONTE/WALDSTÜCK, 1968« ist den Umständen
der Bekanntschaft Heiner Müllers mit der Regisseurin Ginka Tscholakowa bis zu deren
Hochzeit im Jahr 1970 in Bulgarien gewidmet. Vorangegangen waren dieser Hochzeit in der
Darstellung der Autobiografie Ginkas Schwangerschaft durch Heiner Müller, eine
Abtreibung, Ginkas Eheschließung mit ihrem bulgarischen Verlobten, die Scheidung von
ihrem Mann, ihre Abschiebung nach Bulgarien, über deren Gründe der Erzähler ebenso vage
wie kühn zu spekulieren vermag, sowie zwei Konsultationen bei Erich Honecker. Die fristlose
Abschiebung Ginkas unmittelbar nach ihrem Einzug in die Wohnung des Erzählers kann
durch die Einweisung in eine geschlossene Abteilung der Psychiatrie in der Charité kurzzeitig
abgewendet werden. Dort wird sie »zwei oder drei Tage und Nächte« (KOS 233) später von
Mitarbeitern des MfS (»zwei Herren in Ledermänteln«, ebd.) festgenommen und nach kurzer
Inhaftierungszeit im berüchtigten Gefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen
nach Bulgarien ausgeflogen. In KRIEG OHNE SCHLACHT wird der Heiratsantrag Müllers
(der ein behördlicher Antrag auf Heiratserlaubnis einer ausländischen Frau ist) als Reflex auf
diese Ausweisung dargestellt. Auf die Nachfrage bei seinem »Intimfeind« (KOS 233), dem
Bezirksideologiechef Roland Bauer, erhält er die Antwort, dass es sich dabei um eine interne
Angelegenheit der bulgarischen Behörden handeln würde. »Daraufhin habe ich einen
Heiratsantrag gestellt. Man musste eine staatliche Erlaubnis haben, um Ausländer zu
heiraten.« (ebd.) Der Komponist Paul Dessau rät ihm, bei Erich Honecker zu intervenieren
612
Bloch 1970, 282
247
(»Da gehst du zu Erich«, ebd.). Die Darstellung der zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden
Besuche bei Honecker (»Honecker […] war noch nicht Staatschef, er war zweiter Sekretär
[…] und zuständig für Sicherheit«, TA 23, 7) geraten – ebenso wie die vermutete Spekulation
über die Hintergründe Ginkas Abschiebung – zu einer verspäteten Illustration des
Buchkapitels »Die Macht und die Herrlichkeit«. Demnach war Ginka, gemeinsam mit einem
amerikanische Freund anlässlich des Jahrestages der DDR (7. Oktober 1966) am Strausberger
Platz in der Stalinallee in eine rituelle »Schlägerei zwischen Jugendlichen und der Polizei«
(KOS 237) geraten. Unter die prügelnden Polizisten hatte sich eine Schar alter
Kampfgenossen gemischt, unter denen sich »ein Mann in Hemdsärmeln, betrunken, mit
dickem, rotem Gesicht« (ebd.) durch besondere Brutalität hervortat. Wenige Tage später hätte
Ginka das Gesicht im »Neuen Deutschland«, dem Zentralorgan der SED, wiedererkannt – »es
war [Erich] Mielke« (ebd.), Kämpfer bei den Internationalen Brigaden im Spanischen
Bürgerkrieg und seit 1957 Nachfolger Ernst Wollwebers als Chef des Ministeriums für
Staatssicherheit.
Durch die Ehe mit Ginka – erst ein Jahr nach der Hochzeit 1970, darf sie wieder in die DDR
einreisen – hält sich Müller in der Folge regelmäßig in Bulgarien auf. »Das hatte
Auswirkungen auf meine Arbeit, weil es eine antike Landschaft ist und weil ich nicht
Bulgarisch spreche. Ich erinnere mich, wie angenehm es war, in einem Restaurant zu sitzen
und kein Wort von dem, was die Leute reden, zu verstehen. Man ist mit seiner eigenen
Sprache allein. Das war zum Schreiben eine günstige Situation.« (KOS 238) Wiederum
rekurriert der Erzähler auf die Konstruktion eines Raumes der Fremde als Bedingung für seine
Arbeit als Schriftsteller. Mit der Reduzierung auf die eigene Sprache geht ihre Intensivierung
einher. Die Eroberung der ausländischen Frau im »sozialistischen Wettbewerb« (KOS 232)
ermöglicht die Flucht auf eine künstliche Insel und damit den verfremdeten künstlerischen
Blick auf das Material, das als primär sprachliches der eigenen Arbeit zugrunde liegt. Es ist
der Blick des »Negers« auf die »nordeuropäischen Bandenkämpfe« (KOS 212), der einen
Paradigmenwechsel in der Thematisierung und Problematisierung der (permanenten)
sozialistischen Revolution im Werk Müllers anzeigt. Kennzeichnend für diesen synthetischen
Blick ist die Virtualität einer Zusammenschau von »Prag 1968« (ebd.) – die Niederschlagung
des »Prager Frühlings« durch den Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei – und
den »Studentenunruhen« (ebd.) in Westeuropa, die der Erzähler am Ende des ÖDIPUS-
Kapitels vorgenommen hatte. »Die Niederwerfung der Reformbewegung in der ČSSR hat
einen Prozess gebremst keinen neuen in Gang gesetzt. Die Studentenunruhen im Westen 1968
waren schon interessanter, global gesehn auch folgenreicher, wenn auch mit andern Folgen
als geträumt, aber in der DDR konnte man die Illusionen der Linken nicht teilen. Ich war
erleichtert, als ich bei Foucault gelesen habe, dass die eigentliche Funktion der
Studentenbewegung 1968 war, die Struktur der Universitäten für die Bedürfnisse der
modernen Industrie zu verändern.« (ebd.) Aus heutiger Sicht scheint es, als hätten sich die
treibenden Kräfte der achtundsechziger Studentenbewegung mit ihren Vorstellung in vielen
Bereichen der Gesellschaft massiv durchgesetzt. Es bleibt die Frage, inwiefern die Lockerung
einer spezifisch bürgerlichen Moral, spezifisch »links« ist. Die Achtundsechziger haben mit
großer Vehemenz für die Liberalisierung gekämpft. Sie sind damit, ohne dies zu wollen oder
auch nur ahnen zu können, zu Pionieren des Kapitalismus geworden. Die Bewegung des
Kapitals zerstört in einem fort die Traditionen und lockert die Bindungen. Die frei werdende
Energie wird wiederum dem Kapital eingespeist. Demzufolge stellt der Kapitalismus – wie
248
Marx/Engels konstatierten – in der Tat das Paradigma einer permanenten Revolution dar. 613
Infolge der Krisenerscheinungen in Erster und Zweiter Welt bahnt sich eine Identifizierung
Müllers mit der Dritten an: sie dreht die Antagonismen seiner Dramatik von der Ost-West- in
die Nord-Süd-Achse, wobei zu festzuhalten bleibt, dass die Dritte Welt in der Ersten bereits
unzählige Enklaven gebildet hat. In Müllers Bearbeitungen der antiken Stoffe des
PHILOKTET und des in Hölderlin gebrochenen ÖDIPUS TYRANN ist diese
Konfliktverschiebung bereits angedeutet, die von der Autobiografie in der Beschreibung des
Ortswechsels und der damit einhergehenden Blickverfremdung aufgehoben ist.
In jenen dem Buchtext vorangegangenen Textfassungen war der Reflexion über den
fremden/südlichen Blick auf Mitteleuropa eine kurze Passage über Müllers »Hang zum
Okkultismus« (HMA 4483 u. HMA 4487) nachgestellt, die die subjektfixierte Prägung des
abendländischen Denkens in einen transzendenten Diskurs überführte, indem sie diese
Prägung im Zusammenhang mit den Bulgarienreisen sowohl thematisiert als auch
erzählerisch kommentiert. »Ich habe mir einen gewissen Hang zum Okkultismus zugezogen,
wobei das schon ein bisschen vorgeprägt war durch meinen Vater, der während seiner
politischen Desillusionierung immer mehr okkulte Schriften angeschafft hat. Mit dem
Buddhismus fing es an, und dann ging es immer mehr ins Okkulte – bis hin zu Rudolf
Steiner.« (HMA 4487, 309) Auf die Frage, »Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit in
Bulgarien?« (HMA 4487, 310), folgt die Illustration der okkulten Neigung anhand einer
Anekdote. »Ein bleibender Eindruck war zum Beispiel, dass ich einmal, als ich
fremdgegangen war – was ich sehr oft tat – ein trauriges oder auch schauriges Erlebnis hatte.
Die Frau war auch eine Bulgarin, und sie wohnte in einem Hochhaus im Zentrum von Sofia
im zwanzigsten Stock. Ich kam aus ihrer Wohnung und wollte mit dem Fahrstuhl nach unten,
leicht geschwächt, denn ich war mit etwas Gewissen belastet, weil diese Bulgarin auch eine
Bekannte von Ginka war. Ich stand vor dem Fahrstuhl, drückte auf den Knopf, es kam kein
Fahrstuhl, ich drückte weiter. Dann hörte ich ein ungeheures Krachen, dann kam überhaupt
nichts mehr, also kein Strom mehr, und ich bin runtergelaufen. Da war irgend so ein armes
Schwein aus dem achtzehnten Stock mit dem Fahrstuhl ohne Halt nach unten gefallen. Den
musste die Feuerwehr aus dem Schacht kratzen. Das war seltsamerweise das einzige Mal,
dass mir so etwas passiert ist. Gottes Zeigefinger hatte sich mal kurz erhoben.« (HMA 4487,
310) Im Bild des Fahrstuhls präsentiert sich die transzendentale Verbindung zu Gott, dessen
Stimme den Ich-Erzähler an das im Gewissen verinnerlichte Jüngste Gericht mahnt. Im Sturz,
mit dem die Bestrafung der Hybris des Fremdgehens nicht am Schuldigen, sondern an einem
stellvertretenden Opfer vollzogen wird, ist diese kommunikative Ebene mit der
transzendentalen Instanz allerdings massiv beschädigt worden. Die Betonung der
Einmaligkeit des Vorfalls kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass mit dem Sturz des
Fahrstuhls aus dem Himmel des Hochhauses die Verbindung zu Gott in der Tat
unwiederbringlich abgerissen, die Fähigkeit der Kommunikation mit einer übergeordneten
Gewalt/Idee tatsächlich zu einem Fall für das technische Hilfswerk regrediert ist. Die
Erzählung spiegelt sich in einem anderen Fahrstuhltext Müllers, in dem eine langsame
Aufwärtsfahrt im Paternoster beschrieben wird, die mit dem Ausstieg des Subjekts aus dem
vertikalen Kontinuum der menschlichen (Fortschritts)Geschichte endet, der den Einstieg in
613
»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse,
also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.« (MEW 4, 465)
249
die eigene Geschichte markiert 614 : die Horizontale der Landschaft als transsubjektives
Schlachtfeld. Unter der Überschrift »DER AUFTRAG, 1980« stellt Müller in seiner
Autobiografie die Verbindung zwischen dem Fahrstuhltext des Stücks und dem »Bittgang zu
Honecker im Gebäude des Zentralkomitees« (KOS 298) her, der dem Heiratsantrag
vorangegangen war. »In jeder Etage saß dem Paternoster gegenüber ein Soldat mit
Maschinenpistole. Das Zentralkomitee war ein Hochsicherheitstrakt für die Gefangenen der
Macht.« (ebd.) Das Bild verdeutlicht den Gewaltaspekt der Himmelfahrt. Zugleich verweist
es auf die Folgen der Repräsentation von Macht: ihre Repräsentanten sind Gefangene eines
Systems, über das sie herrschen, ohne es zu beherrschen.
Die Problematik solcher sich selbst regulierender Systeme und die Angst vor ihrem
Funktionieren formuliert das Stück HORIZONTE, mit dem Heiner Müller auf die
gleichnamige Arbeit Gerhard Winterlichs reagiert, »der im Eisenhüttenkombinat in Schwedt
auf dem ›Bitterfelder Weg‹ war« (KOS 238). Die Kapitel-Überschrift
»HORIZONTE/WALDSTÜCK, 1968« zielt explizit auf die unterschiedliche Rezeption des
Textes in Ost und West, impliziert jedoch zugleich die Strukturverwandtschaft der
»nordeuropäischen Bandenkämpfe«, die sich den Luxus einer derartigen Reflexion ihrer
Probleme im Naherholungssektor »Dritte Welt« leisten kann. Unter dem Titel HORIZONTE I
erschien eine frühe Fassung des ersten Bildes 1975 im vierten Band der westdeutschen
Textausgabe Heiner Müllers (THEATERARBEIT). Das komplette Stück wurde unter dem
Titel WALDSTÜCK (nur der Untertitel verweist auf Gerhard Winterlichs Stück
HORIZONTE), versehen mit einem Motto aus Shakespeares STURM zehn Jahre später in
Band acht der gleichen Texte-Edition (SHAKESPEARE FACTORY 1) abgedruckt. Obwohl
Müller sich im Text der Autobiografie ausdrücklich von der Stückbearbeitung distanziert (»…
ich hätte das nicht gemacht ohne den Hintergedanken, dass ich damit die Sache mit Bulgarien
beschleunigen könnte«, KOS 238) macht die relativ ausführliche Schilderung der Entstehung
des Stückes, das 1969 an der Volksbühne in der Regie von Benno Besson seine Uraufführung
erfuhr, deutlich, dass die Erfahrung der Stückbearbeitung für Müller eine herausragende Rolle
gespielt haben muss. Zum einen ist das Stück, das Winterlich bewusst auf den
SOMMERNACHTSTRAUM zurückführte, Müllers erste umfangreiche Shakespeare-
Adaption, zum anderen knüpft Müller damit an ein von ihm selbst bevorzugtes Modell
kollektiver Theaterproduktion an, wie er es mit DIE UMSIEDLERIN bereits praktiziert hatte
(»Das ganze Unternehmen galt als Kollektivwerk, alle dichteten mit«, KOS 240). In KRIEG
OHNE SCHLACHT wird die Arbeit an dem Stück als »aussichtsloser Versuch, unter
staatlicher Kontrolle das Experiment UMSIEDLERIN zu wiederholen« (KOS 238),
geschildert. Als Folge der ›staatlichen Kontrolle‹, die sich an nebensächlichen Details stört,
seien »ungefähr vier, fünf, sechs, sieben Fassungen« (KOS 240) entstanden. ›Aussichtslos‹
bleibt der Versuch jedoch nicht allein der ›staatlichen Aufsicht‹ wegen, sondern vor allem
deshalb, weil weder das ›Leben im Walde‹ noch die Metaphorik der Kybernetik ein dermaßen
authentisches Material hergeben, wie es Müller für die UMSIEDLERIN zur Verfügung stand.
Dennoch ist das Stück eine ästhetisch hoch verdichtete Groteske über das Scheitern der
Herstellung des Neuen Menschen (in der Metaphorik des Stücks: seine »Optimierung«) trotz
idealer ideologischer und technischer Voraussetzungen. Angesichts der Einführung der neuen
Technologie (EDV/Kybernetik), die den Menschen in die Freiheit einer Arbeit jenseits der
614
DER MANN IM FAHRSTUHL (s. a. W 2 104–110 u. W 5 27–33)
250
Fremdbestimmung faktischer Reproduktion seiner Arbeitskraft entlassen könnte, erweist sich
die im Stück vorgeführte technische und politische Elite als unfähig, ihre Fähigkeiten und
Bedürfnisse im künstlichen Paradies des Naherholungstourismus, das angesichts des
Bewusstseinsstandes der Figuren in die kleinbürgerliche Hölle/Wüste umzuschlagen droht
(»Das ist der deutsche Wald. Er hat es in sich. / Man sollte ihn ausreißen mit der Wurzel«, W
4 151), aus den alten Bindungen zu befreien. Unter den gegebenen Voraussetzungen kann der
Mensch lediglich »als Störfaktor« (W 4 157) begriffen werden, als Sand im Getriebe eines
(nur) technisch begriffenen Fortschritts. Hinter der Oberfläche Müllers Komödie verbirgt sich
ein vielschichtiges Vexierspiel, das Fragen der (unmöglichen) Identität ebenso aufwirft wie
das ambivalente Verhältnis des Menschen zwischen Technik und (seiner) Natur. Daraus
wiederum ergibt sich die Fragestellung nach dem Preis gesellschaftlicher Emanzipation für
den einzelnen Menschen. Formal lässt sich die Arbeit an dem Stück zugleich als Fingerübung
für die Maskenspiele der »Versuchsreihe« (PHILOKTET, HORATIER, MAUSER) lesen. Die
sukzessive Auflösung der Folien subjektiver Identität, die in HORIZONTE/WALDSTÜCK
exemplarisch durchexerziert wird, ist für das Schreiben Müllers von nicht zu unterschätzender
Bedeutung. So spielt etwa der auf Shakespeare zurück gehende Rollen-/Maskentausch in den
Stücken LEBEN GUNDLINGS, DIE HAMLETMASCHINE, DER AUFTRAG,
QUARTETT und LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN an entscheidenden Drehpunkten der
Handlung eine wesentliche Rolle. In Müllers Text DIE BILDBESCHREIBUNG schließlich
wird das Subjekts des Textes einer radikalen Entleerung der Identität unterzogen. Stattdessen
wird im permanenten Wirbel der Perspektiven die Metamorphose als die eigentliche
Daseinsweise einer sich ständig deterritorialisierenden und reterritorialisierenden Spezies
erkannt. Am Ende von WALDSTÜCK tritt eine Figur auf, die bereits auf Müllers
Frauenfiguren der Siebziger und frühen Achtziger vorausweist. »Meinen genialen Schluss hat
er verworfen, den Auftritt der unbekannten Oma, einer Riesin, die endlich nicht mehr nur zu
Hause ausgebeutet werden will: ›Die halbe Industrie läg schon im Koma / Wenn ich nicht
wär, die unbekannte Oma‹.« (KOS 240, s. a. W 4 172)
Nach dem sechsten Kapitel von KRIEG OHNE SCHLACHT (»Die ersten Jahre in Berlin, seit
1951«), das beinahe doppelt so viele Buchseiten umfasst, ist das Kapitel »Theaterarbeit in
Ostberlin, die siebziger Jahre« das zweitumfangreichste der Autobiografie. Der Abschnitt
fasst die Reflexion über einen Komplex von dramatischen Arbeiten zusammen, deren
Material die deutsche Geschichte auf der einen Seite, auf der anderen die Untersuchung des
ästhetischen Potenzials unterschiedlicher Revolutionsmodelle darstellt. Die Überschrift weist
eine vermutlich nicht zufällige Konnotation zu dem von Helene Weigel herausgegebenen
Dokumentationsband THEATERARBEIT 615 auf, eine wichtige Quelle Müllers
Auseinandersetzung mit den späten Regiearbeiten Brechts am Berliner Ensemble. Die
ursprünglich in Betracht gezogene Kapitelüberschrift, »16. Vom Berliner Ensemble zur
Volksbühne« (HMA 4487), bestätigt diese Vermutung. Zugleich deutet der ursprüngliche
615
1975 erschien unter dem gleichen Titel der vierte Band Müllers Texte-Edition im Rotbuch-Verlag.
251
Titel eine Progression an, die die späte Ankunft des Erzählers am Brechttheater mit der
Überwindung der Brechtnachfolge durch den Wechsel an die Volksbühne kontrastiert. Bereits
im Kapitel »Die Macht und die Herrlichkeit« hatte Müller auf die unmittelbare Identifikation
des Erzählers mit Brecht verzichtet, indem er den Hinweis, die Rotbuch-Ausgabe seiner Texte
folge »dem Modell der Versuche« (HMA 4487, 278 = W 9 459) ersatzlos strich. Die Eingriffe
legen eine Korrektur des Habitus legitimer Brecht-Nachfolge nahe, die sich am Text von
KRIEG OHNE SCHLACHT unmittelbar nachvollziehen lässt. Erscheint es dem Erzähler in
früheren Kapiteln durchaus als angemessen, das eigene literarische Schaffen in ein immerhin
reflektiert kritisches Verhältnis zu Brecht zu setzen (»… es gab kein anderes Ziel mehr, als
zum Berliner Ensemble zu gehören und da zu arbeiten. Gott sei Dank ging das schief«, KOS
82), lässt die Darstellung späterer Arbeiten den unmittelbaren Vergleich oder gar die Brecht-
Kopie (»Brecht konnte man ja leicht nachmachen«, KOS 86) nicht mehr zu. Schließlich galt
spätestens seit Müllers Text FATZER ± KEUNER (1979) das Diktum: »Brecht gebrauchen,
ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.« (W 8 231)
Das Stück ZEMENT, das 1972 als Auftragsarbeit für das Berliner Ensemble entsteht,
versinnbildlicht die Zementierung der Ideologie auf Kosten der Dynamik einer als permanent
vorgestellten Revolution. »Seit ich das Buch gelesen hatte, wollte ich ein Stück daraus
machen. Und ich habe es immer vor mir hergeschoben. Es ist ein zu spät geschriebenes Stück.
Tragelehn sagte polemisch: ›Zement ist dein Wilhelm Tell.‹ Das Stück hat im Verhältnis zum
behandelten Stoff etwas sehr Beruhigtes, etwas Abgehobenes. Vielleicht bin ich auch
beeinflusst durch die Inszenierungen, die ich gesehen habe und nicht gut fand. Die
Inszenierung der Berghaus 1973 am Berliner Ensemble war eine heroische Anstrengung und
ganz wichtig für meine Rehabilitation in der DDR.« (KOS 243) Das Beruhigte zeigt sich vor
allem in der Genese des auf Gladkows 1925 erschienenen Roman zurückgehenden Textes, der
den Eintritt der Revolution in ihr zweites Stadium – »in den revolutionären Alltag« 616 –
verhandelt. Wie aus dem Nachlassmaterial ersichtlich wird, weichen Anzahl, Reihenfolge und
Bezeichnung der Szenen mitunter erheblich von der veröffentlichten Fassung
(Erstveröffentlichung in »Theater der Zeit« 6/1974) ab. Die Projektion auf den antiken
Mythos geht jedoch nicht auf eine nachträgliche semantische Aufladung des Stückes zurück,
sondern findet sich bereits in frühen Entwürfen zu ZEMENT. Insofern scheint die spätere
Beurteilung des Stückes durch Heiner Müller in der Tat von seiner Rezeptionsgeschichte
nicht ablösbar zu sein. Die heroische Anstrengung der Wiederaufnahme der
Zementproduktion spiegelt sich denn auch im Stellenwert, den Müllers Stück im eigenen
Werkkanon einnimmt – als Ende der Bühnenabstinenz nach dem Verbot der UMSIEDLERIN.
Dass ausgerechnet die Zementproduktion die Revolution in den Alltag hinüberretten soll,
erscheint dabei als ironische Metapher der ideologischen Verhärtungen, die auf die
Unreformierbarkeit des DDR-Sozialismus ebenso verweisen wie auf die Preisgabe jeglicher
kommunistischer Utopie zugunsten der Anerkennung des Status quo der sich
gegenüberstehenden Blöcke in Ost und West.
Die politische Lähmung schlägt sich unmittelbar im Schreibprozess nieder: »Ich erinnere
mich, es gab für mich beim Schreiben einen längeren Stop vor diesem HYDRA-Text
innerhalb des Stückes. Zwei Wochen lang wusste ich nicht weiter. Der HYDRA-Text war der
Wirbel, den ich brauchte, um weiterzukommen. Denn davor liegt die Szene DIE BAUERN, in
616
Anna Seghers: Revolutionärer Alltag. In: Gladkow/Müller 1975, 501f., hier 501
252
der es um die Revolution in Deutschland geht bzw. um das Ausbleiben der Revolution in
Deutschland, der Anfang vom Ende der Sowjetunion. […] Die deutsche Revolution steht
unmittelbar bevor. Der dynamischste Kapitalismus Europas, das ökonomisch-industriell
hochentwickelte Deutschland, wird uns die Last abnehmen. Als die deutsche Revolution
ausfiel, standen sie im Regen. Sozialismus in einem unterentwickelten Land hieß
Kolonisierung der eignen Bevölkerung. Und das ist der Punkt in dieser kurzen Szene in
Zement. Der HYDRA-Text war der Versuch, sich an den eignen Haaren aus dem Sumpf zu
ziehn, geschrieben nach einer Flasche Wodka, fast bewusstlos. Am nächsten Tag habe ich
gelesen, was ich nachts geschrieben hatte, und es war mit wenig Änderungen zu gebrauchen.«
(KOS 244f.) Müller beschreibt in KRIEG OHNE SCHLACHT wie historische, politische und
produktionsästhetische Ereignisse ineinander greifen: Das Ausbleiben der Revolution in
Deutschland, Lenins gegen erbitterten Widerstand der Trotzkisten ins Werk gesetzte
Entscheidung, die Revolution einzukesseln und die Schreibblockade des Autors werden
unmittelbar aufeinander bezogen. Bereits die russische Revolution bemühte den antiken
Mythos des Herakles zur Überwindung der schier unlösbaren militärischen, politischen und
ökonomischen Probleme. Der Rückgriff auf den Kampf des antiken Helden gegen die
lernäische Hydra ist verhaftet im mytho-historischen Kontext einer im Mythos gefangenen,
permanent scheiternden »Erneuerung« des Menschen. 617 Der den Mythos vom Kampf des
Herakles mit der lernäischen Hydra zitierende Text HERAKLES 2 beschreibt – belässt man
ihn im Kontext des Stückes – die »aus dem Schoß des Kapitalismus hervorgehende
Gesellschaft« 618 . Während im Kapitalismus »Maschinen, Industrie, Arbeit, die Individuen
besetzen, zerstückeln, auseinanderbringen« 619 ist es die Arbeit der sozialistischen Revolution,
ihn anders wieder zusammenfügen. Der Wald, den Herakles zu durchschreiten vermeint, ist
nichts anderes als das nach außen gekehrte Innere des revolutionären Kollektivs, die
Projektion des verinnerlichten Feindes in die Landschaft des eigenen Todes. Wie bereits in
MAUSER formuliert, ist der Feind an sich nichts der Revolution äußerliches, vielmehr muss
er herausgestellt/produziert werden, ohne ihr dadurch fremd zu sein. Die Hydra ist das
Menschlich-Allzumenschliche im Revolutionär selbst, das immer wieder auszureißende Alte.
Je genauer HERAKLES 2 seine Situation analysiert und erkennt, desto tiefer schreitet er
hinein in die Schlacht mit dem Ungeheuer, desto existentieller wird der Kampf, der zu seiner
eigenen Überwindung führen muss. Die »Personalunion von Feind und Schlachtfeld« (W 4
427) verweist darauf, dass jeder »Schlag Griff Stoß Stich« (ebd.) die Bedingungen des
Kampfes grundlegend verändern muss. Die Hydra ist kein fest umrissener, definierbarer
Körper, sondern eine »Gegebenheit« (W 4 426), der mit rationalen Mitteln nicht
beizukommen ist. Erkenntnis ist nur möglich, indem sich Herakles in die Schlacht begibt, in
der er sich selbst nicht gleich bleiben kann. Sein Kampf ist ein Schreiten durch das Dickicht,
das »sein Aufenthalt« (W 4 428) ist, die Strategie, die ihn der Vernichtung entzieht, Dynamik
(»sich immer neu zusammensetzend«, W 4 427). Der Zertrümmerung (»immer neu auf seine
kleinsten Bauteile zurückgeführt«, ebd.) sich permanenten aussetzend, entgeht er der
gänzlichen Vernichtung. Die von der Hydra ausgehende (vaginale) Todesdrohung, besteht vor
617
In dem Gedicht HERAKLES 13 beschreibt Müller den Amoklauf des mythologischen Helden: »Die
dreizehnte Arbeit des Herakles war die Befreiung Thebens von den Thebanern« (W 1 237).
618
Lenin 1975, 561
619
Fiebach 1990, 85
253
allem in der Verlockung zur Ruhe, zum Stillstand 620 . Jede Atempause könnte den Triumph
des Tieres besiegeln. »Jeder Schoß, in den er irgendwie geraten war, wollte irgendwann sein
Grab sein. Und das alte Lied. ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN
MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT. Skandiert vom Knacken seiner Halswirbel
im mütterlichen Würgegriff.« (W 4 427) Aber auch der umgekehrte Fall darf nicht eintreten,
denn jenseits der gänzlichen Vernichtung des Tieres, das Bestandteil seiner selbst ist, jenseits
der Schlacht, wartet das Nichts. Die Konstitution des Neuen erfolgt innerhalb des Kampfes.
Die einzige Möglichkeit der Selbstdefinition besteht in der Selbstaufgabe. Dabei sind die
Schmerzen, welche von den Schlägen »gegen die Eigensubstanz« (ebd.) herrühren, das
einzige »Barometer« (ebd.) des revolutionären Bewusstseins. Allein sie zeigen an, dass der
Kämpfer sich von Feind und Schlachtfeld noch unterscheidet und somit an der Schaffung des
Neuen noch partizipiert. »… in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde
ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu
sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und dass er ihn dachte änderte schrieb
mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.« (W 4 428) Die Deformation wird hier
dargestellt als geschichtsphilosophische Perspektive. Die revolutionäre Arbeit besteht im
Prozess unaufhörlicher Veränderung des Selbst. Ununterbrochen wird das Bewusstsein einer
Zergliederung unterzogen. Analyse, Konstruktion und Destruktion sind nur verschiedene
Arbeitsgänge auf dem Weg zum Produkt Neuer Mensch. Wesentlich jedoch ist, dass dieser
Produktionsprozess nicht im inneren des Revolutionärs vor sich geht, sondern nur in der
permanenten Auseinandersetzung mit den ›Gegebenheiten‹ der Wirklichkeit. Müller
beschreibt den Prozess und Progress des marschierenden Kollektivs in einem Modell der
Interaktion. Der permanenten Zertrümmerung der Fundamente, der perspektivisch nicht
abschließbaren Zerstörung des eigenen Urgrundes, korrespondiert die Auflösung der
individuellen Identität, der sich die Revolutionäre in ZEMENT immer wieder unterziehen
müssen. Die Destruktion der individuellen Dispositionen wird so zum Paradigma des
revolutionären Schöpfungsprozesses.
Die Überführung der permanenten Revolution in ein ästhetisches Modell befreit sie aus einem
historischen Kontext, in dem sie zum Scheitern verurteilt war. Das Ausbleiben der Revolution
in Deutschland als Begründung für die Auflösung der Sowjets und die staatliche
Monopolisierung der sozialistischen Revolution, mithin ihr Überführung in die
Zementproduktion und schließlich in die stalinistische Knochenmühle, führt in das
Furchtzentrum der Geschichte und bildet den unmittelbaren Anknüpfungspunkt für Müllers
künstlerisches Interesse. Wiederum kommt es zu einem vorübergehenden Verbot des Stückes.
Doch die Proben laufen bereits. Infolge des Engagements von Schauspielern und Regisseurin
– dem »Parteiaktiv Zement« (KOS 246) – wird das Verbot unter Vorbehalt wieder
aufgehoben. Müller schildert die Vorgänge repressiver Kulturpolitik als innerfamiliäre
Konfliktbewältigung. »Die Berghaus ging zu Hoffmann, dem Kulturminister, und sagte ihm
›Wenn ich das nicht inszenieren darf, weiß ich nicht mehr, was ich mit dem BE anfangen
soll.‹ Und Hoffmann fragte: ›Kannst du das als Kommunistin verantworten, dieses Stück zu
inszenieren, so wie es ist?‹ Und sie sagte ja. Und Hoffmann atmete tief durch: ›Dann komme
620
s. a. Georg Büchners DANTONS TOD: »Die Leute sagen, im Grab sei Ruhe, und Grab und Ruhe seien
eins. Wenn das ist, lieg ich in deinem Schoß schon unter der Erde. Du süßes Grab, deine Lippen sind
Totenglocken, deine Stimme ist mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel, und dein Herz mein Sarg.–
« (Büchner-WuB, 9)
254
ich in vierzehn Tagen und schaue mir das an.‹ Also gab es einen Durchlauf speziell für den
Minister. Der kam aber schon in Hemdsärmeln – es war Sommer‚ fuhr auch seinen Wagen
selbst, es war nur noch eine Formalität.« (KOS 247f.) Zugleich geht eine Ergebenheitsadresse
der Schauspieler an Honecker, verbunden mit der Bitte, dem Verbot entgegenzuwirken.
»Zeitgleich mit dem Verbotsbescheid des Ministeriums hing dann ein Dankesschreiben von
Honecker am schwarzen Brett.« (KOS 247) Von Sanktionen gegen den Autor ist nun keine
Rede mehr.
Zwischen Verbot und Aufführungsgenehmigung des Stückes ist in der Autobiografie eine
Anekdote eingeschaltet, dessen Tradierung Heinar Kipphardt zugeschrieben wird. Die
Kipphardt-Anekdote bezieht sich nicht unmittelbar auf den Kontext des Stückverbots. Doch
knüpft sie strukturell an die dramaturgische Technik der Intermedien in ZEMENT (Achill,
Prometheus, Herakles) an und stellt damit einen formalen Stück-Bezug her. »Kipphardt hatte
eine gute Geschichte dazu, die erzählte er nicht mir, sondern irgend jemand anderem, von
dem ich sie dann hörte. Die Geschichte ging so: Der Müller erinnert ihn, Kipphardt, an einen
Mann, der von einem vermögenden Menschen eingeladen wird. ›Besuchen Sie mich doch mal
in meiner Villa.‹ Der Mann geht hin, sie unterhalten sich nett, und es ist eine schöne
Atmosphäre. Dann sagt der Gastgeber zum Gast: ›Ach wissen Sie, Sie können gleich durch
den Garten gehen, da können Sie den Weg abkürzen.‹ Der Gast geht in den Garten, fällt in
eine Jauchegrube, rappelt sich heraus und geht nach Hause. Ein Jahr später wird der Mann
wieder von demselben Gastgeber eingeladen, wieder ein schönes Gespräch. Der Gastgeber
sagt: ›Gehen Sie doch gleich durch den Garten, da können Sie den Weg abkürzen.‹ Der Gast
fällt wieder in die Jauchegrube. Ein Jahr später derselbe Vorgang. Kipphardts Moral zu der
Geschichte: Beim ersten Mal könnte man annehmen, dass es sich um ein bedauerliches
Missverständnis handelt, beim zweiten Mal fängt man an zu argwöhnen, dass der Gastgeber
ein böser Mensch ist, beim dritten Mal fängt man doch an, darüber nachzudenken, ob nicht
der Gast ein Depp ist. Das fand ich eine sehr gute Geschichte.« (KOS 246f.) Die eigentliche
»Geschichte« wird vom Erzähler in einen externen Kommunikationszusammenhang
eingebettet. Damit wird zum einen die Autorität der ursprünglichen Quelle (»Kipphardt«)
untergraben, andererseits wird damit die Eigenständigkeit der »Geschichte« gegenüber der
lebensgeschichtlichen Erzählung behauptet, die sie kommentiert. Als alleinige Klammer der
Verschränkung beider Ebenen fungiert der Autor des Textes, der den semantischen Bezug
beider Erzählebenen herstellt und also autorisiert. Das überraschende Moment an Kipphardts
»Geschichte« besteht nicht in der dreifachen Wiederholung ein und desselben Geschehens,
das die Komik in die Groteske treibt, sondern vielmehr in seiner Deutung, die die Geschichte
auf den Idioten und seinen zynischen Gastgeber beschränkt und damit auf die erkennbar
unspektakulärste Art und Weise interpretiert. Sie wird dadurch ihres kommentierenden
Potenzials beraubt. Andererseits provoziert gerade die Banalität der Deutung – verstärkt durch
die auktoriale Bewertung, dass es sich um eine »sehr gute Geschichte« handle – die
Beschränktheit des Bedeutungshorizontes. Immerhin ließe sich aus dem Verhalten des
Deppen auch seine Beharrlichkeit herauslesen, in den Abfällen der Zivilisation nach
Versatzstücken einer längst entsorgten Utopie zu suchen: Die Jauchegrube als bevorzugter
Lebensraum einer Figur, auf dessen regelmäßige wie peinliche Besuche der Hausherr der
Geschichte nicht zu verzichten vermag; oder die kafkaeske Unausweichlichkeit der
imperativischen Kraft des Hausherren-Wortes, die den Einzelnen auf die stets vergebliche
Suche nach dem Sinn seines Handelns stößt. Schließlich vermag das Bild auch die Tragik des
255
einsamen Schwimmers einzufangen, der, wie in Müllers TRAUMTEXT OKTOBER 1995 im
Kesseln treibend von sich hinweg deutet.
Mit DIE SCHLACHT, dem zweiten Stück, von dem im Kapitel »Theaterarbeit« die Rede ist,
wird bereits der Wechsel vom Berliner Ensemble zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
in Berlin vollzogen. Verband sich mit dem Theater am Schiffbauerdamm vor allem die
Vorstellung einer Auseinandersetzung mit dem Erbe Brechts, markierte die Volksbühne eine
alternative Tradition des nachbürgerlichen Theaters, dessen kultureller Auftrag in der
ästhetischen Erziehung der aufstrebenden proletarischen Massen am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts wurzelte. 1974 hatte der Schweizer Benno Besson die Intendanz des Hauses
übernommen, der bereits Müllers ÖDIPUS-Bearbeitung für das Deutsche Theater sowie
HORIZONTE/WALDSTÜCK an der Volksbühne inszeniert hatte. Gleichzeitig kamen
Manfred Karge und Matthias Langhoff an das Theater und brachten im Rahmen des zweiten
Volksbühnen-Spektakels 621 noch im gleichen Jahr Müllers Text DAS LAKEN zur
Aufführung. Ermutigt durch die Aufführung der an Brechts ANTIGONE-Vorspiel
angelehnten Szene, arrangierte Müller eine Folge weiterer »Szenen aus Deutschland« – so der
Untertitel – zu einem Stück: DIE SCHLACHT. Die Mehrzahl dieser Szenen ging auf Texte
und Entwürfe der frühen fünfziger Jahre zurück. Die Eröffnungsszene DIE NACHT DER
LANGEN MESSER greift die Geschichte der verfeindeten Brüder aus F. C. Weißkopfs
ANEKDOTENBUCH (Berlin 1949) auf, die Müller bereits in seinem Seelenbinder-Stück
[HELD IM RING] und der Szene DIE BRÜDER 2 in GERMANIA TOD IN BERLIN
verarbeitet hatte. Auch das Material der grotesken Folgeszene ICH HATT EINEN
KAMERADEN unterwirft der Autor einer wiederholten Bearbeitung. So geistert das Motiv
der hungernden Soldaten noch durch sein letztes Stück GERMANIA 3 GESPENSTER AM
TOTEN MANN. Sowohl die Szene KLEINBÜRGERHOCHZEIT als auch die Collage
FLEISCHER UND FRAU haben ihren entstehungsgeschichtlichen Ursprung in frühen Prosa-
und Lyrikversuchen. Der Kristallisationspunkt des Stückes, die zuerst aufgeführte Szene DAS
LAKEN, schließt das Stück chrono-logisch ab: Die ideologische Besetzung der Toten wird
zum End- und Ausgangspunkt einer als permanente Schlacht lesbaren Geschichte. 622 Ähnlich
komplex gestaltet sich der Genesezusammenhang des parallel ausgeführten und gemeinsam
mit DIE SCHLACHT inszenierten Stücks TRAKTOR 623 ,
In seiner Autobiografie begründet Müller die späte Realisierung des Textes mit den
beschränkten ästhetischen Vorstellungen und den sich daraus ergebenden kulturpolitischen
Restriktionen der fünfziger und sechziger Jahre. Doch auch Mitte der siebziger Jahre war das
Stück alles andere als unproblematisch. »SCHLACHT konnte man von offizieller Seite als
historisch abbuchen. Es gab ein Unbehagen über die erste Szene, diese Brüder-Szene, der eine
Kommunist der andre ein SA-Mann, auch interne Kritik mit dem Tenor, das sei ein falsches
Bild vom antifaschistischen Widerstand. Das Stück war eine Polemik gegen das offizielle
Geschichtsbild, die Inszenierung vielleicht sogar noch mehr. Das ist schon verstanden
worden, aber man konnte es einstecken, auch Hitler als Clown, das war schon vorbereitet
durch Brechts ARTURO UI, sogar den Kannibalismus in der Szene ICH HATT EINEN
621
Müller spricht vom »ersten sogenannten Spektakel« (KOS 252).
622
zur Komplexität der Textgenese s. a. die Ausführungen im Anmerkungsapparat der Werkausgabe (W 4
583–587)
623
s. a. W 4 587–590
256
KAMERADEN, deutsche Soldaten fressen deutsche Soldaten. Jedenfalls war die Empörung
bei Aufführungen in der Bundesrepublik lautstärker.« (KOS 253f.) DIE SCHLACHT, in der
Müller auf eine frühere Bearbeitung dieses Motivs zurückgreift, erfuhr ihre Uraufführung,
ebenfalls in der Regie Karge/Langhoffs, im Jahr 1975. Markant an der Schilderung der
Autobiografie ist die Betonung des restriktiven Umfeldes der Inszenierung durch den
Erzähler. Obwohl dem Stück kein Verbot (in Form einer »Weisung«) vorangegangen war,
sondern lediglich die (nicht bindende) »Empfehlung« der zuständigen Kulturabteilung in der
Bezirksleitung der SED, die Inszenierung nicht herauszubringen, wird dezidiert begründet,
wie die Aufführung ohne staatliche Eingriffe trotz aller Einwände dennoch zustande kam:
Durch die Aufführung der Schlussszene im Rahmen des Spektakels war ein Teil der
Inszenierung bereits abgesichert. Vorausgegangen war der Veröffentlichung des Textes im
Programmheft der Aufführung eine Diskussionsveranstaltung im Glühlampenwerk »Narva«,
dem Patenbetrieb der Volksbühne. »Die Schauspieler haben dort den Text vorgelesen und mit
den Arbeitern darüber geredet, wie die das Kriegsende erlebt hatten und die Nazis. So
entstand ein ziemlich umfangreiches Material, und das hat einiges an Skepsis abgefedert.«
(KOS 252) Einen weiteren Grund für die Durchsetzung der Aufführung sieht der Erzähler in
der starken Ästhetisierung der Inszenierung: »Die Strategie von Matthias Langhoff war
Einschüchterung durch Kunst, eine aufwendige Inszenierung, mit vielleicht sogar zuviel
Prunk und Ästhetik.« (ebd.) Letztendlich beruft er sich auf die strategische Kopplung von
SCHLACHT und TRAKTOR: »die alten Gräuel in SCHLACHT, die Geburt des Neuen in
TRAKTOR. TRAKTOR fiel später weg. SCHLACHT lief sehr lange, bis 1985.« Der Wegfall
der »Geburt des Neuen« in TRAKTOR und das bestehen auf der Darstellung des fatalen
Gewaltzusammenhangs in SCHLACHT verdeutlicht das ganze Ausmaß der Monstrosität
dieses Publikums-Erfolges.
Aufgrund des generellen Publikations- und Inszenierungsverbotes in der DDR bis 1988 erfuhr
das Stück GERMANIA TOD IN BERLIN, das aus dem gleichen Genesezusammenhang
hervorging, ein anderes Schicksal. Während DIE SCHLACHT sich aller ideologischen
Vorbehalte der DDR-Behörden zum Trotz hartnäckig auf der Bühne halten konnte, blieb das
1971 fertiggestellte Stück GERMANIA im Osten tabu. Doch auch im Westen stieß
GERMANIA auf befremden. »Interessant war die unterschiedliche Reaktion in Ost und West
auf die Münchner Uraufführung 1978, inszeniert von Ernst Wendt. Die Ablehnung war
gesamtdeutsch, die Argumentation verschieden. Georg Hensel Kritiker der FAZ, schrieb über
die Unverschämtheit, Steuergelder zu verschwenden auf die Aufführung eines Machwerks,
das alle SED-Propagandalügen über den Volksaufstand des 17. Juni kolportiert. Das haben
Theaterleute in der DDR versucht, als Argument zu verwenden für die Aufführbarkeit in der
DDR. Es wurde sogar eine Kommission von Historikern gebildet, die über die Frage der
Aufführbarkeit des Stücks entscheiden sollte. Die Antwort blieb Nein.« (KOS 255f.) In der
Darstellung der Autobiografie wird die Rezeptionsgeschichte des Stücks in eine Reihe von
Zensurfällen (Ost) und moralisch-ideologisch bedingten Missverständnissen (West)
eingestellt. Dabei scheinen sich die divergierenden Momente der Wahrnehmung des Stückes
in Ost und West wechselseitig zu bedingen. Die Reaktionen auf Fritz Marquardts
Inszenierung des Stückes am Berliner Ensemble im Wendejahr 1989 werfen eine andere
Perspektive auf das Stück. »Bei der Inszenierung am Berliner Ensemble, 1988, kurz vor dem
Ende der DDR, hat Marquardt auf die kabarettistische Dimension bewusst verzichtet, gegen
257
die Erwartungen.« 624 In einer früheren Textfassung der Autobiografie heißt es mit Blick auf
die späteren Aufführungen des GERMANIA-Textes, dass Stück sei »völlig veraltet und durch
die Geschichte überholt. // Als es dann – kurz vor dem Ende der DDR – im Berliner Ensemble
gespielt wurde, war die BE-Trockenheit in der Inszenierung. Und für den Marqua[r]dt ist das
Berliner Ensemble auch nicht gut, denn es ist sehr schwer, da noch einen Funken
rauszuschlagen.« (HMA 4487, 339f.) Während »Bücherminister« Höpcke nach der
Aufführung sein Unverständnis bekundet, dieses Stück einst verboten zu haben, fordert der
unbekannte Absender einer anonymen Postkarte die Verbannung des Stücks (und seiner
Inszenierung) ins Reich der Schatten: »Rote Schweinescheiße in den Orkus, Tod in Berlin für
Müllers GERMANIA« (KOS 256) – nach achtzehnjährigem Verbot hat sich die
Rezeptionshaltung des FAZ-Kritikers auch im Osten durchgesetzt. Die ästhetische
Sprengkraft des Textes wird nur mehr als Affirmation an die ökonomisch wie politisch
überholten Durchhalteparolen des SED-Regimes wahrgenommen. An die Stelle der Zensur
tritt die Verleumdung.
Dabei erscheint die »Wiedervereinigung« als späte Bestätigung einer zentralen Aussage des
Stücks. Wird in der Szene HOMMAGE À STALIN 1, die eine dramatische Anordnung
geschichtlicher Formationen in einem zirkulären Gewaltzusammenhang vornimmt, die
(deutsche) Geschichte an den Nibelungenmythos angekoppelt, kann der Wiedereintritt in eine
gemeinsame Nationalgeschichte jenseits des Anspruchs auf Emanzipation als Rückkehr in
den »Fleischkessel« beschrieben werden, über dessen fernen Rand der Stückschluss von 1971
einen vorsichtigen Ausblick immerhin ermöglichte. Für eine postkapitalistische Welt fehlte in
dieser Hinsicht nach 1989 jede denkbare Perspektive. Das Bild von den »roten Fahnen […]
Über Rhein und Ruhr« (W 4 377), in dem sich die »Visionen der Aufhebung einer belasteten
deutschen Vorgeschichte« 625 hätten manifestieren können, wurde von der globalen
Alternativlosigkeit des spätkapitalistischen Systems der Nachwendezeit gründlich
konterkariert. Der mythologischen Begründung abendländischer Geschichte in GERMANIA
entspricht die Historisierung des Mythos. Mit der Wende ist Müllers Poe-Korrektur (»DER
TERROR VON DEM ICH SCHREIBE KOMMT/ NICHT AUS DEUTSCHLAND ES IST
EIN TERROR DER SEELE/ (Edgar Allan Poe)/ DER TERROR VON DEM ICH
SCHREIBE KOMMT AUS DEUTSCHLAND« 626 ) in der Weltarena heimisch geworden.
»Dann treten überlebensgroß in verrosteten Harnischen die Nibelungen Gunther, Hagen,
Volker und Gernot auf« (W 4 341), heißt es in der Szene HOMMAGE À STALIN 1, um das
»Loch im Kessel« (W 4 343) endgültig zu schließen und damit den Kreislauf abendländischer
Gewaltgeschichte zu verewigen: »Schlagen einer den anderen in Stücke. Einen Augenblick
Stille. Auch der Schlachtlärm hat aufgehört. Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu
und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus
Schrott und Menschenmaterial. Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild.« (W 4 344)
Müllers Autobiografie liefert eine späte Begründung für die Aussichtslosigkeit dieses Bildes,
das nach 1989 (end)gültiger erscheint, als das Bild der im Stückschluss immerhin denkbaren
roten Fahnen über Rhein und Ruhr. Begründet wird die Affinität zum Aufspüren der dunklen
Wurzeln der eigenen Geschichte mit der Perspektivlosigkeit der Gegenwart, deren
624
KOS 256. Die Premiere fand am 9. Januar 1989 statt, Müllers sechzigstem Geburtstag.
625
Hörnigk 1989, 21
626
W 1 8. Zeitweilig stellte Müller das Poe-Zitat mit der eigenen Korrektur dem Stück als Motto voran. (s. a.
W 4 578)
258
(ungewollte) Beschreibung die Arbeit des Textes ist. »Wenn du siehst, dass der Baum keine
Äpfel mehr bringt, dass er anfängt zu verfaulen, siehst du nach den Wurzeln. In der DDR war
die Stagnation in diesen Jahren absolut. Da kommt dann alles hoch, was drunter liegt,
verschüttet oder begraben. Es gab keine Bewegung mehr, nur noch Bremsmanöver und
Befestigung. Die DDR, als Gegenentwurf zur deutschen Geschichte real existierend nur noch
im falschen Bewusstsein ihrer Führungsschicht, ging ihrem ebenso fremdbestimmten Ende
entgegen, Nebenprodukt des sowjetischen Untergangs. Ich wusste das damals nicht, ich habe
es nur beschrieben, der Text weiß mehr als der Autor.« (KOS 256f.) Auch das
Beschreibungspotenzial der Autobiografie dürfte die Autorintention nicht nur in sich
aufgehoben haben, sondern grundsätzlich übersteigen. Der zweite Teil des hier zitierten
selbstreflexiven Abschnitts fehlt in früher dokumentierten Fassungen ganz. Er wurde
demzufolge vermutlich erst nach dem Entstehen der Arbeitsfassung in einem nicht mehr
erhaltenen Manuskript nachträglich in den Text der Autobiografie eingefügt. In einer früheren
Textfassung erfolgt der Einstieg in die Argumentation auf die gleiche Frage hin (»Was
interessierte Dich am Thema Deutsche Geschichte?«, KOS 256) folgendermaßen: »Die
Beschäftigung mit den weiter zurückliegenden Epochen wie dem Preußentum hat bei mir
einfach damit zu tun: Wenn du siehst, dass der Baum keine Apfelsinen mehr bringt …«
(HMA 4487, 338) Der Baum der Erkenntnis trägt nicht erst im Ostdeutschland der siebziger
Jahre keine Früchte mehr. Im Westen versuchten sich bereits während der fünfziger Jahre
Becketts Vladimir und Estragon als Fruchtersatz am weitgehend abgestorbenen Gehölz
menschlicher Sinngebung angesichts der Selbstdefinition im Pathos des atomaren Blitzes. Die
ideologische Lücke einer real existierenden Alternative zum ökonomischen Hier und Jetzt der
kapitalistischen Produktionsweise haben religiöse Fanatiker und hoffnungslose
Sozialfaschisten unter Ausblendung tatsächlicher Alternativen längst besetzt. Die Spur des
Menschen, die mit seiner Entlassung aus dem Paradies einsetzt, endet am Ausgang des
Menschen aus der Geschichte mit dem »Jüngsten Gericht«. Wie im »Buch des Lebens« 627 ,
auf das sich laut der Offenbarung des Johannes zu diesem Anlass die göttliche Beweisführung
stützen soll, hinterlässt der Mensch seine Spuren in den Werken, die seine Taten
dokumentieren. Der Text ist klüger als der Autor. Endgültig lesbar wird er jenseits seiner
Verfügbarkeit durch den Menschen.
Im Jahr 1970 schloss Heiner Müller mit MAUSER seine auf Brechts Lehrstücke
rekurrierende »Versuchsreihe« (W 4 259) ab, zu der er außerdem die Stücke PHILOKTET
und DER HORATIER zählte. Mit MAUSER, das stofflich auf eine Episode aus Scholochows
Revolutionsroman DER STILLE DON zurückgeht, kam er Brechts Lehrstück, insbesondere
der MASSNAHME inhaltlich und formal am nächsten. Die Beschäftigung mit dem Material
setzte ähnlich wie bei den Stücken GERMANIA TOD IN BERLIN und DIE SCHLACHT
bereits in den frühen fünfziger Jahren ein, wie ein Prosatext (SOHN EINES
KLEINBÜRGERS) und eine Reihe von Gedichten (BUNTSCHUK I, BUNTSCHUK II,
MAUSER) dokumentieren. Sowohl über den Text, als auch über seine Entstehung macht
Müller in der Autobiografie keine Angaben. Indes zeigen die Anekdoten, die sich auf die
Verhinderung der MAUSER-Rezeption infolge des Verbots in Ostdeutschland beziehen, dass
die Kapitelüberschrift »Theaterarbeit« auch darauf zielt, wie die Texte jenseits des Theaters
zu arbeiten vermögen. 1972 war MAUSER am Großen Haus der städtischen Bühnen
627
Offenbarung des Johannes 20, 12 u. 15 (zitiert nach Luther)
259
Magdeburg bereits zur Uraufführung angekündigt. Die Inszenierung oblag dem Magdeburger
Generalintendanten Hans-Dieter Meves. »Er machte 1972 eine ›Woche des Sowjetischen
Gegenwartstheaters‹, und in diesem Rahmen wollte er MAUSER inszenieren, mit Orgelmusik
und weißen Gewändern als eine Art Liturgie. Nach zwei Wochen Proben kam ein reitender
Bote des Ministeriums für Kultur und teilte ihm mit, dass er die Proben sofort abzubrechen
hätte. Inzwischen war das Manuskript gelesen worden. Meves hat sich geweigert und wurde
als Generalintendant fristlos gekündigt. Er war auch Mitglied der Bezirksleitung, nach dem
Parteiverfahren nicht mehr. Dann war er ein paar Jahre arbeitslos. Bei jedem Angebot, an
einem Theater zu arbeiten, sagte er: ›Wenn ich Mauser inszenieren kann.‹ Das hat er ein paar
Jahre durchgehalten. Mauser ist der einzige Text, zu dem es ein schriftliches Verbot gibt: Die
Publikation und Verbreitung dieses Textes auf dem Territorium der Deutschen
Demokratischen Republik ist verboten.« (KOS 258) Neben der immerhin begonnenen
Theaterarbeit in Magdeburg setzt das schriftliche Verbot die gründliche Rezeption zumindest
in der Zensurabteilung des »Bücherministers« Höpcke in Berlin/Ost voraus. Müller inszeniert
seine Darstellung des MAUSER-Verbots als Paraphrase auf das antike Theater. Die weißen
Gewänder der liturgisch angelegten Inszenierung Meves’ verweisen auf die attischen
Tragödienaufführungen anlässlich der Dionysien, die an der Schnittstelle zwischen Ritus und
Kunst standen. Das Verhältnis zu den Göttern manifestierte sich dort nicht nur im kultischen
Ursprung dieses wichtigsten Festes der attischen Polis. Auch in den überlieferten Werken der
großen Dramatiker des fünften vorchristlichen Jahrhunderts wurde dieses Verhältnis immer
wieder zum Schauplatz und zur Reibefläche der Identität des Stadtstaates. Die Anlehnung des
Stückes MAUSER an die vom Chor getragene Struktur der aschyleischen Tragödie legt eine
solche Umsetzung ebenso nahe, wie der Inhalt des Stückes, der die Entstehung einer neuen
Ästhetik mit der einer neuen Ethik verknüpft: »DIE ERSTE GESTALT DER HOFFNUNG
IST DIE FURCHT DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN DER SCHRECKEN.« 628
Schließlich liefert »ein reitender Bote des Ministeriums für Kultur« als Deus ex machina die
vorzeitige Auflösung des in MAUSER verhandelten Konflikts und damit die Lösung des
Problems durch die Abschaffung der Frage (Verbot). Die Entlassung und Abstrafung des
Regisseurs Meves erscheint als Aberkennung des Bürgerrechts und Akt der Verbannung, wie
ihn die Antike als höchstes Strafmaß bereithielt. Ohne die Möglichkeit, seinem künstlerischen
Ausdrucksvermögen Gestalt zu verleihen, verharrt er im ortlosen Exil. Seiner Arbeit harrt
keine Bühne. Auf dem Territorium der (ehemaligen) DDR kommt der Text MAUSER
bezeichnender Weise erst nach ihrem Untergang zu seinem Recht: 1991 inszenierte Müller
das Stück unter Einbeziehung seiner Texte QUARTETT, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE
V: DER FINDLING, HERAKLES 13 und HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA am
Deutschen Theater Berlin.
Eine weitere Episode aus dem Umfeld des Textes Mauser ist hinsichtlich des Theaterbezuges
noch markanter: »Bei MAUSER gab es keine Argumente, es galt einfach als
konterrevolutionär. Etwa zehn Jahre später habe ich MAUSER vorgelesen, im P.E.N-
Zentrum der DDR, an einem der rituellen Nachmittage mit Gebäck und Tee. Der Text war in
der DDR noch nicht gedruckt, und niemand kannte ihn. Alle waren dagegen, von Herzfelde
bis Hermlin und Hacks. Die Argumente waren interessant. Hacks sagte: ›Das ist
Studikerproblematik.‹ Hermlin: ›Das ist stalinistisch.‹ Und Herzfelde fand das auch. Es kam
628
W 4 259
260
zu einem Streit zwischen Henryk Keisch und Hermlin. Henryk Keisch war ein Idiot und
damals eine Figur mit einem gewissen Aktionsradius. Er war in der französischen Emigration
gewesen wie Hermlin. Und Keisch sagte, er würde das nicht ganz verstehen, so was gab es
doch nicht in der Sowjetunion, diesen Terror, diese Hinrichtungen. Davon hätte er nie gehört.
Da wurde Hermlin ganz wild und erzählte ihm fürchterlichste Geschichten aus der
sowjetischen Frühgeschichte, wie zum Beispiel Stalin und Tscherschinski von Lenin nach
Georgien geschickt wurden, um mit den Menschewiken zu diskutieren und sie haben dort aus
der Diskussion ein Massaker gemacht, ein Blutbad. Dem Keisch fielen die Augen aus dem
Kopf. Das war grotesk in diesem Kontext, auch wie Hermlin darauf kam, nachdem er den
Text heftig abgelehnt hatte. Der einzig Vernünftige war Eduard Claudius, kein Intellektueller.
Er sagte, er müsse jetzt leider weg, er hätte zum ersten Mal ein Visum nach Frankreich. Er
könne mir dazu nur sagen: Wenn er den Text hört, fällt ihm eine Episode aus dem Spanischen
Bürgerkrieg ein. In der Schlacht von Teruel hätten sie viele Marokkaner erschossen. Und da
lagen dann diese schönen, jungen Menschen tot in der Gebirgslandschaft, und sie hatten
eigentlich mit der ganzen Sache nichts zu tun. Daran erinnerte ihn MAUSER, dann ging er.«
(KOS 259f.) Die Szene liest sich wie die dramatische Anordnung eines Erinnerungstextes.
Der Verwendung von Figurenrede entspricht die explizite Bezeichnung der Dramatis
Personae als »Figuren« (im Falle Henryk Keischs). Die Funktion des Autors besteht weniger
im Kommentar, als in der Auswahl, Anordnung und Abfolge der »Argumente«. Interessant ist
in diesem Zusammenhang nicht nur die nachträgliche Bestätigung des ministeriellen Verbots
seitens der schreibenden Elite des Landes, sondern vor allem die Zuordnung der einzelnen
Argumente zu den jeweiligen »Figuren«. So denunziert Müller seinen Intimfeind Hacks mit
einem ebenso pauschalen wie undifferenzierten Satz, demzufolge das Stück als Elaborat
Müllers Rückzug in den Elfenbeinturm zu lesen sei – möglicherweise eine Anspielung auf
dessen wiederholte Äußerungen über Müllers politische, ideologische wie ästhetische
Unzuverlässigkeit. Keisch, der seit Ende der siebziger Jahre den Vorsitz des PEN-Zentrums
der DDR innehatte, wird von Stefan Hermlin – einer unbestrittenen Autorität im
Literaturbetrieb der DDR – zurechtgewiesen. Der seinerseits äußert Vorbehalte gegen das
Stück, weil es in seinen Augen gerade jene (stalinistischen) Mechanismen gutheiße, die
Keisch für frei erfunden hält. Eduard Claudius, der einzige, der eine Kernaussage des Stückes
verstanden zu haben scheint, lässt die Protagonisten der ideologischen Literaturrezeption
allein auf der Bühne ihrer Irrtümer zurück. Aufgrund seiner historischen Erfahrung versteht
er, dass es nicht um die Opfer oder Feinde geht, die der Freiheit gebracht werden, sondern um
die paradoxe Arbeit der Revolution, die auch diejenigen töten muss, die sie langfristig
befreien will. Oder wie Müller in MAUSER formuliert: »Wozu das Töten und wozu das
Streben / Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist / Die zu Befreienden der Preis der
Freiheit.« (W 4 249)
Bereits vor MAUSER war im bulgarischen »Exil« das Stück DER HORATIER entstanden.
»HORATIER habe ich im wesentlichen 1968 in Bulgarien geschrieben. Bulgarien war ein
guter Ort zum Schreiben, ich hatte einen Abstand zu Deutschland. Aber auch der Plan zu
HORATIER war schon alt. Der Text war meine Reaktion auf Prag 1968, ein Kommentar zu
Prag. HORATIER durfte auch nicht gespielt werden. Es gab einen Versuch, das Stück am
Berliner Ensemble zu inszenieren, aber auch der wurde von der Bezirksleitung unterbunden,
und zwar mit dem Argument, dass dies die Prager Position wäre, die Forderung: Intellektuelle
an die Macht.« (KOS 258f.) In Bulgarien ist der Erzähler »mit seiner eigenen Sprache allein«
261
(KOS 238). Der verfremdete Blick auf die Ereignisse des Frühjahrs und Sommers 1968 in der
Tschechoslowakei, so will es die Darstellung, aktualisiert ein altes Stückprojekt, das auf den
Bericht in Titus Livius’ römischem Geschichtswerk AB URBE CONDITA sowie Corneilles
Drama HORACE zurückgeht und als Modell in Form eines Lehrstückes zugespitzt wird.
Müllers Stück kennt keine festen Rollen oder Figurensprache. Die Aufteilung der Rollen wird
somit in den Rezeptionsprozess. Im Entwurf einer Anmerkung zum HORATIER sieht Müller
die Funktion des Stücks in der »Korrektur der Vergangenheit«, beziehungsweise im »Neu-
Schreiben von Geschichte« mit dem Ziel der Abschaffung einer »Politik der Stellvertretung«,
die auf »Klassenjustiz« und »Arbeitsteilung« beruhe. 629 »Kein Mann ist ein anderer Mann«
(W 4 81), heißt es im Stück. In der Anlage des Stücktextes ist die Thematik der
Repräsentation jedoch äußerst vielschichtig problematisiert. So kämpfen im Konflikt der
Städte jeweils ein Mann aus Rom und Alba stellvertretend für ihre Heere. Und als
»vorläufiges Beispiel reinlicher Scheidung« (W 4 85) wird der Horatier zum vorläufigen
Repräsentanten einer neuen Ethik der Geschichts-Schreibung. Doch handelt es sich beim
Dienst für die Stadt weniger um einen Akt der Re-Präsentation, sondern vielmehr um die
grundsätzliche Identifikation mit einer Idee vom Kollektiv: »Kein Römer / Ist weniger als
Rom oder Rom ist nicht« (W 4 78) Im Text ERINNERUNG AN EINEN STAAT, der die
Autobiografie als letztes Kapitel abschließt, wird auf diese Problematik unmittelbar Bezug
genommen, wenn im Zusammenhang der Beschreibung einer Verlusterfahrung vom
erwarteten »Ende der Repräsentation, des christlichen Zeitalters« (KOS 366) die Rede ist. Das
»Ende« erfährt wie im HORATIER eine teleologische Begründung. Es ist der Imperativ einer
zu negierenden historischen Konstellation, für deren Überwindung HORATIER ebenso wie
MAUSER, HERAKLES 2 oder andere Texte Spielmodelle liefern. Die Anmerkung zum
Horatier, die möglicherweise im Zuge der geplanten Übersetzung des Textes ins Englische
entstand, erscheint bereits als Reaktion auf den Vorwurf der »Prager Position«. Das Stück
verhandelt die Geburt einer neuen Ethik, die auf der reinen Wahrheit der Geschichte jenseits
des Stellvertreterprinzips als Gerichtsfall beruht (»Und das Gericht wurde fortgesetzt / In
Erwartung des Feinds«, W 4 79). Als »Beispiel / Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den
Rest / Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel« (W 4 85) verweist der Text auf eine
kollektive Moral, welche über den Errungenschaften der Geschichte nicht deren Preis
vergisst. Denn: »Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende / Kehrt ins Nichts am
Zügel der Zeit im Krebsgang« (W 4 83) Zugleich impliziert der Text eine Poetik der
Wahrhaftigkeit: »Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn / Ein Schwert kann
zerbrochen werden und ein Mann / Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte / Fallen in
das Getriebe der Welt uneinholbar / Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich / Tödlich
dem Menschen ist das Unkenntliche.« (W 4 84) Der Erkenntnisgewinn des Prozesses, den das
Stück nachvollzieht, liegt demzufolge nicht im Aufspüren der Wahrheit, sondern in der
Begründung einer neuen geschichtsphilosophischen Perspektive, die alternative politische
Handlungsweisen ermöglicht. Die Folie einer Politik des »Dritten Weges« der
kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, beziehungsweise der Beendigung des kurzen
»Frühlings« im Hochsommer des Jahres 1968 durch die »Warschauer Fünf« und die Panzer
der Sowjetarmee reduziert die Aussage des Textes auf eine historische Parabel. Die
Einbettung des Entstehungszusammenhanges von HORATIER in ein primär
zeitgeschichtliches Bezugssystem mit der Verkürzung der Stückaussage auf die »Forderung:
629
s. a. die Ausführungen im Anmerkungsapparat der Werkausgabe (W 4 566f.)
262
Intellektuelle an die Macht« (KOS 259) in KRIEG OHNE SCHLACHT folgt der Logik von
Zensur und Verbot, die innerhalb der autobiografischen Konstruktion die Grundlage Müllers
Schreibens darstellt: Die Texte harren, unabhängig von individueller Lebenszeit, ihrer
Zukunft – eine Konzeption der Rezeptionssteuerung, die mit dem Entstehen der Autobiografie
bereits in eine tiefe Krise geraten ist. Denn in den Texten Müllers ab den frühen neunziger
Jahren macht sich zunehmend die Skepsis breit, ob diese Gewissheit aus den siebziger Jahren
noch trägt: »Was bleibt. Einsame Texte, die auf Geschichte warten. Und das löchrige
Gedächtnis, die brüchige Weisheit der Massen, vom Vergessen gleich bedroht.« (W 8 187)
Die Überzeugung von der potenziellen Sprengkraft der eigenen Textproduktion sowie vom
Heraufkommen einer Welt, in der die Texte sinnvoll arbeiten können, weicht mit dem
zunehmenden Bewusstsein der individuellen Begrenztheit im Angesicht von Krankheit und
Tod einer Bewegung, die dem stummen Harren entgegen verläuft. Sie präsentiert sich in dem
Bestreben, die Bedingungen des eigenen Schreibens einzuholen, als radikaler Vorgriff auf das
Reich der Toten: »je länger man lebt desto mehr wird Schreiben ein Gespräch mit den Toten«
(W 8 622).
Der nachfolgende Abschnitt des Kapitels »Theaterarbeit« befasst sich ausgehend von Müllers
MACBETH-Bearbeitung von 1971 und der eigenen Inszenierung des Textes an der
Volksbühne elf Jahre später ausführlicher mit Müllers Shakespeare-Rezeption. Die Frage
nach dem »wichtigste[n] Stück« (KOS 266) von Shakespeare beantwortet Müller: »Ich
fürchte schon, das wichtigste Stück ist für mich HAMLET. Wahrscheinlich, weil es das erste
von Shakespeare war, das ich versucht habe zu lesen, und weil es am meisten mit mir zu tun
hat, und mit Deutschland. […] für uns ist HAMLET schon interessant, weil der Shakespeare
da versucht, etwas zu formulieren, was er nicht im Griff hat, eine Erfahrung, die er nicht
fassen kann.« (KOS 266f.) Bereits als Schüler hatte sich Müller nach eigenen Angaben
intensiv mit Shakespeare beschäftigt, insbesondere mit dessen ›deutschestem Stück‹
HAMLET: »Das kann man in Deutschland mit Kohlköpfen spielen, und die Leute gehen
hin.« (KOS 267) Es war eben der Shakespeare des HAMLET, der Müller in erster Linie
faszinierte – so will es die Autobiografie – und nicht der des formvollendeten CORIOLAN,
dessen sich Brecht Anfang der fünfziger Jahre im Schatten der Ereignisse des 17. Juni 1953
angenommen hatte. Müller setzte der Brechtschen Shakespeare-Rezeption in seinem letzten
Stück GERMANIA 3 GESPENSTER AM TOTEN MANN ein Denkmal. Die obsessive
Auseinandersetzung mit HAMLET gipfelte für Müller in einer eigenen Übersetzung und dem
in unmittelbarer zeitlicher Nähe verfassten Text DIE HAMLETMASCHINE (beide 1977).
»Dreißig Jahre lang war Hamlet eine Obsession für mich, also schrieb ich einen kurzen Text,
HAMLETMASCHINE, mit dem ich versuchte, Hamlet zu zerstören.« (GI 1 102) Dass Müller
sich mit Shakespeares Stück bis zu einem gewissen Grad identifizieren konnte und diese
Identifikation im Kontext der deutschen Geschichte verankert wissen wollte, zeigte sich auch
in der monströsen »Theaterarbeit«, mit der er 1989/90 beide Stücke auf die Bühne des
Deutschen Theaters in Berlin stemmte, bevor sich der Riss durch die Epoche wieder schloss
und die Mauer als sichtbares Zeichen dieses Risses gänzlich verschwand. Fünfzehn Jahre
zuvor noch hatte Müller diesen Riss als konstitutives Element eines Theaters beschrieben, das
eher in der Tradition Artauds stand, denn in der Brechtschen. »Ich glaube nicht an Theater als
Zweck. Die Epochenkollision greift tief, auch schmerzhaft, in den einzelnen, der ein Autor
noch ist und nicht mehr sein kann. Der Riss zwischen Text und Autor, Situation und Figur,
provoziert/zeigt an die Sprengung der Kontinuität. Wenn das Kino dem Tod bei der Arbeit
263
zusieht, handelt Theater von den Schrecken/Freuden der Verwandlung in der Einheit von
Geburt und Tod. Das macht seine Notwendigkeit aus.« (W 8 176f.) Für ein solches Credo war
nach 1990 vorläufig kein Platz in den von mangelnder Sitzplatzauslastung und Schließung
bedrohten Theatern, die nunmehr eher nach marktstrategischen Überlegungen neu
ausgerichtet werden mussten und auf Erfolge in Form von Zahlen angewiesen waren. Wenige
Wochen vor seinem Tod plädierte Müller, um die gesellschaftliche Relevanz der Kunstform
auf den Prüfstand zu stellen, im Gespräch für die generelle Schließung der Theater, für ein
Jahr – weltweit (s. a. KALKFELL 136).
Nach der Übersetzung Shakespeares AS YOU LIKE IT, die Müller im Jahr 1967 im Auftrag
des Deutschen Theaters Berlin und »mit dem festen Vorsatz« begann, »nichts zu ändern« (W
7 827), der eher assoziativen Auseinandersetzung mit dem SOMMERNACHTSTRAUM in
WALDSTÜCK/HORIZONTE, stellt MACBETH Müllers dritte umfangreiche Shakespeare-
Adaption dar. Im Nachhinein spricht Müller von seiner Identifikation mit dem Dramatiker:
»Es war, als arbeitete ich in seinem Körper. Ich bekam ein Gefühl für die
Doppelgeschlechtlichkeit, diese Mischung aus Schlangen- und Raubkatzenbewegung in seiner
Sprache, in der Dramaturgie seiner Stücke. Seither glaube ich, ihn persönlich zu kennen.«
(ebd.) Eine später entfallene Passage aus der Arbeitsfassung zu KRIEG OHNE SCHLACHT
unterstreicht das Verhältnis des Autors zu den Texten des englischen Dramatikers, die hier
geradezu als Obsession vorgeführt wird: »Das ist wirklich eine sehr erotische Beziehung, die
ich zu Shakespeare-Texten habe. Man kann nicht Teile übersetzen. Bei Shakespeare geht es
nicht ohne den Zusammenhang mit der vorherigen Zeile und mit der nächsten, mit der
übernächsten. Das ist ein Ganzes, und es gibt fast eine Zeiteinheit: Du kannst nach meiner
Erfahrung zwei Seiten Shakespeare am Tag schaffen, allerhöchstens, danach wird’s Schrott.
Beim Übersetzen ist vielleicht nicht so viel emotionale Disziplin nötig, das ist eher eine
rationale Disziplin. Aber trotzdem geht es nur über ein körperliches Verhältnis zu einem
Gesamtrhythmus. Es ist absolut eine körperliche Arbeit, nicht eine geistige.« (HMA 4487,
360) Ein Gespräch mit Olivier Ortolani von 1985 weist Müllers späteren Äußerungen als
Zitate aus: »Shakespeare übersetzen ist auch so etwas wie eine Bluttransfusion. Wenn man in
einer Schreibkrise oder mit einer Phase zu Ende ist, dann ist es auch eine vampiristische
Tätigkeit, einen Shakespeare zu übersetzen oder zu bearbeiten.« (GI 1 145) Eine Passage aus
dem Kapitel »Theaterarbeit« greift diese Aussage in einem leicht veränderten Kontext wieder
auf. »Shakespeare ist nicht einfach und nicht kalkuliert. Das ist eine ungeheuer komplexe
organische Struktur, keine Montage Ich erinnere mich, das erste Mal habe ich das ganz
deutlich empfunden, als ich ›Richard II‹ gelesen habe, ein Stück als Körper, die Bewegung
dieses Körpers ist das Stück, eine animalische Bewegung. Das war später beim Übersetzen
von WIE ES EUCH GEFÄLLT genauso, eine sinnliche Erfahrung. Die
Doppelgeschlechtlichkeit in diesem Shakespeare-Stück, Mann und Frau, das geht so
ineinander eine Gangart zwischen Schlange und Tiger. Diese Geschmeidigkeit im Ablauf, das
gibt es bei Brecht nirgends, dagegen ist das, was er machte, Schuhplattler. Oder: Was er nicht
konnte, wollte er nicht.« (KOS 266) Die Eigenbewegung des Materials bei Shakespeare, seine
exzessive Sprachlichkeit sowie die Inkommensurabilität der Shakespeareschen Metapher
fallen bei Brecht nach Ansicht des Erzählers einem massiv rationalisiertem Fabelbegriff zum
Opfer. Bereits im Kapitel »Die ersten Jahre in Berlin« war von Brechts defizitärer
Shakespeare-Rezeption (Der Brecht-Adept Heinz Kahlau: »Ich rationalisiere den Lear«, KOS
84) und umgekehrt der Unfähigkeit Müllers die Rede, eine Fabel zu Papier zu bringen. Dort
264
wird die Affinität Müllers zu Shakespeare bereits vorweggenommen, die im Kapitel
»Theaterarbeit« näher ausgeführt und genauer begründet wird. Vor der Folie eines
verklärenden Rationalismusbegriffs bei Brecht erscheint die Bezeichnung Shakespeares als
»ein Gegengift gegen Brecht« (KOS 265), dessen Simplifizierungen durchaus »verführerisch«
(ebd.) sind, einleuchtend. Die Darstellung, Müller hätte die Übersetzung von WIE ES EUCH
GEFÄLLT für den Regisseur B. K. Tragelehn hergestellt (s. a. KOS 261), trifft nicht zu.
Indes besorgt Tragelehn – nach dem Scheitern des Projektes mit Benno Besson als Regisseur
am Deutschen Theater Berlin – 1969 die DDR-Erstaufführung des Stückes mit
Schauspielschülern an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg.
Als Herzstück Müllers Auseinandersetzung mit Shakespeare kann die im April 1988
anlässlich der Shakespeare-Tage in Weimar gehaltene Rede SHAKESPEARE EINE
DIFFERENZ angesehen werden. Shakespeares Texte sind in den Augen Müllers offene
Wunden, Manifeste des Krieges und der Revolution, »aus jedem Trümmerhaufen (unserer)
Geschichte singt spricht schreit Shakespeare« (HMA 3812). Dabei sei Shakespeares Kunst
alles andere als affirmativ. Sie arbeite im Gegenteil an ihrer eigenen Überwindung:
»Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten, unsre Hoffnung eine Welt, die er nicht mehr
reflektiert. Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsre Stücke schreibt.«
(W 8 335) Vor dieser Folie liest Müller MACBETH: Stalin als Maske des schottischen
Usurpators (und nicht umgekehrt!). »Der Schrecken, der von Shakespeares Spiegelungen
ausgeht, ist die Wiederkehr des Gleichen. […] Wassili Grossmann lässt Stalin, den verdienten
Mörder des Volkes, wie Brecht ihn genannt hat, in den deutschen Panzertürmen gegen
Moskau tausendfach den ermordeten Trotzki sehn, Schöpfer der Roten Armee und Henker
von Kronstadt. Eine Shakespeare-Variation: Macbeth sieht Banquos Geist, und eine
Differenz. Unsere Aufgabe, oder der Rest wird Statistik sein und eine Sache der Computer, ist
die Arbeit an der Differenz.« (W 8 337) Dass Müller bereits während der Arbeit an
MACBETH an die stalinistische Dimension des Stückes dachte ist zu vermuten. Allerdings
dürfte sie Müller ebenso wenig wie im Fall seiner Stücke PHILOKTET, MAUSER oder
ZEMENT vorrangig interessiert haben. Ulrich Greiner ist daher zuzustimmen, wenn er einem
bestimmten Zweig der Müller-Exegese vorwirft, dass »der Nachweis politischer
Anspielungen in Müllers Stücken immer nichtssagender« werde und »immer weniger ins
Zentrum der Stücke« führe. Die Tendenz der undifferenzierten Abgleichung von literarischen
Texten mit historischen »Tatsachen« und Zeitgeschichte ist der Müller-Forschung als Fluch
mit in die Wiege gelegt. Es bleibt zu bedenken, dass Müllers Arbeiten Geschichte und Politik
in größerem Umfang als das bei anderen Autoren der Fall sein mag, als Material einbeziehen,
thematisch begrenzen sie seine Texte jedoch in den seltensten Fällen. Gerade im Falle des
MACBETH muss daher von einer weit zurückreichenden nihilistischen Tradition
ausgegangen werden (MACBETH: »Ich will der Zukunft das Geschlecht ausreißen. / Wenn aus
mir nichts kommt, komm das Nichts aus mir«, W 4 293; MACBETH: »Wär ich dein Grab /
Welt. Warum soll ich aufhörn und du nicht«, W 4 323), die zwar als auswegloser Zirkel ewig
wiederkehrender Gewalt dargestellt wird, durch das Beharren auf deren Darstellung aber ihre
Überwindung impliziert. Die (durchaus mögliche) stalinistische Deutung kann als Indiz dafür
gelten, dass Shakespeare/Müller die Beschreibung eines Modells gelungen ist, das tatsächlich
in der Lage ist, historische Abläufe zu verallgemeinern und damit ihrer »Einmaligkeit« und
ihres Fetischcharakters zu berauben und sie als Folge historischer Prozesse darzustellen. Wie
Müller in seiner Autobiografie betont, spielt die Stalinismus-Problematik eine untergeordnete
265
Rolle. »Bei MACBETH war ich mir keiner Schuld bewusst, was das Stalin-Thema betrifft.
Zunächst hatte mich nur Shakespeares Stück interessiert, auch im Zusammenhang mit
MAUSER« (KOS 260). Auch in einer Anmerkung ZU MACBETH anlässlich Müllers eigener
Inszenierung von 1982 bleibt das »Stalin-Thema« komplett ausgeblendet. »Gegenstand der
Bearbeitung/Inszenierung ist die Auswechselbarkeit des Menschen. Sie stürzt den einzelnen
in die Verzweiflung. Die Verzweiflung des einzelnen ist die Hoffnung der Kollektive. Der
Kommunismus bedeutet die Möglichkeit der wirklichen Vereinzelung, die das Ende der
Auswechselbarkeit ist. Entlassung des Menschen aus der Not seiner Vorgeschichte in das
Universum seiner Einsamkeit.« (W 8, 258) Die Anmerkung bezieht sich weniger auf das
Stück selbst. Vielmehr stellt sie eine Projektion auf die Überwindung des in MACBETH
verhandelten Gewaltzusammenhanges dar, die vom Stück selbst nur ex negativo geleistet
wird. Die Terminologie dieser Aussage steht in deutlicher Nähe zu den Texten MAUSER und
ZEMENT, die das Thema der Auswechselbarkeit und der Einsamkeit zu Zerreißproben der
revolutionären Identität arrangieren. Wenn außen innen sein wird und das Verdrängte in den
Mittelpunkt der Geschichte gerät, wird die Furcht vor einer quälenden Einsamkeit der
Vorgeschichte des Menschen angehören. Diese Geschichte wird in Müllers Texten nicht als
metaphysische Kategorie gehandhabt, sondern als (revolutionäre) Arbeit.
Gründlich missverstanden oder regelrecht entstellt wird Müllers Shakespeare-Fassung in einer
Rezension Wolfgang Harichs 630 in der Zeitschrift »Sinn und Form«. In einer ausufernden
Polemik bezeichnet Harich die Shakespeareadaption Müllers als »negativ bis zum
äußersten« 631 und wirft ihr vor, »reaktionär im Inhalt« und »schlampig in der Form« 632 zu
sein. Er unterstellt Müllers Stück »üble Zeittendenzen« 633 und beschließt sein Pamphlet: »Nur
in der unbeschreiblich niveaulosen, dürftigen Version [des MACBETH], die uns Heiner
Müller anzubieten wagt, ist Pessimismus heute gerade noch möglich.« 634 Harich reagiert mit
seinem Text auf eine erhitzte Debatte, die von »Theater der Zeit« angestoßen wurde. Müllers
Stückbearbeitung war 1972 im April-Heft der Zeitschrift abgedruckt worden. Auf die
vorbehaltlose Besprechung durch Martin Linzer anlässlich der Uraufführung am
Brandenburger Stadttheater in der Juli-Ausgabe, die Müller die gelungene Materialisierung
historischer Vorgänge bescheinigt und das Stück als »Sprachkunstwerk von hohen
Graden« 635 lobt, reagiert Anselm Schlösser im darauf folgenden Heft mit einer Polemik, die
dem Autor »das Fehlen jeden Schimmers von Menschlichkeit bei den Unterdrückten« 636
vorwirft. Kaum nachvollziehbar erscheint vor dem Hintergrund dieser Einschätzung der
Gedanke, mit dem Schlösser seinen Text beschließt: »Heiner Müller hätte das Zeug dazu, ein
parteiliches Stück über die Gräuel des Imperialismus in Vietnam zu schreiben – nicht, weil er
630
Der Philosoph Wolfgang Harich, der wenige Monate vor Heiner Müller in Berlin starb, wurde kurz nach
dem Ungarnaufstand 1956 verhaftet und im Frühjahr 1957 wegen »Bildung einer konspirativen,
staatsfeindlichen Gruppe« zu zehn Jahren Haft verurteilt. 1964 kam er im Zuge einer Amnestie vorzeitig
frei.
631
Wolfgang Harich: Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Aus Anlass der Macbeth-Bearbeitung von
Heiner Müller. In: Sinn und Form 1/1973, 189–218, hier 192
632
ebd.
633
Wolfgang Harich: Der entlaufene Dingo … 189
634
Wolfgang Harich: Der entlaufene Dingo … 218
635
Martin Linzer: Historische Exaktheit und Grausamkeit. Einige Gedanken zu Heiner Müllers Macbeth und
zur Uraufführung in Brandenburg. In: Theater der Zeit 7/1972, 22f., hier 23
636
Anselm Schlösser: Die Welt hat keinen Ausgang als zum Schinder. Ein Diskussionsbeitrag zu Heiner
Müllers Macbeth. In: Theater der Zeit 8/1972, 46f., hier 47
266
ein Spezialist in Sadismus wäre, sondern weil er über Gestaltungskraft und Wortgewalt
verfügt.« 637 Auf die Vorwürfe Schlössers nehmen die Beiträge von Wolfgang Heise und
Friedrich Dieckmann im September-Heft der Zeitschrift Bezug. Heise quittiert Müller, mit
MACBETH »ein Modell sozialer Epochenkonfrontation als Ferment weltanschaulicher
Entscheidung« 638 geschaffen zu haben. Beklagt Dieckmann an Müllers Stück die »Häufung
des Schauderhaften« und die »Ästhetisierung des Schrecklichen« 639 , weist er zugleich die
zentralen Vorwürfe des Shakespeare-Experten Schlösser gegen Müller (Anachronismus,
Antihumanismus, Sexismus) zurück. Müller selbst bezeichnet den in Harichs Aufsatz
kulminierenden Streit über MACBETH als »Papierkrieg« (KOS 261), der sein gutes
Verhältnis zu dem Philosophen nachhaltig trüben sollte. Bei einem gemeinsamen Treffen mit
einem WDR-Redakteur sei es zum Eklat gekommen: »Ich habe dann bei diesem Treffen im
›Ganymed‹ etwas Unqualifiziertes gegen den Dekadenz-Begriff bei Lukacs gesagt: Die Art,
wie Lukacs mit dem Etikett Dekadenz umginge, fände ich schon ziemlich faschistisch. Da
sprang Harich auf, zerdrückte sein Sektglas in der Hand und schrie ›Sie, Sie sind ein Idiot. Ich
werde nie mehr im Leben ein Wort mit Ihnen reden.‹ Dann lief er mit blutender Hand hinaus.
Am nächsten Tag hat er Wolfgang Heise angerufen: ›Ich werde den Müller jetzt mit zehn
Bänden Lukacs auf die gute, alte stalinistische Art totschlagen.‹ Und dann hat er diesen Text
gegen MACBETH geschrieben.« (KOS 263f.) Wie in Macbeth geht es in dem von Müller auf
drei Seiten mehraktig dramatisierten Streit, dessen bildgewaltige Peripetie hier zitiert wurde,
um die Niederungen der Macht: um Deutungshoheit, Informationsmonopol und ideologische
Terrainsicherung: Intrige und (sprachliche) Manipulation gehören in repressiven Systemen
zur Sicherung der eigenen Existenz/des eigenen Fortkommens. In der Tat liest sich Harichs
Text über Müllers Unfähigkeit, einen domestizierten Dingo vor dem Rückfall in die ihm
naturgegebene Barbarei zu bewahren, wie die Urteilsbegründung eines stalinistischen
Schauprozesses, in dem der Delinquent lediglich den Schuldspruch garniert.
War es bei der Übersetzung von WIE ES EUCH GEFÄLLT Müllers benanntes Ziel, nicht in
den Text einzugreifen, ist sein Interesse an MACBETH ein konträres. »Was mich persönlich
daran interessiert hatte, war, Shakespeare zu ändern.« (KOS 261) Begründet wird die
Bearbeitung mit der fragwürdigen Überlieferungssituation des Textes. 640 Die Folge Müllers
Bearbeitung besteht in der Verlagerung des Schwergewichts der Handlung vom
Charakterdrama zur ›historisch-politischen Strukturanalyse‹ (Eke). »Die zweite Hälfte oder
das letzte Drittel meines Textes ist im Fieber geschrieben. Das ergab eine seltsame
Beschleunigung, einen Sog. Pasternak meinte, dass Shakespeare in Versen geschrieben hätte,
weil das schneller geht. Und das stimmt, von einem bestimmten Hitzegrad an geht das
schneller. Es schreibt sich dann automatisch, der Rhythmus erzwingt den Text.« (KOS 261)
Müllers Verweis auf die Umstände der Entstehung liefert einen Anhaltspunkt für die Spezifik
Müllers Shakespeare-Rezeption, die Müller selbst nicht in der Aneignung des Textes durch
den Autor, sondern umgekehrt in der Manipulation des Autors durch den Text sieht: »Ich
würde nicht behaupten, dass ich mir die Sprache aneigne, sondern es ist paradoxerweise
637
ebd.
638
Wolfgang Heise: Notwendige Fragestellung. In: Theater der Zeit 9/1972, 45f., hier 46
639
Friedrich Dieckmann: Heiner Müller und die Legitimität. In Theater der Zeit 9/1972, 46f., hier 46
640
s. a. Müllers Äußerungen in GI 1 146f. Ob der geringe Umfang der letzten und kürzesten der
shakespeareschen Tragödien auf die lückenhafte Textüberlieferung oder auf Shakespeares Bemühung um
dramatische Verdichtung zurückzuführen ist, bleibt auch in der Shakespeareforschung heftig umstritten.
267
umgekehrt, die Sprache eignet sich mich an.« 641 Die Attribute »Beschleunigung«, »Sog« und
der aus ihnen resultierende »Wirbel« lassen die Sprache Shakespeares und Müllers als
Korrespondenzen erscheinen. Ihr Element ist – im Gegensatz zu Brechts begradigten
Flüssen 642 – der Malstrom. Auch hinsichtlich des Metaphernbombardements seiner Texte steht
Müller Shakespeare näher als Brecht, dessen linearer Fabelbegriff Bedeutungen eher
kanalisiert. Müller hingegen setzt auf Reizüberflutung. Die Bedeutungsgeneration soll dem
(zu überfordernden) Zuschauer überlassen werden. »Ich habe, wenn ich schreibe, immer nur
das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacken, dass sie nicht wissen, was sie zuerst tragen
sollen, und ich glaube, das ist auch die einzige Möglichkeit. Die Frage ist, wie man das im
Theater erreicht. Dass nicht, was für Brecht noch ein Gesetz war , eins nach dem anderen
gebracht wird. Man muss jetzt möglichst viele Punkte gleichzeitig bringen, so dass die Leute
in einen Wahlzwang kommen.« (GI 1 20) Einer solchen Überbeanspruchung des Reizniveaus
unterzieht Müller das Publikum mit seiner eigenen MACBETH-Inszenierung an der
Volksbühne 1982. »Die Aufführung […] war ein mittlerer Skandal. Der Zentralrat der FDJ
veranstaltete ein Kesseltreiben gegen eine Aufführung von Volker Brauns TINKA in Leipzig
und gegen MACBETH. Das Präsidium des Theaterverbands musste die Aufführung ansehn,
um mitzuentscheiden, ob sie der Jugend zuzumuten sei. Der Präsident Wolfgang Heinz sagte
den großen Satz: ›Das hat ein Wahnsinniger inszeniert‹, und später: ›Ich werde diese
Inszenierung auch in hundert Jahren nicht verstehen.‹ Die Aufführung wurde nicht abgesetzt,
aber der Intendant bat mich, doch bitte so schnell nicht wieder zu inszenieren. Arbeitspausen
waren in der DDR garantiert.« 643 Die Intervention des Zentralrats erscheint als traumatische
Spätfolge eines politischen Apparates im Leerlauf. Im Zusammenhang mit der
UMSIEDLERIN-Affäre sah sich der Zentralrat, nachdem er seine »Kontrollpflicht« zunächst
vernachlässigt hatte, schließlich veranlasst, um so härter durchzugreifen und
Verschwörungsszenarien an die Wand zu malen. 644 In der Darstellung Müllers handelt es sich
bei der Reaktion des Zentralrates um die Todeszuckungen der erschlagenen ›Hydra‹, die zur
Legitimation der für das eigene Schreiben als existenziell erfahrenen Bedrohung und
Gegnerschaft kaum noch taugt. Das lebensgeschichtliche Theater der Verteidigung der
eigenen Schrift gegen die Eingriffe übergeordneter Instanzen beginnt sich abzunutzen. Formal
äußert sich das in der Farce: Dort das PEN-Theater der Mauser-Lesung, hier das komisch-
groteske Szenario einer Versuchsaufführung vor einem Gremium, dessen Präsident die
Uraufführung der UMSIEDLERIN als Regisseur eigentlich oblegen hätte.
Eine weitere Facette der Shakespeare-Rezeption in KRIEG OHNE SCHLACHT vermag eine
641
zitiert nach HMH 168
642
Im KLEINEN ORGANON benutzt Brecht die Fluss-Metapher im Sinne fruchtbarer Kritik: »Die Haltung
[des Zuschauers] ist eine kritische. Gegenüber einem Fluss besteht sie in der Regulierung des Flusses;
gegenüber einem Obstbaum in der Okulierung des Obstbaumes, gegenüber der Fortbewegung in der
Konstruktion der Fahr- und Flugzeuge, gegenüber der Gesellschaft in der Umwälzung der Gesellschaft.«
(Brecht GW 16, 671) In seinem Gedicht ÜBER DIE KRITISCHE HALTUNG, das Brecht wenige Jahre
vorher im amerikanischen Exil verfasst hatte heißt es: »Die Regulierung eines Flusses / Die Veredlung eines
Obstbaumes / Die Erziehung eines Menschen / Der Umbau eines Staates / Das sind Beispiele fruchtbarer
Kritik. / Und es sind auch Beispiele von Kunst.« (Brecht GW 9, 773)
643
KOS 264f. Die Passage findet sich als Reinschrift von Hand mit der ebenfalls handschriftlichen
Seitenzählung im Apparat des Textkonvoluts aus dem Privatbesitz Stefan Suschkes (s. a. SUSCHKE 375a).
Der Überarbeitungsstand dieser Textstufe entspricht weitestgehend der Druckfassung Müllers
Autobiografie.
644
s. a. meine Ausführungen im Kapitel »2.9. 1961, ›Die Misthaufen wachsen‹« im dritten Teil der
vorliegenden Arbeit
268
Passage zu vermitteln, die die Thematik innerhalb des Kapitels »Theaterarbeit« zunächst
abschließt. Dabei geht der Erzähler auf die vorangestellte Frage nach der Bedeutung
Shakespeares in Bezug auf die DDR gar nicht weiter ein. Auf den Befund, »Deutschland war
ein gutes Material für Dramatik, bis zur Wiedervereinigung« (KOS 267), folgt die Annahme,
»dass mit dem Ende der DDR das Ende der Shakespeare-Rezeption in Deutschland
gekommen« (ebd.) sei. Es sei bemerkt, dass sich Müllers Prophezeiung nicht bestätigt hat,
Shakespeare in den Jahren nach dessen Tod im Gegenteil eine Renaissance und auch in
politischer Hinsicht stark aufgeladene Inszenierungen erlebte. Auch innerhalb der
Arbeitsbiografie Müllers kann von einer Erledigung Shakespeares nach diesem Urteilsspruch
nicht die Rede sein. Bis zu seinem Tod versuchte sich Müller an der Übersetzung des 147.
Sonetts. Nach seinem Tod fand man den Text in Müllers Arden-Ausgabe. Das Gedicht [Geh
Ariel bring den Sturm] beschließt den Gedichtband seiner Werkausgabe. Auf die Fahnen des
Berliner Ensembles, des Theaters, dessen Arbeit Müller von 1992 bis zu seinem Tod
wesentlich mit prägen sollte, stand programmatisch geschrieben »SHAKESPEARE BRECHT
MÜLLER«. Und zwar »von Shakespeare nicht die Komödien, sondern die Historien und die
Tragödien« (W 8 469). Die Äußerung der Autobiografie bezieht sich also vermutlich nicht auf
die messbare Wahrnehmung Shakespeares im gesellschaftlichen Diskurs, sondern auf eine
Linie der Shakespeare-Rezeption, die mit Müllers eigener Wahrnehmung Shakespeares
korrespondiert: »mehr Staat, mehr Shakespeare.« (ebd.) Bereits im Kapitel »Die ersten Jahre
in Berlin« hatte es geheißen: »Shakespeare ist in einer Demokratie undenkbar. […] ›Je mehr
Staat, desto mehr Drama. Je weniger Staat, desto mehr Komödie.‹« (KOS 112) Shakespeare
als Stachel im Fleisch der Politik ist für Müller nur vorstellbar innerhalb eines repressiven
Gefüges. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem englischen Dichter erscheint ihm allein
vor der Folie seiner Überwindung sinnvoll, welche die Überwindung des Machtgefüges
einzuschließen hätte. »Wir brauchen eine andere Welt«, lautet der Imperativ, der auch aus der
Liedzeile der Punk-Band »The Stranglers« spricht, die Müller zitiert: »NO MORE HEROES /
NO MORE SHAKESPEAROES« (W 8 335), beziehungsweise im (Re-)Zitat aus der
HAMLETMASCHINE: »Ein Hölderlinfragment beschreibt den unerlösten Shakespeare:
Wildharrend / In der Furchtbaren Rüstung / Jahrtausende.« (ebd.) Dass der »Staat«, von dem
bei Kounellis/Müller die Rede ist, in dessen Augen qualitativ mit den westlichen Demokratien
der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts nichts gemein hat, liegt auf der Hand.
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Müller gerade in New York ein Bild
findet, in dem Endzeit und Neuzeit kulminieren. »In New York 1986, bei der Aufführung von
HAMLETMASCHINE, inszeniert von Robert Wilson an der Columbia-University, war für
mich interessant die unmittelbare Verbindung von Theater und Realität, wie in der
Shakespeare-Zeit, einfach dadurch, dass viele Leute mit der U-Bahn dorthin fuhren, was nicht
immer gut geht. Giordano Bruno beschreibt den Weg zum Globe-Theater durch das dunkle
London. Wie man an jeder zweiten Ecke überfallen wird, an jeder dritten in eine Baugrube
fällt, und so weiter. Eine ganz ähnliche Situation wie damals in New York, und jetzt
zunehmend in Berlin. Insofern hat Theater eine große Chance.« (KOS 267f.) Wiederum greift
Müller auf den wenige Jahre vor der Autobiografie geschriebenen Essay SHAKESPEARE
EINE DIFFERENZ zurück, wo es heißt: »Das Ganze [die mittelalterliche Innenstadt Genuas]
wie der Weg zum GLOBE in Giordano Brunos Beschreibung, an Kneipen Bordellen
Mördergruben vorbei.« (W 8 335) Im Manuskript aus dem Nachlass Heiner Müllers schließt
sich an die oben zitierte Passage eine Funktionsbestimmung des Theaters an. »Ich fand immer
269
einleuchtend, was [Artaud] sagte: ›Das Spezifische am Theater ist nicht das, was man immer
gedacht und gesagt hatte, die Präsenz des lebenden Schauspielers und des lebenden
Zuschauers, sondern die Präsenz des sterbenden Schauspielers und des sterbenden
Zuschauers.‹ Diese Präsenz nimmt zu.« (HMA 4487, 364) Im Gespräch mit Alexander Kluge
kommt Müller auf die Thematik, für die er im Drucktext der Autobiografie keine
Verwendung fand, noch einmal zurück ( s. a. LV 95). Gerade für das Theater Shakespeares
konstatiert Müller explizit die herausragende Bedeutung des Todes: »Die Toten haben ihren
Platz auf seiner Bühne, die Natur hat Stimmrecht.« (W 8 336) Es mag zunächst erstaunen,
dass Müller die Grundlage für ein solches Theater der Grausamkeit, das alle an einer
Aufführung Beteiligten zu einer Gemeinschaft der Sterbenden vereinigt, zuerst im Kontext
Wilsons New Yorker HAMLETMASCHINE wahrnimmt. Mit Blick auf die ästhetische
Besetzung der Stadt etwa im Stück DER AUFTRAG 645 oder in der NEW YORK-Collage
wird jedoch schnell deutlich, dass die Stadt in Müllers Texten deutlich utopiebesetzt ist. In
NEW YORK ODER DAS EISERNE GESICHT DER FREIHEIT wird die sie »ein Gebilde«
bezeichnet, »das aus seiner eigenen Explosion besteht« (W 8 329). Am Ende des fünften
Textabschnittes heißt es: »Bevor man stirbt, sollte man New York gesehen haben, einen der
großen Irrtümer der Menschheit.« (W 8 331) Die Besetzung der Stadt mit Metaphern, die in
Müllers Texten einen genreübergreifenden Status angenommen haben, zeigt die
Wahrnehmung der Potenz der topografisch entwurzelten Metropole, die dem eigenen Werk
als Monument eingestellt wird, an dem sich die Bedeutungen ablagern können. Auch hier die
selbst hergestellte Parallele zu Shakespeare: »Shakespeare hat keine Philosophie, keinen Sinn
für Geschichte: seine Römer sind aus London.« (W 8 336) Mit der Übertragung der
Londoner/New Yorker Verhältnisse auf das eigene Lebensumfeld geht der Anspruch einher,
nach dem emanzipatorischen Potenzial in der eigenen Situation zu suchen. Es handelt sich
dabei um eine historisch-gesellschaftliche Besetzung eines historisch-ästhetischen
Phänomens, das sich auch auf formal-ästhetische Begriffe erweitern lässt, wie Müller weiter
unten in seiner Autobiografie, ebenfalls ausgehend von Shakespeare, vorführt. »Im Drama
seit Shakespeare steckte die Farce im Bauch der Tragödie, mit dem Bankrott der
sozialistischen Alternative geht die Ära Shakespeares zu Ende, und im Bauch der Farce lauern
die Tragödien.« (KOS 344)
Mit LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM
SCHREI entwarf Heiner Müller 1976 ein globales »Greuelmärchen«, so der Untertitel des
Stückes, das seinen Ausgangspunkt im Preußen der Aufklärung nimmt und infolge der von
Adorno/Horkheimer konstatierten Logik ihrer Dialektik in einem Mythos jenseits der
Geschichte (des Menschen) gipfelt. Aus dieser Perspektive wird im Schlussbild
(APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT) noch einmal auf den abgebrochenen
Höhepunkt der abendländischen Geschichte einer gescheiterten Emanzipation des Menschen
reflektiert, der den wortgewaltigen Aufklärer Lessing auf einen rein kreatürlichen Schrei
reduziert. Der theatrale Rahmen, in den diese Szene eingebettet ist, unterläuft jedoch die
645
In der Figurenrede Debuissons, der die Verwandlung eines Emissärs der Französischen Revolution zum
Sohn eines Plantagenbesitzers auf Jamaika durchmacht, heißt es: »Gestern habe ich geträumt, dass ich durch
New York ging. Die Gegend war verfallen und von Weißen nicht bewohnt. Vor mir auf dem Gehsteig stand
eine goldne Schlange auf, und als ich über die Straße ging, beziehungsweise durch den Dschungel aus
kochendem Metall, der die Straße war, auf dem andern Gehsteig eine andre Schlange. Sie war leuchtend
blau. Ich wusste im Traum: die goldne Schlange ist Asien, die blaue Schlange, das ist Afrika. Beim
erwachen vergaß ich es wieder. Wir sind drei Welten.« (W 5 38f.)
270
Inkommensurabilität des mit jeder Utopie radikal brechenden Stückschlusses und lässt ihn als
leicht konsumierbares Unterhaltungsprogramm erscheinen. Wie die stumme unter Hölderlins
kryptischen Worten »wildharrende« Ophelia im Schlussbild der HAMLETMASCHINE,
bleibt ein lebendig begrabener Darsteller-Dichter unter seiner Büste auf der Bühne zurück,
erstickt vom eigenen Schrei gleich dem Engel der Geschichte in seiner Verschüttung. Die
Radikalität mit der Müller die Versatzstücke der Aufklärung in ihrem Scheitern aufspürt und
die Wucht der Metaphern, die den Boden der Ratio durchschlagen wie brüchiges Papier,
lassen auf den ersten Blick keine primär autobiografischen Erwägungen hinter der Intention
des Textes vermuten – eher schon die Abrechnung mit dem Fortschrittsoptimismus,
beziehungsweise der Fortschrittsblindheit eines Systems, das sich in der ungebrochenen
Tradition einer durchaus gelungenen Aufklärung auf dem Weg in den Kommunismus wähnt.
Das Stück, wie HAMLETMASCHINE und HORATIER im bulgarischen »Exil« begonnen,
konfrontiert den Leser (wie letztendlich jeder Text eines jeden Autors) jedoch durchaus mit
den autobiografischen Masken seines Autors. In KRIEG OHNE SCHLACHT wird der Blick
auf die nur scheinbar versteckten Äußerungen eines Ichs gestoßen, dass der Unmöglichkeit
des unreflektierten Sprechens über die eigene Person entspringt. Der Replik Friedrich
Wilhelms, »Das war Katte« (W 4 516), die das Subjekt des Satzes zugleich materialisiert und
damit (den nicht mehr existierenden Katte) aufhebt, setzt Friedrich sein »Sire, das war ich«
(ebd.) entgegen. »Das ist der Kernsatz« (KOS 269) des Stücks, betont Müller in KRIEG
OHNE SCHLACHT und neben dem »seltsame[n] Kinderlied« (ebd.), das Friedrich in der
Schlachtszene (»ACH WIE GUT DASS NIEMAND WEISS DASS ICH
RUMPELSTILZCHEN HEISS ODER DIE SCHULE DER NATION – Ein Patriotisches
Puppenspiel«) singt, die Urszene des Textes. Das »Kinderlied« eröffnet Müllers
Werkausgabe, kann also als ästhetischer Urknall betrachtet werden, aus dem Müllers Werk
hervorgeht:
Müllers Gedicht kann als Gegenentwurf zu Goethes FARBENLEHRE gelesen werden, in der
Goethe die Farben an die (menschliche) Wahrnehmung und sein Erkenntnisvermögen
gebunden wissen will. Der Text orientiert sich mit dem dreifachen Paarreim formal an der
Struktur einfacher Volkslieder. Dabei eröffnet Müllers titelloses Lied, das nur auf den ersten
Blick naiv erscheint, ein Theater der Schrift mit komplexen Verweiszusammenhängen. Das
erste Verspaar zieht den Vorhang auf und gibt den Blick frei auf eine Bühne, die das
harmonische Bild eines ungebrochenen und von Be-Deutung freien Naturzusammenhangs
repräsentiert. Die folgenden vier Verse segmentieren die grünen Weiten kontemplativer
Betrachtung und nehmen eine farbliche Selektion vor, die von der blühenden Farbenpracht
nur den Rückblick auf die katastrophalen Folgen der Menschheitsgeschichte übrig lässt.
Bereits der dritte Vers birgt eine Irritation, indem er das ideologisch nicht besetzte Gelb den
646
W 1 7. Beim Zitat in LEBEN GUNDLINGS Abweichung in der Interpunktion (s. a. W 4 518).
271
Schweinen zum fraß vorwirft. Wer sind die Schweine? Warum fressen sie gelbe Blumen? Ein
mögliches Bezugsfeld bietet die jüngere Deutsche Geschichte: Gelb waren die Sterne, die im
Dritten Reich die Juden gut sichtbar auf der Kleidung tragen mussten, bevor sie an der Rampe
von Auschwitz selektiert wurden, wie der Dichter es mit den Blumen tut. Dort vertauschten
sie die Farbe gegen Nummern, die sie in einen idealisierten kapitalistischen
Produktionsprozess einspeisten oder gingen durch die Gaskammern und hernach in gelben
Rauch auf. Die blaue Blume, Signatur einer (rückwärts gewandten) romantischen Utopie,
taugt angesichts des erschütternden Befundes der Epoche nur mehr als Ammenmärchen.
Diejenigen Blüten, die von der Farbe des Morgenrots der geliebten kommunistischen Utopie
getrunken haben, symbolisieren zugleich das Herzblut, der ihr im Namen des Neuen
Menschen seit Jesus Christus dargebrachten Opfer. Sie korrespondieren den Opfern, die an
der Rampe von Auschwitz auf dem Altar des Kapitalismus geopfert wurden. Am Ende des
Gedichts hat eine vampiristische Geschichte keine Farben zurückgelassen. Die weiße Schrift,
das Schweigen der Toten ist die Summe, die der Dichter zieht. Als notwendige Konsequenz
aus dem dilemmatischen Geschichtsverlauf zieht Müller in MAUSER die andere (Farben-
)Lehre: »… das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt.« 647 An die Stelle des
sprecherlosen Gedichts tritt hier ein kollektives Subjekt, das die ebenso paradoxe wie
notwendige Suche nach einem Ausgang aus dem Zusammenhang permanenter Gewalt
vorantreibt. Im Kontext des GUNDLING-Stückes, in der das Kinderlied in die
Figurensprache Friedrichs II. überführt wird, markiert es das Furchtzentrum des Stückes, in
dem das Geisterschiff der Aufklärung in der Brandung der Revolutionsgeschichte scheitert
und ihr Utopiepotenzial mit sich begräbt. Damit hält Müllers Text einen emanzipatorischen
Anspruch lebendig, den er in seinem Stück nur als gescheitert vorzuführen vermag. In dieser
Hinsicht ist Müllers Text realistisch. In einer Nachlass-Notiz erwägt Müller, das Gedicht
KRIEG OHNE SCHLACHT als Motto voranzustellen. 648 Damit tritt es in ein Verhältnis zu
seiner autobiografischen Schrift und jenen ihm tatsächlich als Motto dienenden Versen aus
Landschaft mit Argonauten. 649
Die subjektive Ursprungslosigkeit des Blumen-Gedichtes begründet im Stück den nur ex post
beschreibbaren Vorgang der Ich-Werdung (»Sire, das war ich«) im Schmerz über den Tod der
verlorenen Einheit mit dem Alter Ego. »DIE NARBEN SCHREIN NACH WUNDEN« (W 8
335): Um die Möglichkeit authentisch erfahrenen Schmerzes beraubt, inszeniert Friedrich die
Kriege seiner Nachfolger, bis die Mittel der Kriegsführung – die totale Beschleunigung im
atomaren Blitz – zur absoluten Stillstellung der Geschichte führen. Zur Musik Johann
Sebastian Bachs (DAS MUSIKALISCHE OPFER) segelt der Phantomschmerz einer
Hoffnung auf Emanzipation »durch die Jahrhunderte« (W 4 518), erfahrbar nur noch in der
medialen Vermittlung einer richtungslosen Filmprojektion. Trotz der scheinbaren
Zusammenhangslosigkeit korrespondiert das subjektlose Gedicht mit der Friedrich-Replik der
Erschießungsszene. Friedrichs Äußerung, die den Eröffnungssatz der HAMLETMASCHINE
(»Ich war Hamlet«, W 4 545) vorweg nimmt, weist durch die Vergangenheitsform der
behaupteten Identifikation auf den Verlust einer ungebrochenen Identität hin. Zugleich
markiert die Abtötung des im Anderen geliebten narzisstischen Selbst die Wiedergeburt des
647
W 4 245ff.
648
Die entsprechende Notiz befindet sich in einem Konvolut aus dem Privatbesitz Stefan Suschkes, der
maßgeblich an der Entstehung des Textes Müllers Autobiografie beteiligt war.
649
s. a. meine Ausführungen in Kapitel »2.24. Theater (m)eines Todes« im dritten Teil der vorliegenden Arbeit
272
Ich als Funktionsträger staatlicher Macht. Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts sind in
Müllers Stück nur in ihrer pervertierten Form zu haben oder im Augenblick des Todes. So
erfährt die Aussage infolge der Zurechtstutzung des Sohnes zum Herrscher eine neue
Dimension: Sie verkehrt die absolutistische Variante der repräsentativen Herrschaft (»L’etat
c’est moi«) in den Pragmatismus des aufgeklärten Herrschers als Funktion des Staates (der
König als der erste Diener des Staates 650 ). Karikiert wird diese Wandlung in der
Irrenhausszene (»LIEBER GOTT MACH MICH FROMM / WEIL ICH AUS DER HÖLLE
KOMM«), in der die emanzipatorische Dialektik der Zwangsjacke »als Einsicht in die
Notwendigkeit« (W 4 526) paraphrasiert und die »Katatonie« als »wahre Freiheit« (ebd.)
erkannt wird.
»Wichtig ist, dass der junge Friedrich, Kleist und Lessing eine Figur sind, gespielt von einem
Schauspieler, drei Figurationen eines Traums von Preußen, der dann staatlich abgewürgt
wurde in der Allianz mit Russland gegen Napoleon. Es ist ein Irrtum, das Stück als Montage
von Teilen zu lesen. Interessant sind die fließenden Übergänge zwischen den disparaten
Teilen.« (KOS 269) Müller nimmt in dieser Passage auf die »Anmerkung« zum Stück Bezug,
in der die Besetzung der Figuren festgeschrieben und auf die Einheit der Darstellung
hingewiesen wird. Erst durch die Einheit von Darsteller und Darstellung werden die
Metamorphosen erkennbar, zu denen die Idee der gesellschaftlichen Emanzipation
gezwungen wird. Die Verwandlungen beschreiben die (»fließende«) Fluchtlinie einer Utopie,
die nur in ihrem Verschwinden aufscheint. Dennoch erweisen sich die drei Figurationen nicht
als beliebig austauschbare Masken ein und desselben Darsteller-Akteurs, vielmehr zeigen sie
seine Konvergenzpunkte mit der Fluchtlinie. »Das Bleibende ist das Flüchtige. Was auf der
Flucht ist bleibt.« (W 8 211) Die WANDLUNGSFÄHIGKEIT DER KÖRPER 651 garantiert
das Überleben einer im Hier und Jetzt notwendig scheiternden Idee. Die Verwandlung
markiert die Vertreibung aus der eigenen wirklichen und möglichen Welt in den Raum der
Unmöglichkeit. Kluge bezeichnet diese Form des Verlustes als »schärfste Enteignung« 652 .
Müller beschreibt die Metamorphose im Anschluss an Ovid als Fluchtbewegung. »Es gibt
nicht nur den Tod und die Geburt, sondern es gibt in dem Sinne die Verwandlung, dass ich
krank werde oder mich verändern muss. Ich lebe in einer Geschichte, d. h. in einer möglichen
Welt, zum Beispiel: hier im Osten. Und der Körper verändert sich, wenn dieser Ort sich
verwandelt, zum Beispiel unmöglich wird. Er wird mir dann entzogen. Ich brauche einen
Boden unter den Füßen, andernfalls beginnt die Spirale der Wandlungen, die erst aufhört,
wenn ich den eigenen Ort wiedergefunden habe.« (LV 145) In diesem Sinne ist die
Identifikation des Autors mit seinen Figuren zu verstehen, als Anverwandlung an eine
unmöglich gewordene Idee. Dieser Vorgang der Fremd-Werdung, als Vertreibung, Flucht
oder Suche beschreibbar, findet keinen versöhnlichen Abschluss: Die Verwandlung ist das
Zeichen des Schmerzes, durch den die Idee lebendig bleibt. In BILDBESCHREIBUNG heißt
es entsprechend: »Der MORD ist ein Geschlechtertausch, FREMD IM EIGENEN KÖRPER«
(W 2 119). Im Geschlechtertausch der Lessingfiguren in GUNDLING vollzieht sich eine
solche Verwandlung, die sich nicht lediglich auf dem Papier oder in der theatralen
Darstellung niederschlägt. Sie ist eine Signatur der Biografie des Autors – sie ist auto-
650
s. a. die Clownsszene in Müllers Stück GERMANIA TOD IN BERLIN, BRANDENBURGISCHES
KONZERT 1.
651
Titel eines Gesprächs Heiner Müllers mit Alexander Kluge. Abgedruckt in: LV 143–151
652
Alexander Kluge: Vorbemerkung. In: LV 9
273
biografisch und somit genuines Merkmal der immer schon autobiografischen Schrift jenseits
»Eine[r]« anderen »Autobiografie« (KOS 5). »Wenn ich das wieder lese oder wenn ich daraus
zitiere, merke ich, dass es mich mehr angeht als viele andere Texte. Ich kann nicht distanziert
darüber reden. Das ist vielleicht ein Punkt, über den ich einmal nachdenken müsste. Was geht
da in mir vor, wenn ich so etwas schreibe? Wenn ich aus GUNDLING zitiere, werde ich
traurig, in dem Stück ist Mitleid. Mitleid mit allem, was da beschrieben wird. Es ist in vielen
Punkten auch ein Selbstporträt, bis zu der Figur des Nathan und der Emilia, dieser
Kopftausch, der alte Mann und das junge Mädchen.« (KOS 270)
Dass Müllers Texte eine große Affinität zu philosophischen, insbesondere
geschichtsphilosophischen Fragestellungen aufweisen, ist in der Forschung immer wieder
gewürdigt worden, obschon der Rezeption und Weiterverarbeitung von Philosophie in seinem
Werk bislang kaum hinreichend Beachtung zuteil geworden ist. Von ›Müllers Philosophie‹
kann hingegen keine Rede sein. Nie findet bei ihm eine Untersuchung philosophischer
Begriffe statt. Immer ist die Benutzung von Philosophemen poetischen oder ästhetischen
Techniken unterworfen. Die Frage nach dem eigenen Verhältnis zur Philosophie wird
dementsprechend in KRIEG OHNE SCHLACHT kurz und bündig abgetan, die Philosophie
ähnlich der Politik auf die Materialebene verwiesen: »Kein philosophischer Text, den ich
gelesen habe, ist so parat für mich, dass ich ihn referieren könnte. Ich nehme anders auf.
Wenn ich schreibe, ist Philosophie ein Nährboden, ein Humus. Ich kann sie verwerten.«
(KOS 270f.) Müllers Wissensbegriff ist kein empirischer. Es gehe nicht um
naturwissenschaftlich handhabbare Resultate, sondern um vermittelte und vermittelbare
Erfahrungen. Weniger das ›Warum‹ steht im Zentrum des Interesses, als vielmehr das ›Wie‹.
Unter diesem Aspekt konstatiert Müller auch die theatralische Dimension im Werk Carl
Schmitts: »Carl Schmitt ist Theater. Seine Texte sind Inszenierungen. Mich interessiert da
nicht, ob er recht hat oder nicht. Seine guten Texte sind einfach gute Inszenierungen.« (KOS
272) Vom Inhalt verschiebt sich der Fokus auf die Struktur: »Ich will nicht wissen, was die
Welt im Innersten zusammenhält. Ich will wissen, wie sie abläuft. Es geht eher um Erfahrung
als um Erkenntnis.« (KOS 271)
Anhand einer Passage, die in die Druckfassung der Autobiografie keine Aufnahme fand,
werden die Folgen dieser Haltung noch einmal ausgehend von der Selbsterkenntnis
thematisiert. »Andererseits gibt es immer auch bei mir eine Hemmung, zu sehr über mich
nachzudenken. Goethe war ja ein sehr kluger Mensch, oder auch weise, und der hat sich
eisern an eine Sache gehalten: ›Gott bewahre mich davor, mich selbst zu erkennen.‹ Das ist so
ein Problem. Das ist überhaupt nicht mystisch. In dem Moment, wo du etwas über dich
formulierst, bist du schon ein anderer, und wenn du genau weißt oder zumindest die Illusion
zulässt, du wüsstest genau über dich Bescheid, dann kannst du als Schriftsteller nichts mehr
machen. Es ist wahrscheinlich richtiger, die widersprüchlichen Faktoren einer Situation,
einfach nebeneinander stehen zu lassen.« (HMA 4487, 218f.) Das beharren auf einer
Konfliktstruktur ist für die Arbeit als Dramatiker eingestandener Weise von grundlegender
Bedeutung: »Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an nichts. Das versuche ich in meiner
Arbeit zu tun: dass Bewusstsein für Konflikte zu stärken, für Konfrontationen und
Widersprüche. Antworten und Lösungen interessieren mich nicht. Ich kann keine anbieten.
Mich interessieren Probleme und Konflikte.« (GI 1 86) Die Folgen einer totalen Aufklärung
und nicht zuletzt ihrer latent totalitären Struktur haben Horkheimer/Adorno in ihrer Dialektik
beschrieben. Müller verweist in der oben zitierten Passage aus dem Nachlass auf einen
274
anderen Aspekt derselben Problematik hin, die ebenso weit zurückgreift wie
Horkheimer/Adornos Odysseus-Rezeption. Die Umkehrung der Inschrift über dem Eingang
zum delphischen Orakel, das »Erkenne dich selbst«, wird zur Conditio sine qua non des
eigenen Schreibens. Ödipus’ Erkenntnisdrang führt nicht nur dazu, dass er der Sphinx ihr
Rätsel entreißt und damit zur Enträtselung und Zerstörung seines Lebensraumes beiträgt.
Durch den totalitären Aufklärungsanspruch zerstört er auch das Fundament seiner eigenen
Biografie. Die Bestimmung der Erkenntnis als Hybris entspricht Müllers Affinität zu Kafka,
dessen Texträume (»Gesten ohne Bezugssystem«, GI 2 139) er für haltbarer befindet als die
gehegte Landschaft der Brechtschen Parabeln. Die Bestätigung, die Müller beim Lesen
Foucaults dem Text seiner Autobiografie zufolge erfahren haben möchte, könnte auf einer
Strukturverwandtschaft beruhen: beide – Foucault und Müller – untersuchen, jeweils mit
ihren spezifischen Mitteln, das Schweigen unter der Sprache, das Jenseits der Diskurse: »Ich
habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache [der Vernunft über den Wahnsinn] zu
schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens« 653 , betont Foucault in der Vorrede
zu WAHNSINN UND GESELLSCHAFT. Müller sucht nach dem Schweigen unter der
Sprache, das der Grund seines Theaters ist: »Das Schweigen ist ja eigentlich immer der Grund
des Theaters gewesen. Ohne das Schweigen fällt auch die Rede gar nicht auf. Ohne das
Schweigen hört man keinen Text.« (KALKFELL 139)
In engem Zusammenhang mit diesem Erkenntnismodell steht die Wahrnehmung, respektive
der Stellenwert, welcher der empirischen Wirklichkeit im Kontext der Kunstproduktion
zugemessen wird. Veranschaulicht wird diese Problematik am Beispiel der Sitzung des
Schriftstellerverbandes vom 17. Oktober 1961, die dem Ausschluss Heiner Müllers aus dem
Schriftstellerverband der DDR vorangegangen war: »Bei der Hinrichtungsversammlung im
Schriftstellerverband 1961 gegen UMSIEDLERIN sagte Kurella einen Satz, der mich
getroffen hat: ›Aus diesem Text spricht ein ungeheurer Ekel an der Wirklichkeit.‹ Aus diesem
Ekel wächst das Bedürfnis, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.« (KOS 271) Die Art und
Weise der Darstellung in der Autobiografie ermöglicht es dem Erzähler, den Zynismus-
Vorwurf dialektisch zu begründen und als Voraussetzung seiner Kunst zu beschreiben.
Infolge der Objektivierung des Vorwurfs als fremde Figurenrede erfährt die
Selbstwahrnehmung eine Legitimation in der Fremdwahrnehmung (durch Kurella). Näher
begründet wird das antagonistische Verhältnis zur Empirie durch ein psychoanalytisches
Deutungsmodell, das sich in einer früheren Fassung der Autobiografie findet: »[Der
Zynismus-Vorwurf] war gut. Das hat etwas mit Erinnerung und Traum zu tun. Da ich die
Erinnerung nicht verdrängen kann, wenn ich schreibe, muss ich sie aufrufen und festhalten.
Dann entsteht dieser Ekel und daraus kommt das Bedürfnis, die Wirklichkeit zu negieren,
unmöglich zu machen.« (HMA 4487, 373) Müller sieht sein a-mimetisches Kunstkonzept in
einem emotionalen Gedächtnisakt begründet. Durch die als schmerzhaft empfundene
Erinnerung wird ein Schaffensprozess angestoßen, der die (traumatischen) Erlebnisse in der
Negation aufhebt. Die Verknappung in der Fassung letzter Hand ist zugleich ein Hinweis
darauf, dass es sich bei dieser Aussage weniger um ein autobiografisches Spezifikum handelt,
als vielmehr um ein ästhetisch vorformuliertes Paradigma. So beharrt Müller anlässlich eines
Kolloquiums Anfang der achtziger Jahre in der Volksbühne Berlin auf der Autonomie der
Kunst, deren Funktion es sei, »die Wirklichkeit unmöglich zu machen« (GI 2 24). 1986
653
Foucault 1969, 8
275
konstatiert er die Kraft der Phantasie gegenüber der Realität unter Bezug auf den Novalissatz
»Die Poesie ist das echt absolut Reelle.« 654 (Müller: »Das Poetische ist das absolut Reelle«,
GI 2 37) Im in Interview mit Eva Brenner von 1987 wiederholt Müller seine Mimesis-Kritik:
»… die Kunst ist ja selbst eine Form der Realität.« Ausgehend von einer a-mimetischen
Kunstdefinition wird in KRIEG OHNE SCHLACHT ein assoziativer Bogen zu »einem Text
von Malraux über Goya« (KOS 271) geschlagen: »An Goya interessiert mich der Angriff auf
die Wirklichkeit. Als er taub war und Angst hatte, blind zu werden, ging er zum Angriff auf
die Wirklichkeit über. Was man bei Goya auch historisch erklären kann. Diese Situation, die
ich erst in den letzten Jahren wirklich begriffen habe: Goya sitzt da in seinem reaktionären
Spanien, in dieser Monarchie, gierig interessiert an der französischen Aufklärung. Dann
kommt endlich das Neue, der Fortschritt, die Aufklärung, die Revolution, aber als
Besatzungsarmee, mit dem ganzen Terror der Besatzungsarmee. Die Bauern bilden die erste
Guerilla für ihre bedrohten Unterdrücker. Sie bekämpfen den Fortschritt, der ihnen in Gestalt
von Terror entgegentritt. In dieser Zerreißsituation entsteht bei Goya der breite Pinselstrich
und der gebrochene Strich. Es gibt keine festen Konturen mehr, keinen klaren Pinselstrich. Es
entstehen die Brüche und auch das Zittern des Strichs.« (KOS 271f.) Wie bei Goya im
Pinselstrich 655 , schlägt sich die Erfahrung der Zerrissenheit bei Müller in der Zertrümmerung
der traditionellen literarischen Gattungen und Formen nieder. Dabei werden die Bruchkanten
von Müller obsessiv gepflegt. Sie stellen die Kristallisationspunkte dar, an denen sich
Sedimente der minoritären Strukturen ablagern können, welche von der gegebenen Ästhetik
aussortiert werden. »Kunst legitimiert sich durch Neuheit = parasitär, wenn mit Kategorien
gegebener Ästhetik beschreibbar.« (W 8 174) Das Bild vom Fortschritt in Gestalt des Terrors
oder auch der neuen Zeit in Gestalt einer blutbeschmierten alten Vettel 656 nimmt in Müllers
654
Novalis 1961, 317
655
Müller bezieht sich auf die folgenden Passagen aus Malraux’ Goya-Essay SATURNE, der 1957 mit 150
Abbildungen Goyas Arbeiten im Kölner Phaidon-Verlag erschienen war: »… die schwarzen Hintergründe
[der DESASTRES] sind häufig durch eine sehr grobkörnige Aquatinta oder durch engmaschige Federstriche
ersetzt worden. Die Präzision des Stichels erscheint in der Darstellung mancher zerstückelten Leiber.
Schließlich ist ein gehetztes Gestrichel, dessen Ungestüm weit über das der vorbereitenden Zeichnungen
hinausgeht, an die Stelle des schwunghaften Akzentes der CAPRICHOS getreten. Die Dämonen haben nun
ihre wahre Form gefunden: das Grausige. Seit seiner Krankheit suchte Goya Situationen, die von einer den
Menschen gemeinsamen Angst auf den ersten Schlag erkannt wird: Demütigung, Albtraum, Schändung,
Kerker. Seine Verliese, seine Folterungen haben sich jetzt über ganz Spanien ausgebreitet, und seine Kunst
verdient es, die öffentliche Beichte einer Welt zu vernehmen, welche laut herausschreit, was seine
Radierungen raunten.« (Malraux 1957, 93) »Seine Kunst – bis dahin [den DESASTRES] zur Einsamkeit
verdammt – verkörpert mit einem Mal die Brüderlichkeit Spaniens. Eine vielgestaltige Brüderlichkeit. Goya
war – wie die meisten liberalen seines Landes und Europas – ein ›Collaborateur‹ gewesen. Nicht ohne
Vorbehalte. Und mehr aus Edelmut als aus Eigennützigkeit. In den Franzosen hatte er zuerst die Verfechter
der Freiheit gesehen. Sein Protektor Jovellanos war getötet worden, weil er ihnen gedient hatte. Und Goya
war schon sechzig Jahre alt. Die DESASTRES erhalten erst ihre ganze Bedeutung, wenn man weiß, dass sie
nicht nur das Werk eines verbitterten Patrioten sind, sondern auch eines enttäuschten Freundes; das Album
eines Kommunisten nach der Besetzung seines Landes durch die russischen Truppen. Nachdem die
französische Freundschaft zur Tyrannei geworden war, fand er sich wieder mit seinen einstigen Gegnern
verbündet. Mit dem aufständischen Spanien fühlte er sich solidarisch, nicht mit den zukünftigen Siegern;
vom geknechteten Spanien hatte er nur den Schmerz gekannt.« (Malraux 1957, 105f.)
656
Im Kapitel »Die UMSIEDLERIN-Affäre« findet sich das Brecht-Zitat: »Ich bestehe darauf, dass dies eine
neue Zeit ist, auch wenn sie aussieht wie eine blutbeschmierte alte Vettel.« (KOS 181) In der Erstfassung
von LEBEN DES GALILEI von 1938/39 finden sich diese Worte Galileis in der Schlusssentenz des
Gesprächs mit seinem Schüler Andrea in der vorletzten Stückszene: »Ich bleibe auch dabei, dass dies eine
neue Zeit ist. Sollte sie aussehen wie eine blutbeschmierte alte Vettel, dann sähe eben eine neue Zeit so aus.
Der Einbruch des Lichtes erfolgt in die allertiefste Dunkelheit.« (Brecht-BFA 5, 106)
276
Werk bereits vor der Goya-Rezeption einen festen Stellenwert ein: »Die erste Gestalt der
Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken.« (W 8 212) Der
Satz, mit dem Heiner Müller seinen Verweigerungs-Essay zur Postmoderne-Diskussion
schloss, findet sich – in abweichender Typografie und Interpunktion – bereits in einer
Anmerkung zu MAUSER. Der Blick des Dichters auf Goya macht deutlich, wie sich
inhaltliche und formale Aspekte anderer Künstler für das eigene künstlerische
Selbstverständnis modifizieren lassen. So spiegelt sich in Goyas »Zerreißsituation« durchaus
Müllers eigener künstlerisch gestalteter Konflikt wider. Die Zerreißprobe des revolutionären
Bewusstseins besteht in der schmerzhaften Erfahrung der Differenz zwischen utopischem
Anspruch und revolutionärer Praxis. Diese Differenz von einem auf ein Ziel gerichteten
revolutionärem Bewusstsein und notwendiger revolutionärer (Dreck-)Arbeit müsse immer
wieder neu behauptet werden. »Der Mensch ist mehr als seine Arbeit / Oder er wird nicht
sein« (W 4 256), belehrt sich der Chor in MAUSER selbst. Andererseits erscheint der
authentisch erfahrene Schmerz als Ausdruck der Zerrissenheit des revolutionären
Bewusstseins als offen zu haltende Wunde, die das Dilemma der Gattung reflektiert. Dass
Müller in einer Zeit lebt, die diesen Anspruch längst hinter sich gelassen und das Programm
zugunsten eines »real existierenden Sozialismus« aufgegeben hat, muss ihm diese Erfahrung
noch schmerzlicher gemacht haben.
Der intertextuelle Bezug auf André Malraux’ Goya-Essay von 1957 offenbart eine intensive
Auseinandersetzung mit dem Maler und der Wirkung seines Œuvres. Im Gespräch mit Rainer
Crone 657 über Bildende Kunst hatte Müller bereits 1988 darauf hingewiesen, dass die
Beschäftigung mit Francisco de Goya im Zusammenhang mit seiner LOHNDRÜCKER-
Inszenierung am Deutschen Theater Berlin im Jahr 1988 zurückgeht. Der Blick auf die
entsprechende Passage des Interviews weist die Goya-Passage der Autobiografie, auf die im
Kapitel ERINNERUNG AN EINEN STAAT erneut Bezug genommen wird, als Selbstzitat
aus. »… als ich hier in Ostberlin angefangen habe, den LOHNDRÜCKER zu inszenieren,
hab’ ich plötzlich gemerkt, dass ich mit den Mitteln und der Ästhetik von Wilson bei dieser
Arbeit überhaupt nichts anfangen kann. Da hab’ ich plötzlich Goya entdeckt. Was mich an
ihm interessiert hat, war der breite Pinselstrich, der für mich irgend etwas zu tun hatte mit der
Situation Goyas in Spanien, das besetzt wird von einer Revolutionsarmee, die etwas zu tun
hat mit Aufklärung, mit einem neuen Blick auf die Welt, der sicher eher der Blick von Goya
war als der des spanischen Hofs oder der spanischen Aristokratie. Die Soldaten der
Revolutionsarmee traten allerdings auf als Invasoren, Unterdrücker, und die Bauern haben die
erste Guerilla gebildet gegen diese Revolutions- und Besatzungsarmee für ihre Unterdrücker.
Das ist eine ganz paradoxe, widersprüchliche Situation, und das war mit dem klassizistischen
Strich überhaupt nicht mehr darstellbar. Da brauchte man einen breiten Pinsel, weil die
Grenzen nicht bestimmbar waren. Wo hört jetzt der Fortschritt auf, wo fängt die Reaktion an?
Das changierte alles so ungeheuer, und da gibt’s einen direkten Zusammenhang für mich mit
der Revolution in der Malerei, die Goya ja mitgetragen hat. Auch diese Schichtung statt einer
Perspektive, dieser eigentliche Anfang der absoluten Malerei, hat etwas zu tun mit der
damaligen Situation der DDR, in der das Stück spielt, und mit der von Goya, die eine
zwischen den Epochen war.« (GI 2 143) Balke – Goya – Hamlet – Müller, die Reihe ließe
657
Der Text des Interviews ist unter dem Titel FÜNF MINUTEN SCHWARZFILM im zweiten Band der
GESAMMELTEN IRRTÜMER (137–150) abgedruckt.
277
sich beliebig erweitern oder fortsetzen. Die Frage bleibt die allen künstlerischen Schaffens:
Wie baut man auf dem alten Mist die neue Welt?
»Man kann als Künstler nur eine Moral haben, nämlich die, seine Arbeit so gut zu machen,
wie man kann. Denn was ich mache, kann nur ich machen. Also muss ich es so gut wie
möglich machen.« (GI 3 167) Das Kapitel »Schreiben und Moral« beschäftigt sich mit
poetologisch-ästhetischen Grundprinzipien in Müllers Schreiben. Ursprünglich war eine
stärkere Gewichtung des Themenkomplexes »Nachwuchsschriftsteller in der DDR« (HMA
4487, 395) geplant. Wie die neue Kapitelüberschrift erkennen lässt, handelt es sich im
entsprechenden Kapitel der Druckfassung in erster Linie um die Beziehung von Ethik und
Poetik, oder vielmehr die differenzierte Trennung der beiden Bereiche. Vor der Folie des
(Schein-)Problems einer kritischen randständigen Literatur in der DDR (»Ihre Existenz in der
DDR war eine Scheinexistenz«, KOS 288) leitet der Erzähler apodiktisch die Conditio sine
qua non seines eigenen Kunstverständnisses her: »Die Voraussetzung für Kunst ist
Einverständnis« (KOS 289). Der Begriff des Einverständnisses, des Ja-Sagens, stellt die
Grundproblematik der brechtschen wie der müllerschen Lehrstücke dar. Deren Ästhetik zielt
auf eine neue Moral jenseits der permanenten Reproduktion des Gegebenen. Die Grenze der
für Müller zunächst dünkelhaft anmutenden Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst
– ebenso wie die für Müller ungewöhnliche Verwendung eines konventionellen Werkbegriffs
– verläuft in eben der Haltung, welche die Lehrstücke einzuüben helfen sollen: dem Ja-Sagen.
Im Gegensatz zu den Extremsituationen der Lehrstücke, in denen die Rolle des Einzelnen
zum Kollektiv und die des Kollektivs zum Tod des Einzelnen erkundet wird, handelt es sich
beim Einverständnis des Künstlers um eine grundsätzliche Haltung gegenüber einer zunächst
weitgehend wertfrei wahrgenommenen Wirklichkeit. »Das Einverständnis mit dem
Gegenstand trennt die Literatur vom Journalismus. Der Journalist kann, wenn er
einverstanden ist mit seinem Gegenstand, nicht schreiben.« (KOS 289) Die Art und Weise, in
der die Kunst ihre Gegenstände kritisch betrachtet, besteht demzufolge nicht in der
Abgleichung der Stoffe mit den jeweils geläufigen Diskursen, sondern im Gegenteil in der
Vermessung und Erforschung ihrer Eigengesetzlichkeit. Jedes Kunstwerk konfrontiert die
Welt mit einer neuen Moral. Im Gespräch mit Alexander Kluge betont Müller, dass die
Polemik im Bereich der Ästhetik keinen Platz hat: »Du musst einverstanden sein auch mit der
Gewalt, mit der Grausamkeit, damit du sie beschreiben kannst. Was andere damit machen,
und daraus für sich machen, ist eine ganz andere Frage. Aber ohne das Einverständnis auch
mit Brutalität, auch mit Gewalt, kannst du sie nicht beschreiben. Es ist sicher ein Problem,
worüber man streiten kann: ob Kunst überhaupt human ist. Sie ist es nicht. Sie hat nichts
damit zu tun.« (WT 60)
Anhand zweier Beispiele wird die Problematik in zwei Teilbereiche aufgegliedert. Zunächst
erwähnt Müller eine Rede Stefan Hermlins auf dem DSV-Kongress von 1978 die das
Verhältnis von »Parteilichkeit und Einverständnis« thematisiert: »Auf einem
Schriftstellerkongress in den achtziger Jahren hielt Hermlin die berühmte Rede: ›Ich bin ein
bürgerlicher Schriftsteller‹. Er zitierte Grillparzer: ›Und will meine Zeit mich bestreiten / ich
278
lasse es ruhig geschehn / ich komme aus anderen Zeiten / und werde in andere gehn.‹
Dagegen gab es ein Gekläff von parteilichen Kollegen. Hermlin bezog sich, ohne es zu sagen,
auf Trotzkis Thesen gegen das Phantom einer proletarischen Kultur. Parteilichkeit und
Einverständnis sind zwei Dinge. Aus der bloßen Negation, aus der Polemik entsteht keine
Kunst.« (KOS 289) Der VIII. Kongress des Deutschen Schriftstellerverbandes, der unter dem
Leitspruch »Die Verantwortung des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit« vom 29. Mai
bis 1. Juli 1978 in Berlin abgehalten wurde, stand noch im Zeichen der Biermann-
Ausbürgerung. Hermlin, der zu den Erstunterzeichner der Petition gegen diesen drastischen
Schritt der DDR-Behörden gehörte, machte in seiner Rede vom 30. Mai »Ich bin ein
spätbürgerlicher Dichter« unmissverständlich klar, aus welcher geistigen Tradition sich seine
literarische Tätigkeit speise. »Ein Schriftsteller, der seine Herkunft, die Tradition, in der er
steht, nicht kennt, bezieht in den Kämpfen der Zeit keine sichere Position. Ich bin ein
spätbürgerlicher Schriftsteller – was könnte ich als Schriftsteller auch anderes sein. Ich hörte
nicht auf, einer zu sein, während ich Jahrzehnte hindurch Kommunist war und blieb. Meine
Herkunft ist übrigens die gleiche wie die meiner Vorbilder, der meisten Vorkämpfer des
Sozialismus. Über die kulturellen Leistungen des europäischen Bürgertums in sechs
Jahrhunderten muss man nicht reden, aber auch die Ära des Spätbürgertums, die, vielen
Voraussagen zum Trotz, seit nahezu einem Jahrhundert nicht enden will, hat höchst
Bedeutendes und für die künftige Gesellschaft Unentbehrliches hervorgebracht.« 658 Mit seiner
Rede maßte sich Hermlin die Deutungshoheit auf ein Erbe an, auf das auch die offizielle
Geschichtsschreibung der DDR ein Mandat beanspruchte. Die von Müller in abgewandelter
Form re-zitierten Grillparzerverse, (»Will unsere Zeit mich bestreiten / Ich lasse es ruhig
geschehn / Ich komme aus anderen Zeiten / Und hoffe, in andre zu gehn.« 659 ) stellen
Hermlins Schaffen einer historischen Perspektive ein, die den »real existierenden
Sozialismus« als latenten Verrat an den Zielen der Revolution markiert. Müller stellt die
Problematik in eine Traditionslinie der Unterscheidung zwischen politischer/eingreifender
und selbstreferenzieller Kunst. Innerhalb dieser ästhetischen Konstruktion wird lediglich der
letzteren das Attribut des Künstlerischen zugestanden, während Polemik und Negation für den
Erzähler in den Bereich des »Journalismus« fallen. Bereits im Kapitel »Die UMSIEDLERIN-
Affäre, 1961« wurde auf die politische Dimension künstlerischen Ausdrucks hingewiesen, die
eben nicht in der Thematisierung oder gar in der Besetzung politischer Positionen bestehe,
was Müller zufolge zu Tendenzliteratur führen müsse, sondern gerade im Aufspüren vom
politischen Diskurs noch nicht besetzter Nischen. »Eine ganz andere Frage ist, ob es
unpolitische Literatur gibt. Jean-Luc Godard hat es einmal so formuliert: ›Es geht nicht
darum, politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen.‹« 660 (KOS 183) In
dem »Gesprächsprotokoll«, das 1981 unter dem Titel »Mich interessiert der Fall Althusser
…« in der »alternative« erschien, wird Godards Forderung mit Hinblick auf die theatrale
Praxis konkretisiert. »In gewisser Weise ist ja Kunst eine blinde Praxis. Ich sehe da eine
658
Hermlin 1995, 22f.
659
Hermlin 1995, 25
660
KOS 183. Der Satz rezitiert ein Godard-Zitat aus einem Gespräch Heiner Müllers mit Rolf Rüth und Petra
Schmitz von 1982: »Es geht darum, Filme politisch zu machen und nicht darum, politische Filme zu
machen.« (GI 1 114) Im Gespräch mit Eva Brenner im Jahr 1987 formulierte Müller erneut: »Wir müssen
uns klar werden, was im Zusammenhang mit Kunst politisch ist. Das sind doch nicht einfach die Inhalte.
Vielleicht hat das Godard am besten formuliert. Er sagte, die Aufgabe bestehe nicht darin, politische Filme
zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Also, es geht um die Behandlung des Stoffes, um die Form,
nicht um den Inhalt.« (GI 2 97)
279
Möglichkeit: das Theater für ganz kleine Gruppen (für Massen existiert es ja schon längst
nicht mehr) zu benutzen, um Phantasieräume zu produzieren, Freiräume für Phantasie – gegen
den Imperialismus der Besetzung von Phantasie mit vorfabrizierten Klischees und Standards
der Medien. Ich meine, das ist eine primäre politische Aufgabe, auch wenn die Inhalte
überhaupt nichts mit politischen Gegebenheiten zu tun haben.« (W 8 244f.) Dem impliziten
Verweis auf die herausragende Bedeutung der künstlerischen Form ist die Kritik der Sprache
immanent. Diese Kritik bezieht sich in erster Linie auf eine Sprache, die nur semantisch ist,
bloßes Medium der Informationsvergabe, und somit ihre Qualität als Quelle sinnlicher
Erfahrung einbüßt.
Eine im Drucktext gestrichene Passage aus dem Arbeitsmanuskript, die der Erwähnung und
Bewertung der Hermlin-Rede im Kontext des Einverständnisdiskurses folgt, verdeutlicht
Müllers Argumentation mit Blick auf die eigene schriftstellerische Arbeit. Sie liefert in der
früheren Fassung zugleich das argumentative Bindeglied zu der im darauf folgenden Absatz
thematisierten »Diskussion um Ästhetik und Barbarei«. »Kunst entsteht zunächst mal aus der
Haltung, eine Sache ernst zu nehmen als Realität, wie immer sie beschaffen ist. // Ein anderer
Punkt ist der: Wenn du willst, kannst du fast alle meine Texte nehmen, sogar noch die
Rezensionen für den ›Sonntag‹ damals, sie haben – manchmal bis zur Unerträglichkeit, das
will ich zugeben – diese Diskrepanz zwischen Gegenstand und Geste, wie in der Musik,
zwischen Partitur und Orchester, wie bei Kleist ist das Verhältnis immer gestört, also
diskrepant zwischen dem Gegenstand und dem Ausdruck, zwischen Mitteilung und Ausdruck.
Das ist ja das Problem von Kleist, dieses gestörte Verhältnis zu den Stoffen. Die Stoffe waren
nie seine Stoffe, aber trotzdem hat er sich den Stoffen aufgezwungen, anders konnte er es
nicht schreiben. Auch den miesesten Stoff umarmte er, damit er singen konnte. Alle diese
Texte sind Gesang, das ist – wie gesagt – selbst bei meinen Rezensionen so. Gesang ist der
Rhythmus des Materials, den man finden muss. Es gibt Journalismus und Gesang. Das ist
auch das Problem bei dieser ganzen Diskussion um Ästhetik und Barbarei.« (HMA 4487,
400f.) Die Identifikation mit dem beschriebenen Gegenstand, das Aufspüren seines
Pulsschlags, führt zur Emphase des Ausdrucks, der künstlerischen »Geste«. Indem Müller
konstatiert, seine frühen journalistischen Arbeiten seien nach dem gleichen Verfahren
hergestellt, wie seine ›poetischen‹ Texte auch, spielt er auf ihre im weitesten Sinne ästhetische
Gleichwertigkeit an. Vergleichbare Aussagen macht Müller andernorts zu den unzähligen
(gedruckten) Interviews, die er selbst Performances nennt (s. a. GI 1 155). Wie die
Terminologie erkennen lässt, sind diese Texte dem Theater näher als der Literatur. Doch gilt
das unter gewissen Vorbehalten für alle Texte Müllers, die als »Stellplatz der Widersprüche«
(W 8 260) textuelle Inszenierungen darstellen: ein Theater der Schrift, das die Zerreißung der
Körper auf der Bühne impliziert. Dass der »Gesang« des Dichters immer wieder die Gräuel
der menschlich-allzumenschlichen »Vorgeschichte« (W 8 258) intoniert, liegt im
Selbstverständnis des künstlerischen Ausdrucks begründet, der sich den Wunden unter den
Narben verschrieben hat. Dies führt nahezu zwangsläufig zur ästhetischen
Auseinandersetzung mit der Barbarei. »Problematisch ist auch die Diskussion um Ästhetik
und Barbarei, um die Ästhetisierung von Barbarei durch Kunst. MACBETH war für Hacks
ein Ärgernis, was ich gut verstehe. Er sagte in einem Interview, das sei ein barbarischer Text,
und das Schrecklichste daran, dass er schön sei. Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel.
Das Einverständnis mit dem Schrecken, mit dem Terror gehört zur Beschreibung.« (KOS
289f.) Die Aussage bezieht sich auf den letzten Abschnitt Nietzsches ECCE HOMO. Dort
280
heißt es: »Im Jasagen ist Verneinen und Vernichten Bedingung.« 661 Das Einverständnis wird
als die womöglich einzige Form der authentischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand
betrachtet. Es zwingt den Künstler, Positionen einzunehmen, die für die meisten Menschen
beständig hinter dem apollinischen »Schleier der Maja« 662 verborgen bleiben werden.
Deleuze/Guattari beschreiben im Anschluss an D. H. Lawrence das Prinzip der Dichtung als
Komposition des Chaos. 663
Einen Konvergenzpunkt im eigenen literarischen Schaffen hat Müllers Kunstdefinition in dem
Text DER SCHRECKEN IST DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN, in dem er sich
auf die neben dem Orpheus-Mythos älteste Tradition eines gewalttätigen Ursprungs der Kunst
beruft: Im Wettstreit zwischen Marsyas (Doppelflöte) und Apoll (Leier) um das schönste
Spiel unterliegt Marsyas infolge einer List Apolls, der ihn in einer Pinie aufhängt und ihm die
Haut abzieht. Die Passage aus dem dritten Teil des Essays geht auf den späteren Kommentar
zu einer Brechtbearbeitung aus den fünfziger Jahren zurück. 664 »Die guten Texte wachsen
immer noch aus finstrem Grund. Die bessre Welt wird ohne Blutvergießen nicht zu haben
sein, das Duell zwischen Industrie und Zukunft wird nicht mit Gesängen ausgetragen, bei
denen man sich niederlassen kann. Seine Musik ist der Schrei des Marsyas, der seinem
göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt.« (W 8 210) Die Passage fasst die
Aussage des gesellschafts- und sprachkritischen Essays von 1979 zusammen, die von einem
Ende der Geschichte nicht sprechen will, solange die Menschheit in der blutigen
661
Nietzsche-KSA 6, 368. In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Begriff der ewigen Wiederkehr
schreibt Gilles Deleuze: »Das Negative kehrt nicht wieder. Das Identische kehrt nicht wieder. Das Selbe
und das Ähnliche, das Analoge und das Entgegengesetzte kehren nicht wieder. Einzig die Bejahung kehrt
wieder, d. h. das Differente, das Ungleichartige. Wie groß die Angst, bevor man aus einer derartigen
selektiven Bejahung Freude gewinnt: Nichts davon, wodurch die ewige Wiederkunft verneint wird, kehrt
wieder, nicht der Mangel, nicht das Gleiche, einzig das Exzessive kehrt wieder. […] Die ewige Wiederkunft
ist nicht der Effekt des Identischen auf einer ähnlich gewordenen Welt, sie ist dem Chaos der Welt nicht als
äußere Ordnung übergestülpt, die ewige Wiederkunft ist im Gegenteil die innere Identität von Welt und
Chaos, Chaosmos.« (Deleuze 1992, 371)
662
s. a. Nietzsche-KSA 1 28f.; Schopenhauer-ZA 1, 438
663
»Unablässig stellen die Menschen einen Schirm her, der ihnen Schutz bietet, auf dessen Unterseite sie ein
Firmament zeichnen und ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der Dichter, der Künstler aber macht
einen Schlitz in diesen Schirm, er zerreißt sogar das Firmament, um ein wenig freies und windiges Chaos
hereindringen zu lassen und in einem plötzlichen Lichtschein eine Vision zu rahmen, die durch den Schlitz
erscheint, die Schlüsselblume von Wordsworth oder der Apfel Cézannes, der Umriss von Macbeth oder
Ahab. Nun folgt die Menge der Nachahmer, die den Schirm mit einem Stück flicken, das vage der Vision
ähnelt, und die der Ausleger, die den Schlitz mit Meinungen füllen: Kommunikation. Immer weitere
Künstler werden nötig sein, um weitere Schlitze anzubringen, um die notwendigen und vielleicht immer
größeren Zerstörungen vorzunehmen und so ihren Vorgängern die unkommunizierbare Neuheit
zurückzugeben, die man nicht mehr zu sehen vermochte. […] Die Kunst ist nicht das Chaos, wohl aber eine
Komposition des Chaos, die die Vision oder Sensation schenkt, so dass die Kunst einen Chaosmus bildet,
wie Joyce sagt, ein komponiertes Chaos – weder vorausgesehen noch vorgefasst. Die Kunst verwandelt die
chaotische Variabilität in chaoide Varietät, zum Beispiel die grauschwarze oder grüne Glut Grecos; die
Goldglut Turners oder die Rotglut de Staëls. Die Kunst kämpft mit dem Chaos, aber um es spürbar zu
machen, sogar in der Gestalt der reizendsten Person, der bezauberndsten Landschaft (Watteau).«
(Deleuze/Guattari 2000, 241ff.)
664
Es handelt sich um das Stück GLÜCKSGOTT, Müllers Versuch Brechts Fragment DIE REISEN DES
GLÜCKSGOTTS von 1941 weiter zu schreiben. Im Vorwort zur Veröffentlichung im Rahmen des Bandes
THEATERARBEIT der Rotbuch-Edition, entstand Mitte der siebziger Jahre ein Vorwort, in dem Müller
dieses Projekt für gescheitert erklärt. Dort heißt es: »Die Häuser, die der Krieg stehen lässt, zerstört, was
ihre Eignung zu Spielräumen für Hausmusik angeht, der Aufbau. das Duell zwischen Industrie und Zukunft
wird nicht mit Gesängen ausgetragen, bei denen man sich niederlassen kann. Seine Musik ist der Schrei des
Marsyas, der seinem göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt.« (W 3 166)
281
Vorgeschichte gefangen sei, auf die sich Müller im Bild des Mythos beruft. Müller sieht in
der Postmoderne-Diskussion in erster Linie die Bestrebung einer Gruppe Privilegierter, die
historischen Konflikte und globalen gesellschaftlichen Differenzen zu nivellieren. In dem
Gedicht ORPHEUS GEPFLÜGT schildert Müller, dass es dem Künstler, der sich weigert die
dunklen Seiten seiner Gegenstände zu beschreiben, nicht besser ergeht als Marsyas, dessen
Kunst von seinem elementaren Leiden nicht zu trennen ist.
Der Verweis auf die Position Peter Hacks’ wirft indessen Licht auf einen gänzlich anders
gelagerten Konflikt. In seinem im März 1973 in »Theater der Zeit« erschienenen Aufsatz
ÜBER DAS REVIDIEREN VON KLASSIKERN wirft dieser Müller im Zusammenhang mit
seiner MACBETH-Bearbeitung »Vampirismus« 665 vor und stellt fest: »Der neueste
Bearbeiter sieht nicht nur die Schönheiten seiner Vorlage nicht; er schließt vor ihnen die
Augen.« 666 Die von Müller aus dem Material hervorgetrieben und der Vorlage hinzugefügten
Grausamkeiten fokussieren die Fabel in der Tat auf einen zirkulären Verlauf von
Gewaltgeschichte. Vor der Folie eines aus Müllers Sicht längst nicht abgeschlossenen
Zeitalters der Repräsentation, erscheint eine solche Lesart (»Gegenstand der
Bearbeitung/Inszenierung ist die Auswechselbarkeit des Menschen«, KOS 258) immerhin
einleuchtend. Dass auch das Stück eine solche Perspektive verweigert ist demzufolge nur
konsequent und bedeutet nicht, dass sie jenseits der Darstellung im Stück nicht existiert, wie
in der späten Anmerkung Müllers eingeräumt wird: »Der Kommunismus bedeutet die
Möglichkeit der wirklichen Vereinzelung, die das Ende der Auswechselbarkeit ist. Entlassung
des Menschen aus der Not seiner Vorgeschichte in das Universum seiner Einsamkeit.« (ebd.)
Nur im Kessel des scheinbar ausweglosen Kreislaufs von Mord und Gewalt kann das
utopische Potenzial heranreifen, das diesen Zirkel einst zu durchbrechen imstande sein wird.
Es bleibt der Arbeit der ›eingekesselten‹ Menschheit überlassen, das Andere im
Immergleichen aufzuspüren.
Im Anschluss an die Thematisierung der »Diskussion um Ästhetik und Barbarei« erklärt
Heiner Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT, in welcher Tradition er sich mit seiner
Kunstdefinition wähnt. Als Vorreiter für sein eigenes ästhetisches Interesse an Schrecken und
Terror dürfen neben Shakespeare, Brecht und Jünger, Poe, Lautréamont, Kafka und Faulkner,
auf die in den anderen Kapiteln der Autobiografie wiederholt Bezug genommen wird, auf
keinen Fall fehlen. Im Zusammenhang mit der Geburt der Kunst aus dem Geiste der blutigen
Vorgeschichte des Menschen beruft er sich jedoch auf andere Gewährsmänner: Während
Laclos und de Sade ihre Grabungsarbeiten in den »Finsternissen der Seele« (KOS 290) mit
der »Attitüde des Moralisten, des Aufklärers« (ebd.) zu tarnen versuchen, beschreibe Genet
die Abhängigkeit der Kunst vom schlechten Zustand der Welt. »Genet wurde gefragt, ich
glaube von Hubert Fichte: ›Wie ist das denn, wünschen Sie sich eine bessere Welt? Eine Welt
nach ihren politischen Träumen.‹ Und Genet antwortete: ›Um Gottes willen, wenn die Welt so
ist, wie ich sie mir vielleicht wünsche, habe ich doch keinen Grund mehr zum Schreiben.‹« 667
665
Peter Hacks: Über das Revidieren von Klassikern. In: Theater heute 3/1973
666
ebd.
667
KOS 290. In dem erwähnten Gespräch zwischen Hubert Fichte und Jean Genet findet sich eine Passage, die
das freie Zitat in KRIEG OHNE SCHLACHT bestätigt. Ausgehend von den Studentenunruhen im Mai des
Jahres 1968 in Paris stellt Fichte die Frage: »Können Sie mir sagen wie Ihre politische, soziale Revolution
aussehen soll?« Genet antwortet: »Nein. Denn wenn ich ehrlich bin, liegt mir gar nicht daran, dass eine
Revolution stattfindet. Die aktuelle Situation, die augenblicklichen Regime erlauben mir die Revolte. Aber
282
Die Ironie der Aussage besteht nicht in der unmöglichen Wünschbarkeit einer besseren Welt,
sondern in der notwendigen Selbstüberwindung des künstlerischen Ausdrucks. Die Vision
von einer anderen Welt, vor dessen Folie die Produkte des eigenen Schaffens obsolet
erscheinen, ist paradox: Die Arbeit am Paradoxon stellt die ebenso absurde wie notwendige
Tätigkeit des Künstlers dar.
Müllers Alternative bezüglich der Sprache (»Schweigen der Entropie oder der universale
Diskurs, der nichts auslässt und niemanden ausschließt«, W 8 212) bezieht die Literatur in
den Kampf um das Überleben der Gattung ein. Auf diesem Schlachtfeld darf an
Grausamkeiten und Opfern nicht gespart werden. Es sei denn, man stellt die Frage, wie
Müller es im Jahr vor seinem Tod tat, noch einmal grundsätzlich anders: »Aus den Ideen sind
Märkte geworden, aus dem Programm der Pariser Commune KEINER ODER ALLE die
realistische Einsicht FÜR ALLE REICHT ES NICHT.« (W 8 619) Dem Umdenken in der
gesellschaftlichen Teleologie Müllers entsprechend, wird eine grundsätzliche Anerkennung
des Emanzipationspotenzials der Kunst in KRIEG OHNE SCHLACHT verweigert. »Man
sagt, wenn schon nicht im Inhalt, dann liegt in der Form des Kunstwerks ein Vorschein einer
besseren Welt. Das habe ich auch immer geglaubt, mit Brecht, dass die Schönheit der
Formulierung eines barbarischen Tatbestandes Hoffnung auf die Utopie enthält. Das glaube
ich nicht mehr. Irgendwann muss man die Trennung von Kunst und Leben akzeptieren.
Ehrenburg wurde gefragt: ›Was ist sozialistischer Realismus?‹ Und Ehrenburg sagte ›Eine
schwarze Orchidee.‹« (KOS 290f.) In der »Trennung von Kunst und Leben« wird der
Epochenriss sichtbar. Im biografischen Bruch spiegelt sich der historische. Mit der
Unfähigkeit in der schönen Formulierung die Aufhebung eines barbarischen Gegenstandes zu
sehen, schwindet die Hoffnung auf das Emanzipationspotenzial der Gattung. Im Grunde
formuliert Müller hier lediglich einen alten Gedanken neu. Die Kunst gewinnt volle
Konsistenz gegenüber einer Empirie, die Deleuze/Guattari, beziehungsweise D. H. Lawrence
als Schirm bezeichnet hatten. Sie zerreißt den »Schleier der Maja«. Dass dahinter weder eine
schöne, noch eine neue Welt sich auftut, dürfte den Künstler kaum erstaunen. Das Trugbild
einer im Kunstwerk realisierten Utopie im Sinne des sozialistischen Realismus erscheint in
diesem Zusammenhang eher lebensfeindlich – als schwarze Orchidee.
In einem Interview für das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, das Heiner Müller wenige
Wochen vor Unterzeichnung des Vertrages über die Erarbeitung einer Autobiografie mit dem
Verlag Kiepenheuer & Witsch auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1990 mit Hellmuth
Karasek, Matthias Mattusek und Ulrich Schwarz führte, findet sich die folgende Passage, die
sich auf Müllers Einverständnis mit der historischen Realität in der soeben
zusammengebrochenen DDR bezieht:
die Revolution würde mir wahrscheinlich keine individuelle Revolte gestatten. Ich kann dagegen sein. Aber
wenn es sich um eine wirkliche Revolution handeln würde, könnte ich nicht dagegen sein. Ich würde ein
Anhänger dieser Revolution werden und ein Mann wie ich ist kein Anhänger von irgend was, er ist ein
Mann der Revolte. Mein Standpunkt ist sehr egoistisch. Ich möchte, dass die Welt sich nicht verändert, –
aber achten Sie genau auf die Art, in der ich es sage – damit ich mir erlauben kann, gegen die Welt zu sein.«
(Fichte/Genet 2002, 27) In der Schlusspassage untergräbt Genet allerdings die einleitende Formel (»…
wenn ich ehrlich bin …«) seiner Antwort generell: »Genet: Ich kann einem anderen nichts sagen. Anderen
nichts sagen als Lügen. Wenn ich ganz allein bin, sage ich vielleicht ein bisschen Wahres. Wenn ich mit
jemandem zusammen bin, lüge ich. Ich bin daneben. / Fichte: Aber die Lüge ist eine doppelte Wahrheit. /
Genet: O, ja. Entdecken Sie die Wahrheit, die sich darin befindet. Entdecken Sie, was ich verbergen wollte,
indem ich gewisse Sachen sagte.« (Fichte/Genet 2002, 56f.)
283
Ich habe nie einen Zweifel daran gehabt, dass diese DDR nicht existiert außer in
Abhängigkeit von der Sowjetunion und dass die Bevölkerung hier in einem Status von
Kolonisierten lebt.
Das fanden Sie aber aus bestimmten historischen Gründen richtig?
Das kann man so nicht sagen, weil ich Schriftsteller bin. Ich bin kein Politiker. Ich konnte
damit was anfangen. Kunst hat doch nichts mit Moral zu tun.
Nein, aber es gibt doch auch den Menschen Heiner Müller.
Nur bedingt. Je länger man schreibt, desto mehr verbraucht man den Menschen. Was hier
nützlich war zum Schreiben, ganz ohne Moral und Politik, war, dass man in einer Dritte-
Welt-Situation lebte. Der Sozialismus in der DDR in seiner stalinistischen Ausprägung
bedeutete weiter nichts als die Kolonialisierung der eigenen Bevölkerung. (GI 3 98)
Bereits in diesem Gespräch wird die Frage nach »Schreiben und Moral« unter dem
Gesichtspunkt eines biografischen Bruchs angedeutet. Das Einverständnis mit der Situation
eines historischen Appendix der eingekesselten russischen Revolution (Stalin), die
Zugehörigkeit zu einer kolonisierten »Rasse« (Deleuze) und die Identifikation mit der eigenen
Rolle als »Ausländer im eigenen Land« (HMA 4476) erweist sich als haltbare poetische
Konstruktion, die das eigene Schreiben zwischen den Schlachtreihen der (Vor-)Geschichte
des Menschen und der Perspektive einer menschlichen Geschichte angesiedelt wissen will.
Der zum Zeitpunkt des Gesprächs ausgehandelte ›Waffenstillstand‹ beendet nicht den Krieg,
er unterbricht lediglich die Schlacht. Müllers Text KRIEG OHNE SCHLACHT ist das
Signum dieses Epochenrisses.
»Das Jahr 1977 fing damit an, dass ich mal wieder in Bulgarien herumsaß.« (KOS 292) Der
Satz eröffnet das kurze Kapitel »DIE HAMLETMASCHINE, 1977«. Er beinhaltet das
Schweigen über einen Text, der im Rahmen Müllers Werkausgabe aus dem Nachlass
veröffentlicht wurde. Was die Autobiografie als abgeschlossenen Vorgang behauptet, führt
dieser Text als offene Wunde vor.
Ich sitze auf einem Balkon in Sofia und warte auf meine Frau, gegenüber die
Leuchtschrift einer Fabrik mit dem Namen eines Toten. Die Revolution der Sozialismus
das Vaterland in deren (dessen) Namen er getötet wurde, hat ihm seinen Namen
wiedergegeben. Die Fabrik ist ein Heizkraftwerk, es wärmt die Hauptstadt. Mir fallen
Sätze ein zum Fall des Traitscho Kostoff. Ich kenne andere Fälle, die Namen sind
auswechselbar. Die Revolution der Sozialismus das Vaterland frisst ihre (seine) Kinder,
und seit sie mit dem Kapitalismus Unzucht treibt, weil das Volk nicht mir ihr schlafen
will, hat sie einen verwöhnten Gaumen. DABEI WISSEN WIR DOCH / AUCH DER
HASS GEGEN DIE NIEDRIGKEIT / VERZERRT DIE ZÜGE / AUCH DER ZORN
ÜBER DAS UNRECHT / MACHT DIE STIMME HEISER. Wie rabulistisch klingen
heute die tragisch angestrengten Verse des alt gewordenen Brecht. Ein Gespräch über
Bäume beim Würgen der Nachgeburt gegen Morgen zu. Dialektik als Funktion des
Terrors, Tanz auf dem Vulkan in den Eisenschuhn der Stiefmutter. Die Stimme ist Brüllen
geworden, die Züge sind unkenntlich usw. Zu meiner Frau, auf die ich seit vier Stunden
warte, fällt mir kein Satz ein. Ich habe keine Sprache für die Liebe. Die Sprache der
284
Vergewaltigten ist die Gewalt so wie der Diebstahl die Sprache der Armen der Mord die
Sprache der Toten ist. Ich bin ein Kolonisierter, unter der grauweißen Clownsschminke
(ist meine Haut) schwarz. Ich bin meinem Vater einen Brief schuldig, einen
Neujahrsbrief. Ich habe angefangen ihn zu schreiben, zwischen zwei Ehen, an einem
Neujahrsmorgen auf einem Balkon in Berlin, 3/4/5 Jahre nach dem Weggang meines
Vaters aus dem Staat der seine Hoffnung und Enttäuschung war.
Drei Jahre lang habe ich angefangen und aufgehört, den Neujahrsbrief zu schreiben. Und
wieder möchte ich aufhören und meine Stimme zurückziehn mein nacktes Gesicht
zurücknehmen hinter das (geschlossne) Gitter Visier der Dichtung, in die Maschine des
Dramas. Ich will nicht wissen wo ich herkomme wo ich hingehe wer ich bin, draußen
findet die Wirklichkeit statt. Ob der Brief geschrieben wird oder nicht geschrieben, er
wird nicht mehr gelesen werden, der Adressat ist unbekannt verzogen: in den Tod. Wenn
meine Frau kommt, werde ich ihr nicht sagen, dass ich auf sie gewartet habe DU BIST
GEGANGEN DIE UHREN / SCHLAGEN MEIN HERZ WANN / KOMMST DU
Zwei Textstellen (DU BIST GEGANGEN DIE UHREN und GESTERN HABE ICH
ANGEFANGEN) wurden 1992 separat im Gedichtband der Rotbuch-Ausgabe editiert. Das
zweite Gedicht verwendete Müller darüber hinaus in seinem Stück DER AUFTRAG als
dramatische Rede der allegorischen Figur ErsteLiebe (s. a. W 5 23). Beide Gedichte gehören
der Ebene des Textes an, die das vergebliche Warten des Erzählers auf die Frau thematisieren.
Es ist das Leitthema und zugleich Rahmenhandlung des stark assoziativen inneren
Monologes, der sich formal an kompositorischen Mitteln der Musik und des Films orientiert.
Der prosaischen Eröffnung folgt das Hinübergleiten des Blicks auf das Kraftwerk. Die
»Leuchtschrift« dient als establishing shot für die Einführung eines politischen Diskurses
über das Scheitern des Dritten Weges, der aus der Sackgasse des Sozialismus hätte
hinausführen sollen. Stattdessen hat er als Hure des Kapitalismus die Ideale der
kommunistischen Revolution verraten. Im Rekurs auf Brechts Gedicht AN DIE
NACHGEBORENEN, das den Terror unter Berufung auf die vermeintlich bessere Zukunft
dialektisch legitimiert, wird die Vergeblichkeit der emanzipatorischen Bestrebungen um eine
andere Geschichte sichtbar, die von den »Eisenschuhn der Stiefmutter« Sneewittchens – einer
Urszene von Gewalt im kollektiven Gedächtnis des Grimmschen Märchens – abzusehen
imstande ist. Die Unkenntlichkeit und das Brüllen sind vielmehr ein Hinweis darauf, dass die
finstere Zeit, von dessen perspektivischer Aufhebung im Brecht-Gedicht die Rede ist, in
gänzliche Dunkelheit umgeschlagen ist, die lediglich einen ortlosen Schrei der Verzweiflung
zurück gelassen hat. Der Verwerfung des Emanzipationsgedankens korrespondiert daher die
Identifikation mit den Erniedrigten und Beleidigten, den Schwarzen aller Rassen, die jenseits
285
der gescheiterten revolutionären Bewegungen ihre eigenen subversiven Strategien entwickelt
haben und von einem teleologischen Gegenentwurf zu »der finsteren Zeit« 668 grundsätzlich
absehen: »Ich gehe in den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen meines Lebens« (W 5
40), erwidert der Schwarze Sasportas dem Verräter Debuisson im AUFTRAG. 669 Der auf die
Abrechnung mit den Hoffnungen der Revolution folgende Kernsatz des Textes, »Ich habe
keine Sprache für die Liebe«, wird widerlegt durch den Text selbst. Aus der Desillusionierung
des Textes atmet sehnsuchtsvoll die (gescheiterte) Liebe zu einem Leben unter anderen
(gesellschaftlichen) Bedingungen. Ebenso verhält es sich mit dem nicht geschriebenen
Neujahrsbrief. Der Text ist als vierter, wiederum verworfener Versuch lesbar, den
Neujahrsbrief an den toten Vater fertig zu schreiben. Der nicht abschließbare, weil nicht
adressierbare Brief kennzeichnet den Ort der eigenen Produktivität als künstlich offen
gehaltene Wunde. Er treibt die Erfahrung des Scheiterns jeweils neu »hinter das (geschlossne)
Gitter Visier der Dichtung, in die Maschine des Dramas«, die vom eigenen
Herkunftszusammenhang und den Unwägbarkeiten subjektiver Identität abzusehen erlaubt.
Im Verlust (des Vaters) liegt die prinzipielle Möglichkeit begründet, den Brief an ein
›kommendes Volk‹ (Deleuze) zu richten, das in der Lage sein wird, an der Überwindung
seines Inhalts zu arbeiten. Allerdings spricht die Tatsache, dass der Text zu Müllers
Lebenszeit nicht für die Veröffentlichung vorgesehen war, sich mithin im Wartestand der
Schublade auf eine von der eigenen Gegenwart qualitativ divergente Nachwelt beruft wie das
Brecht-Gedicht 670 , für alles andere als das Vertrauen in des Dichters in seine Mitwelt. Dem
korrespondiert die erneute Blende auf den in den Wartestand versetzten Mann. Das in der
Schrift vorweggenommene und zugleich verweigerte Eingeständnis der eigenen Sehnsucht
ersetzt die persönliche Erfahrung des Schmerzes durch den Vers, der eine Vielzahl von
gleichartigen Erfahrungen akkumuliert. Das Potenzial der poetischen Überformung besteht in
der Möglichkeit des Absehens von der Einzigartigkeit subjektiver Erfahrung. Mit der
Reproduktion eines am eigenen Leib erfahrenen Gewaltzusammenhangs in der Maschine des
Dramas, wird der Terror hinter der eigenen Sprache als Signum einer Zeit lesbar, an deren
Negation der Text ebenso arbeitet wie an seiner eigenen Aufhebung. In der Schrift erfolgt die
Deterritorialisierung des Terrors, die seine Reterritorialisierung und Überwindung im Akt der
Rezeption anstrebt. Die Sprache der Liebe, die aus den Schlussversen spricht, öffnet eine
Perspektive dieser Einsicht über die individuelle Existenz und die materielle des brüchigen, zu
Staub zerfallenden Papiers im Nachlass des Dichters hinaus.
Der Blick auf »die Leuchtschrift einer Fabrik mit dem Namen eines Toten« wird in KRIEG
OHNE SCHLACHT wieder aufgegriffen: »… gegenüber dem Hochhaus, in dem Ginka eine
Wohnung hatte, steht das größte Heizkraftwerk von Sofia, ›Traitscho Kostoff‹« (KOS 292).
Das Heizkraftwerk, das die Hauptstadt wärmt, spiegelt die Metaphorik des vorletzten Bildes
668
Brecht-GW 9, 724
669
Der Kolonisierte, so Sartre im Vorwort zu Fanons Roman DIE VERDAMMTEN DIESER ERDE, »beginnt
sein neues Menschenleben mit dem Ende, er hält sich für einen potenziell Toten. Er wird getötet werden.
Das heißt nicht nur, dass er das Risiko auf sich nimmt, sondern dass er sich dessen gewiss ist. Dieser
potenzielle Tote hat seine Frau und seine Söhne verloren. Er hat so viele sterben sehen, dass er eher siegen
will als überleben. Andre werden von seinem Sieg profitieren, nicht er, er ist zu müde. Aber diese
Müdigkeit des Herzens ist der Grund für einen unglaublichen Mut. […] Wir finden unsre Menschlichkeit
diesseits von Tod und Verzweiflung, er findet sie jenseits von Folter und Tod. Ein Sohn der Gewalt, schöpft
er aus ihr in jedem Augenblick seine Menschlichkeit […].« (In: Fanon 1981, 21)
670
»Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid.«
(Brecht-GW 9, 724)
286
der HAMLETMASCHINE: »Der Ofen blakt im friedlosen Oktober / A BAD COLD HE
HAD OF IT JUST THE WORST TIME / JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A
REVOLUTION« (W 4 549) Die Überführung der Terminologie der Revolution in die
thermische Pathologie ihres Scheiterns in den Eröffnungsversen 671 des vierten Teils setzt sich
im Bild der »Eiszeit« (W 4 553) am Ende der Szene fort. Die Schlussszene dreht den Blick
aus der stillgestellten Horizontale der glazialen Landschaft in die eines anderen Zeitalters
›harrende‹ Vertikale der »Tiefsee« (ebd.).
In seiner Autobiografie bestätigt Heiner Müller sein ursprüngliches Interesse an der
Verlegung des Hamlet-Konfliktes in die Metropolen der erstickten Hoffnung eines
reformierbaren Sozialismus, und kolportiert es zugleich. »Traitscho Kostoff war der
bulgarische Rajk, er ist während der großen Säuberung hingerichtet worden. […] Und nach
der Rehabilitierung wurde dieses zentrale Heizkraftwerk von Sofia nach ihm benannt. Ich
hatte einen Plan, der war schon alt, ein Hamlet-Stück zu schreiben. Mich interessierte eine
Variante, Hamlet als der Sohn eines Rajk oder Slansky oder Kostoff. […] Hamlet kommt vom
Staatsbegräbnis seines Vaters nach Hause und muss weiterleben. Hamlet in Budapest. Ich
stellte mir ein Zweihundert-Seiten-Stück vor, das ganze Problem aufgefächert.« (KOS 292f.)
Die Genese des Stückes scheint diese Darstellung zu bestätigen. Erste Notizen zu dem Projekt
»HiB«, beziehungsweise »Hamlet in B[udapest]« verweisen noch deutlich auf diesen
Genesezusammenhang, der letztendlich nur noch im vierten »Akt« mit dem Titel PEST IN
BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND explizit zum Tragen kommt, während Begriffe wie
»Hamletmaschine« oder »H-Maschine« in handschriftlichen Notizen Heiner Müllers
wesentlich früher auftauchen und vermutlich erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der
Entstehung des Stücks eine Symbiose mit ihm eingegangen sind.
Den zeitgeschichtlichen Hintergrund für Müllers Lesart des HAMLET bilden die politischen
Verhältnisse im unter sowjetischer Oberhoheit stehenden Osten Europas nach dem
Zusammenbruch des Dritten Reiches. Nachdem es 1948 infolge tiefgreifender Differenzen
zum Bruch zwischen Stalin und dem jugoslawischen Staatschef Tito gekommen war, wurde
Traitscho Kostoff, Vize des bulgarischen Ministerpräsidenten und Generalsekretärs der KP
Bulgariens, Giorgi Dimitroff, ebenso wie der ungarische Kommunist Laszlo Rajk im Zuge
einer Säuberungswelle als »Imperialistischer Agent« und »Titoist« angeklagt und im
Schauprozess zum Tode verurteilt. Rajk wurde im Jahr 1956 mit einem Staatsbegräbnis
rehabilitiert. Hinter seinem Sarg liefen vereint in feierlicher Trauer Witwe und Sohn des
ermordeten Staatsmanns oder – aus der Sicht Müllers – die Revenants von Gertrud und
Hamlet d. J. »Die Bilder der Trauerfeier für Rajk und die Beerdigungsszene in Shakespeares
Stück überlagern sich, ebenso wie sich die Bilder des von Laertes angestifteten Aufstands im
IV. Akt mit denjenigen vom Aufstand in Budapest überlagern konnten.« 672 Auch oder gerade
in der sozialistischen Welt ereignet sich Geschichte in den Augen des Stückeschreibers als
Wiederholung dramatischer Folien. In seinem Gedicht DAILY NEWS NACH BRECHT 1989
greift Müller im Angesicht des politischen Tauwetters eines in Selbstauflösung befindlichen
Warschauer Paktes – wiederum im Rekurs auf Brechts AN DIE NACHGEBORENEN und
den Volksaufstand in Ungarn 1956 – erneut das Thema dieses Staatsbegräbnisses auf; diesmal
671
Die englische Passage zitiert T. S. Eliots 1927 geschriebenes Gedicht JOURNEY OF THE MAGI, das
gemeinsam mit drei weiteren Weihnachtsgedichten unter dem Titel ARIEL POEMS erschien.
672
Jean Jourdheuil: Die Hamletmaschine. In: HMH 221–227, hier 222f.
287
aufgehängt zwischen den Polen der Figuren des Führers der Aufständischen, Imre Nagy, und
dessen Verräter und späterem Staatschef, János Kádár.
Nach einer Neuübersetzung des Stücks als Dramaturg der Volksbühne für eine Inszenierung
Benno Bessons gibt Müller den Plan einer umfangreichen Bearbeitung des Hamlet in
Budapest auf. Aus der Vorstellung einer weit ausgreifenden Bearbeitung ist ein »Neun-
Seiten-Stück HAMLETMASCHINE« (KOS 294) als »Schrumpfkopf« (ebd.) des geplanten
Zweihundert-Seiten-Stücks geworden. Das Stück, im unmittelbaren Zusammenhang mit der
Übersetzungsarbeit an Shakespeares HAMLET entstanden, findet weder in Bessons
Inszenierung noch auf anderen Bühnen der DDR Platz. »HAMLETMASCHINE ist damals
nicht, wie ich wollte, zusammen mit HAMLET aufgeführt worden. Es war verboten bis zum
Ende der DDR.« (KOS 295f.) Aber auch in der Bundesrepublik ereignet sich im
Zusammenhang mit der HAMLETMASCHINE ein verdeckter Zensurfall – die Eigenzensur
des Verlegers: »Das Suhrkamp Projekt scheiterte daran, dass ich unbedingt das Ulrike
Meinhof-Foto nach der Strick-Abnahme darin haben wollte. Da sagte Unseld: ›Das geht nicht,
das kann in meinem Verlag nicht erscheinen.‹ Für mich war das ein Ehrenpunkt. Darum ist es
bei Suhrkamp nicht erschienen.« (KOS 295) Die SHAKESPEARE FACTORY erschien
stattdessen als Bände 8 (1985) und 9 (1989) bei Rotbuch. Von Frankreich aus, dem Ort seiner
Uraufführung (1978) in französischer Sprache, wirkte das Stück als Transformator für
Müllers weltweite Rezeption.
Die Gesundschrumpfung des Materials auf seinen ›postdramatischen‹ 673 Kern wird in KRIEG
OHNE SCHLACHT auf die dem Stoff zugrunde liegende Dialogunfähigkeit zurückgeführt.
»Was ich schon in Bulgarien gemerkt hatte, war die Unmöglichkeit, mit dem Stoff zu
Dialogen zu kommen, den Stoff in die Welt des sogenannten real existierenden Sozialismus-
Stalinismus zu transportieren. Es gab da keine Dialoge mehr. Ich habe immer wieder zu
Dialogen angesetzt, es ging nicht, es gab keinen Dialog, nur noch monologische Blöcke, und
das Ganze schrumpfte dann zu diesem Text. Auch das Thema Budapest 1956 gab keinen
Dialog her, und die Geschichte der RAF, auch ein Material für das Stück, war ein einziger
rasender Monolog.« (KOS 294) In der Rohfassung der Autobiografie findet Müller dafür ein
Bild, das die Maschinenmetapher des Titels in ihr Gegenteil wendet, indem Drama und
Maschine synonym verwendet werden. »HAMLETMASCHINE ist kein Drama. Das ist
eigentlich das Ende des Dramas. Die Maschine steht, das Öl läuft raus und die Zahnräder
knirschen.« (HMA 4487, 411) Die Problematik der Dialogunfähigkeit, die in der
Entwicklungslosigkeit seiner permanenten Verwandlungen unterworfenen Figurationen zum
tragen kommt, hatte Müller bereits unmittelbar auf die Entstehung der HAMLETMASCHINE
hin argumentativ ins Feld geführt. Der Text spielt mit Gesten in einem überdeterminierten
Bezugssystem der Bedeutungen. Die Sprache verweigert ihre kommunikative und verliert
dadurch ihre soziale Funktion. Im Gespräch anlässlich Müllers FATZER-Bearbeitung, die
Wolfgang Karge und Matthias Langhoff 1978 gemeinsam mit Kleists HOMBURG auf die
Bühne des Deutschen Schauspielhauses Hamburg brachten, formuliert Müller den
Ausgangspunkt seines dramaturgischen Experiments noch folgendermaßen: »Es besteht keine
Substanz für einen Dialog mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muss andere
Möglichkeiten finden, die Probleme der Restaurationsphase darzustellen […], wo die
Geschichte auf der Stelle tritt, die Geschichte einen mit ›Sie‹ anredet. Es gilt, eine neue
673
zu diesem Begriff s. a. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater (Frankfurt/M. 1999)
288
Dramaturgie zu entwickeln oder das Stückeschreiben aufzugeben.« (GI 1 54) Müller
entscheidet sich während der siebziger Jahre für die erste Variante. Der Dialog verschwindet
oder erscheint nur noch als literarisches Zitat. In HAMLETMASCHINE gibt es keine durch
performative dramatische Rede miteinander kommunizierenden Rollenfiguren.
Sprecherangaben und Aussagesubjekte sind nicht identisch, beziehungsweise fehlen ganz. Die
Sprache erscheint von den Figuren bis zu einem hohen Grade abgelöst. Indem Müller das
Kommunikationsmodell »Theater« in den Sprechtext zurücknimmt, befreit er die theatrale
Darstellung von ihrer Abbildfunktion. Nach seiner Ansicht geht der Emanzipation des
Theaters jedoch die Emanzipation des (literarischen) Textes vom Theater voraus. »Ich glaube
grundsätzlich, dass Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn ein
Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv,
oder interessant.« (GI 1 18) Unter produktivem Theater versteht Müller in diesem Fall,
zumindest im deutschen Kontext, ein »Theater […] als Krieg gegen das Publikum« (GI 2 20).
Nur so sei der »Widerspruch zwischen Interesse und Bedürfnis« (GI 1 22), die »Differenz
[…] zwischen Erfolg und Wirkung« (ebd.) zu bewältigen. Der negative Impuls, der in der
Auflösung dramatischer Folien seinen Niederschlag findet, betreibt zugleich die Rettung des
Dramas. 674 Im Gespräch mit Sylvère Lotringer, das Müller zehn Jahre vor erscheinen der
Autobiografie führt, findet sich eine grundsätzlich andere Interpretation für die Reduktion des
Stückes, die ihren Grund hier weniger in der latenten Dialogunfähigkeit des Materials zu
haben scheint, als vielmehr mit einem Gestus analytischer Destruktion beschrieben wird.
»Mein Hauptinteresse beim Stückeschreiben ist es, Dinge zu zerstören. Dreißig Jahre lang
war Hamlet eine Obsession für mich, also schrieb ich einen kurzen Text,
HAMLETMASCHINE, mit dem ich versuchte, Hamlet zu zerstören. […] Ich glaube, mein
stärkster Impuls ist der, Dinge bis auf ihr Skelett zu reduzieren, ihr Fleisch und ihre
Oberfläche herunterzureißen. Dann ist man mit ihnen fertig.« (GI 1 102) Aufgrund der
gleichzeitigen Destruktion von Geschichte, Subjekt, Figur und Text erscheint Müllers
HAMLETMASCHINE wie sein New York oder die mythologisch verminte Großbaustelle in
BAU »ein Gebilde, das aus seiner eignen Explosion besteht« (W 3 394, W 8 329).
Die Radikalität, mit der Müller die eigene Arbeit seit den siebziger Jahren in Frage stellt, ist
das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der eigenen Krise, sein Schreiben der notwendige
»Kampf gegen den Text der entsteht« (KOS 299) und der sein Verschwinden im Material
anzeigt. »Die großen Texte des Jahrhunderts arbeiten an der Liquidation ihrer Autonomie,
Produkt ihrer Unzucht mit dem Privateigentum, an der Enteignung, zuletzt am Verschwinden
des Autors.« (W 8 211) Die »Zerreißung der Fotografie des Autors« (W 4 552) trägt jener
Tatsache Rechnung, die einen Autor jenseits des Textes nicht kennt oder im Sinne Foucaults
meint, der Autor sei eine Funktion des Textes und nichts ihm Vorausgehendes,
beziehungsweise von ihm Losgelöstes. Zugleich illustriert der Akt der Zerreißung die
Unverhältnismäßigkeit von Wirklichkeit und ihrer Abbildung. Andy Warhol, auf dessen
Kunst sich die HAMLETMASCHINE in vielen Punkten beziehen lässt, hatte in seinen
seriellen Werken immer wieder auf die grundsätzliche Ununterscheidbarkeit der Kopie vom
Original hingewiesen und damit die von Platon tradierte Idee der Mimesis fundamental in
674
»Die dramatische Kollision, die als Zentrum der klassischen Ästhetik des Dramas gelten kann, verleiht den
Ereignissen den Charakter eines Prozesses. […] Das Drama verspricht Dialektik. Denn die Kollision zeigt
einen Prozess an, der der geschichtlichen Hoffnung zugutekommen kann, auch wenn das Drama selbst
düstere Akte aufweist.« (Lehmann 1985, 107)
289
Frage gestellt.
Die Auseinandersetzung mit der »Restaurationsphase« treibe nicht allein den Dialog in den
Monolog oder gar das Schweigen, sie bringe auch andere Konstruktionen hervor, wie die der
permanenten Marginalisierung eines abstrakten Emanzipationsdiskurses, der sich immer an
sozialen Tatsachen zu messen hat, deren unmittelbare Wirklichkeit der verwundbare
(menschliche) Körper darstellt. »Man kann in bezug auf HAMLETMASCHINE viel
konstruieren. Zunächst mal steht die Dialogunfähigkeit dieses Materials sicher für eine
Stagnation. Und wenn auf der Männerebene nichts weitergeht, muss den Frauen etwas
einfallen. Und so weiter. Lenin hat immer gesagt, die Bewegung kommt aus den Provinzen,
und die Frau ist die Provinz des Mannes.« (KOS 295) In der Rohfassung hat der Platzhalter
»und so weiter« im ansonsten identischen Text folgenden Wortlaut: »Und wenn den Weißen
nichts mehr einfällt, muss den Negern was einfallen. Das ist ein ganz simpler Mechanismus.
Auch ein Modell für Revolutionsgeschichte.« (HMA 4487, 410) Obschon sich das – im »und
so weiter« der Druckfassung als beliebig verlängerbar gekennzeichnete – Modell vor allen
Dingen durch die grobe Simplifizierung gesellschaftlich-historischer Prozesse auszeichnet,
stimmt es doch mit einer Tendenz in Müllers dramatischem Schaffen der siebziger und frühen
achtziger Jahre überein, in dem unterschiedliche Revolutionsmodelle zur Disposition gestellt
werden: Während PHILOKTET, HORATIER, MAUSER und ZEMENT im weitesten Sinne
aus der thematischen Beschäftigung mit der kommunistischen Revolution sowjetischer
Provenienz (und ihrer Folgen) zurückgeführt werden können, erhält die Auseinandersetzung
in DER AUFTRAG (Neger) oder QUARTETT (Frau) eine grundsätzlich neue Ausrichtung.
Durch die HAMLETMASCHINE verläuft die Trenn-/Verbindungslinie dieses
Paradigmenwechsels mitten hindurch. Vor der Folie einer fiktiven ›Dritten Welt‹ gewinnt
Ende der siebziger Jahre das »Non-Rationale, Nicht-Weiße, Nicht-Europäische, Nicht-
Männliche« 675 sowie die Anknüpfung an die subversiven Strategien von Minderheiten und
deren Subkultur im Drama Müllers zunehmend an Konsistenz. Anders als in MAUSER und
ZEMENT ist die Utopie dabei nicht mehr in der Arbeit des revolutionären Kollektivs an einer
gemeinsamen Zukunft aufgehoben, sondern »jenseits oder neben der Politik« (GI 1 84)
verortet. Die Protagonisten sind nicht länger die Berufsrevolutionäre vom Schlage eines A/B
in MAUSER, Tschumalows und Daschas in ZEMENT, sondern die am Grunde der Lehre 676
angekommenen Verlierer, die »Neger aller Rassen« 677 . Ins Zentrum rücken die Outlaws und
Irren im Sinne Foucaults, die vom Diskurs ausgeschlossenen. 678 Dazu gehört auch der
verdrängte Tod. In Form des nicht mehr Sterblichen kehrt er zurück als Krebs (»Der
Brustkrebs strahlt wie eine Sonne«, W 4 549; »Jetzt sind wir allein / Krebs mein Geliebter«,
W 5 65). Das unbegrenzte Wachstum als Metapher für die Praxis der kapitalistischen
675
Eckardt 1992, 191
676
s. a. Brecht-BFA 10, 511f.
677
W 5 40. Die Formel verweist auf eine soziale Bestimmung des ›Schwarzen‹ im Sinne einer Minorität.
Ähnlich Deleuze/Guattari benutzt Müller den Begriff der Rasse nicht im Sinne eines biologischen
Phänotyps, sondern als Produkt sozialer Interaktion.
678
In WAHNSINN UND GESELLSCHAFT beschreibt Michel Foucault die Mechanismen der
gesellschaftlichen Produktion von Minderheiten. Foucault selbst bezeichnet seine Arbeit über die
GESCHICHTE DES WAHNSINNS IM ZEITALTER DER VERNUNFT als Versuch, die ›Archäologie des
Schweigens‹ zu schreiben, des Schweigens nämlich, das den »Monolog der Vernunft über den Wahnsinn«
erst ermöglicht. Foucault zufolge geht es in erster Linie um kulturelle Grenzziehung, diese »obskuren
Gesten, die, sobald sie ausgeführt schon wieder vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist,
das für sie außerhalb liegt«. (Foucault 1969, 8f.)
290
Reproduktion in allen gesellschaftlichen Bereichen verbirgt hinter der Maske des schönen
Scheins die Auslöschung, das »Schweigen der Entropie« (W 8 212). Der entfesselte
Lebenstrieb wird zur Funktion des Todes. »Wer nicht sterben kann, kann auch nicht leben.«
(GI 3 224) Der Kapitalismus ist die Maske des Todestriebes. Krankheit wird zur Katharsis. 679
Der Mensch befreit sich von sich selbst. Das Potenzial dieser Krankheit für die ästhetische
Produktion beschreibt Müller bereits 1980 im Gespräch mit Horst Laube: »Wir leben davon,
dass die Welt so katastrophal und konfliktreich ist. Ich finde es langweilig, sich ständig auf
eine mögliche Welt zu fixieren. Da entsteht keine Kunst. Kunst kann ja eine Krankheit sein.
Das ist möglich, aber das ist die Krankheit, mit der wir leben. In unserer Lebenszeit ist keine
Gefahr, dass wir gesund werden. Wir müssen mit dieser Krankheit und der Paradoxie, dass
wir Parasiten in der Welt sind, indem wir sie ausbeuten, leben.« (GI 1 57) Evident ist diese
Problematik in Müllers Auffassung von der Funktion oder vielmehr der grundsätzlichen
Funktions- und Intentionslosigkeit der Kunst, durch die zugleich deren Wirksamkeit zum
Tragen komme: »Der Kern ist natürlich die Haltung Genets: Die Freude über jeden
Missstand, über die gebrechliche Einrichtung der Welt – denn das ist ein Motiv zum
Schreiben. In einer harmonischen Welt braucht man nicht zu schreiben. Kunst hat etwas
Kannibalisches. Kunst verbraucht Menschen, Kunst zerstört Menschen. Kunst ist nicht
unbedingt etwas Gutes oder Humanes. Vielleicht gibt es irgendwann einmal eine Gesellschaft,
in der man Kunst nicht mehr braucht. Eine humane Gesellschaft. Aber im Moment braucht
man sie noch. Ich brauche sie noch. Das Wozu ist eigentlich uninteressant. Wozu Kunst? Das
ist nicht meine Frage.« (GI 3 157) Stellt die westliche Welt den Versuch dar, die Differenzen
und Widersprüche mittels der Demokratie – die vermeintlich humane Herrschaft der Mehrheit
über die Minderheiten – zu nivellieren, ist die Position des Autors auf der Seite der
mittelpunktlosen Vielheiten, die sich unter das Ganze nur scheinbar subsumieren lassen.
Die Wahrnehmung des subversiven Potenzials der Minoritäten in einer globalisierten Welt
wird in KRIEG OHNE SCHLACHT sowohl auf die Bulgarien-Reise sowie die Nordamerika-
Erfahrung des Erzählers zurück geführt. »Die Maschinen-Metapher hat vielleicht auch mit
dem Kraftwerk gegenüber dem Haus in Sofia zu tun. Ohne die Amerika-Reise hätte ich das
Stück so nicht schreiben können, überhaupt nicht ohne die West-Reisen. Wichtig war das
Kafka-Buch von Deleuze und Guattari weil es von Provinz handelt, von der Mobilisierung der
Provinzen. Auch die Kriminalität ist eine Provinz.« (KOS 294) Bei der Maschinenmetapher
handelt es sich tatsächlich um ein dichtes intertextuelles Rhizom, das von Shakespeares
Drama 680 über Marcel Duchamp und Andy Warhol bis hin zu Deleuze/Guattaris
Wunschmaschinen im ANTI-ÖDIPUS reicht. Auf Duchamps »Junggesellenmaschine« wird
in KRIEG OHNE SCHLACHT explizit hingewiesen 681 . Ebenso auf Warhols »factory«-
679
Müller greift hier auf Artaud zurück: »… wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der
Heilung endet.« (Artaud 1996, 34)
680
Um Hamlets Wahnsinn zu illustrieren zitiert Polonius im zweiten Akt einen Brief Hamlets an seine Tochter
Ophelia. In der Schlusswendung des Briefes heißt es: »whilst this machine is to him, Hamlet« (William
Shakespeare: Hamlet II/2). Müller formuliert die Passage in seiner Übertragung so: »solange diese
Maschine ihm gehört, Hamlet« (W 7 477).
681
s. a. Müllers Gespräch mit Rolf Rüth und Petra Schmitz, das 1982 unter dem Titel »Schreiben aus
Schadenfreude« in der Zeitschrift »Theater heute« erschien: »Übrigens entstand der Titel
HAMLETMASCHINE ganz zufällig. Es gab den Plan, alles von mir drucken zu lassen, was mit
Shakespeare zu tun hatte. Da habe ich verzweifelt einen Titel gesucht, und wir kamen auf »Shakespeare
Factory«, weil ich das so schick fand. Dann gab es noch dieses Stück, für das ich noch keinen Titel hatte,
und weil ich irgendeine Illustration aus einem Band von Duchamp drin haben wollte, ergab sich automatisch
291
Begriff, der sich hinter dem Titel der Rotbuch-Ausgabe Müllers Shakespeare-Bearbeitungen
(SHAKESPEARE FACTORY) verbirgt. So findet sich etwa das Warhol-Zitat »Ich will eine
Maschine sein« (W 4 553) in HAMLETMASCHINE wieder. Einen weiteren Anhaltspunkt
liefert eine Passage aus der Arbeitsfassung der Autobiografie: »Mir fällt gerade ein, das ist
auffällig bei Shakespeare-Manuskripten – wer weiß, ob die echt sind, aber man hält einiges
doch für echte Manuskripte –, wie der schrieb. Der hatte ja keine Schreibmaschine. Das ist
eine Schrift, die sich dauernd bei sich selbst aufhält. Der schreibt nicht so weg, sondern es
sieht fast ornamental aus. Er malt Zeichen, und das ist der Ersatz für die Schreibmaschine.
Das war eine Art Übersetzung von ihm, von dem, was direkt aus der Hand kommt, in die
nächste Bewegung, in Form.« (HMA 4487, 386f.) Im Bild des Kraftwerks werden diese
Diskurse lediglich gebündelt und auf den Kontext der problematischen Geschichte des
Sozialismus und ihre Opfer bezogen, die der Dichter im Gedicht FERNSEHEN besingt:
»Wieviel Erde werden wir fressen müssen / Mit dem Blutgeschmack unserer Opfer / Auf dem
Weg in die bessere Zukunft / Oder in keine wenn wir sie ausspein.« (W 1 232)
Eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit den von Müller als Voraussetzung für sein
Schreiben bezeichneten »West-Reisen« spielt die Erfahrung von Fremde, Verfremdung und
Fremd-Werden, die im Grenz-Übertritt, einem im metaphorischen wie faktischen Sinne In-
die-Fremde-Gehen, ihren Ausdruck findet. »Wenn ich nicht rausgekonnt hätte, hätte ich auch
nicht hierbleiben können. Ich hätte das meiste von dem, was ich geschrieben habe nicht
schreiben können, ohne zu reisen.« (GI 3 77) Die Bewegung schafft die notwendige
Voraussetzung einer Kunst, die von der Statuierung einer präfigurierten Idee und einer auf
Versöhnung der Widersprüche im schönen Schein zielenden Intention absieht. Die »Trennung
der Intelligenz von der Bevölkerung durch Privilegien« (KOS 355) treibt den Erzähler in den
Raum der Kunst. Die Literatur wird der empirischen Wahrnehmung von Wirklichkeit
vorgezogen. Das Primat der Texte strukturiert die Realität nach anderen Gesichtspunkten als
die Ratio. In diesem Zusammenhang ist die eingestandene, möglicherweise notwendige
Schuld der Intellektuellen zu sehen. »Die Schuld der Intellektuellen in der DDR, zu denen ich
gehöre, besteht darin, dass sie Privilegien akzeptiert haben; die meisten wissend, dass die
Privilegien sie von der Bevölkerung trennten und damit im Sinn des Regimes unschädlich
machten. ›Die Weber von Apolda hungern, aber ich muss die Iphigenie in Jamben setzen.‹
(Goethe zu Eckermann)« (GI 3 127) Doch dem Jünger-, Benn- und Schmitt-Leser Müller ist
die moralische Integrität einer Person kein Ausweis der Authentizität des von ihnen Ins-
Werk-Gesetzten. Er fordert daher von einer individuellen Prädisposition des Künstlers
weitgehend abzusehen. »Die Privilegien waren eine wichtige Arbeitsbedingung. Mir ist nur
wichtig, was ich schreibe und was von mir übrig bleibt. Meine Person ist das sekundär.« (GI 3
136) Im Gespräch mit Eva Brenner 1987 antwortet Müller auf die Frage nach dem Stellenwert
der Autorintention: »Meine Absicht und der Text sind zwei völlig verschiedene Dinge.[…]
Wenn ich weiß, was ich sagen will, sage ich es. Dazu muss ich nicht schreiben.« (GI 2 99f.)
In zwei Ende der siebziger Jahre entstandenen essayistischen Arbeiten werden die Begriffe
›Privileg‹, ›Subjekt‹ und ›Geschichte‹ politisch kontextualisert: »Die Raumzeit der Kunst ist
zwischen der Zeit des Subjekts und der Zeit der Geschichte. Die Differenz ist ein potenzieller
Kriegsschauplatz. Hier zeigt die Frage von Foucault ihren Januskopf. Das Ende der Eliten ist
292
Programm, die Lage fordert Privilegien. Privilegien müssen bezahlt werden: zu den Arbeiten
der Intelligenz gehört ihre Selbstkritik. Schon Talent ist ein Privileg, der Eigenbeitrag zur
Enteignung gehört zu den Privilegien.« (W 8 215) Was in dem Text »Und vieles / Wie auf den
Schultern eine Last von Scheitern ist / Zu behalten … (Hölderlin)« wie die Einführung
stalinistischer Moralkategorien in die Funktionsmechanismen der Kunst daher kommt, ist
vielmehr der Versuch, die Rolle des Künstlers in einem gesellschaftlichen Gefüge zu
lokalisieren, das perspektivisch die Überwindung der Kunst impliziert. In der MÜLHEIMER
REDE wird noch deutlicher auf einen Typus der Kunst hingewiesen, die von ihrem
Produzenten weitgehend absehen muss. Zugleich stellt die Kunst den Versuch dar, die
antagonistischen Widersprüche von subjektiver Zeit und objektiven Erfordernissen
gesellschaftlicher Emanzipation in einem ästhetischen Modell zu verklammern. »Nur der
zunehmende Druck authentischer Erfahrung entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins
Weiße im Auge zu sehen. Die Raumzeit der Kunst ist zwischen der Zeit des Subjekts und der
Zeit der Geschichte, die Differenz ein potenzieller Kriegsschauplatz.« (W 8 219) Die
Betrachtung der Kunst als experimentelles Schlachtfeld für geschichtliche Prozesse, auf dem
Autor nicht notwendig die Zentralperspektive einnimmt, wird in der HAMLETMASCHINE
aufgerufen. »In der Einsamkeit der Flughäfen / Atme ich auf Ich bin / Ein Privilegierter Mein
Ekel / Ist ein Privileg / Beschirmt mit Mauer / Stacheldraht Gefängnis« (W 4 552). Der Ekel
über die »Armut ohne Würde« (ebd.) legitimiert die Lethargie des Intellektuellen, seine
Unfähigkeit zu handeln, die im HAMLET zum tragischen Paradigma wird. Wie Nietzsche
verwendet Müller in der HAMLETMASCHINE die Metapher des ›Ekels‹ als Chiffre für die
affektive Ablehnung der Realität durch den ›dionysischen Menschen‹ 682 .
Die Zerreißung der Imago des Intellektuellen als Repräsentanten der Gesellschaft, zeigt den
Künstler nurmehr als Symptom einer erkrankten Zeit. DIE HAMLETMASCHINE verhandelt
das Scheitern der revolutionären Hoffnung als das Scheitern des Intellektuellen. HAMLET
»ist ein Stück über einen jungen Mann, der Mitglied der herrschenden Schicht ist und der
durch Wittenberg auch ein Intellektueller geworden ist. Es geht um einen Riss zwischen zwei
Epochen. Und in diesem Riss geht er unter.« (WT 43) Shakespeares HAMLET gilt Müller als
Paradigma für »das Versagen von Intellektuellen in bestimmten historischen Phasen, das
vielleicht notwendige Versagen«. Es ist »ein stellvertretendes Versagen« (W 8 241). Im
Anschluss an Foucault konstatiert Müller: »… da der Intellektuelle kein Repräsentant mehr
sein kann, kann er nur noch Symptom sein oder sich als Symptom zur Verfügung stellen –
und als Dokument.« (W 8 244) Der »Rückzugsbewegung in den Kopf des Autors« (GI 1 57)
korrespondiert die Autopsie: die Öffnung und Veröffentlichung des Autors als Teil des
Materials. Die Aufgabe repräsentativen Sprechens durch den Autor schreibt ihn zugleich als
Stoff in das Stück wieder ein. Prospero – »der untote Hamlet« (W 8 337) und Müllers
682
»Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und
Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles
persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die
Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche
Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische,
willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch
Ähnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge getan, sie haben
erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern,
sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemutet wird, die Welt, die aus den Fugen
ist, wieder einzurichten. Die Erkenntnis tötet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch
die Illusion« (Nietzsche-W 1, 48)
293
Alternative zum Dänenprinz – zerbricht seinen Zauberstab als Antwort auf den Vorwurf
Calibans: »YOU TAUHGT ME LANGUAGE AN MY PROFIT ON’T IS I KNOW HOW
TU CURSE« (ebd.). Der Rest ist Schweigen. Die Sklaven haben das letzte Wort.
Das 1979 entstandene Stück DER AUFTRAG verdeutlicht erneut, wie eng Rezeption und
Produktion im Werk Müllers beieinander liegen. »AUFTRAG wollte ich machen, seit ich die
Geschichte DAS LICHT AUF DEM GALGEN von Anna Seghers gelesen hatte. LICHT AUF
DEM GALGEN ist ihre Auseinandersetzung mit dem Stalinismus: Napoleon/Stalin, der
Liquidator der Revolution.« (KOS 297) Wie frühere Bezugnahmen auf den Stoff bei Anna
Seghers belegen, beschäftigt die Thematik des (gescheiterten) Revolutionsexports Müller
bereits seit den frühen fünfziger Jahren. »Mich interessierte vor allem das Motiv des Verrats,
auch wegen meines Reiseprivilegs. Die Seghers beschreibt das so: Beim Halt auf einem
Hügel in Jamaika, als in dem Jakobiner Debuisson er hat die Nachricht vom 18. Brumaire
bekommen und weiß, dass die Revolution vorbei ist – zum ersten Mal ›die Stimme des
Verrats‹ zu sprechen beginnt, sieht er zum ersten Mal, wie schön Jamaika ist.« (KOS 297) »In
der Zeit des Verrats/ Sind die Landschaften schön« (W 1 45), heißt es in den Schlussversen
von Müllers frühem Gedicht MOTIV BEI A. S. Das Gedicht beschreibt nicht lediglich die
Crux jeglichen emanzipatorischen Bestrebens des Menschen, sondern formuliert zugleich
pointiert ein Grundproblem jeder künstlerischen Produktion: die ästhetische Empfindung als
Sündenfall im Kampf um die gesellschaftlich-soziale Emanzipation des Menschen. Die
Schönheit der Welt wird zur Maske des Verrats. Daraus resultiere Müller zufolge der
jakobinische Instinkt des Banausentums der Revolutionäre in Kunstfragen. »Die Kraft für die
notwendigen Säuberungen reicht höchstens bis in die zweite Generation. Schon die dritte
Generation fängt an, musische Neigungen zu entwickeln. Von da ab wird ein neuer Tanz
gefährlicher als eine Armee.« (KOS 351) Vor dieser Folie wird der revolutionäre Terror auch
zum Kampf gegen die Versuchung durch die Schönheit. Wem diese Versuchung fremd ist, hat
keinen Begriff davon, »was Extase ist« 683 , weiß Jean Genet. Sie ist der Stachel im Fleisch der
Revolution, der im AUFTRAG in Gestalt der verführerisch tanzenden ErsteLiebe auftritt. Als
instrumentum diaboli trägt ihr Tanz die Züge ästhetischer Verführungskraft. Im
Schönheitsempfinden sind, wie etwa im dionysischen Rausch, der Genuss nachlassender Ich-
Spannung und die »Schrecken/Freuden der Verwandlung« (W 8 177) aneinander gekoppelt.
»Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen« 684 ,
heißt es bei Rilke. In seinem frühen Gedicht BILDER verkehrt Müller diesen Befund: »Denn
das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken« (W 1 14). Es sei daran erinnert, wie
die Wirkung der frühen Rilke-Lektüre in einen Akt der Verlachung einmündete (s. a. KOS
31). Bereits Schiller glaubte in der Schönheit eine potenzielle Gefahr für die Wahrheit
entdecken zu können. »Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen
Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte. […] Schon der Zweck der
Natur bringt es mit sich, dass wir der Schönheit zuerst entgegeneilen, wenn wir noch vor dem
683
Genet 1988, 88
684
Rilke-SW 1, 685
294
Erhabenen fliehn; denn die Schönheit ist unsere Wärterin im kindischen Alter und soll uns ja
aus dem rohen Naturzustand zur Verfeinerung führen. Aber ob sie gleich unsre erste Liebe ist
und unsre Empfindungsfähigkeit für dieselbe zuerst sich entfaltet, so hat die Natur doch dafür
gesorgt, dass sie langsamer reif wird und zu ihrer völligen Entwicklung erst die Ausbildung
des Verstandes und Herzens abwartet. Erreichte der Geschmack seine völlige Reife, ehe
Wahrheit und Sittlichkeit auf einem bessern Weg, als durch ihn geschehen kann, in unser
Herz gepflanzt wären, so würde die Sinnenwelt ewig die Grenze unsrer Bestrebungen bleiben.
[…] Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet, und unsre Empfänglichkeit für
beides in gleichem Maß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne
deswegen ihre Sklaven zu sein und ohne unser Bürgerrecht in der intelligiblen Welt zu
verscherzen.« 685 Für Freud dagegen stand der kulturelle Fortschritt im Dienst des
konservativen, auf der »Wiederherstellung von Früherem« 686 beruhenden Triebes
permanenter Todesproduktion 687 . Auch die Hauptfigur Büchners DANTONS TOD – auf das
sich Müller mit DER AUFTRAG explizit und anspielungsreich bezieht – nennt seine Frau
Julie sein »süßes Grab« 688 , da er bei ihr die Ruhe zu finden meint, die seines Lebens letzte
Erfüllung ist. Die Einsamkeit des historischen Auftrags füllt die Stelle geschichtlichen
Scheiterns und persönlichen Versagens mit dem sinnlichen Begehren, das Ruhe und
Vergessen verspricht. »Die Leute sagen, im Grab sei Ruhe, und Grab und Ruhe seien eins.
Wenn das ist, lieg ich in deinem Schoß schon unter der Erde. Du süßes Grab, deine Lippen
sind Totenglocken, deine Stimme ist mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel, und
dein Herz mein Sarg.« 689 Der Verrat erscheint hier, wie im Falle Debuissons, als
Regressionsphantasie, als Sehnsucht nach Tod, Vergessen und endgültiger Ruhe, als
Verweigerung jeglichen Handelns. Doch noch diese Ruhe ist ein Privileg, entsprechend der
Reisefreiheit des Erzählers in KRIEG OHNE SCHLACHT, erkauft mit dem (Informations-
und Konsum-)Hunger der Massen. »Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen
kann in meiner Scheiße« (W 4 552), heißt der zynische Selbstkommentar des
Hamletdarstellers über seinen narzisstischen Rückzug im vierten Teil der
HAMLETMASCHINE.
685
Schiller-SW 5, 799ff. (Hervorhebung LDR)
686
Freud-SA 3, 247
687
»Vielen von uns mag es auch schwer werden, auf den Glauben zu verzichten, dass im Menschen selbst ein
Trieb zur Vervollkommnung wohnt, der ihn auf seine gegenwärtige Höhe geistiger Leistung und ethischer
Sublimierung gebracht hat und von dem man erwarten darf, dass er seine Entwicklung zum Übermenschen
besorgen wird. Allein ich glaube nicht an einen solchen inneren Trieb und sehe keinen Weg, diese
wohltuende Illusion zu schonen. Die bisherige Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen
Erklärung zu bedürfen als die der Tiere, und was man an einer Minderzahl von menschlichen Individuen als
rastlosen Drang zu weiterer Vervollkommnung beobachtet, lässt sich ungezwungen als Folge der
Triebverdrängung verstehen, auf welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur aufgebaut ist. Der
verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines
primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind
ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen
und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der
hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach des Dichters Worten »ungebändigt immer
vorwärts dringt« (Mephisto im Faust, I (4. Szene), Studierzimmer). Der Weg nach rückwärts, zur vollen
Befriedigung, ist in der Regel durch die Widerstände, welche die Verdrängungen aufrechthalten, verlegt,
und somit bleibt nichts anderes übrig, als in der anderen, noch freien Entwicklungsrichtung fortzuschreiten,
allerdings ohne Aussicht, den Prozess abschließen und das Ziel erreichen zu können.« (Freud-SA 3, 251f.)
688
Büchner-WuB 9
689
ebd.
295
Der Mann im Fahrstuhl, ein Prosa-Intermedium in Müllers Stück, vollzieht paradigmatisch
Müllers autobiografische Schrift nach. Ziellos (»mein Gang ist ein Spaziergang«, W 5 32f.)
und ohne Daseinsberechtigung (»ich bin nicht einmal ein Messer wert oder den Würgegriff
von Händen aus Metall«, W 5 33) geht das Subjekt der Erzählung in eine Landschaft hinein,
»die keine andere Aufgabe hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten« (ebd.).
Der Verabschiedung anthropozentrischen Denkens der Aufklärung folgt die Abdankung des
Menschen und sein Verschwinden in der Landschaft. »Die Landschaft dauert länger als das
Individuum. Inzwischen wartet sie auf das Verschwinden des Menschen, der sie verwüstet
ohne Rücksicht auf seine Zukunft als Gattungswesen« (KOS 322), heißt es im Kapitel
»VERKOMMENES UFER« in KRIEG OHNE SCHLACHT. Müller begreift die
Rückeroberung des Raumes durch die Natur auch als Chance, einer durch Industrie und
Technologie immens beschleunigten ›tötenden‹ Zeit Widerstand zu leisten. (s. a. GI 1 59) »…
der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« 690 Der Text ist
sprecherlos, vielleicht nur noch der Widerhall von Worten in einer Landschaft, die die Spuren
einer vergangenen Kultur beinahe schon ausgelöscht hat. In seiner Autobiografie beschreibt
Müller die Genese des Prosa-Intermediums als fiktionalisiertes Theater der Erinnerung:
»Schreiben konnte ich das Stück erst nach einem Aufenthalt in Mexico und in Puerto Rico.
Vorher hatte ich keine Dramaturgie dafür. In Mexico fand ich die Form. Der zweite Teil des
Fahrstuhl-Texts in dem Stück ist ein Traumprotokoll, der Traum das Produkt eines
Nachtgangs von einem abgelegenen Dorf zur Hauptverkehrsstraße nach Mexico City, auf
einem Feldweg zwischen Kakteenfeldern, kein Mond, kein Taxi. Ab und zu tauchten dunkle
Gestalten wie von Goya-Bildern auf, gingen an uns vorbei, manchmal mit Taschenlampen,
auch mit Kerzen. Ein Angst-Gang durch die Dritte Welt.« (KOS 297) Eine frühere Fassung
bindet den Traum topografisch an einen der unzähligen Bulgarien-Aufenthalte zurück, aber
»Bulgarien passte da nicht rein« (HMA 4487, 414). Die Beschreibung des
Entstehungszusammenhangs manifestiert sich in einem neuen Text, der sowohl als
Kommentarebene zum Stücktext gelesen werden kann, zugleich jedoch in seiner konkreten
Materialität eine eigenständige poetische Qualität aufweist, die im Spiegel des Stückes
erscheint. Die Traumstruktur stellt bereits eine ästhetische Überformung des realen
Erinnerungsvermögens dar und wertet das Bildgedächtnis erheblich auf. Die Beschreibung
des Alp-Traumes stellt ein romantisches Szenario des ins bildhaft nach Außen projizierten
Unbewussten dar. Während die Arbeitsfassung noch mehr empirisches Material enthielt,
erscheint das Resultat der Endredaktion deutlich pointierter hinsichtlich der Betonung der im
Traum-Text aufgehobenen poetischen Dimension des Angst-Ganges.
Die grundlegende Bedeutung des Traumes als ästhetischer Kategorie wird in einem anderen
Abschnitt der Autobiografie beschrieben. »Mich hat immer die Erzählstruktur von Träumen
interessiert, das Übergangslose, die Außerkraftsetzung von kausalen Zusammenhängen. Die
Kontraste schaffen Beschleunigung. Die ganze Anstrengung des Schreibens ist, die Qualität
der eignen Träume zu erreichen, auch die Unabhängigkeit von Interpretation. Die besten
Texte von Faulkner haben diese Qualität. Malraux beschreibt FREISTATT als den Einbruch
der antiken Tragödie in den Kriminalroman. Wenn man Faulkner liest, liest man einen Fluss.
Seine Menschen sind Landschaften.« (KOS 298) Was Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT
690
Foucault 1971, 462
296
mit Malraux an Faulkners Texten ausmacht 691 , haben Deleuze/Guattari im Begriff der
»Kriegsmaschine« philosophisch zu fassen versucht: »… wenn man damit aufhört, dem
Fließen eines laminaren Stroms in eine festgelegte Richtung zuzusehen und von einem
wirbelnden Strom mitgerissen wird; wenn man sich auf die kontinuierliche Variation von
Variablen einlässt, anstatt daraus Konstanten abzuleiten.« 692 Das mit dem ›Folgen‹ in
Beziehung stehende Denksystem ist ein »Denken des Außen – ein Gegendenken« 693 . Dieser
an Nietzsche geschulte Typus des Denkens hängt mit einer absoluten Einsamkeit 694
zusammen, die »eine extrem bevölkerte Einsamkeit [ist], wie die Wüste selber, eine
Einsamkeit, die schon mit einem künftigen Volk verknüpft ist, […] die nur durch dieses Volk
existiert, obwohl es noch nicht da ist … [Es ist] ein Denken, das sich mit äußeren Kräften
herumschlägt, statt in eine innere Form gebettet zu sein, das mit Schaltstellen funktioniert,
statt ein Bild herzustellen, ein Ereignis-Denken statt eines Gegenstand-Denkens, ein Problem-
Denken statt eines Substanz- oder Theorem-Denkens. Ein Denken, das sich ein Volk
herbeiwünscht, statt sich für einen Minister zu halten.“ 695 Im Gegensatz zum ›klassischen‹
Bild des Denkens 696 , das mit zwei Universalien operiert – »mit dem Ganzen als Grundlage
des Seins oder als Horizont, der es umgibt, und mit dem Subjekt als Prinzip, das das Sein in
ein Sein für uns verwandelt« 697 – gründet sich diese Form des Denkens weder auf eine
allumfassende Totalität, noch auf das universale, denkende Subjekt, sondern im Gegenteil auf
ein ›grenzenloses Umfeld‹ – das ein glatter Raum ist, ›Steppe, Wüste oder Meer‹ 698 – und auf
eine einzelne ›Rasse‹ 699 .
Im nachfolgenden Kapitelverlauf ist die Rede von den eigenen Regiearbeiten im
Zusammenhang mit DER AUFTRAG: »1980 im dritten Stock der Volksbühne, […] meine
erste Regiearbeit überhaupt, und 1982 in Bochum […] Es war keine Wiederholung, in der
DDR ein Zeitstück, in Bochum ein fernes Märchen.« (KOS 298) Die Aussage impliziert das
Verhältnis der jeweiligen Inszenierungs-Orte zum utopischen Gehalt des Stücks. Während der
Verrat des Debuisson in Ostberlin als aktuelles Dilemma der kommunistischen Revolution
691
Malraux will in seinem Vorwort zur FREISTATT den »psychologischen Zustand [der] Faszination“ in die
Ästhetik eingeführt wissen. Diesem Zustand liege die Einsicht in die »Notwendigkeit« zugrunde, die bei
Faulkner mit der obsessiven Bejahung des »Unabänderlichen« korrespondiere, welche bei ihm allein dazu
diene, »den Menschen zu erdrücken […] Doch nicht um sich davon zu befreien, drückt der tragische Dichter
aus, was ihn fasziniert (das Objekt der Faszination erscheint dann im nachfolgenden Werk), sondern um
dessen Natur zu verwandeln; denn indem er ihm mit anderen Elementen Ausdruck gibt, schafft er ihm
Eingang ins Universum der gestalteten und beherrschten Dinge. Er verteidigt sich gegen die Herzensangst
nicht, indem er sie selbst zum Ausdruck bringt, sondern indem er etwas anderes mit ihr ausdrückt und sie so
ins Universum wieder einführt. Die tiefste Faszination, die des Künstlers, holt ihre Kraft aus dem Umstand,
dass sie gleichzeitig Schrecken ist und die Möglichkeit, ihn begreifend zu gestalten. / Die Freistatt – das ist
der Einbruch der griechischen Tragödie in den Kriminalroman.« (Malraux 1986, 9ff.)
692
Deleuze/Guattari 1992, 512
693
Deleuze/Guattari 1992, 518
694
Müller spricht vom Kommunismus als totaler Vereinzelung – im Gegensatz zum ›Kollektiv der
Konsumenten‹: »Der Kommunismus vereinzelt, der Kapitalismus uniformiert.« (JN 25)
695
Deleuze/Guattari 1992, 518ff.
696
Gemeint ist hier das rationalistische Denken der Aufklärung, das Horkheimer/Adorno in ihrer DIALEKTIK
DER AUFKLÄRUNG als »Organ der Herrschaft« bezeichnen. (s. a. Horkheimer/Adorno 1969, 137)
697
Deleuze/Guattari 1992, 521 (Hervorhebung im Original)
698
s. a. die utopisch codierten Landschaften in Müllers Texten (Tiefsee (HAMLETMASCHINE),
Steppe/Savanne (BILDBESCHREIBUNG, ANATOMIE TITUS) etc.)
699
Rasse wird bei Deleuze/Guattari nicht biologisch definiert, sondern sozial: als unterdrückte Minorität, die,
wie im ›Kafka‹-Buch erläutert, durchaus die quantitativ stärkste Gruppe innerhalb eines sozialen Gefüges
darstellen kann.
297
rezipiert werden konnte (der »real existierende Sozialismus« als Verharren im Status quo
infolge der Aufgabe der in den Staaten des Ostblocks eingekesselten Revolution), blieb dem
Westen allein der Blick auf den exotischen Zirkus der »Erinnerung an eine Revolution«,
deren Zielstellung sie absurder Weise in der real existierenden bürgerlichen Demokratie
längst verwirklicht zu sehen glaubte. Allein dem Erzähler verschafft die Inszenierungsarbeit
eine Differenzerfahrung infolge der Wiederholung: »Wenn man jahrzehntelang Stücke
schreibt, merkt man irgendwann, dass man sich wiederholt. Das Handwerk wird mechanisch.
Bestimmte Wendungen tauchen immer wieder auf, die gleichen Motive. Ein Medikament
dagegen ist, die Texte selbst zu inszenieren. Dann lösen sich die Versteinerungen auf.
Inszenieren ist meine einzige Möglichkeit meine Texte zu vergessen, ein Befreiungsakt, eine
Therapie. Vor und nach der Probe weiß ich sie auswendig, auf der Probe sind sie fremd und
gehören den Schauspielern. Das entspannt wie (umgekehrt) das Übersetzen fremder Texte.
Das eigentliche Schreiben ist ein Kampf gegen den Text, der entsteht.« (KOS 298f.)
Im Fragment einer Arbeitsfassung des Textes aus dem Privatbesitz des Regisseurs Stephan
Suschke finden sich die Aussagen über die Regiearbeiten Müllers im Zusammenhang mit
DER AUFTRAG unter der separaten Kapitelüberschrift »31. Die eigenen Inszenierungen«.
Die oben zitierte Beschreibung der beiden Inszenierungen von DER AUFTRAG in Berlin und
Bochum finden sich als handschriftliche Passage der Reflexion über die eigenen
Inszenierungsarbeit vorangestellt. Es folgt die stark modifizierte Passage der eigentlichen
Reflexion, deren ursprüngliche, unter dem Korpus der letzten redaktionellen Überarbeitung
durchscheinende Gestalt, das AUFTRAGS-Kapitel beschließt: »Das Problem, wenn du über
Jahrzehnte nur schreibst, ist doch, dass man sich wiederholt. Auch bei Shakespeare merkt
man das, weil das ein Riesenopus ist, zweiunddreißig Stücke. Da merkt man, wie oft er sich
wiederholt hat, dass heißt, die handwerklichen Fähigkeiten werden irgendwann mechanisch.
Du merkst nicht mehr, was du tust. Es wird einem einfach todlangweilig, über Dramaturgie
nachzudenken, das ist dann wie Rad fahren, ein Reflex. Aber damit entsteht auch die Tendenz
zur Wiederholung, die man selber gar nicht bemerkt. Nur wenn du mal zurückguckst, merkst
du, wie oft du dich wiederholt hast. Ich meine das gar nicht inhaltlich, thematisch, sondern
formal, bestimmte Wendungen, die immer wieder auftauchen, ganz abgesehen von Motiven,
die immer wieder kommen. Auch bei Shakespeare ist das ganz auffällig, es ist so, wie wenn
du Berufsringer bist und du hast viele Auftritte, immer andere Gegner, aber die Griffe sind
doch irgendwie gleich. Das andere ist, dass die eigenen Sachen für einen selbst fest werden,
versteinern. Das ist auf die Dauer etwas belastend, die Versteinerung der eigenen Produkte.
Ein Mittel dagegen, ein Medikament besteht darin, die Texte zu inszenieren, dann lösen sich
diese Versteinerungen wieder auf. Es wird wieder meine eigene Formbare Masse. Ich habe es
sofort daran gemerkt, dass ich beim Inszenieren plötzlich meine eigenen Texte nicht mehr
auswendig kann. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, meine Texte zu vergessen. Das ist
also auch eine Therapie für mich selber. Ich habe erst spät angefangen, selbst zu inszenieren.
Es wäre auch gar nicht gut, wenn ich mehr machen würde. Jedes Jahr einmal ist das Höchste,
denn ich muss dazwischen schreiben, sonst wird das Schreiben zu unwichtig. Inszenieren ist
eine Entspannung, so ähnlich wie Übersetzen. Viele Leute glauben, dass ich das nur mache,
weil ich keine Lust mehr habe zu schreiben. Das ist Quatsch. Ich brauche das umgekehrt, um
wieder schreiben zu können. Ich muss dieses Zeug auflösen, diese Steine, und das kann ich,
wenn ich es inszeniere. Dann kriege ich ein passives Verhältnis zu den Texten, und dann
werden die Texte auf [einmal] passiv und sind nicht mehr steif. Das Schreiben ist ja auch
298
immer ein Kampf gegen den Text, den ich gerade schreibe. Es klingt absurd, aber es ist
wirklich so. Das Schreiben ist ein Kampf gegen den Text, der entsteht.« 700 Das Schreiben
über einen längeren Zeitraum, insbesondere bedingt durch den permanenten Rückgriff auf
Jahrzehnte alte Stoffe, führt zur Kanalisierung der Denkprozesse, die der Schrift zugrunde
liegen. Die Bahnen in denen dieses Denken verläuft, werden zu Gräben, schließlich furchen
tiefe Schluchten das Denken des Autors, die sein Schreiben dauerhaft perforieren. Doch der
Schreibvorgang bleibt – selbst im Verhältnis zur Inszenierungsarbeit – etwas Lebendiges, das
sich im agonalen Verhältnis zum Ergebnis des eigenen Schreibens – dem Text – manifestiert.
Die Metapher von der Schrift als Schlachtfeld hat Heiner Müller in seiner Autobiografie
geschickt an den Anfang gestellt. Im Bezugsfeld des Zitats aus LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN (»Soll ich von mir reden Ich wer / von wem geht die Rede wenn / von mir
die Rede geht Ich wer ist das«, KOS 9) und dem Eröffnungssatz des ersten Kapitels (»Ich war
eine schwere Geburt«, KOS 13) entsteht, vorzüglich in einer Reihe von Notizen und
Versuchen am Rande der Herstellung einer Druckfassung der Autobiografie, ein dichtes
Geflecht an Metaphern bellizistischen Ursprungs, die sich nicht zuletzt im Titel
niederschlagen. Es entsteht der Eindruck, der poetische Text sei nicht vorderhand Resultat der
Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, sondern zeichnet den Frontverlauf im Kampf um
eine einvernehmliche Existenz mit diesem Gegenstand nach. Das eigentliche Problem ist
eines der Fixierung (Front/Text), die den Gegenstand und die Auseinandersetzung mit ihm im
Schreibprozess tendenziell abschließen will: »Die zu frühe Ordnung beschneidet das
Material.« (GI 2 64) Man möchte dem entgegensetzen: Die zu späte Ordnung ist die Lücke im
Werk. Gelegentlich werden einzelne Textteile aus der Front heraus gesprengt und neuen
Texten, als Brückenköpfe neuer Schlachten, eingestellt. So entsteht eine komplexe
Verweisstruktur, die mitunter eher die Differenzen unter den Wiederholungen sichtbar
macht 701 , als sich in starren Bahnen als identisch zu erweisen. Auch hier werden Erstarrungen
als Befreiungsakte lesbar. Abgesehen davon, dass Texte nicht nur im Theater arbeiten, wird
sich das Verhältnis zur eigenen Schrift von Wort zu Wort wandeln. Denn der Text ist die
Realität des Autors, nicht das Eigentum des Künstlers. In diesem Sinne wäre auch der
abgeschlossene Text kein Totenschrein, sondern ein unendlich fortschreibbares Palimpsest.
700
SUSCHKE 525f., die Zählung wurde mit der Überarbeitung handschriftlich redigiert in 435a und 435b,
während die vorangegangene Passage, die eine Fax-Signatur vom »6. April 1992 / 15:57 Uhr« trägt, von
418 auf handschriftlich 435 geändert wurde. Eine auf der Folgeseite mit der Zählung 435c handschriftlich
überarbeitete Passage über Schauspieler fehlt in KRIEG OHNE SCHLACHT: »Schauspieler in der DDR,
wenn sie gut waren, hatten eine kriminelle Energie. Im Westen wären sie vielleicht Verbrecher geworden, in
der DDR wurden sie Schauspieler.«
701
»Die ewige Wiederkunft bejaht die Differenz, sie bejaht die Unähnlichkeit und das Disparse, den Zufall, das
Viele und das Werden. Zarathustra ist der dunkle Vorbote der ewigen Wiederkunft. Was die ewige
Wiederkunft aussondert, sind eben all die Instanzen, die die Differenz gängeln, die deren Transport durch
Unterwerfung unter das vierfache Joch der Repräsentation anhalten. Erst am Ende ihrer Macht gewinnt sich
die Differenz zurück, befreit sie sich, d. h. durch die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr. Die ewige
Wiederkehr sondert aus, was, indem es den Transport der Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft
selbst unmöglich macht. Was sie aussondert, ist das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Negative
als Voraussetzungen der Repräsentation. Denn die Re-präsentation und ihre Voraussetzungen kehren
wieder, allerdings ein Mal, nur ein einziges Mal, ein für allemal, ausgesondert für alle Male.« (Deleuze
1992, 372)
299
6.19. Brecht 1
»Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.« (W 8 231) Der Satz beschließt den
Text FATZER ± KEUNER, einen Vortrag/Essay, der die Quintessenz Müllers
Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht darstellt und auf den die Darstellung in KRIEG
OHNE SCHLACHT im Wesentlichen, vereinzelt auch wörtlich, zurückgreift. Müllers
poetische Auseinandersetzung mit dem 1898 geborenen Dichter reicht von einem frühen
Stückfragment über den kommunistischen Ringer Werner Seelenbinder, der bei den
Olympischen Spielen 1936 den Hitlergruß verweigert hatte (»Ich schrieb das Stück nach dem
Modell der MUTTER von Brecht. […] Es war eine Brecht-Kopie. Brecht konnte man ja leicht
nachmachen«, KOS 86) über das (gescheiterte) GLÜCKSGOTT-Projekt und die FATZER-
Bearbeitung bis hin zu der grotesken Collage NACHLEBEN BRECHTS BEISCHLAF
AUFERSTEHUNG IN BERLIN und seinem letzten Stück GERMANIA 3 GESPENSTER
AM TOTEN MANN, in dem neben den Stimmen der Brecht-Schüler Peter Palitzsch und
Manfred Wekwerth und dessen drei Witwen Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann und Isot
Kilian auch Brechts eigene Stimme auf- oder vielmehr abtritt. Brecht stellt einen
grundlegenden Anknüpfungspunkt zahlreicher Stücke Müllers dar. Er ist darüber hinaus
Thema etlicher Gedichte. In Interviews kommt Müller immer wieder auf Brecht zu sprechen.
Dennoch wäre es verfehlt, in Müller einen Nachfolger oder gar Epigonen Brechts zu wittern.
Müllers »Brecht« ist zugleich Maske und Figur. In der expliziten sowie impliziten
Auseinandersetzung mit ihr spiegelt sich Müllers Stoff-, Themen- und Formen-Reservoire,
das nur bedingt von Brecht aus- aber immer wieder über ihn hinausgeht. Zugleich dient
Brecht als fiktive Projektionsfläche der poetischen und poetologischen Selbstbefragung.
Müller selbst bezeichnet seinen Brecht als »Kläranlage« (GI 2 27) der eigenen schöpferischen
Möglichkeiten, als Maschine, die multikompatibel in ihrer Funktionsweise, kathartisch in
ihrer Wirkung ist. Dem entspricht die geschichtsphilosophische Umdeutung der
aristotelischen Katharsis bei Brecht/Müller: »die Authentizität des ersten Blicks auf ein
Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen« (W 8 230), wie Müller über
Brechts präideologischen Text FATZER befindet (s. a. W 8 229).
Das Brecht-Bild in KRIEG OHNE SCHLACHT ist geprägt von der jahrzehntelangen
Auseinandersetzung mit Müllers Säulenheiligem, dessen Funktion unter anderem darin
besteht, gelegentlich vom Sockel gestoßen zu werden. Sie reicht von beinahe vorbehaltloser
Identifikation bis hin zu unverhohlener Ablehnung, ist mithin ebenso heterogen wie
ambivalent. Immer wieder rekurriert die Autobiografie auf Brecht, sei es an Schlüsselstellen
des Textes oder auf Nebenschauplätzen, in Form von Textbezügen oder gegründet auf Brecht-
Anekdoten und offenbare Klischees, als direkte Vergleiche oder Kontrastprogramm zur
eigenen Vita. Lange bevor Müller im vierzehnten Kapitel seiner Autobiografie die Spuren, die
der andere prägende Theaterdichter neben Shakespeare und Kleist in seinem Denken und
Werk hinterlassen hat, explizit bündelt und ein weiteres Kapitel auf dasjenige Opus
verwendet, welches den unmittelbaren Anknüpfungspunkt zum eigenen Schreiben darstellt,
das FATZER-Fragment, nimmt er eine Hauptrolle im Spiel der eigenen Biografie ein. Bereits
im Kapitel über »Die ersten Jahre in Berlin« heißt es: »Brecht war die Legitimation, warum
man für die DDR sein konnte. Das war ganz wichtig. Weil Brecht da war, musste man
dableiben. Damit gab es einen Grund, das System grundsätzlich zu akzeptieren. Ein Beweis
für die Überlegenheit des Systems war die bessere Literatur, Brecht, Seghers, Scholochow,
300
Majakowski. […] Brecht war das Beispiel, dass man Kommunist und Künstler sein konnte –
ohne das oder mit dem System, gegen das System oder trotz des Systems.« (KOS 112) Diese
scheinbar gewagte Konstruktion gewinnt an Plausibilität, wenn man sich den Anspruch der
Kunst für die Entwicklung der Gesellschaft, insbesondere den Stellenwert der Literatur in der
SBZ/DDR vor Augen führt. Wenn ein Künstler vom Format eines Brecht in den
sozialistischen Ostteil Deutschlands zurückkehrt, wird hier suggeriert, bedarf es keiner
weiteren Legitimationsdebatten. Die Qualität der Kunst wird zum Ausweis der Wertigkeit
eines gesellschaftlichen Anspruchs. beziehungsweise: ohne den entsprechenden historischen
Auftrag und dem daraus resultierenden »Erfahrungsdruck« kann keine Kunst erwachsen.
»Das war für Brecht auch ein Punkt, dieser Erfahrungsdruck. Der Aufenthalt in der DDR war
in erster Linie ein Aufenthalt in einem Material.« (KOS 113) Eine solche Haltung setzt das
grundsätzliche Einverständnis mit dem ›Gegenstand‹ voraus, zu dem gesellschaftliche
Wirklichkeit hier geronnen scheint. Zugleich gewinnt die Realität den Charakter der
Künstlichkeit, des Virtuellen und somit potenziell Gestaltbaren. Der Anspruch Brechts ist in
Müllers Augen in der Tat gesellschaftlicher, wenn nicht eminent politischer Natur. Auf dem
Weg aus der Schweiz nach Berlin im Jahr 1948 soll Brecht – Müllers Angaben zufolge in
einer durch seinen Schulfreund Herbert Richter überlieferten Anekdote (s. a. WT 75) – vor
Leipziger Studenten sein politisch-ästhetisches Programm für die SBZ erläutert haben: »›Was
dieses Land braucht, sind zwanzig Jahre Ideologiezertrümmerung‹, und er brauche oder wolle
ein ›Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen‹, nur mit Skandalen könnte
man Ideologien zertrümmern.« (KOS 123) Die Skandale, so Brechts Dilemma, »fanden nicht,
als Initialzündung für die große Diskussion, im Theater statt, sondern als Behinderung der
Diskussion, auf den Kulturseiten der Presse. Die neuen Häuser mussten schneller gebaut
werden, als die Keller ausgeräumt werden konnten.« (W 8 226) Das Verdienst Brechts
Theaterarbeit sei »ein heroischer Versuch, die Keller auszuräumen, ohne die Statik der neuen
Gebäude zu gefährden. (Die Formulierung enthält das Basisproblem der DDR-
Kulturpolitik.)« (W 8 227)
Vor dieser (fiktiven) Episode aus dem Jahr 1948 liegt die »Urszene« Müllers Bekanntschaft
mit Brecht, die Ausstrahlung einer (verschollenen) Rundfunksendung über engagierte
Literatur am Beispiel des Katholiken T. S. Eliot und des Kommunisten Bertolt Brecht im
NDR, dem wichtigsten Sender der englischen Besatzungszone. In KRIEG OHNE
SCHLACHT kommt diese Szene nicht vor. »Ich erinnere mich an einen Satz aus dem
Interview mit Brecht: Das Weitermachen, die Kontinuität, schafft die Zerstörung. Brecht hat
das später, in einem Text, der von der Theatersituation im Nachkriegsdeutschland ausgeht,
näher ausgeführt. Die Keller sind noch nicht ausgeräumt, schon werden Häuser neue Häuser
darauf gebaut usw.« (W 8 225) In einem Interview aus dem Jahr 1983 hatte Müller dieses
Zitat um einen Satz erweitert und die Aussage darüber hinaus auf das eigene Schreiben
bezogen: »Man hat sich nie Zeit genommen, die Keller auszuräumen, weil immer neue
Häuser über denselben Kellern stehen. / Das ist auch für mich die Fragestellung.« (GI 2 32)
Die Arbeit im Keller der eigenen Geschichte geriet Müller zur Obsession. Bereits in einem
seiner ersten dramatischen Versuche, der »in den Nachkriegswirren verlorengegangen« ist, ist
von einem jungen Mann die Rede, der seinen Vater umbringt und ihn im Keller seziert. »Das
waren große Monologe, wenn der Knabe seinen Vater im Keller seziert.« (KOS 60) In seinem
Text PROJEKTION 1975 hatte Müller diesem Bild eine poetische Selbstbefragung
vorangestellt und es geschichtsphilosophisch gerahmt:
301
Wo ist der Morgen den wir gestern sahn
Ich lese, was ich vor drei, fünf zwanzig habe, wie den Text eines toten Autors, aus einer
Zeit, als ein Tod noch in den Vers passte. Die Mörder haben aufgehört, ihre Opfer zu
skandieren. Ich erinnere mich an meinen ersten Versuch, ein Stück zu schreiben. Der Text
ist in den Nachkriegswirren verlorengegangen. Es begann damit, dass der (jugendliche)
Held vor dem Spiegel stand und herauszufinden versuchte, welche Straßen die Würmer
durch sein Fleisch gehen würden. Am Ende stand er im Keller und schnitt seinen Vater
auf. Im Jahrhundert des Orest und der Elektra, das heraufkommt, wird Ödipus eine
Komödie sein. (W 1 199)
Die Eingangspassage lässt den »Morgen« einer neuen Zeit hinter den »Höllen der
Aufklärung« und dem »Blutsumpf der Ideologien« (W 8 334) verschwinden. Das
emanzipatorische Potenzial, das virtuell immer gegenwärtig ist, wird durch den Terror jeden
Fortschritts widerlegt. Die eigenen Texte werden als Teil dieses Prozesses betrachtet. Sie sind
nicht länger in der Lage, die (notwendigen) Opfer zu zählen, geschweige denn zu
legitimieren. Sie generieren vielmehr die Erinnerung an einen verlorengegangenen, nur mehr
in der Erinnerung präsenten Text. Doch der Rückzug auf den eigenen Körper und den
vermeintlichen Vorgang seiner Auflösung gibt keinen Aufschluss über die Frage nach dem
Verlust der Sinnzusammenhänge. Mit der Untersuchung der eigenen historischen
Voraussetzung (Obduktion des Vaters) wird der Geburtsfehler zumindest lesbar. Ödipus, der
andere Vatermörder und Inbegriff der tragischen Ironie, gerät zur abendländischen
Lachnummer angesichts der Konfliktlage, die die aus ihren Exilen (Elektras innere
Emigration, Orests Flucht nach Phokis) heimkehrenden, den Vatermord rächenden Kinder des
Agamemnon heraufbeschwören. Aus den Kellern des Mythos machen sich die Erinnyen auf,
um Orest erneut in die Flucht zu schlagen. Eine abgeklärte Lösung des Konflikts durch die
Zementierung im Status quo der Wiedersprüche, wie sie Aischylos in seinen Eumeniden unter
Zuhilfenahme des Deus ex Machina vornahm, dürfte Müller kaum vorgeschwebt haben. Im
Gegenteil treibt Müller – mit und ohne Brecht – immer neue Gespenster aus den Kellern
hervor. Und wie im FATZER-Fragment verzeichnet, kommen die nicht mehr nur aus der
Geschichte, sondern zunehmend auch aus deren off: »Wie früher Geister kamen aus
Vergangenheit / so jetzt aus Zukunft ebenso.« 702
Bevor der Dichter Brecht in die Welt des Lesers Müller einbricht, beschäftigen ihn die Welten
anderer Autoren. Neben den Literaturgeschichten des Chemnitzer Literaturwissenschaftlers
Albert Soergel 703 , dessen Standardwerk IM BANNE DES EXPRESSIONISMUS (1925)
702
KOS 361. Das Zitat taucht in zahlreichen Varianten und immer neuen Zusammenhängen im Spätwerk
Müllers auf: »Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft, ebenso« (W 6 104) »Wie
früher Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft ebenso.« (GI 3 128) »WIE FRÜHER
GEISTER KAMEN AUS VERGANGENHEIT / SO JETZT AUS ZUKUNFT EBENSO« (JN 62) In
Brechts Fragment heißt es: »Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft, ebenso /
Klagend beschwörend und ungreifbar / Einzig bestehend aus dem Stoff deines eigenen Geists / Seiner
Furcht zuvorderst.« (Brecht-BFA 10, 465)
703
Es handelt sich bei den von Müller erwähnten Büchern um die überaus populären und auflagenstarken
302
Müller in seiner Autobiografie als »erste Informationsquelle« (KOS 82) bezeichnet, macht er
sich mit dem Surrealismus, Hemingway und Faulkner vertraut. Durch den Filter von Sartre
und Anouilh mutet ihm Brechts MUTTER COURAGE »sehr grau und trocken« (ebd.) an. Ein
Auszug aus DIE RUNDKÖPFE UND DIE SPITZKÖPFE erscheint da »schon interessanter«
(ebd.). Doch mit der Übersiedlung nach Berlin ändert sich das distanzierte Verhältnis zu
Brecht »und es gab kein anderes Ziel mehr, als zum Berliner Ensemble zu gehören und da zu
arbeiten. Gott sei Dank ging das schief.« (ebd.) Die spätere Erkenntnis speist sich aus dem
Wissen um das tragische Schicksal der Brechtschüler. Überdies hätte Müllers Talent im Sog
Brechts vermutlich stark gelitten. »Es war für mich ein Traum damals, zum Berliner
Ensemble zu gehören. Der Traum war nicht realisierbar, was ich hinterher gut fand, denn es
war schwer, im Dunstkreis einer solchen Person wie Brecht selbständig zu arbeiten und zu
sich selbst zu kommen. Das ist auch den wenigsten gelungen.« (Müller 1992, 8) Die
persönlichen Begegnungen verlaufen eher unspektakulär. »Ich war zweimal bei Brecht,
einmal in seinem Haus in Weißensee. Es gab aber kein Gespräch, er hatte keine Zeit oder
musste weg. […] Das zweite Mal war ich bei ihm im Berliner Ensemble und habe ihm
Gedichte gezeigt.« (KOS 82). Mit dem Satz, »Gehen Sie zur Rülicke.« (KOS 83), ist das
kurze Intermezzo der persönlichen Bekanntschaft bereits beendet. »Ich war unfähig, eine
Fabel aufzuschreiben, und damit fiel ich durch.« (KOS 84) Das Werner-Seelenbinder-Stück,
das Müller daraufhin beim Berliner Ensemble einreicht, zieht eine erneute Demütigung nach
sich. Bei einem Gespräch mit Mitarbeitern Brechts erfährt er neben dem was er bereits weiß,
»dass am Berliner Ensemble natürlich nur die Besten Platz hätten«, auch die Neuigkeit, dass
er dazu »leider nicht gehörte« (ebd.). Als Reflex auf die frühe Enttäuschung reagiert Müller
nicht mit einer Abwendung von Brecht, sondern mit einer Rückwendung zum Brecht der
zwanziger und frühen dreißiger Jahre, beziehungsweise zu jenem Aspekt seines Werkes, den
er im Gegensatz zum altersweisen Klassizismus des »chinesischen« Brecht als »gotisch« oder
schlicht als »deutsch« bezeichnet. Dieser »gotische Brecht« finde sich in den Knittelversen
des ANTIGONE-Vorspiels, im FATZER-Fragment, im FALLADAH-Gedicht, aber auch im
späten AUFBAULIED (Müller zitiert die Verse: »Keiner plagt sich gerne, doch wir wissen /
Grau ist’s immer, wenn ein Morgen naht« 704 ) und in den Texten, die »Brechts Traumfeind«
(KOS 87) Hitler gewidmet sind.
Im »Brecht«-Kapitel bildet dieser spezifische Bezug auf eine bestimmte Traditionslinie im
Werk Brechts den Ausgangspunkt der Darstellung: »Mein Verhältnis zu Brecht ist selektiv
von Anfang an. Es gibt eine Linie, die bei Brecht durchgeht und die mich interessiert. Das ist
die gotische Linie, das Deutsche. Ein klassisches Beispiel ist das schon erwähnte Gedicht ›Oh
du Falladah, da du hangest‹ 705 . Das ist sehr deutsch, und es ist sehr zerrissen, eben nicht
Publikationen des Chemnitzer Literaturwissenschaftlers Albert Soergel (1880–1958): Dichtung und Dichter
der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leipzig 1911; ders.: Im Banne des
Expressionismus. Dichtung und Dichter der Zeit. Neue Folge. Leipzig 1925; ders.: Dichter aus deutschem
Volkstum. Dichtung und Dichter der Zeit. Dritte Folge. Leipzig 1934
704
KOS 86f. Abweichende Interpunktion bei Brecht: »Keiner plagt sich gerne, doch wir wissen: / Grau ist’s
immer, wenn ein Morgen naht« (Brecht-GW 10, 955)
705
Wie bereits an der Textstelle im früheren Kapitel ersichtlich, wird hier ein Falschzitat tradiert. In der
Arbeitsfassung des Manuskripts der Autobiografie aus dem Nachlass Müllers ist der Brechttitel O
FALLADAH, DIE DU HANGEST! (Brecht-GW 8, 61) noch gegenwärtig; dort heißt es: »Fallada, die du
hangest« (HMA 4487, 288). Die Abweichende Schreibung wird auf die Abschrift der Tonbänder
zurückzuführen sein. Von hier aus erfolgt eine Bedeutungsverschiebung vom Titel des Brecht-Gedichtes zu
dem Märchen DIE GÄNSEMAGD aus der Sammlung der KINDER- UND HAUSMÄRCHEN der Brüder
303
heiter, beruhigt, römisch, klassisch, chinesisch.« (KOS 225) Aus diesem Grunde sei »die
wichtigste Werketappe […] die Zeit vom Ende der 20er Jahre bis 1933. Erst viel später, in
Brechts ersten Jahren in der DDR, gab es das dann wieder, zum Beispiel im ›Aufbaulied‹.«
(ebd.) Und auch FATZER darf in dieser Aufzählung nicht fehlen, der Text, dem Müller im
Zusammenhang mit der Bearbeitung in seiner Autobiografie ein eigenes Kapitel widmet
(»FATZER-MATERIAL, 1978, und QUARTETT, 1981«). »›Fatzer‹ ist natürlich der beste
Text von Brecht überhaupt, die Essenz einer nachbürgerlichen Erfahrung. […] Brecht selbst
hat zuletzt erklärt, ›Fatzer‹ sei technisch der höchste Standard gewesen, daneben die
›Maßnahme‹. Es geht um diesen technischen Standard. Technischer Standard ist ein Begriff,
der ohne Großstadt, ohne Industrie nicht denkbar ist. Der beliebte Brecht aber ist der
agrarische, der vorindustrielle Brecht, der junge Wilde oder der Klassiker, stalinistisch
gebremst.« (KOS 226) Müller arrangiert das Werk Brechts in KRIEG OHNE SCHLACHT
wie bereits in früheren Texten über den Dichter entlang einer Linie, die von gegensätzlichen
Attributen determiniert wird. Hier der gotisch-deutsche Brecht, mit dem er sich weitgehend
identifiziert, dort die Kritik des vorindustriell-agrarischen, stalinistisch gebremsten, respektive
klassisch-römisch-chinesischen Brecht. Begründet wird die Ablehnung des Letzteren
historisch mit der Unterbrechung des Kontaktes zum »Blutstrom« einer genuin deutschen
Tradition, wie Müller sie etwa in Brechts Knittelvers ausmacht: »Dann gibt es noch einen
andern Aspekt in den Texten, die ich meine, bis zum ›Antigone‹-Vorspiel, die ›deutschen‹
Knittelverse, die eine ungeheure Gewalt haben. Das ist so wie ein Anschluss an einen
Blutstrom, der durch die deutsche Literatur geht, seit dem Mittelalter; und das Mittelalter war
die eigentlich große deutsche Zeit. Im Mittelalter gab es eine deutsche Kultur, als etwas
Einheitliches. Danach zerfiel das in Regionen, dann in private Provinzen. Aber es gab nie
mehr diese kulturelle Einheit, die deutlich in der bildenden Kunst erkennbar ist. Darüber hat
der Brecht gelegentlich auch ganz gut geschrieben. Die Bauernkriege, das größte Unglück der
deutschen Geschichte. Dann kam der Dreißigjährige Krieg, und danach gab es diese Gesichter
nicht mehr in Deutschland, Gesichter wie bei Cranach, wie bei Dürer, so etwas wie einen
Volkscharakter. Nur im Sturm und Drang kam das noch mal hoch, bei Büchner sowieso, bei
Lenz ganz extrem, Kleist ist ein Sonderfall.« (KOS 226f.) Die Konstruktion eines
idealisierten Mittelalters entspringt einer romantischen Tradition, die die Aufhebung der
Ganzheitlichkeit in einer von der kapitalistischen Produktionsweise segmentierten Lebenswelt
beklagt. Thomas Münzer und in gewisser Weise auch Martin Luther, die an der Schwelle des
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit stehen, galten in der Geschichtsschreibung der DDR
als Vorreiter einer sozialistischen Revolution, die auf deutschem Boden nie stattgefunden hat.
In einem Gespräch mit Uwe Wittstock für die »FAZ« Mitte der achtziger Jahre hatte Müller
ausgehend von Brechts Anmerkungen zu MUTTER COURAGE 706 bereits den
Zusammenhang zwischen den Bauernkriegen und der Geschichte des Scheiterns
Grimm, auf das sich Brechts Gedicht zweifellos bezieht. Dort bringt der ans Tor geschlagene Pferdekopf
eines sprechenden Rappen mit Namen Falada die Wahrheit über die Identität der Gänsemagd/Königstochter
ans Licht und führt deren betrügerische Kammerjungfer ihrer Strafe zu. »O du Falada, da du hangest«,
sprach die Jungfrau zu dem Pferdekopf unter dem Tor und erhält zur Antwort: »O du Jungfer Königin, da
du gangest, / wenn das deine Mutter wüsste, / ihr Herz tät ihr zerspringen.« (Grimm 1969, 329) In Müllers
Autobiografie wird somit zugleich der auf einer Geschlechtsumwandlung (des Pferdes) beruhende Brecht-
Titel wieder ins rechte Licht gerückt.
706
»In den Bauernkriegen, dem größten Unglück der deutschen Geschichte, war, was das Soziale betrifft, der
Reformation der Reißzahn gezogen worden. Übrig blieben die Geschäfte und der Zynismus.« (Brecht-GW
4, 1443)
304
revolutionärer Bestrebungen auf deutschem Boden hergestellt: »Mit dem Bauernkrieg, dem
größten Unglück der deutschen Geschichte, wurde der Reformation der Reißzahn gezogen.
Ich halte diesen Akzent für wichtig. Die Bauernkriege sind die früheste Revolution in Europa
gewesen und wurden deshalb am massivsten niedergewalzt. Davon hat sich dieses Volk nicht
erholt. Dann kam der Dreißigjährige Krieg, der den Volkscharakter wiederum niedergewalzt
hat. Auch davon hat sich Deutschland nie erholt. Dann hatten wir 1848 eine letzte Chance,
den Anschluss an Europa zu gewinnen. Doch die bürgerliche Revolution ist auch
niedergebügelt worden. So hat Deutschland nie den Anschluss an Europa gefunden. Und nun
hängt das Land immer zwischen Ost und West, und immer hat es Angst, keine Identität zu
haben. Und aus der Angst, keine Identität zu haben, entsteht der Todestrieb. Also der Wunsch,
auszulöschen oder ausgelöscht zu werden.« (GI 1 179f.) Noch 1995 kommt Müller ausgehend
von Brechts Anmerkung zur MUTTER COURAGE auf den Topos dieses Todestriebes
zurück, der, blickt man auf Müllers Auseinandersetzung mit Geschichte im Allgemeinen und
deutscher Geschichte im Besonderen, zugleich einen zentralen thematischen Aspekt seines
Schreibens darstellt: »… jeder europäische Krieg fand letztlich in Deutschland statt. Daraus
entstand das Suizidäre und die Flucht aus der Gegenwart in die Ewigkeit.« (MARTERPFAHL
50)
Der Blick auf den Titel Müllers Autobiografie legt den Verdacht nahe, dass der permanente
Kriegszustand mitunter sogar die Quelle des Diktats ist, das Müller unablässig
mitstenografiert – als Transformation der Militärmaschine in die Schreibmaschine. Wie stark
Müllers Geschichtsbild von der Brechtschen Konstruktion geprägt ist, spiegelt sich in der
Häufung der Bezugnahmen auf diesen Kontext in einer Vielzahl von Gesprächen (einer
bevorzugten Äußerungsform Müllers letzten Lebensjahrzehnts) und anderen Texten wider.
Das Gedicht AJAX ZUM BEISPIEL enthält die Verse: »In den Bauernkriegen dem größten
Unglück / Der deutschen Geschichte las ich kopfschüttelnd / Im Stand der Unschuld
neunzehnachtundvierzig / Wie kann eine Revolution ein Unglück sein / In Brechts
Anmerkungen zur MUTTER COURAGE / Wurde der Reformation der Reißzahn gezogen /
Heute kann ich die Fortsetzung schreiben Der / Französischen Revolution in den Kriegen
Napoleons / Der sozialistischen Frühgeburt im Kalten Krieg« (W 1 292f.) Als Folge der
Niederschlagung der Bauernkriege sei das erneute Scheitern der Revolution im Jahr 1948 zu
sehen. »Herausgekommen ist ein nationaler Kompromiss zwischen Bourgeoise und Adel. Das
Ergebnis ist die beste Militärmaschine Europas. Und dann 1918 die Enthauptung der
deutschen Arbeiterbewegung, der Tod Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts. Damit war
der Anschluss der deutschen Arbeiterbewegung an Moskau – die Abhängigkeit von Lenin –
programmiert. Und die DDR war nur noch eine Grenzbefestigung von Stalin« (GI 3 91). Die
Kausalisierung weit auseinander liegender historischer Ereignisse resultiert aus dem Blick des
Archäologen, der schräg das Erdreich des Geschichteten durchdringt und scheinbar
Unzusammenhängendes zu bündeln versteht. Nicht nur die zitierten Verse legen Zeugnis
davon ab, das zwischen der Rezeption und der Erkenntnis gelegentlich Jahrzehnte (in diesem
Falle vier) liegen können.
Eine andere Facette, die Müller an Brecht explizit interessiert, ist das A-Moralische. »Er ist
auch am besten, wenn er böse ist. Die berühmte Freundlichkeit ist Programmmusik.« (KOS
87) Die berühmte Freundlichkeit hatte auch Brecht denjenigen NACHGEBORENEN
305
vorbehalten, die »der finsteren Zeit […] entronnen« 707 sich einst glücklich schätzen dürften.
Sie impliziert den Imperativ eines Gedenkens, das sich in zwei Richtungen ausbreitet. Die
Herstellung eines Zustandes jenseits der »finsteren Zeit«, in der das lyrische Ich gefangen ist
einerseits, auf der anderen Seite von dort aus die bewahrende Erinnerung an jene, die den
Gang aus der Finsternis einstmals angetreten haben. In seinem frühen BRECHT-Gedicht
entlarvt Müller Brechts Haltung als anachronistisch, indem er die (moralischen)
Voraussetzungen des Gedichts einfach relativiert: »Wirklich, er lebte in finsteren Zeiten. / Die
Zeiten sind heller geworden. / Die Zeiten sind finstrer geworden. / Wenn die Helle sagt, ich
bin die Finsternis / Hat sie die Wahrheit gesagt. / Wenn die Finsternis sagt, ich bin / Die
Helle, lügt sie nicht.« (W 1 37) Als Paradigma Brechts Bösartigkeit führt Müller erstaunlicher
Weise gerade jenen Text ins Feld, den er selbst als letztes auf die Bühne des Berliner
Ensembles bringen sollte und der ihm irrtümlich als glatteste – und erfolgreichste 708 –
Inszenierungsarbeit geraten sollte. Durch die Inszenierung von GERMANIA 3
GESPENSTER AM TOTEN MANN, die den Erfolg Brechts ARTURO UI relativieren sollte,
machte Müller der Tod einen Strich. Müller hielt den UI für einen eher mittelmäßigen Brecht-
Text (»sicherlich nicht Brechts größter Text«, GI 2 118), der »viel Mechanisches,
Pennälerhaftes, Travestie« (KOS 227) enthalte. Die bösen Stellen, heißt es in KRIEG OHNE
SCHLACHT, seien die großen und – unter neuerlicher Bezugnahme auf das Gedicht AN DIE
NACHGEBORENEN – »nicht die freundlichen« (ebd.). »Der Terrorismus ist die eigentliche
Kraft, der Schrecken. Deswegen war der Hitler als Gegner ganz wichtig für ihn, auch formal.
Das war ein Idealfeind. Benjamin beschreibt das gut, diesen Grabenkampf Brechts gegen
Hitler. Das ist die gleiche Art von Bosheit, da war eine ungeheure Affinität. Man merkt das
noch in den Agitationsgedichten gegen Hitler, diesen bösen Ton. Interessant ist Brecht eben
nicht als Aufklärer.« (KOS 227) Generell beklagt Müller: »Brechts aufklärerische Pose
gegenüber dem Mythos. Die vorsätzliche Blindheit für die dunklen Seiten der Aufklärung,
ihre Schamteile.« (KOS 205) In den Tonbandaufzeichnungen der autobiografischen
Interviews ist daher von Brecht als einer »sehr kalkulierdene[n] Begabung« im Verhältnis zur
»Freiheit und Blindheit« (TA 72) gegenüber dem Material der Bearbeitung die Rede. In der
Arbeitsfassung aus dem Nachlass schließt sich an den letzten Satz des obigen Zitats ein
Appendix an: »interessant ist er als Terrorist, der gleichzeitig mönchisch ist, diese Einheit von
Mönch und Terrorist.« (HMA 4487, 291) Durch die zugleich fiktive wie reale Gegnerschaft
zu Hitler werde die Kulinarisierung Brechts im Einzugsbereich Hollywoods zumindest
unterlaufen. Vorgeprägt findet sich die Argumentation, derer sich Müller in der Autobiografie
bedient, in einem Gespräch mit Frank Raddatz über hedonistische Aspekte im Werk Brechts
aus dem Jahr 1988. Müller zitiert dort die selbe Passage aus dem UI (»Mein Bein ist kurz,
wie? So ist’s dein Verstand / Jetzt geh mit guten Beinen an die Wand.« 709 ). Indem er eine
Linie von GALILEI über UI, zu CORIOLAN und FATZER zieht, beschreibt er das Böse
zugleich als »Substanz« und »Herzton« (GI 2 118) Brechts Werk. »Zum Genießen gehört
Bosheit, Rücksichtslosigkeit.« (ebd.) Die Betonung des terroristischen Impulses Brechts
Hedonismus’ korrespondiert der von Müller gelegentlich geäußerten »Lust an der
707
Brecht-GW 9, 724
708
Bei Redaktionsschluss der vorliegenden Arbeit über 500 Aufführungen.
709
KOS 227. Die Druckfassung des Raddatz-Interviews weicht von dem Zitat in Interpunktion, Vers und
Metrik ab: »Mein Bein ist kurz wie / so ist es dein Verstand, jetzt geh mit guten Beinen an die Wand.« (GI 2
118) Bei Brecht heißt es: »Mein Bein ist kurz, wie? So ist’s dein Verstand! / Jetzt geh mit guten Beinen an
die Wand!« (Brecht-GW 4, 1810)
306
Katastrophe« (GI 1 55), die als Voraussetzung ästhetischer Produktion begriffen wird: »Das
Einverständnis mit dem Schrecken, mit dem Terror gehört zur Beschreibung.« (KOS 290)
Hier wähnt Müller einen direkten Anknüpfungspunkt. In einem Gespräch aus dem Jahr 1982
weist er darauf hin, dass es dieser Werkaspekt ist, in dessen Tradition er die eigene Arbeit
verortet wissen will. Im Spiegel selektiver Brecht-Nachfolge konstituiert sich das Bild des
»Katastrophenliebhabers« (KOS 281): »Es gibt Texte von Brecht, die überhaupt nicht
ernstgenommen werden. Und das sind die Besten. Fatzer. Etwas anderes gibt es überhaupt
nicht. Alles weitere danach war Kompromiss. […] Ich habe da angefangen, wo Brecht
aufgehört hat. Aber ich finde das ist eine absolut realistische Position.« (GI 1 128f.)
Als »unmittelbarer Anschluss an Brecht« (KOS 229) wird in KRIEG OHNE SCHLACHT
Müllers Stück DER LOHNDRÜCKER bezeichnet. Wie beim Fatzer handle es sich bei
Brechts BÜSCHING-Fragment über den »Helden der Arbeit« Hans Garbe um einen Stoff, an
dem Brecht weniger aus individualgeschichtlichen, als aus objektiv historischen Gründen
gescheitert sei. Brechts Entwurf »ging von der falschen Voraussetzung aus, dass es in der
DDR eine intakte Arbeiterklasse gäbe« (ebd.), doch der Wirklichkeit der DDR sei mit
»klassischen marxistischen Kategorien« (ebd.) nicht beizukommen gewesen. »Er sagte, der
Garbe hätte nicht die Bewusstseinsskala, die er, Brecht, für den Protagonisten eines Stückes
brauche, und deswegen reiche das höchstens für einen Einakter. Er hat nicht verstanden, dass
der Protagonist im Kontext DDR verschwunden war.« (KOS 230) Bei der Begründung des
Scheiterns durch Brecht greift Müller in seiner Autobiografie beinahe wörtlich auf den Text
FATZER ± KEUNER zurück: »Mit der Bemerkung, das ganze reiche nur für einen Einakter,
er, Brecht, sähe keine Möglichkeit, seinem Helden die Ausdrucksskala zu verleihen, die er
brauche, um ein Stück zu schreiben, wurde das ›Büsching‹-Projekt zunächst aufgegeben.« (W
8 228) Sieht Müller den objektiven Grund für Brechts Scheitern in dem früheren Essay in der
historisch-gesellschaftlichen Situation Deutschlands begründet (»Die Revolution in der DDR
konnte nur für die Arbeiterklasse gemacht werden, nach Dezimierung der Avantgarde,
Depravierung der Masse, Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs im Osten Deutschlands und in
der Sowjetunion – nicht von ihr«, W 8 227), kommt der Befund nach dem vollkommenen
Scheitern des sozialistischen Experiments und der Tilgung der sozialistischen Staaten von der
europäischen Landkarte in der Autobiografie um einiges nüchterner daher. Von einem
›Arbeiter-und-Bauern-Staat‹ geht nun die Rede, »der nur eine Behauptung war, wie der
Sozialismus, ein Phantom.« (KOS 230) Schließlich, so Müller, sei Brecht in der bürgerlichen
Dramaturgie befangen gewesen: »sein Fabelbegriff war letztlich gebunden an die Präsenz
eines Protagonisten.« (ebd.) Trotz dieser Abgrenzung des eigenen Entwurfs gegen denjenigen
Brechts (»Ich habe dann ganz instinktiv ein Stück ohne Protagonisten geschrieben«, ebd.)
stellt sich Müller, was die Kritik seines Stücks betrifft, in dessen Tradition. Sie wird als
Fortsetzung des Kampfes »gegen Brecht und die Folgen« (KOS 108) interpretiert. Überhaupt
vermittelt die Beschreibung der offiziellen Kritik Brechts in der DDR den Eindruck einer
spiegelbildlichen Vorwegnahme der Müller-Kritik, sie impliziert – argumentativ bis in die
Terminologie hinein – die spätere Kritik an Müllers eigener Arbeit. Bis zu einem gewissen
Grad mag das der ideologisch vorgefertigten Totschlagargumentation (Dekadenz,
Formalismus, Revanchismus, Kollaboration mit dem Klassenfeind etc.) der Kulturbehörden in
der DDR geschuldet sein. In dieser Ausprägung erscheint das aus der Nachwendesicht indes
nicht zwingend. Es geht Müller offenbar vielmehr um die nachträgliche Subsumierung der
eigenen Repressions- und Verbotsgeschichte unter eine Idee, die unter den Händen ihrer
307
Repräsentanten längst zur Farce mutiert war. Brecht muss demzufolge nicht nur als
Legitimation herhalten, für die DDR zu sein, sondern gleichsam als Position, Kommunist und
Künstler zu sein, »ohne das oder mit dem System, gegen das System oder trotz des Systems.«
(KOS 112) So wird Brecht zu einem sehr frühen Zeitpunkt als maßgebliche Figur im Spiel
der DDR-Kulturpolitik in die Autobiografie eingeführt, und zwar als diejenige des Schwarzen
Peters. Anlässlich des ersten Schriftstellerlehrgangs, an dem Müller teilnimmt, heißt es:
»Damals begann schon der Kampf gegen Brecht. Brecht war Formalist, dekadent, ein
Abweichler.« (KOS 58) Seine Prominenz kann ihn selbst vor den kulturpolitischen Attacken
der SED-Führung kaum schützen. Er ist alles andere als unangreifbar. Wie viele Künstlern,
die aus der Emigration in den Ostteil Deutschlands zurückgekehrt waren, musste auch Brecht
für seine Loyalität gegenüber der SBZ/DDR teuer bezahlen. »Brecht war der Antichrist. Das
Theater hatte er auch nur gekriegt, weil die Russen es befohlen hatten. Er war tief
verdächtig.« (KOS 83) Im Rahmen des zweiten Lehrgangs in Bad Saarow bei Berlin darf der
spätere Kulturminister Johannes R. Becher seinem Dichterkollegen Brecht sogar den
Grabsegen erteilen: »›Brecht ist ein großer Dramatiker, ein bedeutender Dichter, aber das ist
ein Endpunkt, da geht nichts weiter.‹ Das war ganz wichtig für ihn und auch für die DDR dass
von da nichts ausgehen durfte.« (KOS 92) Seinen Kulminationspunkt erreicht der
Kulturkampf innerhalb der SED mit dem 5. Plenum des ZK der SED im März 1951 710 , das
»Brecht als dekadent entlarvt, als volksfremd, wegen der MUTTER. Grotesk.« (KOS 115)
Gut zehn Jahre später wird Müller selbst aus dem Schriftstellerverband der DDR
ausgeschlossen: ein Ereignis, das Müller hinsichtlich ästhetischer Spätfolgen Brechts Gang
ins skandinavische, dann amerikanische Exil vergleicht.
Die Stücke Brechts, die nach 1933 entstanden, sind in Müllers Augen vor allen Dingen
Dokumente ästhetischen Scheiterns, »Gerinnungsmittel gegen den Fluss der Dinge« (GI 2
66). Mit der Flucht, »im Abgeschnittensein von der konkreten Situation in Deutschland, in der
Entscheidung für Stalin, nicht mit Churchill, gegen Hitler« (GI 2 57), habe Brecht das
Vertrauen ins ästhetische Experiment verloren. Die Parabelstücke seien konsequente Reaktion
auf die Situation Deutschlands nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. »Für Brecht
bedeutete die Austreibung aus Deutschland, die Entfernung von den deutschen
Klassenkämpfen und die Unmöglichkeit, seine Arbeit in der Sowjetunion fortzusetzen: die
Emigration in die Klassizität. […] Hollywood wurde das Weimar der deutschen
antifaschistischen Emigration. Die Notwendigkeit über Stalin zu schweigen, weil sein Name,
710
Im März 1951 verabschiedete das 5. Plenum des ZK der SED die Entschließung über den »Kampf gegen
den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur«. Als »formalistisch« galt
Kunst, bei der die Form über den Inhalt dominierte. Was unter »Formalismus« genau zu verstehen war, ist
jedoch nie exakt definiert worden. Der Vorwurf lief vor allen Dingen darauf hinaus, dass die Kunst der
gesellschaftlichen Realität nicht gerecht würde, sondern die subjektive Meinung des Künstlers darstelle.
Zugleich wurde den »Kunstschaffenden« aufgetragen, die engste Verbindung mit dem Fünfjahresplan
herzustellen und in diesem Zusammenhang deren Zurückbleiben hinter den wirtschaftlichen und politischen
»Erfolgen« kritisiert. »Große Unzufriedenheit« über den Stand von Kunst und Literatur äußerte die SED-
Führung immer wieder. In die Mühlen der Formalismuskampagne geriet auch Bertolt Brecht. Am 2. Mai
1951 beauftragte das Politbüro Wilhelm Girnus, »mit Bert Brecht eine ständige politische Arbeit
durchzuführen und ihm Hilfe zu leisten«. Die Folgen der Formalismuskampagne, die selbst Kurt Hager aus
der Rückschau »engstirnig« nannte, zeigten sich vor allem in den nach sowjetischem Vorbild geschaffenen
Kontrollinstrumenten wie der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und dem Amt für Literatur
und Verlagswesen (ALV). Seine Arbeit als kulturpolitische und ideologische Aufsichtsinstanz trug dem
ALV den Ruf ein, ein »Amt für Literaturverhinderung« zu sein. (s. a. Beate Ihme-Tuchel: Die SED und die
Schriftsteller 1946 bis 1956. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bd. 13/2000)
308
solange Hitler an der Macht war, für die Sowjetunion stand, erzwang die Allgemeinheit der
Parabel.« (W 8 223) Fortan halte die Fabel das Material im Würgegriff und verkürze es
unzulässig. Doch auch nach dem Gang ins Exil gelinge Brecht der Rückzug in die
Idealkonstruktion der Parabel nicht immer ungebrochen. So sei er in LEBEN DES GALILEI
und nach dem Krieg in DIE TAGE DER COMMUNE vom Material gezwungen worden,
seine Dramaturgie zu ändern. In diesen Stücken seien ihm die Masken ausgegangen. Zugleich
heißt es in KRIEG OHNE SCHLACHT: »Ohne Hitler wäre aus Brecht nicht Brecht
geworden, sondern ein Erfolgsautor. DREIGROSCHENOPER, MAHAGONNY, das wäre
glänzend weitergegangen, aber Gott sei Dank kam Hitler, dann hatte er Zeit für sich.« (KOS
187) Doch Entwürfe wie den FATZER lässt der »Idealfeind« nicht mehr zu. Der
»Grabenkampf Brechts gegen Hitler« gleicht der Sisyphosarbeit des kafkaschen Maulwurfs:
»Mit der Stirn also bin ich tausend- und tausendmal tage- und nächtelang gegen die Erde
angerannt, war glücklich, wenn ich sie mir blutig schlug, denn dies war ein Beweis der
beginnenden Festigkeit der Wand, und habe mir auf diese Weise, wie man mir zugestehen
wird, meinen Burgplatz wohl verdient.« 711 Ebenso trügerisch wie die Ruhe des Burgplatzes
erscheinen Müllers Blick die Idealkonstruktion der Parabel und die Modellinszenierungen des
Berliner Ensembles. »Was ausfiel war die Gegenwart, die Weisheit das zweite Exil.« (W 8
231) Nach Brechts Tod werden die Modelle ins Museum gestellt. »Das Berliner Ensemble
war nach Brechts Tod leider nur eine Grabstätte.« (KOS 227) Den wenigsten Mitarbeitern
Brechts sei es gelungen dem Dunstkreis des Meisters zu entkommen. »Das war auch ein
Grund dafür, warum das nach seinem Tod ein museales Theater wurde. Der einzige, der dem
Brecht kritisch gegenüberstand und stehen konnte, war Brecht.« (Müller 1992, 8) Hatte die
Intendantin Ruth Berghaus im Laufe der siebziger Jahre versucht, »aus dem Museum wieder
ein Theater zu machen« (KOS 248), sei es nach ihrer Ablösung 1977 in seinen
Dornröschenschlaf zurückgesunken. »Bei Wekwerth wurde es ein geschlossener Raum, in
dem Kirchengeschichte stattfand.« (KOS 249) Die ästhetische Exhumierung und Autopsie
versucht Müller 1992 als Direktoriumsmitglied selbst: »Und jetzt, glaube ich, ist eine
Situation, wo man aus den Trümmern dieses Ensembles wieder etwas anderes, neues, aber mit
den besten Traditionen dieses Ensembles machen kann.« (Müller 1992, 8) Gemeint ist das
Programm »Shakespeare, Brecht und Müller« (W 8 496)
Als eine Ausnahme und den Höhepunkt Brechts eigener Theaterarbeit beschreibt Müller die
HOFMEISTER-Inszenierung von 1950: »Das war absolut deutsch, also der Anschluss an die
Blutpumpe, an die deutsche, über das Stück von Lenz im Sturm und Drang.« (HMA 4487,
291) In der Eintragung vom 22. Dezember 1949 schreibt Brecht in seinem
ARBEITSJOURNAL: »das stück gibt unsern jungen schauspielern möglichkeiten. Zugleich
geht es auf die linie in den anfängen der deutschen klassik zurück, die den shakespeare
aufnimmt, und kann also eine vorstudie zu einer neuen spielweise des shakespeare
abgeben.« 712 Am 5. März des Folgejahres notiert er zum HOFMEISTER: »das ist der weg
zum shakespeare, der rückweg; so viel ist von ihm im deutschen begriffen worden.« 713 Müller
nimmt diesen Faden in KRIEG OHNE SCHLACHT auf, indem er die Linie Shakespeare –
Lenz um Brecht erweitert: »Der Knittelvers ist die einzige deutsche Versform, die originäre
deutsche Versform vor dem Blankvers. Aber den Blankvers kann man nur über Shakespeare
711
Franz Kafka: Der Bau. In Ders.: Das Werk. Ffm. 2004 (Zweitausendeins), 940–968, hier 942
712
Brecht 1993, 559
713
Brecht 1993, 560
309
revitalisieren. Brecht war eine Zwischenstation, ein Agent Shakespeares.« (KOS 227) Die
unmittelbare, geradezu physische Wirkung auf das Publikum, hervorgerufen durch den
gezielten Einsatz einer Vielzahl von Theatermitteln (Licht-Dunkel-Effekte, Sturm, Musik,
Verwüstung der Bühne, Wildheit der Gesten und der Stimme, plötzliche Stille der
Folgeszene) kommt in der Arbeitsfassung Müllers Autobiografie noch stärker zu Geltung als
später im Drucktext: »Es gab in dieser Inszenierung eine Szene, die Kastrationsszene, also
Gewitter, richtig großes Theatergewitter, Nacht, und der Hofmeister kastrierte sich in einem
langen Monolog, reißt sich einen roten Latz aus der Hose und schneidet den ab. So etwas
habe ich nie wieder im Theater erlebt. Der Moment ging einem sofort in den Schwanz, das ist
klar, auch mit diesem Text, bei dieser Sprechweise. Ein ganzes Publikum, das die Luft
anhielt. Das war wirklich enorm. Und das passierte – was Brechts Stücke angeht – eigentlich
ganz selten.« (HMA 4487, 292) In einer Szenenanalyse aus dem Band THEATERARBEIT,
der Regiearbeiten Brechts modellhaft dokumentiert, ist von der beschriebenen Drastik der
Szene kaum noch etwas enthalten. Dort heißt es: »Am Schluss, in dem Abreißen des Rockes,
wurde die Wildheit sichtbar, welche die Konterrevolution immer zeigt.« 714
Eine Anekdote, die Brechts Tod mit der Verhaftung des Philosophen Wolfgang Harich in
Verbindung bringt, beschließt das Brecht-Kapitel Müllers Autobiografie. »Wolfgang Harich
war verhaftet worden, die Brecht-Witwen berieten mit der Frau von Harich, die Brechts letzte
Geliebte gewesen war, was man tun könnte. Dann kam Fritz Cremer mit vier Arbeitern vom
Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf mit dem Stahlsarg für Brecht. Der war in Hennigsdorf nach
einem Entwurf von Cremer angefertigt worden, Cremer hatte aber vergessen, Maß zu
nehmen. Er hatte nun Angst – es war der erste Abguss von dem Stahlsarg –‚ dass Brecht nicht
hineinpasst, wie Wallenstein, dem ja die Verschwörer die Beine brechen mussten, weil der
Sarg zu klein war. Und die Weigel, die eine praktische Frau war, ersuchte einen der
Werktätigen, der ungefähr die Statur von Brecht hatte, sich probeweise in den Sarg zu legen.
Der Sarg passte. Dann zogen sie mit dem Sarg wieder ab. Das war ›Die Maßnahme‹ 1956.«
(KOS 231) Dass sich Müllers Darstellung nicht mit den empirischen Tatsachen in Deckung
bringen lässt, vielmehr um eine poetische Bewältigung der historischen Vorgänge bemüht ist,
zeigt der Blick auf den Kalender. Brecht, der am 14. August 1956 gestorben war, wurde
bereits am 17. August auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Harichs
Verhaftung erfolgte erst Ende November. In Müllers Anekdote werden die zeitgeschichtlichen
Ereignisse wie in einem Brennpunkt miteinander gebündelt und kausal aufeinander bezogen.
Der Tod Stalins 1952 und der Sturz Berijas im Jahr darauf, die vierstündige Geheimrede
Chruschtschows vom 25. Februar 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU, die
Niederschlagung des Ungarn-Aufstands am 4. November 1956 (mit der Referenz auf den 17.
Juni 1953) und die daraufhin ins Werk gesetzte Restalinisierung in den osteuropäischen
Volksdemokratien bilden den Kontext für die Verhaftung Harichs. Infolge der partiellen
Publikation seiner Schrift »Plattform über den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus«
in westdeutschen Medien, in der er sich unter Einfluss von Lukács, Brecht und Bloch für den
»dritten Weg«, einen von der Sowjetunion unabhängigen »menschlichen Sozialismus«
einsetzt, kommt es kurz nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes zu seiner
Verhaftung. 1957 wird er zu zehn Jahren Zuchthaus wegen »Bildung einer konspirativen
714
Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.): Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Dresden
1952, 89
310
staatsfeindlichen Gruppe« verurteilt. Als MASSNAHME 1956 taucht die in der Autobiografie
tradierte Anekdote in Müllers letztem Stück Germania 3 Gespenster am toten Mann wieder
auf. Während die Verhaftung Harichs im Radio verkündet wird, befinden sich die drei Brecht-
Witwen Kilian (Harichs Frau), Weigel und Hauptmann im Disput um die Haltung ihrer
Männer zu den politischen Ereignissen (17. Juni 1953, Ungarn 1956). Während Kilian mit
Brecht dafür plädiert, Harich politisch beizuspringen (»Er hat gesagt: wenn sie Panzer
schicken / Weil ihnen nichts mehr einfällt, unser Platz / Ist auf der Barrikade. Mit dem Volk /
Gegen die Panzer« W 5 278), sind Weigel und Hauptmann dagegen, die Existenz des
Theaters aufs Spiel zu setzen. Immerhin sei Brecht anders als 1953 (»Er hat seine Mütze /
Gezogen vor den Panzern Dreiundfünfzig«, ebd.) klug genug gewesen, sich der
Stellungnahme zu den politischen Ereignissen 1956 durch seinen Tod zu entziehen. »Wir
retten das Theater oder ihn [Harich]. / Der Abgrund ist der gleiche Mann ist Mann. /
Gefängnis oder Sarg. Der Tod war pünktlich. / Er ist gestorben, als für ihn die Zeit war / Um
ungewaschen in den Tod zu gehen. / Gewusst wann. Immer schon war er der Klügste. / Man
steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss / Man zieht die Mütze nicht zweimal vor Panzern.«
(W 5 279f.) Der Konflikt – kritische Loyalität gegenüber dem antifaschistisch legitimierten
Staat (»Das Volk, wenn es gefragt wird / Wählt Hitler«, W 5 278) versus unmittelbare
Einmischung in politische Belange (»Vielleicht sollte man das Volk / Noch einmal fragen, das
war seine Meinung. / Und vielleicht wählt das Volk dann nicht mehr Hitler / Sondern den
Sozialismus. Und nicht Ulbricht«, ebd.) – spiegelt sich in der Probensituation zum
CORIOLAN, Brechts Auseinandersetzung mit dem Problem des Stalinismus. Über
Lautsprecher lässt Müller die Stimmen der Brecht-Schüler Wekwerth und Palitzsch über die
Interpretation Brechts hinterlassener Shakespeare-Bearbeitung streiten:
311
perspektivisch zu öffnen: »Wann kommen wir drei uns wieder entgegen / In Blitz und Donner
Sturm und Regen / Wenn der Wirrwarr stille schweigt / Wer der Sieger ist sich zeigt« (W 5
288), skandieren die drei Brecht-Witwen. Dass Müller den Sieger, wie Eke mutmaßt, »mit
dem Untergang des Sozialismus« 715 implizit bereits gekürt hätte, ist ein Irrtum. Schließlich
eröffnen die Hexen mit ihrem wiederholten Reigen lediglich eine neue Runde des
fortwährenden Kampfes blutiger »Vorgeschichte« (W 8, 258). Bevor die Museums-Insel
»Berliner Ensemble« sich zur Bühne für die PARTY der Folgeszene verwandelt, spricht der
Dichter aus dem off: »Aber von mir werden sie sagen Er / Hat Vorschläge gemacht Wir haben
sie / Nicht angenommen / Warum sollten wir / Und das soll stehn auf meinem Grabstein und /
Die Vögel sollen drauf scheissen und / Das Gras soll wachsen über meinen Namen / Der auf
dem Grabstein steht Vergessen sein / Will ich von allen eine Spur im Sand.« (W 5 288) Man
ist geneigt, mit Foucault hinzuzufügen, eine Spur, »die verschwindet wie am Meeresufer ein
Gesicht im Sand.« 716 Die Replik zitiert und korrigiert Brechts Gedicht ICH BENÖTIGE
KEINEN GRABSTEIN und nimmt es damit ernster, als Brechts lyrischem Ich recht gewesen
sein dürfte: »Ich benötige keinen Grabstein, aber / Wenn ihr einen für mich benötigt /
Wünschte ich, es stünde darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie
angenommen.« 717 Nur indem Brecht vergessen, von ihm abgesehen wird, ist er wieder
sinnvoll zu »gebrauchen«. Die »Materialschlacht Brecht gegen Brecht« (W 8 230), die in der
Formel FATZER ± KEUNER aufgehoben ist, bleibt die kohärenteste Art und Weise mit
seinen Texten umzugehen. Müller führt es in seinem letzten Stück vor – ohne Brecht zu
verraten.
6.20. Brecht 2
Das »FATZER«-Kapitel Müllers Autobiografie ist das zweite Kapitel, das sich explizit mit
Brecht befasst, in diesem Fall ausgehend von dessen FATZER-Fragment, mit dem Müller
seiner eigenen Darstellung gemäß in den fünfziger Jahren zum ersten Mal in Berührung
gekommen sei: »seitdem war FATZER für mich ein Objekt von Neid. Das ist ein
Jahrhunderttext, von der sprachlichen Qualität her, von der Dichte.« (KOS 309) In einer
früheren Manuskriptfassung der Autobiografie in Müllers Nachlass (HMA 4484), die dem
Arbeitsstand der umfangreichen Arbeitsfassung mit der Signatur HMA 4487 entspricht, sind
die Teile des vierundzwanzigsten Kapitels (»FATZER-MATERIAL, 1978 und QUARTETT,
1981«) getrennten Kapiteln zugeordnet (»23. FATZER« und »24. QUARTETT 1981«). Der
weit umfangreichere FATZER-Komplex, einer der poetisch dichtesten Textteile in KRIEG
OHNE SCHLACHT überhaupt, wird 1994 unter dem Titel FATZER-MATERIAL 1978 in
der Suhrkampausgabe Müllers Bearbeitung von Brechts DER UNTERGANG DES
EGOISTEN JOHANN FATZER separat abgedruckt.
Bereits 1967 hatte sich Müller gemeinsam mit Alexander Stillmark und Guy de Chambure an
Vorgesprächen zu einem geplanten, dann geplatzten, FATZER-Projekt des Berliner
715
Eke 1999, 265
716
Foucault 1971, 462
717
Brecht-GW 10, 1029
312
Ensembles beteiligt 718 . Doch erst mit der Arbeit an einer eigenen Fassung gewinnt das
Potenzial des Brecht-Textes volle Konsistenz für Müllers Schreiben. Müllers
Auseinandersetzung mit Brechts FATZER ist in der Tat vergleichbar mit derjenigen
Shakespeares HAMLET. Wie die HAMLETMASCHINE den Höhe- und zugleich End-Punkt
einer obsessiven Beschäftigung mit Shakespeares Text darstellt, markiert die Bearbeitung von
Brechts zwischen 1926 und 1930 geschriebenem und mit der Teilpublikation im ersten Heft
der Versuche abgeschlossenem FATZER-Fragment einen Wendepunkt in Müllers
Brechtrezeption. Sowohl HAMLET als auch FATZER bilden im Werk Müllers
Kulminationspunkte des künstlerischen Selbstverständnisses. Folglich nehmen DIE
HAMLETMASCHINE und DER UNTERGANG DES EGOISTEN JOHANN FATZER auch
als Zeugnisse poetischer Selbstverständigung eine zentrale Rolle im Schaffen Müllers ein:
»FATZER war für mich wichtig, um eine Phase abschließen zu können. Jetzt stehe ich vor
dem Nichts und muss etwas Neues finden. Vom LOHNDRÜCKER bis zur
HAMLETMASCHINE ist alles eine Geschichte, ein langsamer Prozess von Reduktion. Mit
meinem letzten Stück HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden.« (GI 1 54) In
NOTATE ZU FATZER schreibt Müller übereinstimmend: »Für mich ist eine Phase
abgeschlossen, und diese Arbeit mit dem FATZER-MATERIAL gehört zu diesem Abschluss.
Jetzt muss ich einen neuen Ansatz finden. Die historische Substanz ist für mich jetzt unter
dem Gesichtspunkt, unter dem ich sie versucht habe zu notieren – verbraucht.« (W 8 201f.)
Im Rückblick erscheint eine solche Periodisierung als willkürliche Konstruktion. Dass nun
mit dem Abschluss der Arbeit am FATZER-MATERIAL, die laut Müllers Auskunft im engen
Zusammenhang mit Karge/Langhoffs Inszenierung Kleists PRINZ FRIEDRICH VON
HOMBURG am Deutschen Schauspielhaus Hamburg 1978 stand, sein Interesse an dem Stoff
erloschen sei, erweist sich mit Blick auf eine Hörspielfassung anlässlich Brechts neunzigsten
Geburtstags 1988 sowie Müllers erster Inszenierung am Berliner Ensemble im Jahr 1993 als
Fehlschluss.
Der selbstbenannte Nullpunkt, Ergebnis der intensiven Auseinandersetzung mit dem Material
trägt den Keim zu einer Dramaturgie jenseits Brechts und/oder Shakespeares in sich, die
jedoch nicht losgelöst von den anderen Autoren im Sinne einer Voraussetzungslosigkeit
existiert. Zugleich rekurriert die »neue Dramaturgie« auf die Wahrnehmung des
gesellschaftlich-politisch Kontexts, aus dem heraus die eigene Arbeit begriffen wird: »Es
besteht keine Substanz für einen Dialog mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muss
eine andere Möglichkeit finden, die Probleme der Restaurationsphase darzustellen.« (GI 1 54)
Die Aussage »keine Geschichte mehr« ist nicht der Terminologie einer verfrüht ausgerufenen
»Postmoderne« geschuldet. Sie impliziert vielmehr die komplementäre Aussage: Geschichte,
die ihrer Erscheinungsform noch harrt, die von einem ›kommenden Volk‹ (Deleuze)
abgerufen werden wird. Damit wird Brechts FATZER nicht nur zum Nullpunkt, sondern
synchron zum Brennpunkt einer Linie, die Müller wie einen Querschnitt durch die deutsche
Kunst seit dem späten Mittelalter zieht, indem er sie entlang einem politischen Aspekt
anordnet. »Was an FATZER wichtig ist, das hängt zusammen mit dem Fragment-Charakter.
Da geht es gar nicht um Literatur, da geht es um Geschichte und Politik. Und was wichtig ist,
ist der Fragment-Charakter der deutschen Geschichte, der dazu führt, dass so ein Stück, das
ganz unmittelbar mit deutscher Geschichte zu tun hat, Fragment bleibt. Der Fabelansatz von
718
s. a. Stillmark 1972, 253–255
313
Brecht: vier Leute desertieren aus dem Ersten Weltkrieg, weil sie glauben, die Revolution
kommt bald, verstecken sich in der Wohnung des einen, warten auf die Revolution, und die
kommt nicht. Und nun sind sie ausgestiegen aus der Gesellschaft. Da es keine besseren, keine
expansiven Möglichkeiten gibt für ihre angestauten revolutionären Bedürfnisse, radikalisieren
sie sich gegeneinander und negieren sich gegenseitig. Das ist eine große Formulierung einer
Situation, die sich in der deutschen Geschichte immer wieder ergeben, immer wiederholt hat.
Also die Isolierung der Linken seit den Bauernkriegen. Das ist ein deutsches Thema. Und da
drin steckt noch ein noch viel älteres. Es ist wichtig für die Wirksamkeit von Theatertexten,
dass möglichst viele alte Modellsituationen vorkommen: die NIBELUNGEN-Situation, ein
Faust-Entwurf, DIE RÄUBER, DANTON. Es gibt von Brecht keinen einzigen anderen
Entwurf, kein ausgeführtes Stück, das diesen Ansatz aufnimmt oder fortsetzt.« (W 8 201) Der
Anschluss an die mythologische Struktur des FATZER-Fragments (»alte Modellsituationen«),
die unter der textarchäologischen Draufsicht Müllers zum Vorschein kommt, ist mit einem
Hinweis auf die kultische Funktion (»Wirksamkeit«) der Literatur, des Theaters,
beziehungsweise der Kunst im weitesten Sinne verknüpft. Darin besteht die »Interessantheit
des Fragmentarischen« (W 8 200), die Müller an Brechts gescheitertem und deshalb in seinen
Augen erst recht gelungenen »Versuch« FATZER ausmacht. »Das FATZER-Fragment ist
schon deshalb bedeutsam, weil Brecht irgendwann bemerkt hat, dass er daraus kein Ganzes
machen kann, und es dann als Experimentierfeld benutzt hat. Er hat daran gearbeitet, ohne auf
ein Resultat zu zielen, ohne darauf zu sehen, dass etwas Verkäufliches daraus wird. Das
ermöglichte eine ungeheure Freiheit im Umgang mit dem Material. Zugleich blieb der
Prozesscharakter gewahrt. Denn die Fragmentarisierung verhindert das Verschwinden der
Produktion im Produkt, die Vermarktung.« (GI 1 50) Stattdessen sei FATZER »ein
inkommensurables Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung. […] Der Text ist
präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den
Denkprozess. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken
der ersten Erscheinung des Neuen. Mit den Topoi des Egoisten, des Massenmenschen, des
neuen Tiers kommen, unter dem dialektischen Muster der marxistischen Terminologie,
Bewegungsgesetze in Sicht, die in der jüngsten Geschichte dieses Muster perforiert haben.«
(W 8 229f.)
Die Authentizität der Brechtschen Textur zielt auf einen Typus der Wahrnehmung, den
Müller explizit als FATZER-Erfahrung kennzeichnet: »ftz experience – notwendigkeit die /
stühle unter sich wegzusprengen die / einem untergeschoben werden« (HMA 3538). Da der
Denkprozess vor den Schranken des Individuums nicht halt macht, wird das Individuum
einem Prozess permanenten Wandels eingestellt. Der Boden sicherer Tatsachen ist vermintes
Gelände, denn: »Das zu schnelle Wissen verhindert Erfahrung« (HMA 3547). Nur wer bereit
ist, den Boden der Tatsachen zu verlassen und in den Fluss zu steigen, wird auf den »Grund
der Dinge« 719 gelangen. »Wir aber raten euch: seid / Einverstanden. Denn so geschieht es /
Wie ihr hier saht, und nicht anders / Flüchtet nicht. Wer / Gegen den Strom schwimmt, dem /
Fließt das Wasser ins Maul und / Erstickt ihn« 720 . Eine Sprache aufzuspüren, die sich im
Fluss befindet, jenseits der permanenten Reproduktion des Identischen, ist die
719
Benjamin-GS II, 509
720
Brecht-BFA 10, 498
314
Herausforderung der Literatur. 721
Eine in Müllers Bearbeitung dem Chor zugewiesene Passage, die im Wesentlichen
Bruchstücke des bereits von Brecht konzipierten FATZERKOMMENTARS montiert 722 ,
rekonstruiert das Eigeninteresse Müllers an der Bearbeitung des Neid-Objekts FATZER und
dokumentiert seine Einverleibung in den Textkorpus des Autors Müller.
»FATZERDOKUMENT 10 / PROJEKTION: BRECHT // Zerstörung des Zimmers / Der Zeit
/ Das Ganze, da ja unmöglich / Einfach zerschmeißen / Für Experiment – ohne Realität / Zur
Selbstverständigung / Alles, was heute gedacht wird, ist / Nur, damit gut erscheine, was alles
gemacht / Wird! Alles was heute gemacht wird, ist falsch, also ist alles, was / Heute gedacht /
Wird, falsch / Der Zweck, wofür eine Arbeit gemacht wird, ist nicht mit jenem Zweck /
Identisch, zu dem sie verwertet wird / Die Erkenntnis kann an einem anderen Ort gebraucht /
Werden, als wo sie gefunden wurde.« (W 6 121) Im Sinne der Dialektik uneingelöster
Arbeiten an einer Geschichte, deren Anspruch im Historischen wurzelt, lässt sich auch das
»Kunstprodukt« FATZER (ebenfalls im Sinne einer noch einzulösenden Arbeit) als Gespenst
aus der Zukunft beschreiben, von Müller fünfzig Jahre nach seiner Entstehung/seinem
Scheitern erneut auf den historischen Prüfstand gehoben, um unter den gegeben historisch-
konkreten Bedingungen des Kalten Krieges erneut zu scheitern. Das Scheitern ist die
einzuübende Geste des Experiments FATZER: »Der Geschlagene entrinnt nicht / Der
Weisheit. / Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke doch! Auf dem Grunde / Erwartet
dich die Lehre« (W 6 141), heißt es in FATZER, KOMM, dem auf den KOMMunismus
ebenso wie auf das KOMMende verweisenden Schlusschor der von Brecht publizierten
Fassung. Benjamins FATZER-KOMMentar zu dieser Textstelle schien auch Müller wichtig:
»Im Hoffnungslosen soll Fatzer Fuß fassen. Fuß, nicht Hoffnung. Trost hat nichts mit
Hoffnung zu schaffen. Und Trost gibt Brecht ihm: Der Mensch kann im Hoffnungslosen
leben, wenn er weiß, wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin leben, weil sein
hoffnungsloses Leben dann wichtig ist. Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der
Dinge gelangen.« 723 Dorthin etwa, wo Müllers Ophelia bereits der Zeit ihrer Geschichte harrt
(s. a. W 4 553f.).
DUELL TRAKTOR FATZER, Müllers erste Inszenierung am Berliner Ensemble (1993),
führte mittels Umkehrung der Chronologie historischer Referenzen Geschichte im Krebsgang
vor: Von WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE V: DER FINDLING (1968) über
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE III: DAS DUELL (1953), TRAKTOR (1945ff.) hin zu
FATZER (1917); hinzu kamen Texte aus Shakespeares Stücken STURM und MACBETH,
ein Brief Bucharins sowie – als Bandeinspielung während der Pause – MOMMSENS
BLOCK. Die Umkehrung des Zeitstrahls befreit die Texte aus einem tagesaktuellen
Bezugssystem und legt eine Struktur frei, die das Denken eines anderen Ablaufs ermöglicht.
Im Gespräch mit dem Dramaturgen Alexander Weigel über die Perspektiven eines vereinigten
721
»Man ist gezwungen zu folgen, wenn man auf der Suche nach den ›Singularitäten‹ einer Materie oder
vielmehr eines Materials ist und es nicht darauf abgesehen hat, eine Form zu entdecken; wenn man der
Schwerkraft entkommen und ein Gebiet der Geschwindigkeit betreten will; wenn man damit aufhört, dem
Fließen eines laminaren Stroms in eine festgelegte Richtung zuzusehen und von einem wirbelnden Strom
mitgerissen wird; wenn man sich auf die kontinuierliche Variation von Variablen einlässt, anstatt daraus
Konstanten abzuleiten.« (Deleuze/Guattari 1992, 511f.)
722
s. a. Brecht-BFA 10 514, 528
723
Benjamin-GS II, 509, s. a. GI 2 58
315
Deutschlands für »Sinn und Form« beschreibt Müller seine Inszenierung von MAUSER,
QUARTETT und DER FINDLING 1991 am Deutschen Theater Berlin als »eine Reise aus
der Vergangenheit rückwärts in die Gegenwart, denn die Vergangenheit liegt vor uns und die
Zukunft, die in der Gegenwart eingeschlossen war, hinter uns« (GI 3 123). Der
Geschichtsschreiber auf dem Theater will ein glücklicherer Angelus Novus sein als DER
GLÜCKLOSE ENGEL seiner Gedichte. Als rückwärts gewandter Prophet etabliert er die
»Geschichte auf dem Theater […] als Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft« (GI 2 63). Im »FATZER«-Kapitel seiner Autobiografie spart Müller einen Satz aus
Fatzers zweiter »Rede vom Massenmenschen« aus, um ihn am Ende seiner Autobiografie
umso wirkungsvoller aufblitzen zu lassen: »Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / So
jetzt aus Zukunft ebenso.« (KOS 361) Der Satz, an den Müller immer wieder anknüpft, findet
sich bei Brecht (ausschließlich) in der als 3. Arbeitsphase rekonstruierten Textstufe. In der
Textfassung FATZER, 3, die 1930 im ersten Heft der VERSUCHE erscheint, sucht man diese
Zeilen vergeblich: »Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft,
ebenso / Klagend beschwörend und ungreifbar / Einzig bestehend aus dem Stoff deines
eigenen Geists / Seiner Furcht zuvorderst. Denn immer Furcht / Zeigt an, was kommt, direkt
vom Aug / Geht ein Strang zur Furcht. Dieser Geist des Massenmenschen lähmt mich
besonders / Seine Art ist mechanisch / Einzig durch Bewegung zeigt er sich // Jedes Glied
auswechselbar, selbst die Person // Mittelpunktlos // Nicht Geist ist’s, was ihm fehlt zur
Vollkommenheit / Sondern nur Stoff // Diese Zeit wird nur vier Jahre dauern …« 724 In
Müllers Bearbeitung lautet die Passage nahezu identisch. Abweichungen unterliegt die
Interpunktion. In der zweiten Verszeile hat Müller eine Erweiterung (»lähmend«)
vorgenommen, die sich auf die achte bezieht, in der vierten eine Veränderung des
Possessivpronomens. Lediglich die letzte Zeile verleiht dem Text eine grundsätzlich neue
Bedeutung hinsichtlich der zeitlichen Perspektive. Sie wird ins Endlose gedehnt. »Wie früher
Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft, ebenso / Klagend, beschwörend,
lähmend und ungreifbar / Einzig bestehend aus dem Stoff seines eigenen Geists / Seiner
Furcht zuvorderst, denn immer Furcht / Zeigt an, was kommt, direkt vom Aug / Geht ein
Strang zur Furcht. Dieser Geist des Massenmenschen / Lähmt mich besonders / Seine Art ist
mechanisch / Einzig durch Bewegung zeigt er sich. / Jedes Glied auswechselbar, selbst die
Person / Mittelpunktlos. / Nicht Geist ists, was ihm fehlt zur Vollkommenheit / Sondern nur
Stoff. / Diese Zeit wird nur vier Jahre dauern / Oder vier mal tausend.« (W 6 104f.) Die
bereits bei Brecht vollzogene Wendung des aristotelischen Katharsis-Begriffs in eine
geschichtsphilosophische Perspektive (»denn immer Furcht / Zeigt an, was kommt«) ist in
diversen Abwandlungen und Zusammenhängen eines der häufigsten Brechtzitate Müllers
Œuvre (s. a. W 4 259, W 8 208, 212, 230).
Um das Jahr 1990 häufen sich jedoch die Zugriffe auf die ersten Verszeilen. Die
Mittelpunktlosigkeit des Massenmenschen enthält einen Hinweis auf Kleists Text ÜBER
DAS MARIONETTENTHEATER, in dem modellhaft der Verlust des Schwerpunkts (= der
Seele) infolge der Verwandlung von ›Grazie‹ in ›Ziererei‹ verhandelt wird. Einen
unmittelbaren Anschluss daran stellt Müllers Preisrede anlässlich der Entgegennahme des
Kleist-Preises vom November 1990 dar. Bereits der Titel, DEUTSCHLAND ORTLOS.
ANMERKUNG ZU KLEIST, ist ein Hinweis auf die historische Situation seiner Entstehung
724
Brecht-BFA 10, 465f.
316
im Nicht-Raum des gesellschaftlichen Anspruchs der »Chancengleichheit« (GI 1 71, 133 u.
160f.), den Müller mit dem Ende der DDR aus der Raum-Zeit-Kontinuität herauskatapultiert
sieht. Sein Deutschland, ein Modell, das die Emanzipation des Menschen vom Kapital
zumindest denkbar erscheinen lässt, ist in den ungreifbaren Raum der Utopie entschwunden:
»Eine Zeitmauer ist gefallen, und wir alle stehen sozusagen über Nacht in einem Raum mit
unbekannten Dimensionen […] WIE FRÜHER GEISTER KAMEN AUS
VERGANGENHEIT / SO JETZT AUS ZUKUNFT EBENSO.« (W 8 382) In dem oben
bereits erwähnten Gespräch mit Alexander Weigel zitiert Müller die Brechtverse erneut (s. a.
GI 3 128). Noch in einem der späten Gespräche mit Alexander Kluge (ANTI-OPER, 1993)
kommt Müller wiederholt auf das FATZER-Zitat zurück (s. a. LV 135). In einer
Nachlassnotiz wird die Gravitationskraft des Geister-Topos im FATZER-MATERIAL noch
einmal explizit unterstrichen: »wichtigst: d. Hinweis auf das Gespenstische (d. ›Gespenst‹ des
Kommunismus)« (HMA 3547) Vor dieser Folie erscheint es bemerkenswert, dass Müller im
Zusammenhang mit der Entstehung seiner FATZER-Bearbeitung Ende der siebziger Jahre im
Interview eben jene Reflexion der Figur Fatzer über den »Massenmenschen« zitiert – unter
Aussparung der Anfangsverse (s. a. GI 1 50f.).
Die Topoi des Egoisten, des Massenmenschen und des neuen Tieres, »das / Geboren wird,
den Menschen aus- / zulösen« 725 , entstammen Müller zufolge Brechts Berührung mit der
Großstadt. »Brecht kam nach Berlin, wohnte in einer Mansarde, ein Stadtplan von Berlin war
an die Wand geheftet. Brecht hat Fähnchen gesteckt, wo sich kommunistische Zellen bildeten,
das Warten auf die Revolution …« (KOS 309) Mit dem Erstarken und schließlich dem
Machtantritt der Nationalsozialisten, hätten sich diese Hoffnungen endgültig zerschlagen. Die
Erfahrung dieses Scheiterns sei der Grund für Brechts in Müllers Augen genialen Wurf:
»FATZER ist das Beste, was in diesem Jahrhundert geschrieben worden ist für die Bühne und
das Beste von Brecht. Diese Höhe hat er nie wieder erreicht. Und sie war nur zu erreichen aus
diesem ungeheuren Druck heraus, an diesem Nullpunkt.« (GI 2 28) Dabei sei sich Brecht im
Klaren darüber gewesen, dass der Nationalsozialismus alles andere als ein politisches
Intermezzo werden würde. »Er war einer von den wenigen, die über die Dauer der nächsten
Periode, also des Nationalsozialismus, keine Illusionen hatten. Die meisten linken
Intellektuellen dachten, das geht ein paar Monate, Hitler ist ein Idiot, das ist ein kurzer Spuk.
Brecht hat das später einmal so formuliert: ›In der Roten Fahne stand noch ›Wir werden
siegen‹ da hatte ich mein Geld schon in der Schweiz.‹« (KOS 309) Müller hatte diese Position
bereits im Gespräch mit Wolfgang Heise 1986 formuliert: »Und was mich interessiert daran
[an FATZER], ist der Nullpunkt, den er erreicht hat. Einfach aus seiner genaueren,
pessimistischen Einsicht in den Gang der Dinge. Vor 1933. […] Er wusste, was kommt,
besser als die meisten anderen Linken. Und er hatte auch nicht die Illusion über die kurze
Dauer dieser Sache.« (GI 2 57) In KRIEG OHNE SCHLACHT projiziert Müller den Begriff
vom poetischen »Nullpunkt« des FATZER-Materials auf den politischen »Nullpunkt« der
Ermordung Liebknechts und Luxemburgs im Zuge des Spartakistenaufstands im Januar 1919
zurück. Brecht habe gewusst, »dass das eine Enthauptung war, die Enthauptung der deutschen
Kommunistischen Partei, ihre Auslieferung an Lenin. Ein Blick auf den Nullpunkt des
Jahrhunderts. Fatzer sagt vor seiner Erschießung durch die Kameraden/Genossen: ›Von nun
an und für eine lange Zeit, / wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur
725
Brecht-BFA 10, 427f.
317
noch Besiegte.‹« 726
Im Zusammenhang mit derselben Fatzer-Replik ist vom »Furchtzentrum« (s. a. GI 2 57) des
Brecht-Fragments die Rede. Der Topos des Furchtzentrums korrespondiert wiederum einer
zentralen Szene des Stücks, die ausgehend von Fatzers sexueller Verfehlung (Schwängerung
der Kaumann), die das Kollektiv zu sprengen droht, zur Internalisierung des ursprünglich
nach außen gerichteten revolutionären Terrors führt und steht damit in direktem
Zusammenhang mit Lenin, beziehungsweise der Revolution in Russland. Im
FATZERDOKUMENT 9 heißt es:
Chor liest: Furchtzentrum des Stücks. Während der Hunger sie anfällt, geht das
Dach über ihren Köpfen weg, verlässt sie ihr bester Kamerad und spaltet sie der Sexus.
Hin und her schwankende Entschlüsse. Anarchie, Verwilderung. Dann konstituiert sich
eine Art Sowjet. Die Uneinigkeit führt zum System der Stimmenmehrheit. Beschluss
gegen das Besitzrecht, für die Freiheit der Frau. Für Terror.
Koch Zu schwach, uns zu verteidigen, gehen wir / Zum Angriff über.
Chor liest: Unter dieser Devise kämpft Koch angesichts des vorhandenen
Interesses der Umwelt für sie immer verzweifelter für die revolutionäre Tätigkeit. Koch
begrüßt also alle auftauchenden Schwierigkeiten – Abfall Fatzers, steigende
Aufmerksamkeit des Hauses, Hunger, sexuellen Individualismus, Besitztrieb Kaumanns
undsoweiter und verwendet sie bewusst zynisch: für die Revolutionierung.
Schluss: die NÖP. 727
Die Szene zitiert den revolutionären Bürgerkrieg im Augenblick der Umklammerung durch
die imperialistischen Staaten. Die Neue Ökonomische Politik (NÖP) 728 dient als Mittel gegen
die vollständige Isolierung: Im FATZER wird den wartenden Freiern der sich im Dienst der
Revolution prostituierenden Kaumann aus dem KOMMUNISTISCHEN MANIFEST
vorgelesen. Das neunte FATZERDOKUMENT beschreibt damit die dialektische Aufhebung
der Revolution in ihrer Institutionalisierung. An die Stelle des revolutionären Kampfes tritt
der Terror nach innen, der sich die konterrevolutionären und also zu überwindenden Kräfte
726
KOS 309f. In Müllers FATZER-Bearbeitung heißt es: »Ich weiß nicht, wer siegt / In diesem Kampf / Wer
aber immer siegt – Fatzer ist / Verloren. Als ihr zweifeltet an mir / War ich verloren. / Und von jetzt ab und
eine ganze Zeit über / Wird es keinen Sieger mehr geben / Auf eurer Welt, sondern nur mehr / Besiegte.«
(W 6 139) Brecht schreibt: »Ich weiß nicht, wer siegt / In diesem Kampf / Wer aber immer siegt – Fatzer ist
/ Verloren. / Und von jetzt ab und eine ganze Zeit über / Wird es keinen Sieger mehr geben / Auf eurer
Welt, sondern nur mehr / Besiegte. / Als ihr zweifeltet an mir / War ich verloren.« (Brecht-BFA 10, 427)
727
W 6 113. Müller hat in Brechts Szenenskizze einige Änderungen vorgenommen, die nicht allein mit der
allgemeinen Glättung des diffusen Materials mit Blick auf die Inszenierbarkeit des Textes zu erklären sind.
So geht die Figurenzuschreibung (Chor, Koch) auf Müller zurück, allerdings ist sie bei Brecht angelegt. Vor
die Figurenrede Kochs montiert Müller die abgewandelte Textstelle eines anderen Entwurfs, in dem es
explizit um die Besitzfrage geht. Bei Brecht heißt es: »Erneuter Beschluss aller drei gegen das Besitzrecht.
Gegen die Freiheit der Frau. Für Terror, Einführung der Mehrheitsbeschlüsse und Aufnahme der eigenen
Produktion.« (Brecht-BFA 10, 434f.) Und in einem weiteren Notat: »In der Bedrängnis durch Kaumann, der
sie Fatzers Sex-Verbrechen wegen aus dem Haus verweist, erfolgt die Geburt jener These von der
Aufhebung des Besitzbegriffs und die Verhängung des Terrors durch Koch.« (Brecht-BFA 10, 436)
728
Mit der NÖP wurde zum ersten Mal das Problem einer »sozialistischen Marktwirtschaft« berührt, das sich
durch den Sieg der Kommunisten in einem einzelnen rückständigen Land (statt in einer Weltrevolution der
entwickeltsten Länder) gestellt hatte. Müller setzte Lenins 1921 gegen erbitterte innere Widerstände der
Partei durchgesetzter Liberalisierungspolitik in Handel, Landwirtschaft und Industrie in der Szene ICH BIN
DER HUNGER, MIT MIR MUSS RECHNEN WER DIE WELT ÄNDERN WILL seines Stückes
ZEMENT ein Denkmal.
318
zunutze macht, indem er sie fördert und zugleich instrumentalisiert. »Wir stecken bis zum
Hals im Kapitalismus / Und Morgen wird gemacht aus jetzt und hier« (W 4 459), stellt
Tschumalow, der im Umbau vom Helden zum Arbeiter befindliche Protagonist Müllers
ZEMENT, zynisch fest. Der Weg aus dem Kapitalismus führt durch den Sumpf des
Kapitalismus und vielleicht noch tiefer hinein. Wie beim symbolischen Kampf des Herakles
mit der Lernäischen Hydra (HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA) bilden Feind und Kämpfer
eine Personalunion. Zugleich werden – entsprechend dem Modell der Lehrstücke – die Fehler
der Einzelnen (Fatzer, Kaumann) Trainingseinheiten für das Kollektiv: Die
»Schwierigkeiten« sind der Stachel im Fleisch des revolutionären Kollektivs, je existenzieller,
desto größer die Kraft, die zu ihrer Überwindung notwendig aufgebracht werden muss. Dass
die Kraft sich am Ende blind nach innen richtet und das Kollektiv in die Vernichtung treibt,
zeigt nicht das Scheitern des Experiments an, sondern die nüchterne Bilanz, dass die
Anstrengungen nicht ausgereicht haben. Denn es gelte »alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen
ist.« 729
Die Funktion des »Furchtzentrums« sieht Müller in der »Dialektalisierung« (GI 2 56) des
aristotelischen Katharsis-Begriffs: »Es geht grundsätzlich darum, das Furchtzentrum einer
Geschichte zu finden, einer Situation und der Figuren, und dem Publikum das auch zu
vermitteln als Furchtzentrum. Nur wenn es ein Furchtzentrum ist, kann es ein Kraftzentrum
werden.« (ebd.) Das »Furchtzentrum« Brechts FATZER liefert infolgedessen den
ausschlaggebenden Anknüpfungspunkt für Müllers Bearbeitung: Die Überführung des
emanzipatorischen Potenzials der Revolution in terroristische Praxis, die er als Paradigma
abendländischer, insbesondere deutscher Geschichte begreift. Die Ambivalenz dieser
Metamorphose habe bereits Brecht erkannt, was sich an der sukzessiven Fokusverschiebung
von der Identifikationsfigur des Egoisten Fatzer auf den Protagonisten Koch ablesen lasse. »In
der letzten Fassung, von der es nur Bruchstücke gibt, wird Koch zu Keuner. Keuner als
Leninfigur, der Pragmatiker, der das Mögliche versucht. Der Fatzer ist ein Komplement zu
Koch und umgekehrt. Koch der Terrorist, Fatzer der Anarchist, Koch/Keuner die Verbindung
von Disziplin und Terror.« (KOS 310) Hatte Müller diese Akzentverschiebung in seinem
Brecht-Essay von 1979 (FATZER ± KEUNER) noch prinzipiell kritisiert (»Mit der
Einführung der Keunerfigur […] beginnt der Entwurf zur Moralität auszutrocknen«, W 8 230)
urteilt er in seiner Autobiografie differenzierter. Schließlich wäre durch Lenin lediglich ein
Mangel tradiert worden, indem sich die Oktoberrevolution aus dem Rahmen der
Französischen Revolution nie herausbewegt hätte. »Im Ergebnis war sie eher ein Schritt
zurück. Die Französische Revolution muss in Russland unter neuen Bedingungen noch einmal
stattfinden.« (KOS 311) Löst man die Bedeutung des zweiten Satzes dieser Aussage von den
fraglos Versuchscharakter besitzenden topografischen Koordinaten, zwischen denen sie
aufgespannt ist, ab, erhält man ein Modell, das in direkter Strukturverwandtschaft mit einer
zentralen Aussage aus Kleists Text ÜBER DAS MARIONETTENTHEATER steht. Ist es bei
Kleist die Grazie, die – »wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen
ist« 730 – wahlweise im gänzlich abwesenden oder im unendlichen Bewusstsein seiner selbst
wieder auftaucht, so ist es bei Müller der emanzipatorische Anspruch einer Revolution, den
729
Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: MEW 1 385
730
Kleist-WuB 3, 480
319
(menschlich-allzumenschlichen) Menschen zu verachten, weil der (Über)Mensch ihr Ziel
wäre. Will heißen: Der utopische Anspruch sei von der desaströsen Praxis mitnichten
diskreditiert worden, er harre indessen mit noch maßgeblicherem Nachdruck seiner
Durchsetzung.
Das spezifisch Deutsche des paradigmatischen Umschlagens von revolutionärem Kampf in
sektiererischen Terror begründet Müller mit der Isolation linker Kräfte in Deutschland. Dabei
handle es sich nicht vordergründig um eine politische Erscheinung, sondern vielmehr um
deren Niederschlag in der Literatur. Müller sieht FATZER in einer genetischen Linie, die sich
ausgehend vom Nibelungenmythos bis zu Büchners DANTONS TOD durch die dramatische
deutsche Literatur zieht. »Franz und Karl Moor, Faust und Mephisto, Danton und
Robespierre, Gotland und der Neger Berdoa.« (KOS 310) Die deutsche Dramatik erscheint als
ein unauflösbares Drama politischen Clinches. Als zentralen Konflikt dieser Teilung macht
Müller den »Glücksanspruch von Danton und die Drosselung des Glücksanspruchs für eine
gedachte Zukunft, für ein Programm« (KOS 310f.) aus, den er in Büchners Drama – das
Müller in DER AUFTRAG als Farce nachspielen lässt – kohärent gestaltet sieht. Der Konflikt
kulminiert in der sechsten Szene des ersten Aufzugs, in der Robespierre und Danton über die
jeweils eigene Perspektive eben dieses Glücksanspruches streiten. »Mit deiner Tugend,
Robespierre! – Du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bei
keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie
betrunken. Robespierre, du bist empörend rechtschaffen. Ich würde mich schämen, dreißig
Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde
herumzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen, Andre schlechter zu finden als
mich.« 731 Während Robespierre die Übertragung seiner individuellen Verhaltensdispositionen
auf die politische Ebene als Legitimation für den republikanischen Terror dient, der das
»erhabene Drama der Revolution« 732 gegen die Banalität des Alltags abgrenzt, geht dieser
Tugendrigorismus nach Ansicht Dantons auf Kosten von Handlungen, die für ihn den Wert
des Lebens – und somit jeglichen Anspruch auf Umgestaltung der Lebensverhältnisse –
überhaupt erst ausmachen. Die robespierresche Praxis der Politik besteht in Dantons Augen in
der Zerstörung des Weges, der zu den revolutionären Zielen führen sollte, indem sie den
Menschen ein Handlungssystem aufzwängt, das der menschlichen Natur zuwiderläuft. Das
Beharren auf individueller Bedürfnisbefriedigung (»Der Griff nach dem Fleischtopf war deine
Revolution«, W 5 24) stellt sich für Danton als Revolte gegen den lebensfeindlichen
Asketismus eines Robespierre dar (»Die Guillotine ist keine Brotfabrik«, W 5 25), der jedoch
vorläufig die einzige Möglichkeit bietet, die Lücke zur Zukunft offen zu halten und die Utopie
nicht unter der »totale[n] Besetzung mit Gegenwart« (GI 2 154) zu ersticken. Dantons Angriff
auf die Moral Robespierres ist auch der Versuch, zu verhindern, dass die revolutionäre Utopie
in einen metaphysisch gefärbten Fatalismus umschlägt, wie ihn St. Just mit seiner an Hegel
geschulten Geschichtsphilosophie skandiert. »Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren
Gesetzen; der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihr in Konflikt kommt. […] soll die geistige
Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll eine Idee nicht
eben so gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll
überhaupt ein Ereignis, das die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt der
731
Büchner-WuB, 29
732
Büchner-WuB, 19
320
Menschheit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der
geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane und Wasserfluten
gebraucht.« 733 Kultur erscheint hier als Fortsetzung von Natur. Die Vernichtung von
Verrätern und Feinden der Revolution geschieht demzufolge nicht auf Gutdünken
individueller Feindschaft, sondern im Auftrag einer allgemeinen Instanz, die Träger des
(natürlichen) geschichtlichen Prozesses ist. Gegen diese scheinbar fatalistisch legitimierte
Geschichtsauffassung setzt Danton polemisch einen Naturbegriff, der die individuellen
Prädispositionen als nicht unter allgemeingültige Aufträge subsumierbare Werte erscheinen
lässt und rekurriert damit auf einen Begriff unantastbarer Menschenwürde. »Jeder handelt
seiner Natur gemäß, dass heißt, er tut, was ihm wohltut.« 734 Oder Hérault: »Jeder muss sich
geltend machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag vernünftig oder unvernünftig,
gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an.« 735 Mit der
Umkehrung des aristotelischen Ethikbegriffes erfolgt jedoch zugleich eine Entpolitisierung
der Ethik. In der Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles den vollwertigen Menschen als
Sinnenwesen, das alle seiner Natur innewohnenden Prädispositionen vollständig zum Wohl
der Gemeinschaft realisieren müsse. Die ›Farce‹ Müllers Danton-Robepierre-Szene stellt den
Terror aus Idealismus dem egoistischen Anspruch auf Selbstverwirklichung noch einmal
direkt gegenüber und entlarvt beide Haltungen als Ideologien. Danton, der
»Aristokratenknecht«; Robespierre, der »Lakai der Wallstreet« (W 5 26).
Vor dieser Folie lässt sich die RAF als poetisches Phänomen und ihr Kampf als Wiederkehr
des blutigen Konflikts zwischen Dantons hedonistischem Egoismus und dem asketischen
Terror der Jakobiner beschreiben. In KRIEG OHNE SCHLACHT will Müller das zuvorderst
ästhetisch verstandene Phänomen »Rote Armee Fraktion« als aktuellen Bezugspunkt zum
FATZER verstanden wissen, ihren aussichtslosen Kampf mithin als Fortschreibung eines
politischen Modells spezifisch deutscher Provenienz. »Es gehört zur Tragik von militanten
Gruppen, die nicht zum Zug kommen, dass die Gewalt sich nach innen kehrt.« (KOS 311) In
Müllers FATZER-Bearbeitung sagt Koch: »Die Schlacht hat uns / Nicht umgebracht, aber /
Bei ruhiger Luft im stillen Zimmer / Bringen wir uns selber um.« (W 6 95) Der Satz
transportiert die ursprüngliche »Angst vor dem unauflösbaren Clinch von Revolution und
Konterrevolution« (GI 2 57), die zum »Furchzentrum« des Brechtschen Entwurfs zu rechnen
ist. In seinem FATZER-Interview von 1978 leitet Müller die Tragik des Brechtschen
Fabelentwurfs aus der historischen Konstellation her, die das Stück transportiert, die sich
jedoch infolge der Zitatstruktur der vorgeführten Haltungen modellhaft von der historisch
konkreten Situation ablösen lasse. »Zunächst einmal ist es die Geschichte von vier Leuten, die
isoliert von der Masse auf eine Revolution hoffen. Es ist die Misere der Linken in
Deutschland, die seit den Bauernkriegen isoliert ist. 736 Da, wo politische Bewegung
stattfinden sollte, ist ein Vakuum. Auf der einen Seite des Vakuums steht die konservative
Mehrheit, auf der anderen Seite eine durch die Isolation radikalisierte Linke. Es gibt keine
linke Mitte in Deutschland, überhaupt keine polemische Mitte, das entspricht dem
Nibelungen-Modell. […] Wie sich Fatzer verhält und wie sich Baader/Meinhof verhalten: das
ist ja mehr ein Produkt von Verzweiflung als von politischem Kalkül. Sie tun es in der
733
Büchner-WuB, 48f.
734
Büchner-WuB, 29
735
Büchner-WuB, 11
736
s. a. meine Ausführungen zum vorangegangenen Kapitel
321
Hoffnung, dass andere nachfolgen. Wenn das nicht stattfindet, bleibt nur der Weg in den
individuellen Terror, ein sehr romantischer Import, der viel schlimmere Folgen hat als die
beabsichtigten.« (GI 1 52f.) Die RAF wird hier als Appendix einer Deutschen
Revolutionsgeschichte dargestellt, die mit dem Attribut des Scheiterns unauflösbar verbunden
scheint. Müllers Interesse an der terroristisch agierenden Untergrundorganisation beschränkt
sich demzufolge ausschließlich auf den im Scheitern der Emanzipationsbestrebungen sich
niederschlagenden Habitus der Gruppe: Den Terrorismus als »Verlängerung des bürgerlichen
Humanismus« (GI 1 53). 1994 gibt Müller zu Protokoll, das Interesse am linken Terror der
RAF im Zusammenhang mit der Entstehung der FATZER-Bearbeitung sei auch Produkt der
Illusion gewesen, »dass aus der DDR doch noch etwas Vernünftiges werden könnte.« (W 8
467)
Darüber hinaus ist es wohl gerade das von tagespolitischen Ereignissen absehende poetische
Interesse, das Müllers Blick für Konstellationen der Zeitgeschichte schärft und ihn hinter den
gesellschaftlichen Verwerfungen des Alltags elementare menschliche Probleme wahrnehmen
lässt. So führen die Bilder auf der Mattscheibe der politischen Grabenkämpfe um ideologische
Standortvorteile nicht selten ins innere ästhetischer, zuweilen philosophischer
Problemstellungen, wie Müllers Rekurs auf die Frankfurter Kaufhausbrandanschläge 737 zeigt.
»Paradigmatisch war die Kaufhaus-Brandstiftung, der Versuch, den Leuten mit einer konkret
spürbaren Metapher ein Gefühl dafür zu geben, was der Vietnam-Krieg bedeutet. Die
Schlussrede von Koch: ›Seid nicht hochfahrend, brüder / sondern demütig und schlagt es tot /
nicht hochfahrend sondern: unmenschlich‹ 738 . Diese Verbindung von Demut und Töten ist ein
Kernpunkt des FATZER und ursprünglich auch der RAF-Ideologie. Leute, die sich zum
Töten zwingen müssen. Darum geht es auch in MAUSER und in der MASSNAHME.
Eigentlich ist politische Gewalt dadurch diskreditiert worden, dass der Staat das Töten
übernommen hat, es bürokratisiert hat durch das staatliche Gewaltmonopol. Wir leben in einer
Zivilisation der Stellvertretung, die christliche Zivilisation ist die Zivilisation der
Stellvertretung, der Delegierung, einer für alle, einer hängt für die andern am Kreuz. […] Der
Kaufhausbrand war ein verzweifelter Versuch, die Zivilisation der Stellvertretung, der
Delegierung des Leidens, zu provozieren, die Verlegung des Vietnamkrieges in den
Supermarkt.« (KOS 312, 314f.) Der synonyme Gebrauch der Attribute »demütig« und
»unmenschlich« bei Brecht sowie der Verweis auf das Problem des Todes und des Tötens als
zentrale Begriffe des Lernprozesses in den Lehrstücken rekurrieren auf Nietzsches Versuche,
die abendländische Moral genealogisch zu hinterfragen. Zugleich zeigen sie an, wie wenig
sich seit Nietzsche und/oder Brecht/Müller in der Geschichte des abendländischen Denkens
hinsichtlich gerade der Moralvorstellungen geändert hat. Einerseits haben die großen
Verbrechen an der Menschlichkeit im zwanzigsten Jahrhundert die Grundlage einer dem
Prinzip der Vernunft verpflichteten Moral des Abendlandes technologisch längst die
Grundlage entzogen. Andererseits erfolgt über die Katastrophen hinweg der Rückgriff auf
737
Nach den in der Studentenbewegung geführten Strategiediskussionen um die Legitimation von »Gewalt
gegen Sachen« hatten Baader und Ensslin zusammen mit Thorwald Proll und Horst Söhnlein am 2. April
1968 gegen Mitternacht mit Hilfe von Zeitzündern Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern gelegt, um
gegen den Krieg der USA in Vietnam zu protestieren. Die Brandstifter wurden schon am 4. April gefasst
und in umstrittenen Verfahren zu je drei Jahren Zuchthaus verurteilt.
738
Die Kleinschreibung in der Autobiografie weicht von der Vorlage ab. Bei Brecht und Müller heißt es
identisch: »Seid nicht hochfahrend, Brüder / Sondern demütig und schlagt es tot / nicht hochfahrend
sondern: unmenschlich!« (Brecht-BFA 10, 450 u. W 6 133)
322
Wertvorstellungen, die dem neunzehnten Jahrhundert oder dem humanistischen Weltbild der
Aufklärung verpflichtet sind. Müllers Angriff auf dieses Paradox greift am selben Punkt an
wie Nietzsche – nämlich der Rationalisierung eines in der christlichen Heilslehre wurzelnden
Wertegefüges und dessen Überführung in die Staatsdoktrin – und erklärt die Erfahrung
verhindernde Institutionalisierung und Technologisierung zum eigentlichen Sündenfall
westlicher Zivilisation: den Kunstgriff der Differenzierung zwischen Tat und Täter. 739 Jedes
Gemeinwesen ist Nietzsche zufolge bestrebt, »jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne
abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maße, den Verbrecher und
seine Tat voneinander zu isolieren – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des
Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein
eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere
Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht.« 740
Ausgehend von Brechts FATZER setzt sich Müller in seiner Autobiografie kritisch mit
diesem Sachverhalt der Repräsentation auseinander und stellt damit zugleich die moralische
Grundlage des eigenen Schreibens auf den Prüfstand. »Der Kern des Problems ist, dass man
Töten denken kann. Wenn man es für notwendig hält, hat man nicht das Recht, es selbst nicht
zu tun: es nur zu delegieren, wäre unmoralisch.« (KOS 313) Dabei sind dem Dramatiker
freilich subtilere Mittel an die Hand gegeben als dem Politiker. Dennoch stellen gerade Texte
wie DER HORATIER oder MAUSER Möglichkeiten der ernsthaften Auseinandersetzung mit
einer Moral jenseits jeglicher Form von materieller, respektive ideeller Ausbeutung dar. Eine
Passage, die Müller für die Drucklegung seiner Autobiografie gestrichen hat, erhellt den oben
zitierten Satz, an den sie sich in der Arbeitsfassung unmittelbar anschließt: »Wenn du mal
davon ausgehst, was Hegel über die antike Tragödie schreibt, über ÖDIPUS zum Beispiel:
Ödipus ist von unseren Rechtsnormen her überhaupt nicht schuldig. Er wusste nicht, dass es
sein Vater war, wusste nicht, dass es seine Mutter war. Da gibt es keine Schuld. Aber Hegel
schreibt: Der plastische Grieche nimmt die Schuld an. Er hat es getan, ob er wusste oder nicht,
er hat es getan. Subjektiv – objektiv, den Unterschied gab’s nicht. Diese Unterscheidung
schuldlos, weil unwissend, schuldig, weil wissend, ist erst mit dem Christentum entstanden.
Und da liegt auch das Problem mit dem Terrorismus und mit dem Denken und Schreiben
darüber.« 741 An einem Beispiel konkretisiert Müller, wohin in seinen Augen eine auf dem
Stellvertreterprinzip beruhende Moral führen kann, bisweilen zwangsläufig führen muss: »…
739
In der GENEALOGIE DER MORAL schreibt Nietzsche: »es gibt kein ›Sein‹ hinter dem Tun, Wirken,
Werden; ›der Täter‹ ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles.« (Nietzsche-W 2, 789)
740
Nietzsche-W 2, 813
741
HMA 4484, 438. Hegel schreibt in den GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS: »Das
heroische Selbstbewusstsein (wie in den Tragödien der Alten, Ödipus usf.) ist aus seiner Gediegenheit noch
nicht zur Reflexion des Unterschiedes von Tat und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem
Vorsatze und Wissen der Umstände, sowie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen, sondern übernimmt
die Schuld im ganzen Umfange der Tat.« (Hegel-W 7, 219) Bereits 1990 hatte sich Müller im Gespräch mit
Frank M. Raddatz zu diesem Zusammenhang und dessen Folgen geäußert: »Das Entscheidende in der
abendländischen Struktur aber ist nicht der Monotheismus, sondern das Christentum, denn es bringt die
Stellvertreterstruktur in Europa ein. Das ist der Austritt aus der Antike. Der plastische Grieche, also Ödipus,
der nimmt die Schuld an, obwohl er subjektiv keine Schuld hat. Der christliche Europäer hat dafür einen
Stellvertreter, der hat die Schuld auf sich genommen. Wenn man einen Stellvertreter hat, braucht man einen
Sündenbock. […] In der Antike war das Opferprinzip unpersönlich. Jeder konnte durch Los zum Opfer
bestimmt werden, oder man nahm dafür Kriegsgefangene. Aber das Opfer wurde nicht entwürdigt. Opfer zu
sein war ein Job. In der Stellvertreterstruktur muss das Opfer entwürdigt werden, denn es ist der
Sündenbock.« (JN 29f.)
323
ein Bauer tötet ein Pferd, wenn es krank und nicht zu retten ist. Man könnte auch sagen: ja,
ein Pferd schon, aber einen Menschen nicht. Diese Unterscheidung ist das Wichtige. Nein,
diese Unterscheidung ist wichtig geworden. Ursprünglich war es nicht so. Die
Unterscheidung ist ein Zivilisationsprodukt. Früher hat man die Alten, wenn sie nicht mehr
lebensfähig waren aufs Eis geschoben, oder aufs Dach gesetzt. Wenn sie sich halten konnten,
durften sie noch eine Weile mitessen. Eine andere Geschichte: Die Wachmannschaften in den
KZs waren meist, also ursprünglich jedenfalls, Bauernsöhne, oft die zweiten Söhne, die nicht
den Hof erbten. Die hatten über das Schlachten von Vieh ein anders Verhältnis zum Töten.
Und man suchte eben bei den Nazis nach einer Ideologie, mit der man denen den Unterschied
zwischen Mensch und Vieh wegbügeln konnte. Nach dieser Ideologie gab’s dann eben
Menschen, die waren keine Menschen, und dann ging das. Das ist das Problem.« (HMA 4484,
438f.) Der Kampf gegen die in der Terminologie der Nazis »jüdisch-bolschewistische
Weltverschwörung« ist nur ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die Funktionsweise
einer solchen Ideologie.
In KRIEG OHNE SCHLACHT schließt sich an diese Passage aus dem Nachlassmanuskript
des »FATZER«-Kapitels ein Rekurs auf Carl Schmitts THEORIE DES PARTISANEN an,
der die Ursachen des Genozids für die technologische Gesellschaft beschreibt. Mit den totalen
Weltverbesserungsprogrammen der Revolutionen entstehe das absolute Feindbild. »Wer
Ausbeutung als ein Phänomen des Lebendigen akzeptiert, braucht kein absolutes
Feindbild.« 742 Habe der Partisan einen wirklichen Feind (»Er verteidigt ein Stück Erde, zu
dem er eine autochthone Beziehung hat« 743 ), sei der revolutionäre Terror auf einen absoluten
Feind angewiesen: »Lenin hat den begrifflichen Schwerpunkt vom Krieg auf die Politik, d. h.
auf die Unterscheidung von Freund und Feind verlagert. […] Mit der Absolutsetzung der
Partei war auch der Partisan absolut geworden und zum Träger einer absoluten Feindschaft
erhoben.« 744 Ausgehend von Hobbes 745 und einem Satz aus Hegels PHÄNOMENOLOGIE
DES GEISTES (»Denn die Waffen sind nichts anderes als das Wesen der Kämpfer
selbst« 746 ), stellt Schmitt eine Analogie zur Erfindung der Atom-Bombe und ihrer Nachfolger
her: »die suprakonventionelle Waffe supponiert den suprakonventionellen Menschen« 747 .
Daraus folgert er: »Die Vernichtung […] richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind,
sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die
bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen Feindschaft macht die
Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.« 748
742
KOS 314. Im Manuskript des »FATZER«-Kapitels aus dem Nachlass folgt auf diesen Satz eine erklärende
Passage: »… so lange man die Realität akzeptiert, wie sie ist und man glaubt, nichts ändern zu können, ist es
eben so: Fisch frisst Fisch, Mensch killt Mensch. Alles in Ordnung. Das läuft so. Ausbeutung ist ein
Phänomen des Lebendigen, und wenn man alles akzeptiert, wie es ist, braucht man kein Feindbild,
jedenfalls kein totales. Aber wenn man die Welt ändern will, braucht man ein totales Feindbild.« (HMA
4484, 439)
743
Schmitt 1975, 93
744
Schmitt 1975, 94
745
»… denn so gewiss Schwerter und Spieße, die Waffen der Menschen, Hörner, Zähne und Stacheln, die
Waffen der Tiere, übertreffen, so gewiss ist auch der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht,
raublustiger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr
Hunger, und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind.« (Hobbes 1918, 20)
746
Hegel-W 3, 285
747
Schmitt 1975, 95
748
Schmitt 1975, 95f.
324
Vor dieser theoretischen Folie eignet Müllers Folgerung, die Selektion sei die adäquate
soziale Praxis derjenigen Gesellschaftssysteme, die auf Repräsentation beruhen, durchaus das
Potenzial analytisch stichhaltiger Ideologiekritik: »Unsre Zivilisation ist eine Zivilisation der
Stellvertretung. Und Repräsentation bedingt Selektion, Auschwitz und Hiroshima sind
Finalprodukte selektiven Denkens.« (KOS 314) Im Nachlassmanuskript des »FATZER«-
Kapitels fährt Müller an der entsprechenden Stelle fort: »Für Dostojewski fängt es damit an,
dass man eine Fliege umbringt, das ist der erste Schritt. Damit selektiert man, man bestimmt,
wie die Welt zu sein hat – ohne Fliegen oder auch Ratten oder was einen gerade stört. Das hat
Nietzsche ja an Dostojewski fasziniert. Eine Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Ich
versuche nur nachzudenken über meine Haltung zum Töten und zum Terrorismus.« 749
Müllers Pointe erscheint ebenso schockierend wie stichhaltig, da sie auf grundlegende
gesellschaftliche Strukturen zielt. In jedem Fall trägt sie weiter als jene »Theorien, die
Geschichte, Politik und Recht ausgehend von den sich in ihnen manifestierenden Interessen
und deren rationalem Kalkül zu erklären […] suchen« 750 .
Müller trägt seine These nach dem Untergang der DDR in mehr oder weniger radikaler Form
wiederholt vor; mal als provozierendes Apercu, ein anderes Mal – wie in KRIEG OHNE
SCHLACHT – als argumentatives, respektive dramaturgisches Bindeglied in einer Kette von
Gedanken. Im Gespräch mit Alexander Kluge weist Müller auf die Alternativlosigkeit von
Auschwitz in unserer Zivilisation hin. Es gebe »kein Argument gegen Auschwitz«, da es die
»Realität der Selektion« beschreibe, die »global das Prinzip der Politik« sei (WT 61). Ähnlich
hatte Müller bereits 1990 im Interview mit Frank M. Raddatz argumentiert: »Unsere
Zivilisation ist eine Zivilisation der Ausgrenzung. […] Zu den Ausgegrenzten gehören alle,
die sich nicht mit der hier als Realität gehandelten Wirklichkeit zufrieden geben oder
identifizieren. Das ist das FATZER-Problem, es ist das Grundthema des Jahrhunderts, und
Auschwitz ist das Modell des Jahrhunderts. / Nach Auschwitz hat das Gute geführt, nicht das
Böse. Das Gute will selektieren, also Minderheiten produzieren. Die sind dann böse und
müssen ausgerottet werden. / Die Unterdrückung des Bösen führt nach Auschwitz. Das Gute
produziert eine Struktur, die auf Ausgrenzung und Selektion basiert, daraus entsteht das
massenhaft, das institutionell Böse. Auschwitz fängt damit an, dass man einem Kind auf die
Finger haut, wenn es die linke Hand benutzt, weil es Linkshänder ist, und sagt: die gute Hand.
Es gibt in den herrschenden Strukturen kein rationales Argument gegen Auschwitz.« (JN 27f.)
Das Trauma der Linkshändigkeit, beziehungsweise deren Abwendung hatte Müller bereits im
ersten Kapitel seiner Autobiografie thematisiert: Einer der Genossen des Vaters, ein Lehrer,
der noch vor Müllers Vater verhaftet wurde, hatte dem jungen Müller beigebracht, mit rechts
zu schreiben. »Ich war Linkshänder, und das wäre in der Schule ein Problem geworden. […]
Er hatte mir rechts schreiben im Spiel beigebracht, ohne irgendwelchen Zwang, das war sehr
schön. Er hatte eine große Liebe zu Kindern.« (KOS 19) Dass der karitative Akt eine
749
HMA 4484, 440f. Unter dem Verweis auf Dostojewskis vierjährige Lagererfahrung stellt Müller im
Gespräch dessen künstlerische Geste dem Diskurs des individuellen Genozids ein: »Dostojewski kannte das
Prinzip Auschwitz. Seine Fragestellung galt einer Alternative zu Auschwitz. Die einzige Alternative die er
gefunden hat, war […] die Gnade.« (JN 56) Nietzsche wiederum erkennt in der Gnade die »Selbstaufhebung
der Gerechtigkeit«, die »das Vorrecht der Mächtigen, besser noch, sein Jenseits des Rechts« darstellt
(Nietzsche-W 2, 814) und bezieht sich damit nicht ausschließlich auf die Praxis sozialer Ausbeutung,
sondern zugleich auf den Typus einer Kunst, die in einem moralfreien Raum jenseits des Selektionsprinzips
agiert.
750
Nikolaus Müller-Schöll: Schreiben nach Auschwitz. In: HMH 97–103, hier 103
325
Funktion des selektiven Prinzips darstellt, entspricht durchaus der Absicht des Erzählers.
Schließlich sei die politische »Linke« selbst nicht frei von den Mechanismen der
Ausgrenzung. Im FATZER hatte Brecht die Folgen dieser fatalen Logik beschrieben. Hätte er
das Stück fertig geschrieben, wäre daraus eine Analyse der Funktionsmechanismen des
Stalinismus geworden. Angesichts der politischen Weltlage mag das für Brecht in der Tat ein
plausibler Grund gewesen sein, die Arbeit an dem Stück einzustellen. Immerhin sei auch das
Scheitern des Sozialismus dem »Verhaftetbleiben in christlichen Strukturen«,
beziehungsweise der »Unzucht mit dem Christentum« (JN 30) zuzuschreiben. Gegenüber
Alexander Weigel vertritt Müller die Position, dass die Illusion/der Traum der linken
Intelligenz in »einer möglichen Hochzeit von Kunst und Politik im Namen der Utopie von
einer sozial gerechten Gesellschaft« (GI 3 125) bis zum Wegbrechen des Ostblocks bestanden
habe. »Die Illusion ist verflogen, der Traum ist nicht ausgeträumt. Aber für Jahrzehnte wird
nach dem vorläufigen Sieg des Kapitalismus, der ein System der Selektion ist (das Prinzip
Auschwitz), die Kunst der einzige Ort sein, das Museum, in dem die Utopie aufgehoben wird
für bessere Zeiten.« (ebd.)
In KRIEG OHNE SCHLACHT knüpft Müller an diesen Gedanken an. Zugleich zeigt er, dass
auch im Sozialismus ein Jenseits des selektiven Prinzips de facto nie hätte bestehen können:
»Denken ist lebensfeindlich. Es gibt eine Differenz zwischen Denken und Sein, zwischen
Denken und Leben. Das ist das Paradox der menschlichen Existenz. Flaubert hat gesagt, der
Individualismus ist die Barbarei. Die Konsequenz ist der Gedanke von Foucault, der
Humanismus ist die Barbarei, weil Humanismus auch Ausschließung, Selektion bedeutet. Die
Menschheit setzt sich einen Zweck, der Weg zu dem Ziel erfordert Kontrolle, Organisation,
Disziplinierung, Selektion. Wenn es um die Emanzipation der Menschheit geht, ist der Feind
ein Feind der Menschheit, also kein Mensch. Das ist die Grundfrage. Aber wie kann man
absehen von Zwecksetzungen? Das ist ein Denken, mit dem wir aufgewachsen sind. Wie lernt
man sich zurücklehnen und die Dinge akzeptieren, wie sie sind, sie nur einigermaßen zu
regeln? Aber in den Wörtern ›regeln‹ und ›einigermaßen‹ steckt schon wieder das Problem.
Immer ›geht es‹ nur ›einigermaßen‹, nichts geht auf. Das ist die Provokation der Apokalypse,
der Johannes-Offenbarung. Da wird die Frage zum ersten Mal gestellt und dann an das
Jüngste Gericht delegiert.« (KOS 315) Eine ähnliche Position hatte Müller bereits in den
sechziger Jahren im Zusammenhang mit seiner ÖDIPUS-Bearbeitung formuliert. In NICHT
KRIMINALSTÜCK, einem Text für das Programmheft der Besson-Inszenierung ist vom
Sündenfall des ÖDIPUS die Rede: »Für Sophokles ist Wahrheit nur als Wirklichkeit, Wissen
nicht ohne Weisheit im Gebrauch; der Dualismus Praxis Theorie entsteht erst. Seine (blutige)
Geburt beschreibt das Stück. Seine radikalste Formulierung ist der Atompilz über
Hiroshima.« (W 8 155) Sophokles thematisierte im ÖDIPUS zum ersten Mal die (blutigen)
Konsequenzen der Unterwerfung der Körper unter Ideen, die im Christentum durch das
Stellvertreterprinzip ihre Legitimation erhielt. Die Funktion der Kunst hingegen bestehe darin,
die auf das Jüngste Gericht vertagte Provokation einer endgültigen Aufhebung des
Stellvertreterprinzips im hic et nunc des Kunstwerks zu behaupten. Dabei beruhe die
»moralische« Qualität der Kunst gerade auf ihrer A-Moralität, der Zugehörigkeit zu einem
Raum jenseits der diskursiven Festschreibung von Zielsetzung und Nutzen. Die Kunst stellt
demzufolge nicht lediglich einen Angriff auf die Wirklichkeit dar, sondern zugleich einen
strukturellen Vorgriff auf eine vermeintliche Apokalypse. »Ich glaube, Kunst ist ein Angriff
auf dieses Paradox, auf jeden Fall eine Provokation, die auf dieses Paradox hinweist. Das ist
326
eine Funktion von Kunst, eine vielleicht asoziale oder zumindest antisoziale, aber moralische
Funktion von Kunst. Moral ist nicht sozial, das kann man nicht gleichsetzen. Ich finde die
moralische Empörung über den Terrorismus irrelevant und eine Heuchelei, deswegen ist mir
dieser Kernsatz in Brechts FATZER so wichtig, das Wort ›demütig‹. Töten, mit Demut, das
ist der theologische Glutkern des Terrorismus. Es gibt keine Lösung, das ist das menschliche
Paradox. Aber mit Kunst kannst du dem nicht ausweichen in Moral, jedenfalls nicht in die
gängige sozial eingebundene Moral. Kunst ist vielleicht auch ein Versuch der Tierwerdung im
Sinne von Deleuzes und Guattaris Buch über Kafka. Ich fürchte, wir müssen es so dunkel
lassen.« (KOS 315f.)
Der Text FATZER-MATERIAL 1978, den Müller der Publikation seiner FATZER-
Bearbeitung im Suhrkamp-Verlag als Vorwort voranstellt, endet an dieser Stelle. Damit ist
zugleich ein Bezug zum Schluss von Müllers letztem Stück GERMANIA 3 hergestellt, das
mit dem desillusionierenden Satz endet, den Juri Gagarin 1961 als erster Mensch im
Weltraum zur Erde funkte: »[DUNKEL GENOSSEN IST DER WELTRAUM SEHR
DUNKEL]« (W 5 296) Die Aussparungsklammer könnte ein Hinweis darauf sein, dass es
gerade jene Dunkelheit ist, der wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden müssen: Dem Chaos
hinter dem Kosmos. Oder wie Deleuze/Guattari die Geste des Künstlers beschreiben:
»Unablässig stellen die Menschen einen Schirm her, der ihnen Schutz bietet, auf dessen
Unterseite sie ein Firmament zeichnen und ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der
Dichter, der Künstler aber macht einen Schlitz in diesen Schirm, er zerreißt sogar das
Firmament, um ein wenig freies und windiges Chaos hereindringen zu lassen und in einem
plötzlichen Lichtschein eine Vision zu rahmen.« 751 In ihrer Abhandlung KAFKA. FÜR EINE
KLEINE LITERATUR spüren Deleuze/Guattari der Funktionsweise Kafkas Metapher nach.
Die Tierwerdungen Kafkas stellen eine »absolute Deterritorialisierung« 752 im Medium der
Sprache dar: »schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt, eine Maus ihren Bau gräbt. Dazu ist
erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die
eigene Dritte Welt, die eigene Wüste.« 753 In TAUBE UND SAMURAI, einem Text über
Robert Wilson von 1980, der zugleich als Versuch einer poetischen Selbstreflexion ist,
schreibt Heiner Müller: »Mit der Weisheit der Märchen, dass die Geschichte der Menschen
von der Geschichte der Tiere (Pflanzen, Steine, Maschinen) nicht getrennt werden kann außer
um den Preis des Untergangs, formuliert Robert Wilson das Thema der Epoche: Krieg der
Klassen und Rassen, Arten und Geschlechter, Bürgerkrieg in jedem Sinn.« (W 8 290) Erst in
diesem Kontext erhielte das »Töten mit Demut« seinen endgültigen Sinn. Bevor sich Müller
in seiner Autobiografie der Entstehung von QUARTETT zuwendet, folgt eine Passage zum
FATZER-Komplex, die für FATZER-MATERIAL 1978 nicht übernommen wurde, obwohl
er den Charakter des ideologiekritischen Essays demonstrativ unterstreicht: »Gegenstand der
Kunst ist jedenfalls, was das Bewusstsein nicht mehr aushält, dieses schwer zu ertragende
Paradox der menschlichen Existenz, die Unerträglichkeit des Seins. Das erklärt auch die
Anfälligkeit von Intellektuellen, gerade in Europa, für Ideologie. Denn Ideologie bietet die
Möglichkeit, die Last, die du eigentlich tragen müsstest, abzuwerfen. Das ist vielleicht das
Wichtigste an Nietzsche, das ausformuliert zu haben, was in unsrer christlich determinierten
751
Deleuze/Guattari 2000, 241
752
Deleuze/Guattari 1976, 18
753
Deleuze/Guattari 1976, 27
327
Zivilisation begründet liegt: Schuld.« 754 (KOS 316) Die Einsicht in die »Unerträglichkeit des
Seins« impliziert das Einverständnis mit dem Werden. Nietzsches Zarathustra befreit sich aus
der paradoxen Situation, indem er den Menschen als »Seil, geknüpft zwischen Tier und
Übermensch« 755 eine Funktion für die Zukunft verleiht. Eine vorweggenommene Umkehrung
Nietzsches findet sich bei Karl Philipp Moritz, der den Tatbestand der Überführung
widersinnigen Da-Seins in ein Tier-Werden überaus treffend formuliert. In seinem
»psychologischen Roman« ANTON REISER heißt es über den Protagonisten: »Als Tier
wünschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins
unerträglich gewesen.« 756 Im FATZER erklärt Büsching: »Der Mensch ist der Feind und
muss / Aufhören.« (W 6 58)
754
»Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von ferne etwas davon träumen lassen, dass
zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff ›Schuld‹ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff
›Schulden‹ genommen hat? Oder dass die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen abseits von jeder
Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat? - und dies bis zu dem Grade, dass
es vielmehr immer erst einer hohen Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Tier ›Mensch‹ anfängt,
jene viel primitiveren Unterscheidungen ›absichtlich‹, ›fahrlässig‹, ›zufällig‹, ›zurechnungsfähig‹ und deren
Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile
und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das
Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zustande gekommen ist, hat herhalten müssen, ›der Verbrecher verdient
Strafe, weil er hätte anders handeln können‹, ist tatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinierte Form
des menschlichen Urteilens und Schließens.« (Nietzsche-W 2, 805)
755
Nietzsche-W 2, 281
756
Moritz 1979, 229
328
geholt. Wie Müller im Gespräch mit Matthias Matussek und Andreas Roßmann betont, ginge
es ihm mit QUARTETT darum, »die Struktur von Geschlechterbeziehungen freizulegen« (GI
1 124), beziehungsweise, »die Klischees, die Verdrängungen zu zerstören« (ebd.). Eine
Urszene des Geschlechterkrieges im Nachlass Müllers, die vermutlich bereits Anfang der
siebziger Jahre entstand, nimmt diesen Paradigmenwechsel von der Spielverweigerung zur
Spielgestaltung der Frau vorweg. In [LYSISTRATE 70], einem in Anlehnung an die
Komödie von Aristophanes entstandenen Text, kündigt der Chor (der Frauen) »nach
viertausend Jahren Herdrauch Küchendunst Wäschedampf« (W 4 558) das Besitzverhältnis
Mann – Frau radikal auf, um Krieg zu führen »mit allen Mitteln / Gegen die Herrschaft des
Mannes über die Frau / Und zwar bis zur vollständigen Unterwerfung / Des Mannes unter die
Herrschaft der Frau« (ebd.). Im zweiten Textteil, einem Dialogfetzen, werden die neuen
Rollen bereits verteilt.
Der sich mit seiner Charaktermaske identifizierende Mann (der dumme August = A) wird
entsprechend der in der Komödie üblichen Rollenverkehrung vom Kollektiv (Chor = C) der
Frauen seiner Identität beraubt. Dabei werden die Geschlechterverhältnisse von vornherein als
Spiel gekennzeichnet. Die verweigerte Antwort des kurzerhand aus seiner Rolle ausgetrieben
Mannes lässt vermuten, dass der Dialog die Erklärung eines Krieges darstellt, der in der Folge
mit nonverbalen Mitteln seine Fortsetzung finden wird oder die Konstellation eines
Lehrstücks vorwegnimmt, in dem neue Haltungen zu alten Rollen eingeübt werden. In
Müllers Stück MAUSER, das ungefähr zeitgleich entstand, musste der Revolutionskommissar
und Henker, der mit der Spielfigur A bezeichnet ist, aufgrund der seinem Individualismus
geschuldeten Schwäche selbst an die Wand. Der Mann wird ausschließlich mit seiner Rolle
identifiziert, in der er restlos aufgeht. Dass sich die Identität des Chores der Frau(en), nicht
restlos dem Spielmodell subsumieren lässt, darf mit Blick auf die gegebene Konstellation
immerhin vermutet werden.
Müllers Kammerspiel QUARTETT liest sich wie die konkrete Anwendung der
Benjaminschen Geschichtsphilosophie auf die europäische Revolutionsgeschichte. Das Stück
ist in einem »Salon vor der französischen Revolution/ Bunker nach dem dritten Weltkrieg«
(W 5 45) verortet. Vom mit dem Kapitalismus schwanger gehenden Rationalismus der
Aufklärung im vorrevolutionären Frankreich bis zur als Ergebnis der weltpolitischen Lage der
achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gedachten Nachkriegszeit eines dritten
Weltkrieges ist historische Bewegung stillgestellt in einem geschichtslosen »Zeitraum«. Die
Stillstellung der Geschichte durch Heiner Müllers Szenenanweisung ist Reflex auf den
geschichtlichen Stillstand den Valmont in QUARTETT sozial begründet: »Wer die Uhren der
Welt zum Stehen bringen könnte. Die Ewigkeit als Dauererektion. Die Zeit ist das Loch in der
Schöpfung, die ganze Menschheit passt hinein. Dem Pöbel hat es die Kirche mit Gott
ausgestopft, wir wissen es ist schwarz und ohne Boden. Wenn der Pöbel die Erfahrung macht,
stopft er uns nach.« (W 5 49f.) Anders jedoch als in der Geschichtsutopie Benjamins wird die
Geschichtszeit von Valmont nicht als Gleichmaß einer permanenten Katastrophe begriffen,
329
sondern als »ablaufende Frist« 757 . Die im Phallussymbol männlich konnotierte Geschichtszeit
soll die Lücke im Ablauf (»Loch«) auf immer schließen und zielt so auf die Verewigung des
patriarchalen Gewalt- und Unterdrückungszusammenhangs. Valmonts Wunsch, »den
Schrecken der Verwandlung nicht mehr ausgesetzt« (W 5 47) zu sein, indem der Augenblick
verewigt wird, stellt den Versuch dar, Vergangenheit und Zukunft zu eliminieren. Müller sieht
in dieser Tendenz ein Merkmal der westlichen Konsumgesellschaft. »Es gibt im Westen
allgemein eine totale Besetzung mit Gegenwart. […] Das heißt: Auslöschen von Erinnerung
und Erwartung. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur Gegenwart« (GI 2 154).
Valmonts geschichtsloser Utopie steht Merteuils Alptraum entgegen, der als Spiegel ihres
Innern den Tribut des Körpers an die souveräne Herrschaft der Rationalität darstellt. »Was ich
fürchte ist die Nacht der Leiber. Vier Tagereisen von Paris in einem Schlammloch […] lebt
etwas zwischen Mensch und Vieh. Ich hoffe, es in diesem Leben nicht zu sehn, oder in einem
andern Leben, wenn es ein andres Leben gibt. Der bloße Gedanke an seinen Geruch treibt mir
den Schweiß aus allen Poren. Meine Spiegel schwitzen sein Blut. […] manchmal träume ich,
dass es aus meinen Spiegeln tritt auf seinen Füßen aus Stallmist und ganz ohne Gesichter,
aber seine Hände sehe ich genau, Klauen und Hufe, wenn es mir die Seide von den Schenkeln
reißt und wirft sich auf mich wie Erdschollen auf den Sarg, und vielleicht ist seine Gewalt der
Schlüssel, der mein Herz aufschließt.« (W 5 51f.) Der Ungeheuer gebärende Schlaf der
Vernunft ist der letzte Ort einer Ahnung eines Anderen, das möglicherweise in der Lage wäre,
die fatale Trennung von Körper und Geist aufzuheben. Vom Verstand muss diese Möglichkeit
als Untergrabung der Souveränität des Subjekts freilich verworfen werden. Das Blut
schwitzende Spiegelbild vermag Merteuils wachen Blick nicht zu trüben: »ich lache über
fremde Qual wie jedes Tier, das mit Vernunft begabt ist« (W 5 52). Merteuils Reaktion
erinnert an Baudelaires Beschreibung Melmoths 758 , dessen Lachen die Inkarnation des
satanischen Gelächters darstellt.
Vom Kampf der Geschlechter sind in QUARTETT nur die substanzlosen Klischees übrig
geblieben, die als Paradigmen vorgeschichtlicher Verhaltensdispositionen den von Zukunft
und Vergangenheit abgeschnittenen Raum (»Salon/Bunker«) strukturieren. Erinnert werden
nurmehr literarische Verhaltensmuster, wie sie der literarische Diskurs der Empfindsamkeit
im achtzehnten Jahrhundert hervorbrachte. Müller überführt den Diskurs, vor dessen Kulisse
schon die Figuren in Laclos’ Briefroman agierten, in ein Spielmodell und führt die
Libertinage so als ein auf Öffentlichkeit angewiesenes zeremonielles Handlungsmuster einer
an ihrem eigenen Untergang arbeitenden Menschheit vor: die »Dialektik der Aufklärung«.
Mitnichten ist QUARTETT also als Rückzug Müllers aus dem politischen Diskurs ins
Labyrinth der menschlichen Gefühle zu lesen, wie einzelne Kritiker mutmaßten. Unter der
Oberfläche des Liebesdiskurses, den Müller im Stück sukzessive auflöst 759 , verbirgt sich eine
eminent politische Dimension. Mit der Durchleuchtung sozialer Machtstrukturen im
757
Eke 1989, 158
758
»Und wie er lacht, wie er lacht, er, der sich unaufhörlich mit dem menschlichen Gewürm vergleicht, er der
Gewaltige, ein Wissender, für den ein Teil der physischen und geistigen Gesetze, denen die Menschheit
unterworfen ist, nicht mehr gilt! Und dieses Lachen ist die fortwährende Explosion seines Zornes und seiner
Qual […] Es ist ein Lachen, das niemals schläft, wie eine Krankheit, die sich unaufhaltsam ihren Weg bahnt
und ein Geheiß der Vorsehung ausführt.« (Baudelaire 1971, 291)
759
»Wenn ich über ein Thema schreibe, interessiert mich nur das Skelett daran. Hier hat mich interessiert, die
Struktur der Geschlechterbeziehungen freizulegen, wie ich sie für real halte und die Klischees, die
Verdrängungen zu zerstören.« (GI 1 124)
330
Mikrokosmos der Geschlechterbeziehung macht Müller die geschlechtliche Liebe als
Fortsetzung des sozialen Krieges der »Klassen und Rassen, Arten und Geschlechter« (W 8
290) mit anderen Mitteln kenntlich. Müller folgt hier offenbar Friedrich Nietzsche: »Die
Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die
Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist!« 760
Die verräterische Sprache des Gefühlsdiskurses lässt die Machtstrukturen, die zu verbergen
ihre Aufgabe war, offen zutage treten. Erotik wird zur Prothese der Machtausübung. Bei
Laclos gehört der Krieg noch zum Spiel: »In alledem ist ein kindlich grausamer Spieltrieb,
aber auch ein sehr besonderer Stolz. Alles seinem frei schaltenden Willen zu unterwerfen,
nichts Sinnesausbrüchen, nichts dem Gefühl. Durch das Gefühl gewährt man dem anderen
Macht über sich.« 761 Vor die Entscheidung gestellt, Valmonts Drängen nachzugeben oder
sich seinen Begierden zu verweigern antwortet Merteuil mit den Worten: »Nun wohlan! Dann
Krieg!« 762 In QUARTETT ist diese Kriegserklärung zurückgenommen in die Ersetzung der
Realität durch das Spiel. Geht Valmont von der Unhinterfragbarkeit eines gegebenen
Gewaltzusammenhangs aus, in dem Mann und Frau beliebig kopier- und vertauschbare
Rollenmuster einnehmen (»Was ist. Spielen wir weiter.«), stellt Merteuil den
Kommunikativen Rahmen und mit ihm die Struktur der Geschlechterbeziehungen
grundsätzlich in Frage: »Spielen wir? Was weiter.« (W 5 59) Mit der Verweigerung des
Repräsentationscharakters des Spiels etabliert Merteuil das Spiel als voraussetzungslose
Realität. Während Valmonts Lust an der ›weiblichen‹ Devotion in der Rolle der Tourvel
einem Narzissmus geschuldet ist, der in der verführenden Zerstörung des Anderen gründet,
flüchtet sich der Wille zur Macht Merteuils in die Maske männlicher Gewalt, die in der
Auslöschung der Rivalin nur ihr eigenes verleugnetes Begehren wirksamer zu bekämpfen
trachtet. Der Tod Valmonts in der Rolle seines Opfers geschieht unter Aufsicht seiner an
Merteuil delegierten Kaltblütigkeit. Das Einverständnis mit einem fremden Tod, der in der
Realität des Stückes der eigene ist, persifliert die Lehre vom Einverständnis der Brechtschen
Lehrstücke. Mit der Inszenierung der Tragödie als Farce wird dem bürgerlichen Trauerspiel
die moralische Wirkung (Furcht und Mitleid als Katharsis) und damit die
geschichtsverändernde Kraft (Lehre) endgültig abgesprochen. Das dramatische Uhrwerk ist
abgelaufen. Die Zukunft kann beginnen.
Merteuils Furcht vor der »Nacht der Leiber« (W 5 51) findet ihre schreckliche Bestätigung im
realen Tod Valmonts und dem Ausbruch ihrer Krankheit. Auf dem Höhepunkt rationaler
Selbstbespiegelung findet Merteuil den Mut, ihren Spielpartner zu opfern und das Jawort zum
eigenen Untergang zu sprechen. Während in Valmont, wie er in der Selbstbespiegelung durch
die Rolle ›Tourvel‹ bemerkte, »nur das Nichts wächst« (W 5 64), reproduziert sich Merteuil
als unendlicher Klon 763 , der sie ebenfalls ins Nichts befördert. Was bleibt, ist Literatur. »Tod
einer Hure. Jetzt sind wir allein / Krebs mein Geliebter«. Der Vers beschließt das Stück. Die
Befreiung von Sexualität und Tod zielt auf die Wiederherstellung eines ursprünglichen
760
Nietzsche-W 2, 906
761
Mann 1981, 406
762
Laclos 1988, 400
763
»Normalerweise sind diese [unsere Zellen] dazu bestimmt, sich soundsoviel mal zu teilen und dann zu
sterben. Wenn es im Verlaufe dieser Teilungen zu Störungen kommt, wird die Zelle zu einer Krebszelle: sie
vergisst zu sterben, sie vergisst, wie man stirbt. Sie wird sich selbst zu Milliarden identischer Kopien
klonen, die einen Tumor bilden. In der Regel stirbt das Subjekt daran, und die Krebszellen sterben mit ihm.«
(Baudrillard 2000, 42)
331
Zustands totaler Identität und Indifferenz. Mit dem Verschwinden des Anderen, verschwindet
auch das Subjekt. Die souveräne Beherrschung der unterschiedlichen Masken lässt nichts
zurück als die Maske, die ihren Träger eliminiert hat. »Das ›ich denke‹ führte nämlich zur
unanzweifelbaren Gewissheit des Ich und seiner Existenz: das ›ich spreche‹ hingegen lässt
diese Existenz zurückweichen, zerstreut sie, löscht sie aus und lässt nur einen Leerraum
bestehen.« 764 QUARTETT zeigt die Aufhebung des abendländischen Subjektbegriffs in
beliebig austauschbaren Sprachmasken, hinter denen der schwarze Abgrund der Entropie
gähnt. Wie in Müllers ein Jahr vor seinem Tod veröffentlichten Gedicht THEATERTOD
absorbieren die Masken ihre Träger.
In der Schlusspassage des FATZER/QUARTETT- Kapitels, beschreibt Müller die
Entstehungssituation von QUARTETT: »Ich saß da in einer Villa bei Rom im obersten Stock.
[…] In den unteren Räumen wohnte meine Frau mit einem anderen Mann, der heftig in sie
verliebt war. Sicher ging davon eine Energie aus. Ich hatte ein kleines Radio bei mir, im
dritten Programm lief gerade eine Schubert-Serie. Und ich erinnere mich an ein Lied, das da
in der Nacht besonders eindrucksvoll war, aus der ›Schönen Müllerin‹, wo der Bach den
Knaben zum Selbstmord einlädt. ›Und die Sterne da oben, wie sind sie so weit.‹« (KOS 317f.)
Die Szenerie, in der die Sätze eines Stücks entstehen, das die Aufklärung auf ihre mörderische
Spitze treibt, erinnert fatal an einen Nachlasstext Müllers aus dem Entstehungsumfeld der
HAMLETMASCHINE: »Ich sitze auf einem Balkon in Sofia und warte auf meine Frau […]
Zu meiner Frau, auf die ich seit vier Stunden warte, fällt mir kein Satz ein. Ich habe keine
Sprache für die Liebe.« (W 2 167) In Quartett ist die Sprache der Liebe der Anatomie des
Geschlechterkrieges gewichen, mit dessen letzter Schlacht auch die Hoffnung für den
Menschen verschwunden ist. Müllers Namensvetter Wilhelm Müller, wegen der
Breitenwirkung seiner Gedichte über den griechischen Freiheitskampf auch »Griechen-
Müller« genannt, verfasst den Text für das Requiem auf den Menschen, der den Bach hinab
auf das Meer zutreibt (auf dessen Grunde bereits Ophelia harrt): »Der Vollmond steigt, / Der
Nebel weicht, / Und der Himmel da oben, er ist so weit!« 765 Die Sternenlosigkeit des
Originals (das auch Schubert verwendet) entspricht der grenzenlosen Dunkelheit des
Weltraums, von der Gagarin den Genossen zu berichten wusste.
Im Zentrum des Kapitels »Ernst Jünger« steht die Begegnung beider Dichter im Jahr 1988 in
Wilfingen/Baden-Württemberg, dem Wohnort Jüngers. Dessen Texte haben eine deutliche
Spur in Müllers Werk hinterlassen. »Er ist einfach als Dokument, als Zeitzeuge, als
Materialsammlung ungeheuer wichtig für mich.« (HMA 4487, 377) Reminiszenzen an
Jüngers ARBEITER, etwa »man fällt nicht mehr, sondern man fällt aus« 766 finden sich in
MAUSER (»Was zählt ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts«, W 4 253) und anderen
Revolutionsszenarien im Werk Müllers wieder, die auf der Überwindung einer individuellen
Moral beharren. In Müllers »DIE ERSTE GESTALT DER HOFFNUNG IST DIE FURCHT,
764
Foucault 1988, 132
765
Wilhelm Müller: Des Baches Wiegenlied. In: W. Müller 1906, 22
766
Jünger-SW 8, 113ff.
332
DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN DER SCHRECKEN« (W 4 259) klingt nicht nur
Bertolt Brecht, sondern ebenfalls »das Grauen« als »das erste Wetterleuchten der
Vernunft« 767 durch, Jüngers blut- und stahlgeschwängerte Kriegsmetaphorik. Mithin geht es
in dem Kapitel der Autobiografie vor allen Dingen um die Strukturverwandtschaft Jüngers
und Müllers Positionen zu Poetik und Politik. Freilich unterlagen Jüngers Texte in der
Bundesrepublik keinen Publikationsverboten. Dennoch galt beider Werk aus
unterschiedlichen Gründen als politisch angreifbar. Jünger blieb – trotz seines literarischen
Renommees – wegen seiner frühen Schriften und seines elitären, zuweilen faschistischen
Politikverständnisses als literarischer Außenseiter und mit zunehmendem Alter als
Irritationsfigur aus einer längst vergangener Zeit. Er selbst nährte diesen Mythos, indem er
wiederholt seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, der geistige Mensch lebe nirgends so unfrei
wie in der Demokratie. Noch bei der Goethe-Preis-Verleihung der Stadt Frankfurt/Main im
Jahr 1982 kam es zu lautstarken Protesten gegen Jünger, für die Müller in seiner
Autobiografie wenig Verständnis zeigt: »Für mich war Jünger nie ein Held, ich habe die
Proteste gegen ihn bei der Goethe-Preis-Verleihung in Frankfurt also auch nicht als
Heldenbeleidigung aufgefasst, ich fand sie nur überflüssig. Mich interessierte seine Literatur.
Ich kann nicht moralisch lesen, genauso wenig wie ich moralisch schreiben kann.« (KOS 281)
Das Primat des Ästhetischen schützt den Autor, wie den Rezipienten vor den Anfechtungen
durch die Meinung – der Grundlage demokratischer Kommunikation.
Vor der Folie Jüngers Vorbehalten gegenüber der Demokratie, die Müller aus anderen
biografischen Gründen mit dem dreißig Jahre älteren Dichter teilt, erscheint es umso
erstaunlicher, dass Jünger als heimlicher Protagonist des Widerstands gegen die Nazis
eingeführt wird. »Ich hatte Jünger schon vor dem Krieg gelesen. Mein Vater hatte mir
›Marmorklippen‹ gegeben, als ein geheimes Widerstandsbuch, ich war dreizehn oder
vierzehn. Ich würde heute nicht sagen, dass ›Marmorklippen‹ zu den besten Texten von
Jünger gehört, aber die marmorierte Allegorie war ganz durchsichtig in dieser Zeit. Der
Oberförster mit seiner Schinderhütte da im Wald war für uns Hitler. Schon 1933 nannte man
Hitler in Sachsen den ›Oberförster‹. Später ging der Name auf Göring über. Man sprach von
Hitler auch als dem böhmischen Gefreiten.« (KOS 275) Jünger verwahrte sich zeitlebens
gegen eine ihm aufoktroyierte Rehabilitierung. Dennoch weist Müller darauf hin, dass Jünger
unter der nationalsozialistischen Diktatur vor existenzieller Bedrohung durchaus nicht sicher
sein konnte: In GÄRTEN UND STRASSEN, dem ersten Teil Jüngers STRAHLUNGEN,
beschreibt Jünger, wie er nach der Verhaftung seines Freundes Ernst Niekisch (»nach dem
Krieg Mitglied des ZK der SED«, KOS 279), in dessen Wohnung ihn belastendes Material
beseitigte. »Ich fragte ihn also nach der Geschichte, und er schwieg, leicht verlegen. Seine
Frau sprach für ihn: ›Die jungen Menschen wissen ja gar nicht, unter welchem Druck man
damals gestanden hat.‹ Mir gefiel, dass er dazu nichts gesagt hat.« (KOS 280) Das Schweigen
Jüngers erschöpft sich nicht in der Verweigerung einer individuellen Rechtfertigung, es
verwirft auch den Versuch einer pauschalisierenden Erklärung durch die Frau. Müller und
Jünger, so suggeriert die Darstellung, vereint ihre Prägung durch die Diktatur und ihre
ambivalente Haltung zur Demokratie als nivellierende Herrschaft der Masse. Eine Passage
aus einem Gespräch Heiner Müllers mit Alexander Kluge bestätigt diese Darstellung.
767
Jünger-SW 7, 21
333
Müller: In der sowjetische Besatzungszone, also in diesem Entstehungsprozess, in dieser
Struktur, aus der dann die DDR wurde, habe ich zum ersten Mal wirklich bewusst Jünger
gelesen, nach dieser frühen Lektüre der MARMORKLIPPEN. Das war eine Anthologie,
BLÄTTER UND STEINE. Da waren DIE TOTALE MOBILMACHUNG, der Essay
ÜBER DEN SCHMERZ, aber auch der SIZILIANISCHE BRIEF AN DEN MANN IM
MOND und das LOB DER VOKALE in einem Buch versammelt, also eine seltsame
Mischung aus so ästhetischer Theorie mit literarischen Texten und …
Kluge: … politischer oder institutioneller Lebenserfahrung im Umgang mit Macht.
Müller: Ja genau, im Umgang mit Macht. Das war für mich wichtig, das war wie eine
Injektion von Aristokratismus gegen diese Nivellierungstendenz der ersten Jahre. […]
Das war für mich wirklich wichtig. (WT 74)
In KRIEG OHNE SCHLACHT findet sich die Argumentation Müllers vorgeprägt: »Nach
dem Krieg las ich BLÄTTER UND STEINE, eine Essaysammlung, die unter anderm DIE
TOTALE MOBILMACHUNG, ÜBER DEN SCHMERZ, SIZILISCHER BRIEF AN DEN
MANN IM MOND UND LOB DER VOKALE enthält. Texte von Jünger und Nietzsche
waren das erste, was ich nach dem Krieg überhaupt gelesen habe.« (KOS 275) Das
»Verhältnis zur Macht«, beziehungsweise das »Sich-Reiben an Macht« (KOS 113) ist für das
Schreiben Müllers von existenzieller Bedeutung. Es nimmt einen zentralen Stellenwert nicht
nur in der Dramenproduktion, sondern gerade auch in der Bedeutungsgeneration der
Autobiografie ein. Im poetischen Habitus der Texte Ernst Jüngers (oder Nietzsches) findet
Müller Anknüpfungs- und Bezugspunkte zur eigenen Erfahrung im Umgang mit der Macht.
Als Erzähler der Autobiografie legt Müller zudem großen Wert darauf, »den Jünger eben vor
Brecht gelesen« (WT 74) zu haben und verweist damit auf das Primat des Ästhetischen in der
eigenen Arbeit, die ihm oft genug als Verweigerungshaltung gegenüber den Ansprüchen des
Publikum, Ästhetizismus oder einfach als Dekadenz angerechnet wurde. Aber auch über diese
Strukturverwandtschaft im »Verhältnis zur Macht« hinaus werden Gemeinsamkeiten mit
Jünger aufgespürt. Einen Anknüpfungspunkt hierfür bildet der »gemeinsame Feind« (KOS
279) Wolfgang Harich. Jünger »wusste von der Harich-Polemik gegen MACBETH« (KOS
279) In seinem Aufsatz JÜNGER UND DER FRIEDEN war Harich Anfang der fünfziger
Jahre gegen die Ästhetisierung des Krieges im Frühwerk Jüngers ins Feld gezogen. Müller
zitiert in diesem Zusammenhang den Jünger-Satz: »In einem Vorgang wie dem der Somme-
Schlacht war der Angriff so etwas wie eine Erholung, ein geselliger Akt.« (KOS 276) Der
Satz erscheint Müller einleuchtend: »Jünger beschreibt eine Erfahrung der Materialschlacht,
der man mit Pazifismus nicht beikommt, nicht mit einer moralischen Position. Die Somme-
Schlacht war eine der ersten großen Materialschlachten.« (ebd.) Am Ende des Ernst-Jünger
Kapitels findet sich die ebenso überraschende wie einleuchtende Schlussfolgerung aus dieser
Feststellung: »Jüngers Problem ist ein Jahrhundertproblem: Bevor Frauen für ihn eine
Erfahrung sein konnten, war es der Krieg.« (KOS 282) Im Kapitel »Die große Schlacht«
seines Romans IN STAHLGEWITTERN hatte Jünger das Zusammentreffen mit dem Feind
nach wochenlanger tödlicher Anspannung in den Schützgräben als blutigen Tanz beschrieben.
In der Schrift DER KAMPF ALS INNERES ERLEBNIS heißt es: »Der Anblick des Gegners
bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck« 768 Müllers
Urteil erscheint als brillante Überbietung Theweleits These vom Krieg als Funktion des
768
Jünger-SW 7, 19
334
(soldatischen) Leibes 769 , das zugleich alle Irrungen und Wirrungen dessen Aufsatzes
vermeidet. In der Arbeitsfassung von KRIEG OHNE SCHLACHT kommt diese Problematik
noch deutlicher zum Ausdruck: »Das Problem bei Jünger ist, dass Erotik bei ihm von Anfang
an biografisch mit dem Tod verbunden war. Das ist einfach biografisch festgelegt, und da
kommt er dann nicht mehr raus. // Er ist mit sechszehn zur Fremdenlegion gegangen, sein
Papa hat ihn da wieder rausgeholt. Mit achtzehn war er bereits im Krieg, und lange bevor
Frauen für ihn eine erotische Erfahrung werden konnten, war es der Krieg.« (HMA 4487,
387) Gewalt, Krieg, Diktatur – das sind zentrale Koordinaten auch in Müllers (inter)textuellen
Systemen.
Eine weitere Identifikationsmöglichkeit mit Jünger bietet dessen Lust an der Provokation oder
in Müllers Terminologie: der »Störung des Geschäftsablaufs« (GI 1 53). Im Zuge der fatalen
Uraufführungsinszenierung der UMSIEDLERIN war vom Spaß der bösen Buben die Rede,
»die dem Lehrer ins Pult scheißen« (KOS 162). Angesichts der Reaktionen einiger
bundesrepublikanischer Politiker und Beamter, die in der Tradition Franz Josef Strauß’
Pinscher-Invektive standen, durfte auch Ernst Jünger infolge der Publikation von
ANNÄHERUNGEN. DROGEN UND RAUSCH im Jahr 1970 noch einmal in die Rolle des
bösen Buben schlüpfen. »Jünger war glücklich, dass er immer noch stört, dass er immer noch
böse ist.« (KOS 277) Spiegelbildlich gilt das für die Kritik Müllers als Apologeten einer
rechten Lebensrevolution (Domdey, Herzinger). Beide Künstler eint darüber hinaus ihr
Hedonismus und die Pose des notorischen Trinkers. Dabei zeigt sich der Whisky-Trinker
Müller von der Kondition Jüngers beeindruckt: Zugleich gelingt es Müller, das Bacchanal
kompositorisch mit der Episode über die ANNÄHERUNGEN in Verbindung zu bringen:
»Jünger ist ein sehr graziler alter Mann. Er bewegt sich sehr leicht. Er hat ungeheuer viel Sekt
getrunken. Ich vertrage keinen Sekt. Es war sehr schwierig für mich, mitzuhalten, so ein Glas
nach dem anderen. Es gab ein Frühstück dazu. Die Plätze waren vorgeschrieben, Giesler galt
als mein Fahrer. Aber er konnte sich auch als Kenner von Jüngers Werk profilieren, weil er
gerade etwas Unangenehmes an der Grenze von Italien nach Deutschland erlebt hatte. Er hatte
ANNÄHERUNGEN. DROGEN UND RAUSCH von Jünger neben sich im Wagen liegen
gehabt. Der italienische Zöllner sah hin und sagte: ›Sie lesen Ernst Jünger, interessant.‹ Der
bayrische Zöllner sah das Buch und sagte ›Machen Sie den Kofferraum auf, und leeren Sie
Ihre Taschen.‹ Jünger war glücklich über die Geschichte. Er hatte eine ganz jugendliche, fast
kindliche Freude daran, ein böser Junge zu sein.« (KOS 277) Daraus ergebe sich auch das
gemeinsame Interesse am »Ausblick auf kommende Katastrophen […] Wir hatten einen
echten Kontakt als Katastrophenliebhaber, auch später beim Essen.« (KOS 281) Beim
gemeinsamen Mittagessen werden dem greisen Jünger noch einmal »mindestens zwei oder
drei Humpen Bier« zugestanden – »ohne sichtbare Folgen.« (KOS 281) Die Reihung der
Superlative am Eingang der oben zitierten Passage (sehr grazil, sehr leicht, ungeheuer viel,
sehr schwierig) ist ein deutlicher Hinweis auf die Künstlichkeit der beschriebenen Szenerie,
ihre ironische Überhöhung. Jünger wird als Statue eines Schicksals vorgeführt, an dem nicht,
769
»Das Geschehen des Krieges hat zum Zentrum den Mann, der es beschreibt. Alle Explosionen kommen aus
ihm oder beziehen sich auf ihn, der Weltuntergang wird aus ihm/für ihn in Szene gesetzt. Der
Kriegsschauplatz ist zunächst und vor allem sein eigener Leib in der Erwartung, in andere Leiber
einzudringen, sie in der Umarmung zu zerfleischen. Der Unwiderstehliche, der Charmeur auf der Jagd nach
Sensationen, erscheint als aktiver Mittelpunkt des Krieges.« (Theweleit 1980, Bd. 2, 188)
335
wie Bergson es will, die Mechanik 770 , sondern gerade die menschlichen Züge lächerlich
erscheinen. Deutlich wird das auch in der sich anschließenden Darstellung, der zufolge Jünger
verleugnet habe, Brecht persönlich gekannt zu haben, weil dieser angeblich ein Jünger-
Portrait des Malers Rudolf Schlichter mit dem Urteil »Deutscher Kitsch« (KOS 278) belegt
haben soll. Auf die Frage nach Carl Schmitt stößt der Erzähler aus ähnlichem Grunde auf eine
Mauer des Schweigens, weil Schmitt »einmal etwas Ironisches über einen Text von Jünger
geschrieben« (KOS 280) habe. Dass im langjährigen Briefwechsel zwischen Schmitt und
Jünger (1930–1983) in der Tat ironische Sticheleien Schmitts gegen Jünger zu verzeichnen
sind mag jedoch leicht wiegen gegen einen wirklichen Stein des Anstoßes. Nachdem Schmitt
Jünger in einem Brief nach dem Krieg vorwirft, privat zu werden, antwortet dieser brüsk: »Ich
bin aber auch berechtigt, Ihnen in der Sache Rat zu erteilen; ich habe das angesichts der
folgenschwersten Entscheidung Ihres Lebens nachgewiesen, und Sie werden sich der Nacht
entsinnen, in der ich Sie auf der Friedrichsstraße verließ und in großer Trauer war. […] Wären
Sie aber in der Sache meinem Rat und Beispiel gefolgt, so würden Sie heute vielleicht nicht
mehr am Leben sein, aber berechtigt zum Urteil in letzter Instanz über mich. Wäre ich damals
Ihrem Rat und Beispiel gefolgt, so würde ich heute gewiss nicht mehr am Leben sein, weder
physisch, noch sonst.« 771 Jünger hatte Schmitt 1933 geraten, zu seinen Schwiegereltern nach
Serbien zu gehen, um ein systematisches Staatsrecht auszuarbeiten. Carl Schmitt konnte
jedoch der Versuchung nicht widerstehen, Kronjurist des Dritten Reiches zu werden. Die
Wege schieden sich. Jünger entzog sich dem Werben der Nationalsozialisten und ging in die
Provinz, schließlich in die innere Emigration. Carl Schmitts Antwort auf den Vorwurf fällt
einsilbig aus: »Capisco et obmutesco« 772 . Ich verstehe und verstumme. Seinem Glossarium
vertraute er indessen an: »Ist das nicht die Rabulistik eines Ich-verrückten Rechthabers?
Nachwirkung seines Meskalin-Experiments?« 773 In den Notaten Schmitts schwingen Neid
und Missgunst auf Jünger mit, der sich Ehren des neuen Staates nicht verweigert. Jünger
erscheint ihm als der Phänotyp des Opportunisten, der sich von den Wellen des jeweiligen
Zeitgeistes tragen lässt. »Ernst Jünger«, heißt es in einer Eintragung, die auf den 27. Januar
1949 datiert ist, »wird reifer und reifer. Jetzt ist er bald reif für den Nobel-Preis.« 774 Von einer
Feindschaft zwischen Schmitt und Jünger, die sich in ihren Briefen weitgehend mit
respektvoller Distanz begegnen kann indes keine Rede sein.
Ganz andere rhetorische Geschütze fährt indes Heiner Müller gegen Rolf Hochhuth auf. In
der Arbeitsfassung seiner Autobiografie findet sich ein Hinweis auf die Auseinandersetzung
zwischen beiden Dramatikern, die ihren Höhepunkt in der »feindlichen Übernahme« (W 8
495) der Immobilie des Theaters am Schiffbauerdamm durch die Ilse-Holzapfel-Stiftung im
Jahr 1995 erreichte, deren Verwaltungsratsvorsitzender Hochhuth ist. Zuvor hatte Hochhuth
bereits zweimal vergeblich versucht, Direktoriumsmitglied des Berliner Ensembles zu werden
– das erste Mal nach dem Ausscheiden von Matthias Langhoff 1993, das zweite Mal,
nachdem Zadek im März 1995 kapituliert hatte. In der »Zeit« vom 5. Mai 1995 reagiert
Müller auf die neuerliche Offerte Hochhuths mit dem Pamphlet HOCHHUTH IST
770
»Komisch ist jede Anordnung von ineinandergreifenden Handlungen und Geschehnissen, die uns die
Illusion von wirklichem Leben und zugleich den deutlichen Eindruck von mechanischer Einwirkung
vermitteln.« (Bergson 1992, 52)
771
Jünger/Schmitt 1999, 247
772
Jünger/Schmitt 1999, 248
773
Schmitt 1991, 293
774
Schmitt 1991, 217
336
JOURNALIST: »Als Leser von Kriminalromanen finde ich Hochhuths Rosenkrieg ums
Berliner Ensemble sehr spannend. Interessanter als seine anderen Stücke.« (W 8 495) Es liege
ihm fern Hochhuths Arbeiten zu bewerten, oder gar abzuwerten. Immerhin unterstellt er
dessen Stücken eine »journalistische« Qualität. Aber Müller interessiere »beim Theater nicht
der journalistische Aspekt. Ich glaube nicht an die unmittelbare Aktualität auf der Bühne.« (W
8 497) Im Gegenteil: »Theater kann nicht überleben, wenn es sich auf jede Regung der
Aktualität einlässt. […] Veränderungen der menschlichen Verhaltensweisen brauchen Zeit.
Und es dauert noch einmal, bis man sie wahrnimmt. Auf diese Dauer müssen Stücke sich
einlassen. Shakespeare erzählt uns immer noch mehr über unsere Epoche als Hochhuth.« (W
8 498) In der gleichen Ausgabe ist ein Rechtfertigungsschreiben Rolf Hochhuths abgedruckt.
Unter der Überschrift MÜLLER IST STAATSFIXIERT bekräftigt Hochhuth einerseits, an
Müllers Position als Intendant nicht rütteln zu wollen 775 , fordert aber andererseits ein
»Theater der Autoren« 776 , womit die Aufführung seiner Stücke, insbesondere des Stückes
DER STELLVERTRETER gemeint ist, was Müllers eigenem Interesse zuwiderläuft. Erst vor
Gericht setzt sich Hochhuth mit seinen Ansprüchen durch. Dass die von Müller rhetorisch
geschickt inszenierte Feindschaft älter ist als dieser Fehde-Handschuh, den der Autor ein
halbes Jahr vor seinem Tod zu werfen sich bemüßigt fühlt, zeigt eine Passage aus der
Arbeitsfassung der Autobiografie: »Das nächste was ich [von Jünger] hörte, war eigentlich
nur diese Geschichte: Hochhuth hatte zu seinem letzten Geburtstag ein Fernsehporträt
gemacht. Ich habe es selbst nicht gesehen, hat mir nur jemand erzählt, der es gesehen hat.
Jünger soll ins Nebenzimmer gegangen sein und mit einem Zeitungssausschnitt aus der ›Zeit‹
wiedergekommen sein, mit diesem Gedicht SELBSTKRITIK von mir, das darin abgedruckt
war. Der Hochhuth musste es vorlesen, weil Jünger das gut fand. Hochhuth hasst mich, das ist
ihm wohl sehr schwer gefallen, das vorzulesen.« (HMA 4487, 384f.) Die Genugtuung über
die »Demütigung« Hochhuths gewinnt ihren vollen Sinn erst unter den Augen Ernst Jüngers,
den Müller für den bedeutendsten lebenden Dichter Deutschlands hält. Weil beide, Müller
und Hochhuth, um dessen Segen buhlen, scheint Müller sich hier in der Rolle des Jakob zu
wähnen, während Hochhuth, Bruder Esau, leer ausgeht.
Zwischen den Kapiteln »Ernst Jünger« und »FATZER-MATERIAL, 1978« befinden sich drei
Kapitel, die sich mit der Wahrnehmung der USA, Westeuropas, des Ostblocks und ausgehend
davon mit der internationalen Heiner-Müller-Rezeption befassen. Zugleich spiegeln diese
Textteile in ihrer Gesamtsicht eine Art politischer Topografie wider, die Fluchtlinien in
Müllers Schaffen darstellen. Wie bei der Begegnung mit den Texten anderer Autoren
775
»Heiner Müller ist unverständlich staatsfixiert, wenn er noch meint, eine private Stiftung trete auf ›im
Kostüm der Treuhand‹, wenn sie gegen eine Summe, die kaum je von der Treuhand an Emigranten bezahlt
worden sein dürfte, Teile eines Theaters übernimmt – oder auch das Theater als Ganzes, sofern die jetzige
Leitung des BE, die sich ja selber auch um einen Ankauf dieses Theaters bemüht hat, nur kam sie zu spät –,
zur Kooperation mit der Holzapfel-Stiftung, die Direktor Sauerbaum bereits freudig zugesichert hatte, nicht
bereit sein sollte, weil Heiner Müller irrtümlich glaubt, er bleibe dann nicht der Intendant? Gewiss bleibt er
der!« (Rolf Hochhuth: Müller ist Staatsfixiert. In: Die Zeit vom 5. Mai 1995)
776
ebd.
337
bedingen auch hier Rezeption und Produktion einander oder fallen gelegentlich zusammen,
was sich etwa in der Tatsache wiederspiegelt, dass Müllers erstes, nach der USA-Reise
vollendetes Stück GUNDLING (1976) ohne die Amerika-Erfahrung nicht mehr
auszukommen scheint. Im letzten Abschnitt des Triptychons feiert nach dem gegenseitigen
Doppelmord der Lessingfiguren Nathan und Emilia »AUF EINEM AUTOFRIEDHOF IN
DAKOTA« (W 4 534) im Angesicht der atomaren Katastrophe eine »Stimme (und
Projektion)« die »HOCHZEIT VON FEUER UND WASSER MENSCHEN AUS NEUEM
FLEISCH LAUTREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLANTIS SOHN DER
TOTEN« (W 4 535). Die Inkommensurabilität der hier ausschnitthaft dargestellten
Metaphernschwemme lässt erkennen, welches explosive Potenzial die Amerika-Erfahrung für
die Dichtung Heiner Müllers freisetzt. Das Amerika von dem bei Heiner Müller die Rede
geht, ist kein voraussetzungsloser Kontext, sondern Teil eines global angelegten
archäologisch-poetischen Projektes, welches die aufgehäuften Ablagerungen menschlicher
Mythen und Geschichten nach Bruchstücken von Differenzen und Konflikten durchsiebt, die
dem eigenen Schaffensprozess eingestellt werden können. Damit stellen die Reisen zugleich
Metamorphosen dar: Amerika-Werden Müllers, Müller-Werden Amerikas. Keine dieser
beiden Formationen – weder der Autor noch das poetisch überformte geografische, politische,
ökonomische, soziale Gebilde Amerika – ist nach diesen Begegnungen die gleiche.
Bereits bevor Müller die USA aus eigener Anschauung kennenlernt, spielt der Mythos
Amerika eine Rolle im Denken des Autors, die aufgrund der USA-Reise Mitte der siebziger
Jahre aus dem Unbewussten in die Erinnerung zurückgeholt wird. Im Gespräch, das Heiner
Müller mit Wolfgang Schivelbusch für eine Produktion des »Sender Freies Berlin« während
seines ersten USA-Aufenthaltes 1975 in New York führte, ist in diesem Zusammenhang von
der »Vor-Vergangenheit meiner Amerikaerfahrung« (W 8 533) die Rede, die sich in erster
Linie aus frühen Lektüren wie Friedrich von Gagern und Karl May herleitet und deren
Klischees von »edlen Indianern« (ebd.) und heldenhaften deutschen Siedlern aufsitzt. Eine
weitere Prädisposition erfährt das Amerikabild Müllers durch das »Morgensternsche Erbe«
(ebd.), einen erzgebirgischen Mythos, demzufolge »ein Millionär namens Morgenstern, der
aus dem Erzgebirge mal ausgewandert war, gestorben war und alle seine Verwandten im
Erzgebirge – das war kurz vor der Depression – zu Erben eingesetzt hat« (ebd.), laut Müller
ein Grund dafür, dass sein Geburtsort Eppendorf über »ein Schwimmbad, sehr gut gebaut, mit
Sprungturm und allem« (KOS 15) verfügte, wie die Autobiografie zu berichten weiß. Die
erste »Begegnung« (W 8 554) mit einem Amerikaner führt schließlich zur Wiederbelebung
eines seit Karl May latent schwärenden Antiamerikanismus, ein Motiv, das ebenfalls im Text
der Autobiografie wieder auftaucht: Eine Flasche Anisschnaps, die der junge Soldat nach
Kriegsende neben einem Pferd gefunden hatte, wird bei der Gefangennahme durch die
Amerikaner beschlagnahmt. »Das habe ich den Amerikanern nie verziehn.« (KOS 38)
Das achtzehnte Kapitel der Autobiografie widmet sich ausschließlich den Vereinigten Staaten.
Eine Zwischenfrage, in der Arbeitsfassung des Manuskripts HMA 4487 noch vorhanden, ist
im Drucktext getilgt, das Kapitel mithin nur durch Absätze in grob thematische Blöcke
unterteilt. Ausgehend von der ersten Nordamerika-Reise des Erzählers im Jahr 1975/76 sind
unter der schlichten Überschrift »USA« die Stationen der Reise zusammengefasst:
»Kalifornien, New Mexico, Arizona, Nevada Mississippi« (KOS 284), New York und
Austin/Texas wären hinzuzufügen. Der Einstieg in das Kapitel erfolgt über die
Problematisierung einer vermeintlichen ostdeutschen Identität: »Meine erste Amerikareise
338
1975 dauerte ein Dreivierteljahr und ich habe mein Visum weit überschritten. Als ich
zurückkam, war ich schon abgeschrieben. Meine Gage am Berliner Ensemble war von der
Berghaus schon storniert.« (KOS 283) Infolge der Beschreibung der objektiven Folgen des
eigenen Fortbleibens gewinnt auch die Frage nach der Identifikation mit dem Ort der
bisherigen schriftstellerischen Tätigkeit den Anschein einer realen Bedrohung. Immerhin
nennt Müller die Existenz zweier deutscher Staaten und sein Verbleib in der DDR wiederholt
als erfahrungsmäßige Voraussetzung seines Schreibens – obschon keine gesicherte Aussauge
darüber zu treffen ist, ob sich hinter dieser rhetorischen Figur viel mehr als eine komplexe
poetologische Konstruktion verbirgt. Ein Gedicht, dessen lyrisches Ich als unmittelbare
Identifikationsfigur des Autors angelegt ist, legt jedoch nahe, dass der aus der Fremde
zurückgeworfene Blick auf die Verwurzelung im Bruch des geteilten Landes durchaus mehr
ist als bloßes Konzept: »MANCHMAL WENN ICH MEINE PRIVILEGIEN GENIESSE /
Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach West(Berlin) / Überfällt mich was die
Idioten vom SPIEGEL meine / Wütende Liebe zu meinem Land nennen / Wild wie die
Umarmung einer totgeglaubten / Herzkönigin am Jüngsten Tag« (W 1 215)
Eine längere Passage des Amerika-Kapitels umkreist den Mythos Charles Manson, aus dessen
(tödlichem) Blickwinkel der Erzähler die USA zuerst wahrzunehmen scheint. Es ist die
Perspektive des selbstinszenierten Scapegoats, hinter dem sich das schizophrene Wesen der
amerikanischen Gesellschaft verbirgt. In einer Mischung aus Heilserwartung und
Sozialfaschismus versucht der Sündenbock/das Opferlamm Manson, die unüberbrückbaren
sozialen Differenzen mittels seines pseudoreligiös begründeten Fanatismus zum finalen
Zusammenstoß zu bringen, um so eine soziale Katharsis auszulösen, als deren Heilsbringer er
sich berufen fühlt. Müller unterhält in den USA Kontakt zu einem Journalisten mit
regelmäßiger Verbindung zu Manson, besucht das Death Valley, den letzten Rückzugshort
dessen »family« und wohnt eine Zeit lang in Beverly Hills »gegenüber dem Haus, wo der
Mord an Sharon Tate stattgefunden hatte« (KOS 283). Unkommentiert übernimmt Müller
Mansons an Sade geschulte Argumentation, dass »alle amerikanischen Präsidenten viel mehr
Leute umgebracht« (ebd.) hätten als er. 777 »Manson ist deshalb als USA-Präsident in die
Schlussszene von GUNDLING eingegangen, Manson for President.« (ebd.) Einen zweiten
impliziten Amerikabezug erhält GUNDLING durch die New Yorker Steubenparade. Der
hochdekorierte Stabskapitän Friedrichs des Großen, der preußische Leutnant Friedrich
Wilhelm Steuben, bekleidete nach seiner Übersiedlung wichtige militärische Ämter auf Seiten
der amerikanischen Kontinentalarmee und war an einer Reihe von militärischen Aktionen
beteiligt, die schließlich zu ihrem Sieg und der Unabhängigkeit Amerikas führten. Müller
erscheint er als satirischer Ausgangspunkt des Stückes: »Steuben reitet über den Atlantik und
holt die Kartoffel nach Preußen.« (KOS 284) Die Bedeutung des Amerikanischen
Unabhängigkeitskrieges bestünde der müllerschen Konstruktion zufolge in der Kultivierung
der Kartoffel in Preußen als Ergebnis der Demontage Englands als atlantischer Weltmacht,
mit all ihren weniger ernährungs-, als vielmehr sozial- und militärhistorischen Implikationen
für Europa und die Welt.
777
Ein vorweggenommener Kommentar findet sich im Gespräch mit Frank M. Raddatz über Brecht aus dem
Jahr 1988: »Das ist das Interessante an de Sade und seiner These, dass der Staat über Jahrtausende mehr
Menschen getötet, gequält und gefoltert hat, als alle privatkriminellen Energien es je zustande bringen
würden.« (GI 2 122)
339
Die »Grunderfahrung« (ebd.) des USA-Aufenthaltes besteht jedoch nicht im Kulturschock,
sondern in der Wahrnehmung der Natur, die freilich mittelbar auf den gesellschaftlichen
Prozess zurück bezogen werden muss, was Müller in der ihm eigenen auf Konfrontation der
Formationen zielenden Art auch tut. »Die eigentliche amerikanische Dimension ist ja nicht
die Zeit, sondern der Raum. Wir sind ziemlich weit durchs ganze Land gekommen:
Kalifornien, New Mexico, Arizona, Nevada, Mississippi. Eine Dampferfahrt ins Mississippi-
Delta, verrottete Bohrtürme, ganze Industrieanlagen, die halb im Sumpf steckten, verrostet,
und dann am Ufer die verkommenen alten Plantagenhäuser. Das war schon seltsam, dieser
Kapitalismus mit Rändern. In Europa hat er keine Ränder mehr, oder es ist da ganz schwer,
die Ränder zu sehen. In Amerika sind die Ränder das Lebendige, überall gibt es noch nicht
besetzte Landschaft, auch sozial noch nicht besetzte Landschaft. Landschaften, die nicht
domestizierbar sind, wo die Legenden von den Flying Saucers entstehen konnten. Das wird
ganz verständlich in Nevada, Arizona oder Grand Canyon.« (KOS 284) Die Darstellung der
amerikanischen Landschaft als politische Qualität geht auf ein Interview zurück, das Müller
1980 anlässlich der Uraufführungsproduktion von AUFTRAG am Schauspiel Frankfurt gab.
Müller nimmt in diesem Zusammenhang eine Ästhetisierung der Landschaft vor. »Die
[Landschaft] kann man nie wirklich industrialisieren. Das ist nicht drin. Da bleibt immer noch
was übrig. So einen Eindruck von der Mississippi-Mündung, wo Industrieanlagen verrotten in
Sümpfen. Da ist etwas ungeheuer Schönes in diesem Kapitalismus, der da bis an seine Grenze
gelangt. Die Grenze ist die Landschaft. Die kann man eben nicht in den Supermarkt
verpflanzen. Da bleibt immer noch ein Rest samt seinen Naturkatastrophen. Die sind dann ein
Moment der Hoffnung. Sie sind belebend.« (GI 1 59) Die Erfahrung einer Landschaft
»jenseits des Menschen« (W 8 283) liefert einen entscheidenden Impuls für die eigene Arbeit
und schlägt sich in Texten wie DER MANN IM FAHRSTUHL (s. a. DER AUFTRAG),
BILDBESCHREIBUNG oder in der aus dem Nachlass zutage geförderten Poe-Übertragung
[Höre mir zu, sagte der Dämon …] offenkundig nieder. Nachdem die
Wirklichkeitskompatibilität der kommunistischen Ideologie marxistisch-leninistischer
Provenienz in Müllers Stücken während der sechziger und siebziger Jahre zunehmend in
Frage gestellt wird, nimmt der Rekurs auf die »Mobilisierung der Ränder« (JN 28) in seinem
Schreiben im Verlauf der späten siebziger und achtziger Jahre einen zunehmend zentralen
Stellenwert ein.
Als Müller 1975 als »writer in residence« an die University of Texas nach Austin kommt,
gelangt einer seiner poetisch wie politisch bislang wohl brisantesten Texte zur Uraufführung:
MAUSER. Als Gastspiel erreicht die Inszenierung, die ausschließlich von weiblichen
Studenten unter der Regie der Germanistin Betty Weber und Fred Behringers bestritten wird,
sogar New York. Das Produktionsteam ist »nach längeren Beratungen« zu dem Schluss
gekommen, »dass man das in Amerika nur mit Frauen machen könnte, einer Minderheit.«
(KOS 285) Im Anschluss an diesen Satz findet sich in einer Arbeitsfassung die folgende
Passage, die aufschlussreich hinsichtlich der Definition von Minderheiten als sozialen
»Rassen« (Deleuze/Guattari) ist. »Also, wir suchten eine Minderheit, weil wir meinten, das
kann man da in den USA nur aus der Haltung einer Minorität, aber mit Schwarzen wäre das
problematisch gewesen – deshalb mit Frauen, den Negern über den Negern.« (HMA 4487,
391) Eine weiße Elite (Universitätsstudentinnen) eignet sich das argumentative Repertoire
einer in der Destruktion/Konstitution dargestellten Gesellschaftsformation an, die auf der
Suche nach einer neuen Moral jenseits einer auf Besitzverhältnissen gründenden Definition
340
des Menschen ist. Ganz im Sinne Brechts spielen die Studentinnen ihre Distanz zum
vorgetragenen Text mit. »Für die Frauen war Revolution grundsätzlich etwas Böses, und weil
in dem Stück von Revolution die Rede war, hatten sie das Bedürfnis, ihren Standpunkt dazu
auch vorzutragen. Deswegen gab es zwischen den Szenen Statements, die Spielerinnen traten
einzeln oder paarweise an die Rampe und klärten das Publikum darüber auf, dass Revolution
etwas Böses sei. »Revolution is bad my grandmother told me.« Dann stiegen sie wieder ein in
das Spiel und verwandelten sich in eisenharte Bolschewisten.« (KOS 286) Vielmehr als die
privilegierte Haltung einer weißen Ober- und Mittelschicht interessieren Müller an Amerika
die kaum verhohlenen sozialen Differenzen. »Interessanter ist es für mich natürlich schon
dadurch, dass hier die dritte Welt vertreten ist, sie ist ein Element hier schon, auch wieder in
ganz verschiedenen Erscheinungsformen.« (W 8 556) So sei etwa »Reagens Kalifornien
Asiens Landebahn in Amerika« (LN 29) Und im historischen Vergleich, der Marx’
Schauspiel einer Wiederholung von Geschichte im 18. BRUMAIRE verkehrt, stellt Müller
fest: »Das neue Rom heißt USA, Che Guevara ist das Kreuz des Südens.« (W 8 261)
Die Affinität zu Charles Manson, die Fokussierung auf soziale Randgruppen (»Das Schwarze
Drama in den USA ist mir weniger fremd als die kapitalistischen Trauerspiele von Botho
Strauß«, W 8 219) sowie die landschaftlichen Randzonen macht deutlich, dass es allem voran
das große Potenzial der Subversion ist, das Müller an Amerika fasziniert. In seiner
Textcollage NEW YORK ODER DAS EISERNE GESICHT DER FREIHEIT wird dieses
Potenzial der Desorganisation und des Zerfalls in eine geschichtsphilosophische Perspektive
eingestellt und mithilfe unter anderem des alttestamentarischen Mythos von Kain und Abel
sowie der Gegenüberstellung von Orient und Okzident mit dem Gegendiskurs des
Sozialismus sowjetischer Prägung verklammert. Innerhalb dieser poetischen Zusammenschau
historischer und politischer Gefüge gelingt es Müller, New York als »Atlantis« zu
virtualisieren und aus dem »Flaggschiff des Kapitals« utopisches Kapital zu schlagen.
Mithilfe einer Abfolge von Fremd- und Selbstzitaten inszeniert der Autor einen intertextuellen
Spielraum, in dem die herausgesprengten Versatzstücke unterschiedlicher
Amerikaerfahrungen in einem Wirbel beschleunigt werden. Aus diesem Kontext fällt nur der
sechste und letzte Teil des Textes heraus, der nicht explizit als Zitat ausgewiesen ist – das in
Versalien gesetzte Paradigma der Hybris der Sophokleischen ANTIGONE in der Übertragung
Hölderlins: »UNGEHEUER IST VIEL DOCH NICHTS / UNGEHEURER ALS DER
MENSCH« (W 8 331). Unmittelbar gespiegelt wird diese Problematik in einem Ausschnitt
aus Brechts FATZER-Fragment, der den New-York-Text eröffnet. Bei Brecht wird die
menschliche Leistung (»eine neue / stadt mit namen new york / dies hat gemacht / unser
geschlecht oder eines / das ihm ähnlich ist«, W 8 327) mit der Niedrigkeit menschlichen
Handelns und seiner selbstzerstörerischen Kraft (»was hat es genützt? Jetzt / laufen wir wie
ratten in dieser / höhle herum«, ebd.) dialektisch verschränkt. Die Verkörperung menschlicher
Geschichte als Gewaltprozess setzt sich fort im dritten Teil mit der Identifikation von
Freiheit/Gerechtigkeit und Krieg in Kafkas sehender Justitia: »Ihr Arm mit dem Schwert ragte
wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte … (aus: Kafka
AMERIKA)« (W 8 328). Das darauf folgende Zitat – »Ungeheuer, Atalanta / Leuchtet deine
Sonne. (aus: Hanns Eisler JOHANN FAUSTUS)« (W 8 328) – erscheint als Variation
Müllers Brecht entlehnter Formulierung des Schreckens als der ersten Erscheinung des
Neuen. Sie korrespondiert mit dem zweiten Textteil, der einer Replik Debuissons aus Müllers
AUFTRAG entstammt und die globalen Widersprüche und Differenzen beschwört: »Wir sind
341
drei Welten.« (W 8 328) Den breitesten Raum nimmt der fünfte Abschnitt ein, der mit
essayistischem Duktus eine menschheitsgeschichtliche Perspektivierung des Phänomens New
York vornimmt: »In Kafkas AMERIKA trägt die Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt von
New York ein Schwert statt der Fackel. In New York zeigt die Freiheit ihr eisernes Gesicht.
Manchmal ist es das Gesicht der Gorgo, deren Blick versteint. Seit London, erschöpft von
Herrschaft wie eine Frau von Geburten, nicht mehr in der Nachfolge Roms steht (der
eigentliche Verlierer des Zweiten Weltkriegs, als einer Phase im Weltbürgerkrieg des
zwanzigsten Jahrhunderts, ist England), sind New York und Moskau die Metropolen der
Welt, New York das Flaggschiff des Kapitals im BAUCH DER BESTIE, wie Che Guevara
die USA genannt hat, mit der Blutbahn der Banken, Moskau die narbenbedeckte Hoffnung
der Welt, lange Zeit dem Blick entzogen durch einen blutigen Nebel. So wenig wie Moskau
ist New York eine feste Stadt. Moskau seit dem Sturm aus Asien, der die Rache der Kinder
Abels an den Erben des Brudermörders und ersten Städtebauers Kain war, immer neu gegen
den Wind gebaut, nomadisch bis in die Architektur; noch der Stalinbarock hat durch seine
Ornamentik die Fliehkraft von Zeltgiebeln: asiatische Verfremdung der kalt monumentalen
Wallstreetgeometrie, die der architektonische Ausdruck des Puritanismus ist, einer Religion
für Kolonisatoren. / New York ein Gebilde, das aus seiner eignen Explosion besteht,
UNSTET UND FLÜCHTIG im Sinn der biblischen Verfluchung, Schnittpunkt von
Kontinenten, kein Schmelztiegel, wie die landläufige Vorstellung meint, sondern ein Ort der
Trennung, die Elemente (Rassen Klassen Nationen) bleiben separat (Little Italy Chinatown
Lower Eastside Harlem), mit keiner andern Solidarität als der des Geldes. Die berühmte
Skyline täuscht: New York, ein Pfahlbau, ist dem Wasser näher als dem Himmel, sein Grund
die Leiber der toten Indianer, die Abels weniger glückliche Nachkommen sind. […] Wenn als
Folge der Klimaverschiebung, ein Triumph der Technik, Nord- und Südpol abschmelzen, holt
der Atlantik vielleicht seine Hauptstadt heim, das Wasser den Beton, schwimmen die Haie
durch New York. Inzwischen ist das Gesetz des Wachstums von New York das Gesetz des
Dschungels: Wucher und Verfall, und aus den Ghettos wächst die Wüste auf die Stadt zu,
während mit schnellerem Wachstum im Schatten der Erdbeben Los Angeles die Nachfolge
Antritt, Hauptstadt des Pazifik und ein neues Babel.« (W 8 328ff.)
Ist die (revolutionäre) Bewegung, die das nomadische Moskau impliziert, unter dem blutigen
Nebel Stalins Despotie unsichtbar und im Kessel des sozialistischen Bruderblocks eingefroren
worden, wird der Hauptstadt des Atlantiks die Perspektive des Meeresbodens zugestanden,
die ein mythologisches Atlantis evoziert und somit die Bewegung der Vorstädte auf die Stadt
zu in die Vertikale umbricht. Kubrick/Spielberg haben dieser Vision in A. I. ein bildmächtiges
Paradigma verschafft. Als ein Gebilde, das aus einer Explosion (»einer Erinnerung«, W 2
119) besteht, hatte Müller auch seinen Text BILDBESCHREIBUNG bezeichnet. Im
Interview, das auf Müllers erste Amerika-Reise zurückgeht, sieht er in dem explosiven
Potenzial Amerikas allerdings weniger Brisanz: »… dieses Konglomerat hier ist in dauernden
Explosionen, [ ...] explodiert ständig. Aber nie als Ganzes, weil es kein Ganzes ist. Und das
ist zunächst mal ein Mittel, die zu wünschende große Explosion zu verhindern. Die wird
verteilt, die verteilt sich. Also explodiert das ständig irgendwo.« (W 8 555) Die permanente
Entladung verhindert die Akkumulation eines gefährlichen (sozialen) Druckgefälles. In
späteren Textes wird diese der Empirie verhaftete Relativierung zugunsten einer poetischen
Verschärfung der Differenzen aufgehoben. Mit der zunehmenden Perspektivlosigkeit des
europäischen Sozialismus, wird die Lücke im Ablauf zunehmend an den Rändern eines
342
fiktionalisierten Kapitalismus oder in den Konflikten und Verwerfungen einer imaginären
Dritten Welt gesucht. Die Rolle der Kunst erweist sich in diesem Kontext allerdings als
schwierig. War Müller aus der Perspektive Europas fasziniert von der »wilden Freiheit« (W 8
367) Rauschenbergs Montagen, erscheint ihm dessen künstlerische Geste angesichts der
amerikanischen Realität affirmativ. »Ihre Sanftheit begriff ich in Texas, vor den
Sonnenuntergängen, ihren Humor in New York, wenn der Wind aus den Indianerprärien mit
den Mülltonnen am Hudson spielte.« (ebd.) In KRIEG OHNE SCHLACHT kehrt dieses
Motiv wieder. »Eine amerikanische Kunsterfahrung: In New York war Rauschenberg, von
Europa aus gesehen ein Gipfel der Moderne, ein Naturalist. Wenn der Wind von den
kanadischen Seen die Mülltonnen über eine Straße am Hudson wirbelt, Zeitungen fliegen und
der Dreck der Metropole, wird seine Kunst ornamental.« (KOS 286) Parallel heißt es in NEW
YORK über Warhol: »Schwierig, New York mit Kunst beizukommen: Vor dem Tanz der
fliegenden Zeitungen und im Wirbel der Mülltonnen, die der Wind aus den Indianerprärien
über die Straßen am Hudson treibt, schrumpft sie auf das Beispiel Andy Warhol, Klassiker
New Yorks durch die Qualität der kleinsten Größe.« (W 8 330) Die Austauschbarkeit der
Namen deutet auf das Primat der poetischen Grundstruktur hin, die sich zur Verdeutlichung
ähnlicher Sachverhalte der Verallgemeinerung bedient. Immerhin sieht Müller in
Rauschenbergs Kunst zugleich die »Aufkündigung des Totengräberdienstes an der
Wirklichkeit, den die Kunst zu lange versehen hat« (W 8 367) und legitimiert Rauschenberg
als einen der avanciertesten Künstler der Moderne, dessen Kunst in Müllers Augen vermag,
vom Menschen abzusehen: »Während ich das schreibe […] schrein die Pfauen im Tierpark,
an dessen Rand ich wohne. Sie schreien jede Nacht. Ich wollte, sie könnten Rauschenbergs
Bilder sehen.« (ebd.) Beeindruckt zeigte sich Mülle von Rauschenbergs Illustrationen zu
Dantes INFERNO. Ein »Traumraum« (HMA 3947), der ihn bei der Inszenierung von
HAMLET/MASCHINE 1989/90 inspirierte. In jenem Kapitel seiner Autobiografie, in dem
sich Müller dezidierter mit bildender Kunst auseinandersetzt heißt es über Rauschenberg:
»Sein Umgang mit dem Trivialen, das Verhältnis von Pathos und Trivialität hat mich
interessiert, dadurch entsteht eine Reibung, die etwas von Feuermachen mit Holz oder Steinen
hat.« (KOS 339) Und zu Warhol notiert Müller, wiederholt das Interesse am formalen Aspekt
dessen Kunst bekundend, handschriftlich ins Manuskript seiner Arbeitsfassung der
Autobiografie: »Warhol ist eine Karosserie ohne Motor. Genial ist seine Geste.« 778
Die USA-Erfahrung Müllers wird als Korrektiv zu einem rückwärts gewandten kulturellen
Hegemonialanspruch Europas deutbar – im Gegensatz zur früheren Kritik einer Affinität der
Amerikaner zu »erfahrungslose[r] Intelligenz« (GI 1 66) als Produkt der Hollywood-Kultur
im Sinne Horkheimer/Adornos. Mithilfe der Abgrenzung vom Erfolg des »alten Möbels«
Thomas Mann, der lediglich ein »Nostalgieerfolg« (KOS 286) sei, wird diese Tatsache in
KRIEG OHNE SCHLACHT auf die Rezeption Heiner Müllers umgedeutet. An Müllers
Texten interessiere die Amerikaner vor allem »die Geschwindigkeit, der schnelle
Tempowechsel, ohne Übergang« (ebd.), weshalb ein Student in San Diego Müllers Technik
auch als »Surfdramaturgie« (ebd.) charakterisiert. Den schnellen Perspektivwechseln des
Musikclips ist diese Dramaturgie näher als der auf Ganzheitlichkeit zielenden Ästhetik der
778
KOS 339. Im vermutlich letzten Arbeitsmanuskript hieß es im Anschluss an den letzten Rauschenberg-Satz
noch: »Das findet man bei Rauschenberg, bei den frühen Sachen, bei Kounellis sowieso, bei Warhol nicht
so stark. Aber seine Geste, seine Reaktion auf diese Welt, da ist er schon toll.« (SUSCHKE 540) Müller
strich diese Passage durch und ergänzte handschriftlich wie oben zitiert.
343
bürgerlich-humanistischen Tradition. Bereits in einem frühen Collage-Gedicht Müllers findet
sich solch eine clipartige Reihung die, wie Klaus Theweleit meint, mit einem komplexen
Geflecht transatlantischer Wahrnehmung poetischer Strömungen spielt.
Der erste Vers des Gedichtes, der Carl Scheidts GROBIANUS-Übertragung zitiert, führt die
Unfähigkeit des Mitleidens und der Empathie mit den Opfern vor und treibt die
Schadenfreude – vitale Bestätigung der eigenen Lebensfreude – im Angesicht des Schmerzes
der anderen auf die Spitze. Der Wunsch des jüdischen Jungen nach Dazugehörigkeit zur
Sippe seiner Mörder im zweiten Vers korrespondiert mit der schmerzlichen Erfahrung, die
Müller selbst gemacht hatte und die er immer wieder suchte: die des »Ausländers im eigenen
Land«, wiewohl es sich um Todesangst dabei nie gehandelt haben dürfte. Die Identifikation
des Jungen mit seinen Mördern entspringe, so Müller im Gespräch mit Sylvére Lotringer
1982, einer »Umverteilung des Todes« mit dem Ziel, »die Furcht vor dem Tod zu
unterdrücken« (GI 1 103). Im Schreibprozess Müllers wird diese latente Fremdheit permanent
reaktualisiert. Schon von daher sind die Texte Dialoge mit den Toten. Die Enteignung des
Terrors einer Schauerromantik a la Hoffmann und Tieck im Zuge eines von Poe konstatierten
Verinnerlichungsprozess, stellt der Autor des Textes (das lyrische Ich ist in eine Vielzahl
divergierender Stimmen aufgelöst) eine Wiederaneignung des Terrors deutscher Provenienz
entgegen, der sowohl die Verachtung des Schmerzes durch Grobianus, den grotesken
Verwandlungswunsch des jüdischen Jungen und die Psychologisierung des Schreckens durch
Poe in sich aufzuheben weiß. In ihm vereinen sich Grobianus’ Verlusterfahrung und die
Inkommensurabilität der Shoah mit dem (amerikanischen) Terror der Seele, der – wie Müllers
Gedicht – von Zitaten lebt. »Zitate. Merkwürdige Blutleere. Der Zombie ist ja auch eine
angloamerikanische Grundfigur. Eine Grundfigur amerikanischer Zivilisation.« (GI 2 110f.)
Die Sowjetunion und insbesondere Moskau, die Stadt vor der der deutsche (wie der
napoleonische) Angriff ins Stocken geriet, stellt bis in die neunziger Jahre unbestritten den
anderen wichtigen Eckpunkt Müllers poetischer Topografie dar. Dass die »narbenbedeckte
Hoffnung der Welt« (W 8 329) im Werk Müllers nicht mehr als eine Metapher für die
Projektion eben dieser Hoffnung ist, kann als ebenso gesichert angenommen werden. »Die
Erfahrung der Landschaft hätte ich genauso gut in Russland haben können, aber ich war nur
zweimal ein paar Tage lang in Moskau, auch eine Verweigerung vielleicht, weil ich wusste,
dass mir in der sozialistischen UdSSR mein Marxismus leichter abhanden kommen konnte als
in den kapitalistischen USA.« (KOS 300) Parallel zur qualitativen Dimension der Landschaft
konstatiert Müller im Gespräch mit Alexander Kluge unter Bezugnahme auf Malapartes
344
»These von der asiatischen Zeitreserve« 779 eine Qualität der Zeit, die sich aus der Weite des
unbeherrschbaren Raumes ergebe. »Man hat dort das Gefühl, dass das noch da sein wird,
wenn es keine Menschen mehr gibt.« (LV 122)
Warum aus dem Erzähler der Autobiografie über sein Verhältnis zum Mutterland der
»Großen sozialistischen Oktoberrevolution« nicht mehr herauszubringen ist, begründet er mit
dem Verweis auf eine latente Angst vor der Desillusionierung, der Ent-Täuschung einer wohl
eher poetischen denn politischen Konstruktion. Im Interview hatte Müller 1986 die Einlösung
des Emanzipationsgedankens noch unmittelbar an die »Existenz der Sowjetunion« (GI 1 186)
geknüpft. Dass er sich zeitlebens intensiv mit jener ›narbenbedeckten Hoffnung‹ auseinander
setzte, mag vermutlich gerade mit den ›blutigen Nebeln‹ des Stalinismus in Zusammenhang
gebracht werden, die die Metropole gesellschaftlicher Emanzipation dem Blick entzogen.
Stalin steht beim späten Müller für das Paradox einer Revolution, welche im alten
Gewaltzusammenhang gefangen bleibt, weil es ihr nicht gelingt, die Neue Welt mit den alten
Mitteln herzustellen. In GERMANIA 3 monologisiert Stalin im mythischen Gewand des
Zeus: »Wie soll ich / Die träge Masse Russland im Genick / Den neuen Menschen schaffen,
wenn der alte / Nicht liquidiert wird, Gestern für den Morgen. / Das Massengrab geht mit der
Zukunft schwanger / Menschen aus neuem Fleisch sind was die Zeit braucht. / Ich backe sie
aus ihrem eignen Blut / Und kein Prometheus kommt mir in die Quere / Am Felsen ist noch
Platz im Kaukasus.« (W 5 257) Eine Entsprechung findet dieses Modell des Scheiterns in
dem Nachlass-Gedicht »ajax«: »vielleicht haette prometheus warten sollen auf die / neue
menschheit die zeus im kopf hatte oder schon / auf dem reissbrett / das verbrechen ist die
ungeduld. stalin wusste dass / die bedingung des neuen menschen die vernichtung / des alten
war. / lenin hatte recht, als er zu trotzki sagte: wir haben / den galgen verdient.« (W 1 299)
In der Überschrift des kurzen Kapitels »Sowjetunion, Ostblock« ist von der Problematik der
zur Unzeit ins Werk gesetzten Revolution 780 mehr enthalten als im Sprechtext des übrigen
Kapitels der Autobiografie. Als Gegenmodell zur Unzeit wird im Ost-Block, respektive im
Kessel, nicht lediglich eine räumliche Segmentierung vorgenommen, essenziell wird auch die
zeitliche Koordinate, beziehungsweise die Stillstellung der Zeit im Sinne Benjamins
geschichtsphilosophischer Thesen. Im Block/in der Blockade hat sich, wie im poetisch
konstatierten Schreib-Block Mommsens/Müllers 781 , das utopische Potenzial aufgestaut, das
aufgrund der objektiver Widerstände nicht zur Entfaltung gelangen kann. Die Erfahrungen
dieses Scheiterns produziert Sedimente, Verhärtungen, lesbar als Monumente. Die Denkmäler
der unter ihnen begrabenen Hoffnungen warten auf Geschichte. Gut möglich, sie werden
geschleift, ohne ihr Geheimnis jemals preiszugeben. Mit der Übernahme der deutschen Taktik
durch Stalin und der Domestizierung des Kessels für das einstmals revolutionäre Projekt
Sowjetunion bei Stalingrad – auf das Beschreibungsmodell Bernd Böhmels greift Müller
wiederholt zurück –, war der Ostblock aus russischer Sicht ebenfalls nur als gefrorener Kessel
779
LV 122. In dem Text NACHRICHT AUS MOSKAU spricht Müller vom Umschlag der Zeitreserve in »eine
Zeitbombe […] (das Beispiel Karabach)« (W 8 350).
780
Im Gedicht AJAX ZUM BEISPIEL findet sich der Hinweis, dass die Geschichte der Revolution als
Geschichte der Unzeit lesbar ist: »Wie kann eine Revolution ein Unglück sein / In Brechts Anmerkungen
zur MUTTER COURAGE / Wurde der Revolution der Reißzahn gezogen / Heute kann ich die Fortsetzung
schreiben Der / Französischen Revolution in den Kriegen Napoleons / Der sozialistischen Frühgeburt im
Kalten Krieg« (W 1 292f.).
781
Ein Paradigma für diesen writer’s block stellt Müllers Text MOMMSENS BLOCK dar.
345
vorstellbar. Dass das »Tauwetter« im Gefolge Gorbatschows Machtübernahme die politischen
Teilblöcke im Osten Europas lediglich abschmelzen ließ, um den zurückbleibenden Morast
dem »Klassenfeind« zu überlassen, spricht schon eher für das revolutionäre Potenzial des
Kapitalismus, gegen den die Ideologie des Kommunismus als letzter Bremsversuch im Sinne
einer Politik des Menschen vergeblich aufbegehrte.
Wie die russische Revolution von 1917 war die Französische Revolution von 1789 eine
»Initialzündung« (GI 1 186) und Voraussetzung für die bürgerlichen Befreiungsbewegungen
in Europa und darüber hinaus. Im Kapitel »DER AUFTRAG, 1980« bezeichnet Müller die
Erzählung DAS LICHT AUF DEM GALGEN als Anna Seghers’ »Auseinandersetzung mit
dem Stalinismus. Napoleon/Stalin, der Liquidator der Revolution.« (KOS 297) Angesichts der
Auseinandersetzung mit Figurationen Napoleons/Stalins im eigenen Werk, spätestens nach
dem Zusammenbruch der DDR, liest sich diese Aussage wie ein Selbstkommentar. Zwar geht
Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT auch im Kapitel mit der lapidaren Überschrift
»Frankreich usw.« auf die Französische Revolution nicht explizit ein, dennoch finden sich im
Entstehungsumfeld der Autobiografie eine Anzahl von Aussagen, die ausgehend von
Benjamins XV. These ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE, ein Ereignis der Juli-
Revolution von 1830 thematisieren: »Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war,
ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig
nach den Turmuhren geschossen wurde.« 782 Benjamin bedient sich dieses Bildes zur
Illustration der Stillstellung der Zeit, die er vom historischen Materialismus fordert. Müller
wiederum verwendet die Metapher der Verlangsamung und des Einfrierens der Zeit als
signifikante Funktion revolutionärer Bewegungen überhaupt. Seit Ende der achtziger Jahre
verweist Müller immer wieder auf Benjamins Marxkritik: »Marx sagt, die Revolutionen sind
die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind
die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der
Notbremse.« 783 In zahlreichen Gesprächen kommt Müller auf den Topos der Notbremse
zurück. »Revolution nicht als Beschleunigung, sondern Revolution als Notbremse. Der
Sozialismus war eine Notbremse.« (GI 3 193) Dabei geht Müller sogar so weit, die
Terminologie revolutionärer Rhetorik zu verkehren (wie Marx/Engels es bereits im
KOMMUNISTISCHEN MANIFEST vorschlugen 784 ): »Revolution eben nicht als
Lokomotive des Fortschritts wie bei Marx, sondern als Versuch, die Zeit anzuhalten oder die
782
Benjamin-GS I, 702
783
Benjamin-GS I, 1232
784
»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse,
also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung
der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen.
Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen
Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle
festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen
werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende
verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung,
ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« (MEW 4, 465) Im Gespräch für die
»Süddeutsche Zeitung« verweist Müller explizit auf diesen Zusammenhang: »Das ist eine neue Erkenntnis
von mir: bisher habe ich immer traditionell gedacht, Revolutionen seien Beschleunigungsvehikel des
Fortschritts. Aber wenn man sich die Revolutionen ansieht in diesem Jahrhundert, waren es eigentlich
immer nur Bremsversuche, und das einzig revolutionäre Element, das steht ja schon bei Marx, ist das
Kapital.« (GI 3 135)
346
Geschwindigkeit zu verlangsamen, zu drosseln. Die totale Beschleunigung führt zur
Vernichtung. Revolution als das Konservative, das Kapital als das Revolutionäre.« (GI 3 145)
Revolution als Notbremse einer aus den Fugen geratenen Zeit, die den Sturz vom Boot in den
Malstrom des Kapitals verlangsamt 785 : »Denn die kapitalistischen Gesellschaften leben in
einer Bahn der Beschleunigung, die in der Vernichtung endet. Das letzte Stadium dieser
Beschleunigung ist die Vernichtung der Zeit.« (LN 49) »Die totale Beschleunigung führt zum
Nullpunkt, in die Vernichtung. […] Die DDR erlebt heute [1992, gemeint ist das Territorium
der ehemaligen DDR] eine enorme Beschleunigung. Eine Beschleunigung, die Wirbel
produziert, in denen ungeheuer viel untergeht – auch an menschlicher Substanz.« (GI 3 154)
Dabei handle es sich um eine Tendenz der »totale[n] Besetzung mit Gegenwart, zur
Auslöschung von Vergangenheit und zur Auslöschung von Zukunft.« (GI 2 149) Revolution
wird vor dieser Folie zum Motor des Kapitals: Sowohl Französische Revolution als auch
Oktoberrevolution seien teleologisch auf die Durchsetzung kapitalistischer Strukturen
gerichtet gewesen, was aus heutiger Perspektive durchaus einleuchtend erscheint: Wie die
Jakobiner vergeblich versucht hätten, diesen Prozess aufzuhalten, sei Stalin »der letzte große
Versuch«, die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals aufzuhalten »und in asiatische
Strukturen zurückzudrängen.« (KALKFELL 70) Allein die durch den deutschen Angriff
erzwungene Industrialisierung habe diese verhindert. Im Gegensatz zu dieser
Beschleunigungsbewegung waren die Revolutionen »immer der Versuch, die Zeit aufzuhalten
und Prozesse zu verlangsamen.« (GI 3 135) In diesem Sinne sei auch der Westwall des
Ostblocks eine lediglich ideologisch aufgeladene »Zeitmauer« (GI 1 69) gewesen, die den
Ostblock von der Vernichtungsbewegung des Westens abtrennte, ihm ein Zeitdepot zur
Verfügung stellte, ähnlich demjenigen, das Müller Sibirien durch die Weite seines Raums
bescheinigte (s. a. LV 121f.). Sie stellte »ein Regulativ zwischen zwei Geschwindigkeiten«
dar: »Verlangsamung im Osten, man versucht die Geschichte anzuhalten und alles
einzufrieren, und diese totale Beschleunigung im Westen.« (GI 3 109) Analog zu dem
utopischen Potenzial dieses gefrorenen Zeit-Blocks sieht Müller die Funktion der Kunst in der
785
»Ich rief mir die große Vielfalt des Strandguts in den Sinn, welches die Küste von Lofoten bedeckte:
verschlungen einst vom Moskoestrom, dann wieder ausgespien. Bei weitem der größere Teil der
Gegenstände war in der ungewöhnlichsten Weise zerschmettert – war derart zerschunden und zerschürft,
dass es aussah, als sei er über und über mit Splittern gespickt – doch dann erinnerte ich mich deutlich, dass
ein anderer Teil wiederum nicht im mindesten entstellt war. Nun vermochte ich mir diesen Unterschied
nicht anders zu erklären als mit der Annahme, dass die zerfetzten Trümmer die einzigen seien, welche bis
zum Grunde hinabgeschlungen worden, – indessen die anderen so spät nach Eintritt der Gezeiten erst in den
Sog geraten, beziehungsweise aus irgendeinem Grunde so langsam hinuntergetrieben seien, nachdem sie
hineingeraten, dass sie den Grund nicht mehr erreichten, ehe die Flut – oder die Ebbe, je nachdem –wieder
umschlug. In beiden Fällen hielt ich es für möglich, dass sie wieder an die Oberfläche des Meeres empor
gewirbelt werden könnten, ohne das Schicksal jener Trümmer zu erleiden, welche früher in den Sog
gezogen beziehungsweise rascher verschlungen worden waren. Ich machte insgleichen drei wichtige
Beobachtungen. Die erste war, dass – als allgemeine Gesetzmäßigkeit – Körper, je größer sie waren, desto
rapider niedersanken, – die zweite, dass bei zwei Körpern gleicher Masse, von denen die eine sphärische,
die zweite beliebig andre Gestalt hatte, der sphärischen die höhere Sinkgeschwindigkeit eignete, – die dritte
schließlich, dass von zwei Massen gleicher Größenordnung, deren eine zylindrisch, deren andere aber
beliebig anders geformt war, der Zylinder langsamer hinabgesogen ward. Nachdem ich entronnen, habe ich
später verschiedentliche Gespräche über dies Thema mit einem alten Schulmeister in unserer Gegend hier
gehabt; und er war es, der mich die Worte ›zylindrisch‹ und ›sphärisch‹ zu gebrauchen lehrte. Er hat mir
auch erklärt –obschon ich die Erklärung wieder vergaß – wie das, was ich beobachtete, tatsächlich ganz
natürlich aus den Formen der treibenden Trümmer resultierte, – und mir gezeigt, wie es kam, dass ein im
Strudel kreisender Zylinder dem Sog mehr Widerstand entgegensetzte und sich mit größerer Schwierigkeit
hinabziehen ließ als ein gleichmassiger Körper beliebig anderer Gestalt.« (Poe-GW II, 312f.)
347
»Verzögerung«, »Störung« und letztendlich »Liquidierung dieser totalen Besetzung mit
Gegenwart.« (GI 2 149) Das Zeitmaß des Theaters, heißt es in den Anmerkungen zu Müllers
ANATOMIE TITUS, sei die »gebremste Explosion« (W 5 193).
Die Ablösung des Kommunismus von seiner topografischen Fixierung, beziehungsweise
seiner Funktionsträger von den Ämtern nach 1989 786 , bedeute jedoch nicht, wie Müller
mehrfach betonte, die Verabschiedung von der kommunistischen Idee, befreie vielmehr den
utopischen Gehalt von seiner missglückten Gestalt, beziehungsweise ihre Repräsentanten von
dem Zwang, sie ins Werk zu setzen. Vor dem Hintergrund dieser Aussage erscheint Müllers
Unabhängigkeitserklärung vom Erfahrungsdruck der DDR-Diktatur plausibel. Sie befreit den
Erzähler zugleich vom Druck der Topografie wie der Chronographie. Auf die Frage,
»Könntest Du Dir vorstellen, im Ausland zu leben?«, antwortet Müller: »Zum Arbeiten
müsste es nicht mehr Deutschland sein. Ich bin auf dieses Material nicht mehr angewiesen,
der Vorrat reicht für ein Leben. Hinzu kommt, wohnen bedeutet mir eigentlich nicht viel. Ich
habe nie eine Wohnung gehabt oder eingerichtet, wie ich sie mir vorstelle. Ich bin
Höhlenbewohner oder Nomade, vielleicht gegen meine Natur. Jedenfalls werde ich das
Gefühl nicht los, dass ich nirgends hingehöre. Es gibt keine Wohnung für mich, da ich mir ein
Schloss nicht leisten kann, nur Aufenthaltsorte und Arbeitsplätze. Meine Neubauwohnung in
Berlin-Friedrichsfelde, DDR-Plattenbauweise mit Löchern in der Decke, sieben Jahre hat es
durchgeregnet, ist mir eher angenehm, weil sie den Begriff Wohnung aufhebt, Wohnung als
Domizil. Das ist eher ein Flughafen, ein kleines Flughafengebäude. Ich kann überall leben,
wo ich ein Bett habe und einen Tisch zum Arbeiten.« (KOS 308) Aus dem Zeitreservoire des
Ostblocks ist ein individueller Erfahrungsvorrat hervorgegangen. Nicht als Global Player der
Jetset-Generation düst der Autor durch eine Welt, in der zunehmend ausschließlich die Regeln
der Akkumulation und Expansion des Kapitals als Gesetzmäßigkeiten anerkannt werden und
selbst Naturkatastrophen ökologisch verwaltet werden. Als Nomade kreuzt er vielmehr
zwischen den Axiomen und Knotenpunkten des Rhizoms (Deleuze/Guattari), neue
Verbindungen knüpfend. Fluchtlinie, Fluchtpunkt. – –
786
s. a. GI 3 56, 58 u. 73f.; LN 10
348
Haltestellen ›Leninallee‹, ›Zentralviehhof‹, ›Stalinallee‹, diese bösartige Reihenfolge.« (KOS
319) Sowohl in LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, als auch in der wenig später
entstandenen BILDBESCHREIBUNG bilden »Wolken unbekannter Bauart« (W 2 112, W 5
82) Elemente eines Himmels, der die Landschaft verfremdet. Die Landschaften beider Texte
verbindet ihre Eigenschaft, die Konflikte der figurenlosen Rede als Knotenpunkte eines
Geflechts oder Rhizoms, erscheinen zu lassen, das mit dem Bereich der ruhelosen Toten unter
der Bildoberfläche ebenso in Verbindung steht wie mit den Wolken, die von einer Welt
künden, die weit zurück liegt, in grenzenloser Ferne oder ferner Zukunft; deren Herkunft
vergessen ist, fremd erscheint, im Dunkeln bleibt.
Im Nachlass Müllers findet sich ein dreistrophiges Gedicht, das der Textpassage »Sie hocken
in den Zügen […] ICH BIN EIN FEIGLING« im ersten Textteil des Stückes entspricht und
mit dem Vermerk »St[adt]bahn« gekennzeichnet ist (s. a. W 5 323). Die kreisende
(navigierende) Bewegung des Autors um die Küste der Stadt, die seiner eigentlichen Ankunft
vorangestellt ist, gleicht dabei weniger dem Blick des Kolonisatoren auf den (formbaren
Roh)Stoff, als dem des Kolonisierten (Provinzler) auf das Zentrum der Kolonisation
(Großstadt). Zugleich rekurriert sie auf den antiken Topos des Dichters als Seefahrer / des
Schreibens als Seefahrt, der für den dritten Teil des Stücks, LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN, der mit der »glücklose[n] Landung« (W 5 81) den Schiffbruch von Autor
und Werk beschreibt, konstitutiv ist. Ezra Pound, auf den sich Heiner Müller als Quelle für
das Stück in seiner Autobiografie explizit beruft, lieferte dafür die maßgebliche Folie. Pound
hatte in seinen CANTOS eine Form entwickelt, die der kreisenden Bewegung um das Objekt
der Beschreibung gerecht wird, indem sie die Bewegung aus dem poetischen Bild nicht
eliminiert, sondern als spezifische Art der Betrachtung beibehält. Das Prinzip der CANTOS
bestehe Dekker zufolge in dem Bemühen, »des konstanten Faktors im Wechsel habhaft zu
werden« 787 . Die Küstenfahrt – die Sicht der Küste vom fahrenden Schiff aus – impliziert
einen anderen Blick als die Draufsicht der Land- und Seekarten. Ihren Niederschlag findet
diese Betrachtungsweise in der Aufsprengung einer chronologischen Geschichte, die ihren
Ursprung in einer vermeintlich linearen Zeit hat: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
werden permanent durchkreuzt von dem Vergänglichen, dem Wiederkehrenden und dem
Bleibenden. Pounds Texte skandieren, wie Müller über Brechts FATZER befindet, den
Denkprozess (s. a. W 8 229). Sie formulieren keine Denkresultate, sondern fangen den
Prozess der Erfahrung selbst ein. Es ist der fremde Blick des Nomaden, der den grotesken
Gehalt der Namenfolge »Leninallee« – »Zentralviehhof« – »Stalinallee« freizulegen imstande
ist.
Der Heterogenität in Bezug auf den Entstehungszusammenhang sowie das dem Text zugrunde
liegende Material die einzelnen Textteile betreffend hatte Müller bereits in einem »Spiegel«-
Gespräch 1983 Rechnung getragen, indem er das Stück als »ein Teil Resteverwertung«
beschrieb: »Der Text […] ist zu sehr verschiedenen Zeiten entstanden. Viele meiner Stücke
sind so zusammengesetzt. Zum Beispiel der erste Teil, VERKOMMENES UFER, ist bis auf
ein paar Zeilen 30 Jahre alt. Der Mittelteil, das eigentliche MEDEA-Stück, ist zur Hälfte
vielleicht auch fünfzehn Jahre alt. Wirklich neu ist nur der letzte Teil LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN.« (GI 1 130) Der Blick auf die Textgenese (s. a. W 5 322–326) bestätigt
787
George Dekker: Sailing after Knowledge. The Cantos of Ezra Pound. London 1963 (zitiert nach Kindler 13,
585)
349
diese Darstellung. Allerdings gilt die Aussage hinsichtlich des Mittelteils nur für die
Dialogpassagen. Der Medea-Monolog entsteht, wie die Darstellung in KRIEG OHNE
SCHLACHT nahe legt, im Rahmen der unmittelbaren Arbeit an dem Stück.
Die Spezifik der Beschreibung eines Sees bei Strausberg, »wo das Ufer aussah wie im Stück«
(KOS 319), liegt nicht in der Darstellung der Zivilisation anhand ihrer Abfallprodukte – so
oder schlimmer sieht es an jedem Badesee im Sommer aus – sondern in der topografisch-
historischen Kontextualisierung. »Bei Strausberg hat die letzte große Panzerschlacht des
Zweiten Weltkriegs stattgefunden. Bei Strausberg war auch das Hauptquartier der NVA.«
(ebd.) Müller sei diese Tatsache beim Verfassen des Textes gar nicht bekannt gewesen. In
einer früheren Fassung des Textes seiner Autobiografie heißt es entsprechend: »Ein ganz
schlauer Interpret hat herausgefunden, dass Strausberg keineswegs zufällig da steht, weil bei
Strausberg die letzte große Panzerschlacht des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat. Ich bin
gern bereit, das zu akzeptieren, aber ich wusste es nicht. Bei Strausberg war auch das
Hauptquartier der NVA, was ich genauso wenig wusste. Aber es passt alles ganz gut dazu.«
(SUSCHKE 469) Die Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 war eine
unmittelbare Reaktion auf die Wiederbewaffnung der Bundeswehr im Mai des Vorjahres. Die
NVA sah sich als ideeller Nachfolger bewaffneter revolutionärer Bewegungen in Deutschland
von den Bauernkriegen über die antinapoleonischen Befreiungskriege bis hin zur Revolution
von 1918. Die Verlegung des Hauptquartiers an den östlichen Stadtrand von Berlin war dem
Vier-Mächte-Status Berlins infolge des Potsdamer Abkommens geschuldet. Die Stationierung
deutscher Truppen auf Berliner Stadtgebiet war danach ausgeschlossen. Vom 16. bis 19. April
1945 hatte die Schlacht um die Seelower Höhen stattgefunden, die der 1. Weißrussischen
Front unter General Schukow die Pforten für die Einnahme Berlins öffnete. Die Stellung auf
den Seelower Höhen bildete die letzte Hauptverteidigungslinie außerhalb Berlins. Nach dem
19. April lag der Weg nach Berlin offen. Die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf
deutschem Boden forderte kurz vor Kriegsende noch einmal über einhunderttausend Opfer.
Obwohl die zahlenmäßig weit unterlegenen deutschen Verbände der russischen Armee hohe
Verluste bescherten und Schukows Angriffsplan verzögerten, war ihr Widerstand unter
militärischen Gesichtspunkten vollkommen sinnlos. Indem das Stück diese Thematik –
intendiert oder nicht bleibe dahingestellt – aufgreift, verweist es zugleich auf das
Textensemble der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, dessen erster Teil RUSSISCHE
ERÖFFNUNG im Jahr der Uraufführung des Medea-Stückes bereits im Entstehen begriffen
ist. Das VERKOMMENE UFER des Strausberger Sees ist folglich als Metapher lesbar für die
Folgen des Zweiten Weltkrieges zu denen das Projekt des Sozialismus ebenso gehört, wie
sein Scheitern. Nachdem die Deutsche Armee in Etzels Saal/Stalingrad den Tod
Siegfrieds/Rosa Luxemburgs gesühnt hat, ist der Pieta am Ende des ersten Textteils auch die
Kriemhild eingeschrieben, die, ihren Toten Bruder im Arm, den russischen
Befreiern/Besatzern vom Grunde des Sees ihren stumm Gruß zusendet: »Auf dem Grunde
aber Medea den zerstückten / Bruder im Arm Die Kennerin / Der Gifte« (W 5 74).
Den Dialog des zweiten Stückteils, der nun unmittelbar an die MEDEA-Vorlagen seit der
Antike anknüpft, bezeichnet Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT als »Stenogramm eines
Ehestreits im letzten Stadium oder in der Krise einer Beziehung.« (ebd.) Die Identifikation
mit der Jason-Figur setzt die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Besetzung voraus. Im Sinne
Pounds personae-Begriff erfolgt vielmehr eine gegenseitige Durchdringung der
Erscheinungen der eigenen Biografie und dem Jahrtausende alten Mythos. Die Aktualisierung
350
der mythologischen Konstellation im Ehestreit entspricht der Einbruch der Literatur in die
Privatsphäre des Dichters. Es ist nicht mehr entscheidbar – und darüber hinaus belanglos –,
welche Elemente des Textes sich aus welcher der Quellen speisen. Das gleiche gilt für die
Identifikation mit der Medeafigur in der sich anschließenden Arie der Medea, der wohl
schockierendsten Rede des Dichters aus der Perspektive einer weiblichen Figur. Der
Monolog, der die Geburt Medeas aus den Trümmern Jasons Frau vorführt, gehe auf eine
Ehekrise »zwei Jahrzehnte später« (ebd.) zurück, als ich schon mit einer anderen Frau
zusammenlebte, fällt demzufolge in die unmittelbaren Entstehungszusammenhang des
Stückes. Am Ende des Monologs hat auch Jason die Verwandlung seines »Weibes« begriffen.
Er spricht sie zum ersten Mal mit ihrem alten Namen an, der zugleich ihr neuer ist: »Medea«
(W 5 80). Doch die von den Funktionen als Weib und Mutter entbundene Frau verweigert das
Kommandowort des Herren: »Amme Kennst du diesen Mann« (ebd.).
Im Interview betont Müller die eminent politische Dimension des Medea-Stoffes, die bei
Euripides hervorgehoben, bei Seneca unter dem Primat des ethischen Diskurses begraben sei.
»Die Geschichte von Jason ist der früheste Mythos einer Kolonisierung, jedenfalls bei den
Griechen – und sein Ende bezeichnet die Schwelle, den Übergang vom Mythos zur
Geschichte: Jason wird von seinem eigenen Schiff erschlagen.« 788 Müller beschreibt die
Geburt der Geschichte aus dem Geist der Kolonisation: »Mit der Kolonisierung beginnt die
europäische Geschichte, so wie sie bisher gelaufen ist. Dass das Vehikel der Kolonisierung
den Kolonisator erschlägt, deutet auf ihr Ende voraus.« (GI 1 131) Bezeichnend an dieser
Argumentation ist, dass dem Beginn der Geschichte ihr Ende innewohnt. Denn bei Euripides
und/oder Seneca findet sich auf diese Variante des Mythos kein Hinweis. Die Version, die
Müller dem ersten Textteil seines Stückes zugrunde legt, dürfte auf Anna Seghers
zurückgehen, deren Erzählung DAS ARGONAUTENSCHIFF eben nicht Jason, sondern sein
Schiff, die Argo, zum Protagonisten ihrer Erzählung macht, das den Helden über Äonen
hinweg in Sicherheit wiegt, um ihn schließlich zu erschlagen. Allerdings ist die Erschlagung
Jasons durch die (beziehungsweise den Bug der) Argo infolge des Fluchs der Medea durchaus
im antiken Mythos verankert. 789
In Anna Seghers Erzählung ist Jason ein der Zeit und dem eigenen Schicksal enthobener
Held, der zum wandelnden Mythos gewordene Träger des goldenen Vlieses, das ihn dem
Fluss alles Werdens enthebt, Die Argo, Sinnbild einer Fortschrittsutopie und längst
vergessenes Vehikel des eigenen historischen Auftrags, hängt zerfressen von der Geschichte
permanenter Gewalt, morsch pendelnd über ihm im Baum und holt den Helden im
Augenblick größter Sicherheit/Kontemplation in sein Schicksal heim, indem es ihm den
Schädel zertrümmert. »Vielleicht hätte Jason noch aufspringen können. Er verschränkte aber
die Arme unter dem Kopf, und sei Gesicht war so kühn, wie es nur in seiner echten Jugend
auf dem brüllenden Meer im Augenblick der höchsten Gefahr gewesen war. Der Sturm brach
788
GI 1 130. Allgemein lässt sich für das attische Drama des 5. Jahrhunderts vor Christus die einsetzende
Rationalisierung des Mythos feststellen. Der Paradigmenwechsel ist im Zusammenhang mit der
Veränderung der sozialen Strukturen infolge der von Solon angestoßenen und von Kleisthenes fortgesetzten
Reform zu betrachten, die in der Entmachtung des Areopags unter Perikles ihren Höhepunkt fand. Im Zuge
dieser grundlegenden Machtumverteilung wurden die alten familiären Bindungen des Clans in die primäre
Bindung des einzelnen Bürgers an den Stadtstaat vollzogen. Die Welt der Götter blieb von diesem Wandel
eben so wenig verschont wie das Menschenbild der Philosophie im Jahrhundert darauf (Sokrates, Platon,
Aristoteles).
789
s. a. Pauly 1979, 536
351
an. Er sprengte die letzten Seile mit einem Stoß, der ganze Schiffsrumpf krachte über Jason
zusammen. Der ging mit seinem Schiff zugrunde, wie es das Volk seit langem in Liedern und
Märchen erzählte.« 790 In seiner gleichnamigen Rezension zu Anna Seghers’ Erzählband DER
BIENENSTOCK für den »Sonntag« im Jahr 1953 sieht Müller im erschlagenen Argonauten
Jason das Subjekt bürgerlicher Geschichte. »Sein Schiff erschlägt ihn. Man erinnert sich,
dass, wie Marx bemerkt, erst der einstürzende Dachfirst der bürgerlichen Gesellschaft das
Gesetz der Schwerkraft enthüllt.« (W 8 33) Ähnlich argumentieren Negt/Kluge, die
mutmaßen, dass der Argonaut dem Prinzip der Akkumulation verfallen sei, dessen Vehikel
das Schiff darstellt. 791 Der Grundkonflikt Müllers Medeaprojekt besteht in der
zivilisationskritischen Perspektive auf die Geschichte des Abendlandes. Damit geht Müllers
Kritik grundsätzlich weiter als die kulturphilosophische Aufklärungskritik
Horkheimer/Adornos. Die Handschrift der Eroberung, die das historische Unternehmen
Odysseus/Jason als Spur der Zerstörung hinterlässt und identisch ist mit der »Geschichte«,
beschränkt sich nicht auf den mythologisch präfigurierten Bereich weiblicher
Geschlechtlichkeit und einen mit ihr konnotierten Bereich der Natur. Vielmehr stellt sie den
fortschrittlichen Charakter und das Telos jeder Entwicklung kultureller oder technischer Natur
angesichts deren Folgen grundsätzlich in Frage. Dabei sind es nicht wie bei
Horkheimer/Adorno in erster Linie die Unwägbarkeiten der Natur, die sich der Mensch im
Zivilisationsprozess untertan macht, sondern andere Menschen, die dem eigenen
zivilisatorischen Fortschritt geopfert werden. Das Prinzip Fortschritt bringt die Selektion
hervor: Barbaren, Knechtschaft, Sklaverei. »In Medea und den Kolchern tritt die Gegenseite
nicht als Natur-Metapher, sondern als Opfer in Erscheinung, eben diejenigen, die als
Menschen unter dem unternehmerisch-aufgeklärten Zugriff leiden.« 792 Dass das Vehikel des
Fortschritts (die Argo) die Nutznießer, die Fort-Geschrittenen selbst, als Totenschiff
schließlich heimholt in das Nichts, mag als Trost, schlimmstenfalls als sentimentale Wendung
in die moralische Vorwegnahme einer Lynchjustiz der Zu-Kurz-Gekommenen anmuten. Doch
sind es lediglich die Aas fressenden Vögel (Geier), die die im Hain des Poseidon
musealisierte Argo zum Absturz bringen. Ihre Mägen unterscheiden nicht zwischen Siegern
der Geschichte und ihren aus der Geschichte herausgefallenen Opfern: »Das Blut der Weiber
von Kolchis« trinkt der Eroberer so lange, »Bis ihm die Argo den Schädel zertrümmert das
nicht mehr gebrauchte / Schiff Das im Baum hängt Hangar und Kotplatz der Geier im
Wartestand« (W 5 73).
Müllers Stück beschreibt die Landnahme der Argonauten im Reich der Kolcher nicht als
790
Anna Seghers: Das Argonautenschiff. In: Dies.: Die Hochzeit von Haiti. Erzählungen 1948–1949. Berlin
1994, 123–140, hier 140
791
»Es gibt aber einen weiteren Hinweis, warum das goldene Vlies für Jason und seine Gefährten so
begehrenswert ist. Nicht die goldene Fellseite, sondern die Rückseite der Schafshaut, des Vlieses, ist das
eigentlich Wertvolle. Hier soll nämlich eine Zeichnung eingekratzt gewesen sein, auf der der gesamte
Erdkreis, unter besonderer Berücksichtigung der Fundorte, wo Schätze aufbewahrt werden, dargestellt ist.
Es soll Jason um diesen Lageplan gegangen sein. Dies ist auch die Erklärung für die Stelle bei Apollonios in
Buch IV, Vers 552-556, wenn er die Musen fragt: ›Wie kam es nun, dass die Argonauten auch das
Ausonische Meer besuchten?‹ Sie fuhren nämlich mit Medea und dem Vlies nicht etwa direkt nach Hause,
sondern weit ins westliche Mittelmeer, sammelten dort die Beute ein, den Lageplan hatten sie, um erst dann
nach Hellas zurückzukehren. Diese unerwartete Rundfahrt in den Westen der Erde ist für die Geschichte
von Jason und Medea unerklärlich. Sie ist im niedergeschriebenen Mythos verkümmert […], bildet aber
historisch die Hauptsache.« (Negt/Kluge 2001, 746f.)
792
Negt/Kluge 2001, 743
352
Raub. Vielmehr folgt der militärischen Unterwerfung der Kolonie ihre systematische
Ausbeutung. Metaphorisch wird der Gewaltzusammenhang in das Verhältnis sexueller
Knechtschaft und ökonomischer Herrschaft überführt – die Frau als Provinz/Kolonie des
Mannes im Dienste der Reproduktion seiner Arbeitskraft. Evident wird diese Metamorphose
in einem »FILM«-Entwurf aus dem Nachlass: »Im Baum die ARGO / Autowrack. Frauen aus
dem Wasser. Kentauren / Motorrad-Rocker überfallen sie / fallen über sie her. Rape (Gewalt
und Zärtlichkeit.) Frauen zurück ins Wasser / in den See. Kentauren / Rocker liegen auf
verschiedene Weise getötet herum. Einer schleppt sich blutend aus der Sonne in den Schatten
unter den Baum mit der ARGO / dem Autowrack. Geier versammeln sich auf der ARGO /
dem Autowrack. Das Schiff kracht ›JASON‹ auf den Schädel.« (W 5 306) Der Text führt das
Auf-Begehren der Opfer des geschichtlichen Prinzips der Kolonisation vor. »Im Baum die
ARGO« verweist auf den Abschluss der kolonialen Eroberungen und die Verfestigung des
Gewalt- und Ausbeutungszusammenhanges unter dem zum Fetisch erstarrten Vehikel der
Herrschaft der Argonauten. Anders als in DIE HAMLETMASCHINE und VERKOMMENES
UFER ist die Zeit der auf dem Meeresgrund auf Rache harrenden Opfer bereits angebrochen.
Im erzwungenen Geschlechtsakt, dem (immer wieder kehrenden) Moment der größten
Erniedrigung vollzieht sich zugleich die Rache der Opfer (im AUFTRAG hieß es: »Ich gehe
in den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen meines Lebens«, W 5 40). Der Verführung
der Argonauten folgt der kalkulierte »Rape« und die Zerreißung der Männer durch die
Sirenen. Der Sturz der Argo, dem Vehikel geschichtlichen Fortschritts, zeigt das Ende der
Geschichte im Sinne der Herrschaft des Mannes an. »JASON«, der letzte Argonaut, und
»ARGO« heben sich in diesem Bild gegenseitig auf, während die Tonspur die Zeit einfriert:
»Dann war da nur noch der Schneesturm, schneidend weiß.« 793 Der sommerliche
Schneesturm ruft ein anderes Bild auf, das Müller im Rückgriff auf Poe und Eliot in seinem
Text MAeLSTROMSÜDPOL verwendet: »… wir gleiten in dem Katarakt ein breiter
Durchgang tut sich auf wie zum Empfang hinter uns schließt sich der schäumende Nebel
Übermenschengroß eine Gestalt auf unserer Bahn THAT CORPSE YOU PLANTET ihre
Haut ist weiß wie Schnee etwas greift in mein Gehirn OH KEEP THE DOG« (W 2 121) Die
»Gestalt aus Schnee«, ein »unvergesslicher Eindruck« (KOS 32) Müllers früher Lektüren ist
eine Figur des Bewahrens und Vergessens. In der Letheüberquerung des Arthur Gordon Pym
stellt sie die Verbindung zum Reich der Toten her, einem Bereich der nur den Sterbenden und
den Tieren (der Hund Eliots gräbt nach der Leiche im Garten des Paradieses794 ) zugänglich
ist. Das mit dem Sterben assoziierte Hinübergleiten des Bootes »in ein Totenreich auf dem
Meer in der Nähe des Südpols« 795 wird von einer Prozession seltsamer Tiere begleitet: Der
Ruf der weißen Vögel (»TEKELILI TEKELILI«, W 2 120) und ein ebenfalls weißes
schwimmendes Tier, dazwischen die Erinnerung an die schwarzen Zähne der Inselbewohner
auf TSALAL 796 , perforieren den Text und strukturieren so das Vergessen. Die Niederschrift
des Textes widerschreibt den Vergessensprozess. Im FILM sind es die Geier, die die Toten
essen und vergessen machen. Ihre Schnäbel schreiben ein anderes Alphabet in das Fleisch der
toten Argonauten – ihr Kot zeichnet die Spur der Erinnerung.
793
W 5 306, s. a. den aus dem Nachlass publizierten Text SOMMER MIT SCHNEESTURM (W 2 170).
794
Genia Schulz weist darauf hin, dass Eliot John Websters Drama THE WHITE DEVIL zitiert: »But keep the
wolf far thence: thats foe to men« (s. a. Genia Schulz: Kein altes Blatt. Müllers Graben. In: Merkur 47/1993,
729–736, hier 735)
795
Patrick Primavesi: Kleine Texte. In: HMH 321–325, hier 325
796
W 2 120. »Nichts Weißes dagegen fand sich auf Tsalal« (Poe-GW IV, 266)
353
Heiner Müllers Interesse am MEDEA-Material ist vielschichtig perforiert von den
literarischen Vorlagen: Dabei richtet sich der Fokus der eigenen Bearbeitung gerade nicht auf
die Inkommensurabilität der Wahnsinnsszene, wie sie besonders Seneca herausstellt, dem
Medea geradezu als Negativfolie für seinen Dialog DE IRA (Über den Zorn) dient. Vielmehr
seziert Müllers Medea in ihrem Monolog mit analytischem Scharfsinn die Mechanismen ihrer
Unterdrückung. Ihre Tat erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Rache, denn als
blutige Konsequenz der Befreiung aus dem Unterdrückungszusammenhang, mithin als
historische Notwendigkeit der Beendigung gewaltsamer Vorgeschichte. Neben Euripides und
Seneca weist Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT auf »die Elisabethaner« (KOS 320) –
gemeint sind vermutlich Shakespeare und seine Zeitgenossen – sowie Hans Henny Jahnn hin.
In einer Nachlassnotiz findet sich zudem der Verweis auf Grillparzers DAS GOLDENE
VLIES. In den Dialog-Passagen orientiert Müller sich weitgehend an diesen Quellen. An
Jahnns Bearbeitung dürfte Müller die Verwandlung der »Barbarin« in eine »Negerin«
interessiert haben. »Was für die Griechen die Barbaren, sind für uns heutige Europäer Neger,
Malaien, Chinesen.« 797 Jahnns Eingriff war nicht nur seiner Affinität zu vorantiken
Anklängen des Mythos (die Verwurzelung seiner Medea im ägyptischen Isis-Osiris-Kult)
geschuldet, sondern auch dem modernen Diskurs der Rassenproblematik. »Versinken soll /
[…] bis auf den Grund des Meeres / und tausend Klafter tiefer noch das Haus« 798 des Jason,
prophezeit Medea am Schluss Jahnns Stück. Bei Müller ist es Medea, die »den zerstückten /
Bruder im Arm« am Grund des Sees der Stunde ihrer Rache harrt. Bei Euripides sei das
Klassen- und Rassenproblem bereits angedeutet: »Immerhin stellt er die Gastarbeiterfrage:
Medea, die Barbarin, wenn auch aus der Sicht der Sklavenhalter. Unsere Asylgesetzgebung,
die unter anderem die Trennung von Müttern und Kindern, die Sprengung von
Familienverbänden ermöglicht, basiert ja auf Mustern der Sklavenhaltergesellschaft, die bei
Euripides nachzulesen sind.« (KOS 320) Ein gegenüber dem attischen Griechenland
verändertes Frauenbild im antiken Rom mag ein Grund dafür sein, warum Medeas Wahnsinn
– wie jede andere ins Maßlose gesteigerte Emotion – bei Seneca als terroristische Bedrohung
des Staates kenntlich wird. »Mit der Ausdehnung des Imperiums wurde die Stabilität der
kleinsten Zellen existentiell, die Matrone, die den Familienverband zusammenhielt, das
staatserhaltende Element. Die Polis brauchte Frauen nur als Hetären und Mütter.« (KOS 320)
Müller interpretiert die Vernichtungstat der Medea bei Seneca in seiner eigenen Bearbeitung
als Akt der Befreiung: »Unvergesslich die letzte Replik von Senecas MEDEA auf ihrem
Drachenwagen mit den Leichen der Kinder. Sie wirft dem Jason die Leichen hin, er schreit:
›Medea‹. Und sie sagt: ›Fiam‹, ich werde es werden. Das ist eine andre Dimension als bei den
Griechen.« (KOS 320) Müllers Lesart ist nur bedingt nachvollziehbar. Vermutlich liegt das
daran, dass Müller Senecas Jason Worte in den Mund legt, die in der Eingangsszene der
Amme gehören. »Medea –« ruft die Amme, worauf diese mit »Fiam.« antwortet. 799 Am Ende
des Stückes ist aus der verlassenen Geliebten/Hure und zweifachen Kindsmutter/Ernährerin
jene Frau geworden, die sie eingangs zu werden versprach. In Senecas Stück dagegen wird
Medea – ganz im Gegensatz zu Müllers Sicht auf das Material – zum drastischen Sinn- und
Schreckbild des Irrationalen und Inhumanen, ihre Individualität und zügellose Leidenschaft
797
Jahnn in der Zeitschrift »Die Scene« (anlässlich der Uraufführung in Berlin 1926). In Anna Seghers
Erzählung Das Argonautenschiff heißt es über Medea: »Sie glich einer schwarzen Blume« (Anna Seghers:
Das Argonautenschiff … a. a. O. 137).
798
Jahnn 1998, 476
799
Seneca 1978, Bd. 1, 252
354
zur Hybris. Medeas Furor weist ihr Handeln als pathologisch-psychologisches Endstadium
aus. Am Schluss von Senecas Stück bleiben vom Menschen und der Menschlichkeit nur
Trümmer. Weder einsichtsvolle Selbsterkenntnis noch Liebe vermögen den Teufelskreis
zerstörerischer Inhumanität aufzusprengen.
In seiner eigenen Stückbearbeitung wendet Müller das zerstörerische Potenzial der Medea ins
Positive, ohne es seiner inkommensurablen Wirkung zu berauben. In MEDEASPIEL, einem
dramatischen Exposé aus den sechziger Jahren hatte Müller den »Tötungsakt« als De-
Maskierung der Frau beschrieben: »Die [ans Bett gefesselte] Frau nimmt ihr Gesicht ab,
zerreißt das Kind und wirft die Teile in die Richtung des Mannes. Aus dem Schnürboden
fallen Trümmer Gliedmaßen Eingeweide auf den Mann.« (W 1 177) Während der Mann mit
seiner Maske verwachsen zu sein scheint, besteht für die Frau grundsätzlich die Möglichkeit,
sich aus dem Gefängnis ihrer Rolle zu befreien. Eine Parallele zu dieser Darstellung findet
sich in der Fabelerzählung des Revolutionärs Iwagin in Müllers Stück Zement, der soeben die
Fesseln seiner bürgerlichen Herkunft abgestreift hat. »Als sie vor seinen Augen die Kinder
zerriss, die sie ihm geboren hatte und in Stücken vor die Füße warf, sah der Mann zum
erstenmal, unter dem Glanz der Geliebten, unter den Narben der Mutter, mit Grauen das
Gesicht der Frau.« (W 4 442) Die tragische Ironie dieser Replik besteht in dem tatsächlichen
Opfer des Kindes der sich ebenfalls permanent selbst revolutionierenden Kommunisten
Dascha/Medea (»Ich will kein Weib sein«, W 4 434) und Tschumalow/Jason. Das tote Kind
ist hier der notwendige Preis für die in Aussicht gestellte neue Zeit, die die gemeinsame
Arbeit der Revolutionäre darstellt: »Unsre Kinder, sie leben nur einmal. […] Auf ihren
Knochen / Die neue Welt.« (W 4 430) Im großen Medeamonolog in VERKOMMENES
UFER gewinnt die Frau Gestalt durch ihre Identifikation mit den Opfern männlicher
Gewaltgeschichte. Während der Mann seine Taten – stumm für die Schreie der Verwundeten,
blind für das Leid der von ihm in den Staub Getretenen, redend allein mit dem Schwert – an
der Schnur seiner Siege aufreiht, zählt die Frau die Schreie der Opfer. »Mein Eigentum die
Bilder der Erschlagnen / Die Schreie der Geschundenen mein Besitz« (W 5 76). Ihr Handeln
hält die Bedingungen (männlicher) Gewaltherrschaft lebendig. Im Gedächtnis trägt die
Leichen zusammen und schichtet sie zu einem Wall, der die Menschheit spaltet in Opfer und
Nutznießer der Geschichte: »Mit diesen meinen Händen der Barbarin / Händen zerlaugt
zerstickt zerschunden vielmal / Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen / Und wohnen
in der leeren Mitte Ich / Kein Weib kein Mann« 800 . Im Vernichtungsakt reproduziert sie die
Schreie der Kolcher (»So schrie […] Kolchis / Und schreit noch«, W 5 78f.), die erst
verstummen, als auch die eigenen Kinder, die Medea zur Mutter machten, nicht mehr atmen:
»Jetzt ist alles still / Die Schreie von Kolchis auch verstummt Und nichts mehr« (W 5 80).
Aus dem Nichts erklärt die chorische Stimme (»Wie in jeder Landschaft ist dass Ich in diesem
800
W 5 79. In einer Arbeitsfassung des Textes der Autobiografie heißt es: »Interessant ist, dass es ein
Nietzsche-Zitat gibt, das hat auch noch niemand entdeckt. Bei mir heißt es ›Ich will die Menschheit in zwei
Stücke brechen / Und wohnen in der leeren Mitte Ich / Kein Weib kein Mann.‹ Dahinter steht ein Nietzsche-
Zitat: ›Die Menschheit in zwei Stücke brechen‹ und ›kein Weib, kein Mann‹ – das ist Nietzsche. […] Diese
Nietzsche-Stelle […] habe ich zufällig beim Blättern in irgendeinem Nachlassband gefunden.« (Suschke
473, 477) Im Nachlass Nietzsches finden sich die Zeilen: »Ich sehe mitunter meine Hand daraufhin an, dass
ich das Schicksal der Menschheit in der Hand habe –: ich breche sie unsichtbar in 2 Stücke auseinander, vor
mir, nach mir …« (Nietzsche-KSA 13, 639) In Müllers Nachlass findet sich das verfremdete Nietzsche-Zitat
im Zusammenhang mit Notizen für das »Nachwort« (HMA 4488) der Autobiografie: »Ich will d[ie]
M[enschheit] in 2 Stücke brechen« (ebd.)
355
Textteil kollektiv«, W 5 84) des/der von Medea zurückgelassenen Argonauten ihre
Auflösung, respektive Überführung in Poesie: »Soll ich von mir reden Ich wer / Von wem ist
die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das« (ebd.) Jeder neue Vers in diesem
Katarakt der Ich-Auflösung eröffnet einen Strom von Assoziationen, der sich ins Meer
subjektloser Ununterscheidbarkeit ergießt. »Den dritten Teil hätte ich ohne WASTELAND
nicht schreiben können, also auch nicht ohne Ezra Pound.« (KOS 320) Zugleich finden sich
Anklänge an Joyces ULYSSES sowie zahlreiche Verweise auf den Mythos des gefesselten
Prometheus. Die drei Eingangsverse leiten den letzten Teil des Stücks, LANDSCHAFT MIT
ARGONAUTEN, ein, der ausgehend von dem antiken Topos der Lebensfahrt eine sowohl
philosophie- wie auch literaturgeschichtlich weit ausholende Poetik des Scheiterns entwirft.
Weil Müller diese drei Verse seiner Autobiografie als Motto voranstellt, sind sie zugleich von
außerordentlicher Relevanz für das Subjekt der autobiografischen Konstruktion. Die
Eingangsverse korrespondieren Medeas »O ich bin klug ich bin Medea Ich« 801 , deren
Subjekt-Konstitution im Tötungsakt/Befreiungsakt als gelungen beschrieben wird. Wie eine
Notiz aus dem Nachlass Heiner Müllers unterstreicht, erscheint dem Autor die Auslöschung
der Identität im letzten Teil des Stückes durchaus nicht unproblematisch: »Angst vor Jason-
part / how to articulate fear / (of author) // Angst vor Nicht-Identität / wer (von diesen allen
Ichs) bin / ist ich / (sich nicht ›zusammenkriegen‹) / parts / parts – / was bedeute ich / (dream
schwer auf Bedeutung festzulegen, zu beziehen)« (W 5 325) Die letzte Zeile deutet bereits an,
dass die Be-Deutungsgeneration des Textes immer schon ein Sekundärtext und damit
Interpretation ist. Die vermeintliche Urszene, die von der Traumstruktur verstellt wird, fällt
demzufolge in den Bereich der Spekulation. Wenn sich bereits dem Autor die Be-Deutung des
Textes verschließt, gilt das für den Rezipienten in noch größerem Maße. Die Frage »was
bedeute ich« umfasst einerseits die Suche nach einem fixierbaren Kern subjektiver Identität.
Andererseits enthält sie den Hinweis, das die Relation zwischen Ich und Welt seitens des
Subjekts einer mutmaßlichen Konstruktion unterliegt, also lediglich virtuellen Charakters ist.
Der Autor des kurzen Notats hält es scheinbar mit der Türhüter-Legende in Kafkas Roman
DER PROZESS. Auf der Suche nach Orientierung in der Stadt und also der Welt begegnet
Josef K. einem Geistlichen, der ihm die Legende vom Gesetz vorträgt. Daran schließt sich ein
Gespräch an, in dem Josef K. um Verstehen bemüht, versucht, die Legende von
verschiedenen Seiten zu beleuchten. Doch sein Gesprächspartner verwirft nicht nur all diese
Deutungsversuche, sondern die Möglichkeit der Deutbarkeit überhaupt: »Die Schrift ist
unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.« 802
Die Identität eines seiner Rede mächtigen Subjekts wird im Argonauten-Teil bereits im ersten
Vers unterlaufen (»Soll ich von mir reden«). Mit dem verweislosen Fragewort beginnt die
Dekonstruktion und sukzessive Auflösung des sich selbst gewissen Subjekts (»Ich wer«), das
in den nächsten eineinhalb Zeilen (»Von wem ist die Rede wenn/ von mir die Rede geht«)
einem Diskurs einverleibt wird, auf den es selbst scheinbar keinen Zugriff mehr hat und
gipfelt in ein vom Sprecher abgelöstes Sprechen über das Ich. Indem die zweite Hälfte des
dritten Verses (»Ich wer ist das«), vom Subjekt der Äußerung absieht, gewinnt die Frage nach
dem Ich volle Konsistenz. Durch die Vorwegnahme des fragmentarischen Motivs »Ich wer«
im ersten Vers, ist der Beginn des letzten Halbverses zugleich als Zitat ausgewiesen, das die
801
W 5 80. Der Vers zitiert Senecas Medea: »Medea nunc sum« (Seneca 1978, Bd. 1, 302)
802
Kafka-GW 1, 260
356
Ursprungslosigkeit des Sprechens zusätzlich unterstreicht. In der Folge spielt das Stück
LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN (Un-)Möglichkeiten und Konstellationen einer immer
wieder scheiternden Ich-Konstitution durch; ähnlich dem Verfahren der
Perspektivlosigkeit/Multiperspektivik, das den Text BILDBESCHREIBUNG auszeichnet:
»… an welchem Gerät ist die Linse aufgehängt, die dem Bild die Farben aussaugt, in welcher
Augenhöhle ist die Netzhaut aufgespannt, wer ODER WAS fragt nach dem Bild, im Spiegel
wohnen, ist der Mann mit dem Tanzschritt ICH, mein Grab sein Gesicht, ICH die Frau mit
der Wunde am Hals, rechts und links in Händen den geteilten Vogel, Blut am Mund, ICH der
Vogel, der mit der Schrift seines Schnabels dem Mörder den Weg in die Nacht zeigt, ICH der
gefrorene Sturm.« (W 2 119) Der vierte Vers der LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN
beschließt das Exposé der Identitätsauflösung im Bild des unter Kot begrabenen
Hoffnungsträgers der Menschheit: »Im Regen aus Vogelkot im Kalkfell« (W 5 80) steht
Prometheus ununterscheidbar von seinem eigenen Gefängnis an den Felsen im Kaukasus
geschmiedet. »Blieb das unerklärliche Felsgebirge« 803 , lautet Kafkas Kommentar zur
Vergeblichkeit der Wahrheitssuche im Mythos. In der folgenden Passage versucht das Ich des
Textes die Identifikation mit dem zerrissenen Segel, respektive der blutigen Fahne 804 , die
nicht erst mit der Beerdigung der kommunistischen Utopie ein Zeichen ist, das auf »Nichts
und Niemand« (ebd.) verweist. Die Bestimmung des Subjekts der Rede als »Auswurf eines
Mannes […] / Einer Frau« (ebd.) kann als Hinweis auf einen Ursprungszusammenhang
gelesen werden, der die eigene Herkunftslosigkeit durch einen Akt literaler Ich-Explikation
kompensiert, wie sie paradigmatisch in der Analyse des ersten Kapitels von KRIEG OHNE
SCHLACHT im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgeführt wurde. Ein Indiz für diese
autobiografische Lesart ist die Berufung auf die familiäre »Traumhölle« (ebd.; s. a.
»Familienalbum (dreamhell)«, HMA 4472), die an der Produktion des angstbesetzten
»Zufallsnamen[s]« (ebd.) maßgeblich beteiligt ist. In der traumatischen Verratsszene
anlässlich der Verhaftung des Vaters verweigerte das Kind auf den Anruf seines Namens
durch den Vater die Antwort. Die geschuldete Replik auf den Anruf des Namensgebers, der
»zuerst als Kommandowort erklingt« 805 , stellt ein primäres Grundmotiv in Müllers Schreiben
803
Franz Kafka: Prometheus. In: Ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden. Romane und Erzählungen. Ffm.
2004, 669
804
»Als am siebenten November des Jahres 1933, am Tag der großen russischen Revolution, vom Schlot der
stillgelegten P…schen Margarinefabrik bei R… eine rote Fahne mit Hammer und Sichel wehte, wurden die
männlichen Bewohner der nahe gelegenen Laubenkolonie, die als kommunistisches Nest verschrien war,
von der SS festgenommen und – da sie nichts gestehen wollten oder konnten – so lange geprügelt, bis sie
blutig und bewusstlos auf der Erde lagen. Dann gestattete man den Weibern, die der Exekution hatten
beiwohnen müssen, ihre Männer – bevor sie auf Lastautos verladen und weggeschafft wurden – notdürftig
zu reinigen und zu verbinden. / Das SS-Kommando, das am nächsten Tag in der Kolonie nach den wenigen
Männern Umschau hielt, die am Vorabend nicht zu Hause gewesen waren, fand nur Weiber und Kinder vor
– doch wehte vom Schlot der Margarinefabrik wiederum eine Fahne.
Der Staffelführer befahl einem Jungen, den ›roten Fetzen‹ sofort herunterzuholen, und ließ, während das
geschah, die Weiber und Kinder antreten und vor den entsicherten Karabinern seiner Truppe das Horst-
Wessel-Lied singen. / Als der Junge, der die Fahne zu holen hatte, wieder unten anlangte, zeigte es sich,
dass sie gar nicht rot war, sondern rostfarben, schwarzbraun und schwarz gefleckt, und auch keine Fahne,
sondern ein blutgetränktes Tuch: eines der Handtücher, mit denen die Frauen am Abend vorher ihre
zerschlagenen Männer gereinigt hatten.« (Weiskopf 1965, 9f.)
805
Michel Foucault: Der Name. Das Nein des Vaters. In: Le pauvre Holterling (Nr. 8). Blätter zur Frankfurter
Ausgabe. Basel 1988, 73–92, hier 85. Laut Deleuze/Guattari weist die Sprache generell eine
Kommandostruktur auf: »Die Grundeinheit der Sprache – die Aussage – ist der Befehl oder das Kennwort,
die Parole.« (Deleuze/Guattari 1992, 106)
357
dar. 806 In KRIEG OHNE SCHLACHT gibt Müller eine weitere Quelle für sein Hadern mit
dem »Zufallsnamen« preis, die niederschmetternde Offenbarung seines Deutschlehrers: »Der
Deutschlehrer in Frankenberg, der mir das Geld für die Novelle geben wollte, hatte einmal
gesagt, und da war ich tief getroffen: ›Richtige Dichter heißen schon so: Hölderlin,
Grillparzer, Strittmatter.‹« (KOS 103) In LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN wird der
Herkunftszusammenhang darüber hinaus als genetischer Defekt dargestellt: »MEIN
GROSSVATER WAR / IDIOT IN BÖOTIEN.« (ebd.)
In der Folge wird die Suche nach den Ausgangsbedingungen und Zielsetzungen des lyrischen
Subjekts in die Metaphorik der Seefahrt überführt. Doch die Ausgangsbedingungen des In-
See-Stechens künden von einer ziel- und orientierungslosen Irrfahrt. So ist denn späterhin im
Textverlauf von einer »Reise […] ohne Ankunft« (W 5 82), beziehungsweise vom
Schiffbruch (»Oder die glücklose Landung«, W 5 81; »ODER DIE GLÜCKLOSE
LANDUNG«, W 5 83) die Rede. Unter Bezugnahme auf Dantes GÖTTLICHE KOMÖDIE
hatte Müller in einem Brief an Dimiter Gotscheff von 1983 den Schiffbruch in der Brandung
der Utopie bereits angekündigt: »Wie Jason, der erste Kolonisator, der auf der Schwelle vom
Mythos zur Geschichte von seinem Fahrzeug erschlagen wird, ist Odysseus eine Figur der
Grenzüberschreitung. Mit ihm geht die Geschichte der Völker in der Politik der Macher auf,
verliert das Schicksal sein Gesicht und wird die Maske der Manipulation. Dante hat den point
of no return auf die Feuerwand seines Inferno projiziert, das Scheitern des Odysseus in der
Brandung von Atlantis: VOM NEUEN LAND HER EINES WIRBELS WEHEN/ […] / BIS
ÜBER UNS DAS MEER ZUSAMMENSCHLUG« (W 8 262) »Seefahrt«, »Landnahme«,
»Gang durch die Vorstadt« und »Tod / Im Regen aus Vogelkot im Kalkfell« (W 5 80)
beschreiben die zirkuläre Metamorphose des Ichs im zivilisatorischen Kreislauf permanenter
Expansion, Invasion, Ausbeutung und Zerstörung im Namen der Ideologien. Dabei stellen
diese Metamorphosen nichts anderes dar, als die objektiven Prädispositionen der Ich-
Konstitution, und zwar im Sinne einer Fremd-Werdung. »Ich meine Seefahrt« bedeutet: Das
Ich muss sich in die Seefahrt verwandeln. Daraus resultiert ein permanenter
Perspektivwechsel, der den gesamten Text zugleich strukturiert und zerreißt. Das Ich hat seine
Funktion als Garant diskursiver Sprachlichkeit verloren. Es ist nicht mehr Gewährsmann der
Identität, sondern Medium der A-Identität, beziehungsweise der Metamorphose. Trügerischen
Halt gewähren allein die zahllosen thematischen sowie metaphorischen Querverweise und
Variationen in einer musikalischen Struktur, die Be-Deutung im chorischen Sprechen auflöst
und in den prädiskursiven Fluss der Sprache wirft. Die Abkehr vom Gestade des
»Verkommenen Ufers« eines gescheiterten historischen Projektes raubt dem künstlerischen
Selbstverständnis seinen festen Bezugspunkt (»Der Anker ist die letzte Nabelschnur / Mit
dem Horizont vergeht das Gedächtnis der Küste«, W 5 80). Die suizidäre Todesphantasie der
Folgezeilen stellt dem selbstbestimmten Menschen der Aufklärung die Sehnsucht nach
kontemplativem Einklang mit der Natur gegenüber. »Der geschlachtete Baum pflügt die
Schlange das Meer / Dünn zwischen Ich und NichtmehrIch die Schiffswand / Seemannsbraut
ist die See / Die Toten sagt man stehen auf dem Grund / Aufrechte Schwimmer bis die
Knochen ruhn / Paarung der Fische im Brustkorb / Muscheln am Schädeldach / Durst ist
Feuer / Wasser heißt was auf der Haut brennt / Hunger kaut das Zahnfleisch Salz die Lippen /
Zoten stacheln das einsame Fleisch / Bis der Mann nach dem Mann greift / Frauenwärme ist
806
s. a. Werner 2001 u. Raddatz 1991
358
ein Singsang / Die Sterne sind kalte Wegweiser / Der Himmel übt eisige Aufsicht« (W 5 80f.)
Vergeblich versucht/versuchen der/die Sprecher den Wunsch nach Ruhe und Vergessen mit
den Entbehrungen zu rechtfertigen, die der historische ›Auftrag‹ mit sich bringt. Das ›Telos‹,
seine Einlösung, übt eine metaphysische Macht aus. Der kategorische Imperativ erweist sich
als Barbarei der Aufklärung – einmal in der Welt, muss die Idee (etwa diejenige des
Kommunismus) Wirklichkeit werden. Vor dieser Folie kann die vermeintliche Ankunft nur
als »glücklose Landung« (W 5 81) beschrieben werden, die »DAS NEUE« (ebd.) als das Alte
kenntlich macht: Betäubung, Konsum, Verblödung. Das Schiff hat seinen Hafen erreicht. Es
ist das gleiche verkommene Ufer, von dem es einst abgelegt hatte (»Gegen das Meer zischt /
Der Knall der Bierdosen«, ebd.). Auch die »Erinnerung an eine Panzerschlacht« (ebd.) – auf
den Seelower Höhen zum Beispiel – ist ein Hinweis auf den »See bei Strausberg« (W 5 73).
Von hier erfolgt der Aufbruch ins urbane Zentrum. »Mein Gang durch die Vorstadt Ich«
(ebd.). Die romantische Todessehnsucht des Seefahrers erfährt in der Biografie des
revolutionären Bewusstseins (»AUS DEM LEBEN EINES MANNES« 807 ) ihre zynische
Bestätigung. Gegenüber all den Trümmern, dem Bauschutt, Verschleiß, Dosenblech und Müll
erscheint der alte zirkuläre Gewaltzusammenhang als Gebot humaner Notwendigkeit: »WAS
BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN 808 […] ZWISCHEN DEN SCHENKELN HAT /
DER TOD EINE HOFFNUNG« (W 5 81). Die Einheit von Kanone und Kanonenfutter
erscheint als grausige Bestätigung des Freudschen Todestriebs, das Leben als eine Funktion
des Todes. Doch auch der Versuch die eigene Leiblichkeit (»Niemandsleib«, W 5 82) im
endlos aus ihm hervorsprudelnden Diskurs (»Wortschlamm«, ebd.) zu ersticken schlägt fehl.
Immer neue ›Bilder‹ verstellen den Fluchtweg: »Wie herausfinden aus dem Gestrüpp / Meiner
Träume das um mich herum / Ohne Laut langsam zuwächst« (ebd.). Es sind
inkommensurable Bilder von einer Fahrt durch ein Reich des Todes, der Zerstörung, der
Auflösung, die gleichen Bilder, die vom Kino auf das Maß des gerade noch Erträglichen, der
Attraktion, reduziert wurden. Doch die »Leinwand« (ebd.), auf die sich die Illusion einer
Konsumierbarkeit der Katastrophen projizieren ließ, ist gerissen. Der »Hafen«, in dem
Horkheimer/Adorno ihre Medien- und Kulturkritik festmachen konnten, liegt ausgestorben.
Möglicherweise hat ein Wurfgeschoss des um seine Beute betrogenen einäugigen Riesen
Polyphem, dessen Vater Poseidon – Herr der Meere – der Kritischen Theorie, die sich aus der
Tradition des Odysseus nicht herausbegibt, ihre Ankunft in der Praxis verweigert (»Aber die
Reise war ohne Ankunft«, ebd.), der Leinwand diesen Riss beigebracht (»An der einzigen
Kreuzung mit einem Auge / Regelte Polyphem der Verkehr«, ebd.). 809 Die Kunst versucht der
807
W 5 81. In Eichendorffs AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS durfte der Held der Erzählung nach
seinen romantischen Irrungen schließlich doch noch in den Hafen seines Glücks einlaufen: »– und es war
alles, alles gut!« (Eichendorff-W 2, 647)
808
Hölderlin durfte noch schreiben: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« (Hölderlin-KSA 2, 198)
809
Die Polyphem-Episode aus dem Neunten Gesang der Odyssee ist ein Paradigma der Erkenntniskritik in den
Epen Homers. Odysseus wird mit seinen Gefährten an den Strand des Kyklopeneilands geworfen. Die
Kyklopen führen ein vorzivilisatorisches Nomadenleben in Einklang mit einer noch paradiesischen Natur
(Homer: Odyssee, V. 109–111, 131–135). Sie betreiben weder Ackerbau (V. 108), noch errichten sie Häuser
(V. 112f.). Gesetze kennen sie nicht (V. 106, 112). Ihrer Größe und ungezügelten Kraft steht ihre Naivität
und eingeschränkte Auffassungsgabe entgegen. Der Zyklop ist einäugig (zur Bedeutung des Sehens bei den
Griechen s. a. Ch. Segal: Zuschauer und Zuhörer. In: Vernant 1993, 219-254). Indem Odysseus als
Usurpator in die »wilde Idylle« (V. 109) eindringt, verletzt er die Gesetze der Natur. Auch hier nutzt er
seine geistige Überlegenheit, um sich die Natur untertan zu machen. Der Blick des Erzählers ist der Blick
des Zivilisators, der die Küste auf ihre strategische Nutzbarkeit, das Land auf seine Fruchtbarkeit hin
überprüft (V. 123-141). Doch der Sieg wird zur Niederlage, die Befreiung zum Grund der Katastrophe. Die
359
Bildwelt, die hinter dem gerissenen Schutzschirm der Leinwand sichtbar wird, einen Sinn zu
verleihen, indem sie darin eintaucht, statt sie lediglich darzustellen (»Ein Fetzen Shakespeare
/ Im Paradies der Bakterien«; »So stand Nero über Rom im Hochgefühl«, ebd.). Dass der Text
gerade an jener Stelle in die Vergangenheitsform verfällt, an der eine Strategie des Ausbruchs
aus der zirkulären Permanenz des Unterdrückungszusammenhanges gefunden scheint, mag
dem Versuch einer »BEFREIUNG DER TOTEN« (W 4 463) geschuldet sein: Die
Auferstehung der Toten ist ein Bild der Zukunftsfähigkeit des mit ihnen Begrabenen.
Zugleich häufen sich Metaphern, die auf fundamentale Umwälzungen und das Ende der
Ideologien hindeuten: »Busfahrt im Morgengrauen« (W 5 82); »Der [große] Mittag« 810 ; »Der
Südwind spielte mit alten Plakaten« (W 5 83). Wie diese Bilder gemahnt der »Wolf […] auf
der Straße« (ebd.) an die »Furcht und/oder Hoffnung, dass der Hund als Wolf wiederkehrt.
Der Wolf kommt aus dem Süden. Wenn die Sonne im Zenit steht, ist er eins mit unserm
Schatten, beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte.« (W 8 283) In der Weißglut der
Sonne des großen Mittags beginnt das »getrocknete Blut« der in den »Uniformen ihrer
Feinde« in den Sumpf gerammten »toten Neger« zu dampfen (W 5 83). Doch das kollektive
»Wir« dieses Textteils, der von der Hoffnung auf eine Auferstehung der Erniedrigten und
Beleidigten spricht, erweist sich als Illusion. Der/Die Sprecher des Textes gehört/gehören
diesem revolutionären Kollektiv nicht an. Noch seine Sympathie für die »schwarze«
Revolution macht den »Weißen« zu ihrem Feind, weil sie der Hoffnung auf die Rettung der
eigenen gescheiterten Emanzipationsprojekte entspringt. Wie der Verrat Debuissons in
Müllers Stück DER AUFTRAG, ist seine Exklusion daher notwendig. Er befördert die
Revolution, indem er die alten Gewalt- und Besitzverhältnisse aufrecht erhält und sich an
deren Überwindung beteiligt, indem er sich als zu Überwindender zur Verfügung stellt.811 Die
Überwindung wird inszeniert als Theater des eigenen Todes, das Brechts THEATER DES
NEUEN ZEITALTERS 812 radikal zu Ende denkt, indem der Krieg wieder eingeführt wird.
»Brecht, der das Neue Tier gesehen hat, das den Menschen ablösen wird« 813 und Nietzsche,
dessen Zarathustra die Geburt des Übermenschen verkündete, werden darin zugleich bestätigt
und widerlegt. Zur Schaffung des Neuen kann das abendländische Individuum nur einen
sich in allen Lagen behauptende Schlauheit des Helden ist zugleich der Grund seiner langen Irrfahrten. Mit
der Blendung Polyphems beschwört Odysseus den Zorn des Gottes herauf, auf dessen Hilfe er am meisten
angewiesen ist: Poseidon. Die lange Irrfahrt des Odysseus, seine Leiden und der Tod seiner Gefährten,
beruht auf seinem hybriden Verhalten, das den Zorn der Götter herausfordern muss. Doch Erkenntnis und
Einsicht bedeuten Entfremdung und Objektivation nicht nur vom ursprünglichen Naturzusammenhang im
Sinne Horkheimer/Adornos, sondern ebenfalls die Produktion von Opfern.
810
W 5 82. In Nietzsches Zarathustra beschließt die Ankündigung des »großen Mittags« den ersten Teil: »Und
das ist der große Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Tier und Übermensch und
seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen.
Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner
Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn. ›Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe‹ -
dies sei einst am großen Mittage unser letzter Wille!« (Nietzsche-W 2, 341)
811
Der weiße Revolutionär Debuisson nimmt das koloniale Erbe seiner Väter auf Haiti an und verrät damit die
Revolution der Schwarzen, deren Ziel die Befreiung von den weißen Ausbeutern ist.
812
»Das Theater des neuen Zeitalters / Ward eröffnet, als auf die Bühne / Des zerstörten Berlin / Der
Planwagen der Courage rollte. / Ein und ein halbes Jahr später / Im Demonstrationszug des 1. Mai / Zeigten
die Mütter ihren Kindern / Die Weigel und / Lobten den Frieden.« (Brecht-GW 10, 968)
813
W 8 211. Die apokalyptische Metapher vom ›Neuen Tier‹ geht zurück auf Brechts Fatzer-Fragment: »Wir
aber wollen uns / Setzen an den Rand der Städte und / auf sie [die Revolution] warten. Denn jetzt muss /
Kommen eine gute Zeit; denn jetzt bald / Tritt hervor das neue Tier, das / Geboren wird, den Menschen aus-
/ zulösen.« (Brecht-BFA 10, 427f.)
360
Beitrag leisten: er besteht – so die zynische Apotheose des Aufklärungsgedankens – in der
Arbeit an seiner eigenen Abschaffung. »Das Theater meines Todes / War eröffnet als ich
zwischen den Bergen stand / Im Kreis der toten Gefährten auf dem Stein / Und über mir
erschien das erwartete Flugzeug / Ohne Gedanken wusste ich / Diese Maschine war / Was
meine Großmütter Gott genannt hatten / Der Luftdruck fegte die Leichen vom Plateau / Und
Schüsse knallten in meine torkelnde Flucht / Ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten
/ Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft MEINES Todes« (ebd.)
Mit dem Theater des Todes wird der Bogen geschlossen zum Beginn des Textes: Die
Selbstbefragung des prometheischen Menschen ist zum Abschluss gekommen. Der
hundsköpfige Adler, Prometheus’ »letzte Verbindung zu den Göttern« (W 4 405), wie es im
Text über die Befreiung des Prometheus durch Herakles in ZEMENT heißt, hat die Gestalt
eines Kampfjets angenommen. Konnte Herakles nach Jahrtausende währendem Kampf gegen
den Gestank des Vogelkots Prometheus gegen dessen Willen befreien und dem revolutionären
Projekt integrieren (s. a. W 4 404ff.), wie Odysseus den toten Philoktet in Müllers
gleichnamigem Stück, ist eine derartige Manipulation göttlicher Ratschlüsse in
LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN und anderen mythischen Gestalten nicht (mehr)
vorgesehen. Mit der Verwandlung des prometheischen Todes in eine Landschaft wird die
erneute Kolonisation und mithin Funktionalisierung allerdings angedeutet. Sie ist Resultat
diskursiven Sprechens über den Tod, aus dem das redende Subjekt am Ende des Textes
aussteigt – und damit den Text sich selbst überlässt. Die Possessivpronomina sind, wie die
Versalien suggerieren, nurmehr als Zitate verfügbar. Die letzte verzweifelte Aneignung des
eigenen Endes misslingt. Der Adler/Engel im Tiefflug lässt von der prometheischen
Anstrengung, die in der Rede über ein sich ungewisses Selbst verloren gegangen ist, nichts
übrig, außer einem Bodensatz. Dieser »Rest ist Lyrik« (W 5 83), an der sich auch die
Interpreten der kommenden Zeit (Jahrzehnte? Jahrhunderte? Jahrtausende?) die Zähne werden
ausbeißen können. »Wer hat bessre Zähne / Das Blut oder der Stein« (ebd.). Die Frage lässt
sich (vorläufig) nicht erschöpfend beantworten. Bleibt festzustellen, dass der Text die primäre
Forderung Müllers an diejenige Kommunikationsform erfüllt, die mit Kunst im weiteren und
Literatur im engeren Sinne ohnehin nur unzureichend gekennzeichnet ist: Er arbeitet am
»Verschwinden des Autors« (W 8 211). Mit dem Autor wird die Sprache entmachtet. Das
bedeutet für den Rezeptionsvorgang ein Höchstmaß an Erfahrungsgewinn jenseits
vorgegebener Denkmodelle: Rezeption als Prozess – auch im Sinne eines Gerichtsverfahrens
–, nicht als Konsum.
T. S. Eliot hielt Shakespeares Schauspiel TITUS ANDRONICUS »für eines der dümmsten
und uninspiriertesten Stücke, die je geschrieben wurden« 814 und bestritt schlichtweg dessen
Autorschaft. Shakespeares frühes Stück (Uraufführung um 1593/94) legt die barbarische
Perversion der römischen Politik vor der Folie kolonialer Eroberungen frei. Müller wendet
das Stück vermittelst einer eigens eingeführten Kommentarebene in die metaphorische Nord-
814
zitiert nach Kindler 15, 332
361
Süd-Achse einer postkolonialen Struktur, die die Heimholung der Ersten Welt in die eine
Welt der Dritten ankündigt. Das Stück sei »ein aktueller Text über den Einbruch der Dritten
Welt in die Erste« (KOS 324). Noch während der Arbeit am Stück gibt Müller zu Protokoll:
»TITUS ANDRONIKUS ist ein Nord-Süd-Stück. Sein Thema ist der Zusammenstoß
zwischen einer europäischen und einer tropischen Politik, einer im blutigsten Wortsinn
konkreten Politik, die sich den Körpern einschreibt ohne Übersetzung durch Institutionen oder
Apparate.« (GI 1 140)
Das Verhältnis Müllers zu Shakespeare – insofern relevant für das Verständnis des Textes
seiner Autobiografie – wurde im Zusammenhang mit Müllers HAMLET- und MACBETH-
Bearbeitungen im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Kapitel »Theaterarbeit« bereits
eingehend dargestellt. Im sechsundzwanzigsten Kapitel, »ANATOMIE TITUS FALL OF
ROME« widmet sich Müller einem Aspekt des Werkes, der weniger spezifisch für
Shakespeare, als vielmehr für die eigene Arbeit ist. »Der Terror der Sprache / Die Sprache des
Terrors« (HMA 4482) lautet die handschriftliche Titelnotiz zum Entwurf eines Vorwortes von
KRIEG OHNE SCHLACHT im Nachlass des Dichters. Im TITUS-Kapitel, dem letzten
Kapitel der Autobiografie, das ausdrücklich ein Stück Müllers ins Zentrum der Betrachtung
stellt, wird auf den Zusammenhang von Gewalt und Schrift, zugleich aber auch auf die
Gewalt der Schrift – ihr anatomisches und also analytisches Potenzial – rekurriert. Wiederum
wird die lange Inkubationszeit vom ersten Impuls bis zur Ausführung betont (»Der Plan dazu
war alt, wie immer«, KOS 323) und so darauf hingewiesen, wie eng die Arbeit des Schreibens
mit anderen Arbeitsprozessen verknüpft ist. »Ich hatte eine Vorstellung davon seit meinem
ersten Aufenthalt in Rom und seit dem CIA-Putsch gegen Allende mit der Verwandlung von
Fußballstadien in Konzentrationslager und Begegnungen mit Jugendbanden von New York
bis Rom.« (ebd.) Tatsächlich geschrieben ist das Stück 1983/84, die Uraufführung findet 1985
statt. Ursprünglich hatte das Bochumer Schauspielhaus für die Inszenierung von Karge und
Langhoff JULIUS CÄSAR vorgesehen. Um jedoch nicht einer platten politischen Aktualität
aufzusitzen, wird der Plan, wie Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT nahe legt, aufgegeben:
Nach dem Scheitern der sozialliberalen Koalition im Spätsommer 1982 wurde Bundeskanzler
Helmut Schmidt infolge eines Misstrauensvotums am 1. Oktober 1982 mit den Stimmen von
CDU, CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion des Amtes enthoben und Helmut Kohl zu
seinem Nachfolger gewählt. »Brutus Genscher und Cäsar Schmidt, das konnte man
Shakespeare nicht antun.« (KOS 323f.) Im Widerspruch zu dieser Aussage finden sich in der
der Titus-Inszenierung von Karge/Langhoff zugrunde liegenden Stückfassung eine Vielzahl
von Anspielungen, die auf tagespolitische Ereignisse rekurrieren. 815 Und auch die Notiz auf
einem Typoskript im Nachlass des Autors legt nahe, dass die politischen Anspielungen nicht
dem Zufallsprinzip geschuldet sind, sondern im engen Zusammenhang mit der
Inszenierungsarbeit Karge/Langhoffs stehen: »Satur[nin] = CDU / Titus = SPD / Aaron =
green.« 816 Im Gegensatz zu JULIUS CÄSAR muss das Interesse an einer Bearbeitung
Shakespeares TITUS ANDRONIKUS bei Müller nicht erst geweckt werden, »weil ich damit
sowieso schon schwanger ging.« (KOS 324)
Weil Müller der erste Akt bei Shakespeare als »unerträglich, elisabethanische Konfektion«
815
Paradigmatisch dafür sind die Textbeispiele aus dem Entstehungszusammenhang des Stückes im
Anmerkungsapparat des fünften Bandes der Werkausgabe (s. a. W 5 330ff.).
816
zitiert nach W 5 331
362
und also »langweilig« (KOS 324) erscheint, beschließt er, den Text um eine Kommentarebene
zu erweitern. Im Interview bezeichnet Müller Shakespeares Text als »ein ziemlich krudes
Stück. Das konnte man doch weitgehend als Rohmaterial verwenden.« (GI 1 147) Die
ästhetische Funktion des Kommentars bestehe darin, »die Wirklichkeit des Autors ins Spiel
zu bringen« (W 5 192). Müller betont, dass der Kommentar nicht als den Dialogpassagen
übergeordneter Metadiskurs missverstanden werden dürfe, sondern als essentieller Bestandteil
des Dramas zu verstehen sei. »Mit dem Erzählteil kommt die Position des Autors
(beziehungsweise des Bearbeiters) wieder in das Stück, deren Verschwinden im Drama so
leicht zur Routine führt, zur mechanischen Wiederholung.« (KOS 324) Manifest werde die
Perspektive des Autors im dem Stück vorangestellten Motto: »Das Motto beschreibt die
fragwürdige Position des Autors als Schreibtischtäter, beziehungsweise zwischen Opfern und
Tätern, aus der Erfahrung der Diktatur: ›Der Menschheit / Die Adern aufgeschlagen wie ein
Buch / Im Blutstrom blättern‹« (KOS 324, s. a. W 5 99). Der Kommentar ist das Messer, das
in Shakespeares Textkorpus eindringt, der Autor der Anatom, der ihn seziert. Obschon keine
Obduktion/Analyse intentionslos vor sich geht, ist der Kommentar alles andere als eine
Funktion des Besitzstandswahrung. Im Gegenteil öffnet er den Text für das Spiel, befreit das
Blut der Wörter von den Masken/Rollen und nimmt damit in gewissem Sinne auch eine
Bluttransfusion vor: »Das Repertoire der Rollen (Positionen), das der Kommentar bereitstellt
(Zuschauer Voyeur Aufseher Reporter Vorredner Souffleur Einpeitscher Sparringpartner
Klageweib Schatten Doppelgänger Gespenst) steht allen zur Verfügung die am Spiel beteiligt
sind. […] Kein Monopol auf Rolle Maske Geste Text« (W 5 192). Der Kommentar bringt das
Stück dem Typus des Lehrstücks wieder näher, auf die sich Müller in Verbindung mit den
nach TITUS verfassten Texten der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE tatsächlich bezieht.
Jedem am Spiel Beteiligten könne »die Rolle des Totenführers« übertragen werden, dessen
Funktion darin bestehe, den »Lernprozess der Toten« darzustellen im doppelten
Bezugssystem von anatomischer Auflösung und schmerzhafter Erinnerung: »DISMEMBER
REMEMBER« (W 5 193). Die Schnitte im Körper der Stücktextur, die die Wirklichkeit des
Autors ins Spiel bringen, kennzeichnen zugleich den Ort der Dekonstruktion von Werk und
Autorschaft. Werk und Autor sind nurmehr Material auf dem Obduktionstisch eines
anatomischen Labors, das den Leser/Spieler einbezieht. Unverhofft hält der Rezipient selbst
das Messer in der Hand. Zugleich habe Müller die Arbeit an ANATOMIE TITUS FALL OF
ROME EIN SHAKESPEAREKOMMENTAR als ästhetisches Experimentierfeld betrachtet:
»Es war wie ein Manövergelände, man konnte ein Formenarsenal ausprobieren für spätere
Stücke.« (KOS 324) In der fünfteiligen WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE greift Müller
massiv auf diese Form der Dramaturgie zurück. Bereits 1986 hatte Müller das Stück
ausdrücklich als »Vorarbeit für dramatische Texte über den zweiten Weltkrieg« (GI 1 182 f.)
bezeichnet.
In KRIEG OHNE SCHLACHT beschreibt Müller Gewalt als Phänomen der
Alphabetisierung, die Schrift als Medium der Kriegsführung. »Im Afghanistan-Krieg drückte
sich der Widerstand gegen die Alphabetisierung, gegen das Aufzwingen eines fremden
Alphabets noch darin aus, dass die Mudschaheddin die toten Verräter amputierten und
kastrierten, die eigne Schrift, das eigne Alphabet den toten Körpern einschrieben. Auch die
Nationalitätenkonflikte in der zerfallenden Sowjetunion sind ein verspäteter Widerstand
gegen die stalinistische Alphabetisierung, ein Rückgriff auf das eigne Alphabet, nicht nur ein
Problem von sozialem Gefälle. Die Sprache ist die Wurzel. Der bulgarische Versuch, der
363
türkischen Minderheit bulgarische Namen aufzuzwingen – mit den Namen nimmt man ihnen
ihre Toten weg, den Lebenszusammenhang mit ihren Toten –‚ war, wie der Jugoslawienkrieg
beweist, nicht die letzte Dummheit im Umgang mit der Differenz.« (KOS 325) Vier Beispiele
der jüngeren Geschichte führt Müller an, um die Folgen der Kolonisierung durch Schrift zu
verdeutlichen. Sie ließe sich leicht um die Vielzahl regionaler Konflikte wie den des
weltweiten Konflikts eines vom Westen geschürten Terrorismus erweitern. Es geht Müller um
die Ausformulierung von Differenzen, um die Behauptung von Anderssein und Akzeptanz
von Fremdheit in einem Prozess globaler Homogenisierung als Folge grenzenloser Expansion
des Kapitals: »Ich glaube an die Ausformulierung von Differenzen«, formuliert Müller im
Interview 1982. »Das ist das einzige, was Dinge in Bewegung setzen kann.« (GI 1 122) Und
in dem Essay SHAKESPEARE EINE DIFFERENZ heißt es programmatisch: »Unsere
Aufgabe, oder der Rest wird Statistik sein und eine Sache der Computer, ist die Arbeit an der
Differenz.« (W 8 337)
Die blutigen Streiche der Fremden in Müllers Rom dienen der Immunisierung gegen den
kolonialen Terror einer fremden Kultur. »Die Goten haben Ovid gelesen, also eine fremde
Kultur in sich aufgenommen. Und nun üben sie dieses fremde Alphabet an dem römischen
Patrizierkind aus. Sie nehmen die Literatur beim Wort, gegen den Terror der
Alphabetisierung, wie Eulenspiegel im Volksbuch. Es geht um das Verhältnis von Schrift und
Blut, Alphabet und Terror.« (KOS 324f.) Die Übertragung der Handschrift römischer Dichter
auf die Körper ihrer Bürger, die Alphabetisierung der Leiber, stiftet Verwirrung und Unheil
und lässt das empfindliche Gleichgewicht staatlicher Ordnung am Ende ganz
zusammenbrechen. Im sechsten Kapitel der Metamorphosen, das den gotischen Barbaren im
römischen Exil als Textbuch ihrer blutigen Inszenierung dient, schildert Ovid die
Vergewaltigung der Philomele und deren anschließende Verstümmelung durch den Mann
ihrer Schwester Procne, den Thraker-Fürsten Tereus. Die Geschändete und ihrer Sprache
beraubte sendet der Schwester daraufhin ein Tuch, in das in der Farbe des Blutes die Zeichen
der Gewalttat eingewebt sind, die Tereus an ihr verübt hat. In einem Anfall bacchantischer
Raserei befreit Procne ihre Schwester aus Tereus’ Gewalt. Daraufhin tötet sie ihren Sohn Itys
und setzt ihn dem Gatten zum Mahl vor. Der Rache des aufgebrachten Tereus entziehen sich
die Schwestern durch die Verwandlung in Vögel. 817 In ANATOMIE TITUS (wie auch bereits
in Shakespeares Vorlage) haben die beiden Gotensöhne Demetrius und Chiron ihre Lektüre
allerdings gründlich betrieben. Der Plot zu ihrem Drama stammt von Ovid – erweitert um die
Erfahrung des Scheiterns Tereus’ an seiner nicht zu Ende gebrachten Arbeit der
Verstümmelung Philomeles. »Das ist ein Stück Ovid. Ich kenn es gut. / Ich weinte auf der
Schulbank schon darüber. / Und dieser Tereus war nicht sehr gescheit: / Er ließ die Hände ihr,
ihn zu verraten.« (W 5 149) Sie schneiden der Lavinia demzufolge nicht nur die Zunge
heraus, sondern berauben sie auch der Hände, mit deren Hilfe sie das Verbrechen in Schrift
verwandeln und so zur Anzeige bringen könnte: »Schreib auf, was du im Kopf hast, mit den
Händen / Wenn deine Stümpfe wissen deine Handschrift.« (W 5 127) Marcus Andronikus,
des Feldherrn Bruder, errät denn auch prompt die Quelle Lavinias Zurichtung: »Die schöne
Philomele, ach verlor, / Die Zunge bloß und konnte, was ihr zustieß / Einsticken einem teuren
Wandbehang. / Dir, Nichte, ist das Mittel abgeschnitten: / Du trafst auf einen listigeren Tereus
/ Der abschnitt diese zarten Finger hier / Die besser stickten sonst als Philomele.« (W 5 128)
817
zum detaillierten Hergang s. a. Ovid: Metamorphosen, VI. Buch, V. 420–673
364
Die umfassendere Verstümmelung verhindert aber nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt,
sie erreicht nur den stärkeren Impuls des Ausdrucks. Lavinia benutzt nun die literarische
Vorlage selbst, um ihren Rächern bei der Rekonstruktion des Tathergangs zur Hand zu gehen.
Dabei ist die Wunde selbst die Quelle für die späte Schrift. »WUNDEN SIND WAFFEN
JEDER STUMPF EIN SIEG / DER KAMPF WIRD IN DEN WOLKEN AUSGETRAGEN /
UND MIT DEM ARSENAL DER BIBLIOTHEKEN / WER KEINE HÄNDE HAT LIEST
MIT DEN ZÄHNEN« (W 5 141), weiß der Kommentar. Ihrer eigenen Hände beraubt,
überlässt sie Ovids METAMORPHOSEN ihrem Neffen, dem Sohn des Lucius. Titus liest die
Stelle, die sie »mit den Zähnen […] zitiert« (W 5 145) und bringt die Tochter dazu, mit dem
Armstumpf die Namen ihrer Vergewaltiger in den Staub zu schreiben. Die Entwicklung der
Aufschreibsysteme verwandelt die Erinnerung an die Tat in Schrift: »Stuprum. Chiron.
Demetrius.« (W 5 146)
Was hier vorgeführt wird, ist eine Ökonomie des Leidens in der Schrift, die von einer
doppelten strukturellen Beziehung ausgeht: Der peinlichen Wirkung der Schrift,
beziehungsweise der Auf- und Einschreibsysteme auf die Körper, steht die Verwandlung der
Schmerzen in Schrift gegenüber, die ihrerseits wiederum messerscharfe Schnitte verursachen
kann. Wie die Figur des Iwagin in ZEMENT feststellt, wird der revolutionäre Terror mit dem
Voranschreiten der Revolution institutionalisiert: »die Mauser kann die Remington nicht mehr
ersetzen« (W 4 407f.). Die Schreibmaschine übernimmt die Funktion des Revolvers: sie
diktiert den Körpern das Alphabet des Kommunismus auf den Leib. Evident wird dieses
Problem im Aufgreifen Kafkas Modell der STRAFKOLONIE. Müller reduziert Kafkas
Erzählung auf die Technologie und den Vorgang der Hinrichtung. Der Erzähler, von dem bei
Müller nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, ob es sich um den Kommandanten des
Lagers, den ahnungslosen Besucher oder den ahnungsvollen Kafka-Leser handelt, der den
Text betritt, beschreibt den »eigentümliche[n] Apparat« (W 2 132) einer Schreibmaschine
ganz besonderer Art: »Er besteht aus drei Teilen. […] Der untere heißt das Bett. Der obere
heißt der Zeichner. Und der mittlere, schwebende Teil heißt Egge.« (ebd.) Letztere führt das
Urteil aus, indem sie dem Delinquenten das übertretene Gebot »auf den Leib« (ebd.) schreibt.
»Es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern. Unser Mann entziffert sie aber
mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit. Er braucht sechs Stunden zu ihrer
Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube […].
Dann ist das Gericht zu Ende.« (W 2 135) Die semantische Verfügbarkeit der Schriftzeichen
ist an das Opfer gebunden. Nur der Leib des Delinquenten vermag die Schrift zu entziffern.
Während der Schreibvorgang transparent – und beschreibbar – bleibt, ist die Entschlüsselung
der Schrift an die leibliche Erfahrung des Beschrieben-Werdens gebunden. Die peinliche
Semantik setzt die Erfahrung des Schmerzes an die Stelle der Erkenntnis. Damit haftet dem
Körper als eigentliches Ziel der Disziplinierungsversuche durch die ›praktische Vernunft‹ ein
subversives Potenzial an, das ihm der postumen Verfügbarkeit durch die disziplinierende
Instanz entzieht. Auf den geschundenen Körpern erhalten die Zeichen einen neuen Sinn, den
die Opfer der Einschreibung mit ins Grab nehmen. Dem westlichen Denken, das den Tod nur
verwaltet, geht damit ein Wissen verloren, das andere zu nutzen wissen werden. Der
»Kommentar« ist ein Mittel, die tote Schrift lesbar zu machen: »Der Text das Messer, das den
Toten die Zunge löst auf dem Prüfstand der Anatomie; das Theater schreibt Wegmarken in
den Blutsumpf der Ideen.« (W 5 193) Das Theater organisiert die »Rebellion des Körpers
gegen Ideen« (GI 1 96) und kann so zur Auflösung der semantischen Totenstarre der
365
Ideologisierung von Wirklichkeit beitragen, die dem Staatsapparat eigentümlich ist.
Der Struktur des Staatsapparates diametral entgegensetzt ist diejenige der Kriegsmaschine. 818
In KRIEG OHNE SCHLACHT ist die Rede davon, wie »die Metropolen der Welt« (W 2 554)
vom dunklen »Getümmel ziehender Barbaren« (W 8 377) verschluckt werden. Dabei wird die
Kriegsmaschine der Goten in ANATOMIE TITUS unmittelbar auf die Revolution von 1917
bezogen. »An die Selbstdarstellung der Goten: ›Wir haben Zeit wir warten auf den Schnee /
Der uns nach Rom weht Rom läuft uns nicht weg / Die Städte stehen und die Goten reiten /
Und keine Stadt steht auf aus unserm Hufschlag‹ 819 wurde ich erinnert, als ein junger
Architekt aus Tallinn mir sagte ›Die Russen zerstören alles, überall, wo sie hinkommen. Sie
bauen nichts auf, sie können nur zerstören, weil sie den Tatarensturm verinnerlicht haben.‹ So
hat schon Marx seine Angst vor der Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Russland
beschrieben. Moskau ist eine Zeltstadt, eine Stadt auf der Flucht, in ständiger Erwartung der
Tataren, selbst die Stalinarchitektur hat noch die Ornamentik von Zeltgiebeln.« (KOS 325f.)
Die Angst von Marx entspricht der Angst Europas vor der Dritten Welt, die nicht nur in
Nordafrika immer hörbarer an die Pforte zum vermeintlichen Paradies klopft (»Das westliche
Paradies konstituiert sich aus der Hölle für die Dritte Welt«, GI 1 73). In einer handschriftlich
im Arbeitsmanuskript eingefügten (s. a. SUSCHKE 484) und mit der Druckfassung
identischen Schlusspassage des Kapitels wird die Dialektik der Leninschen
Kolonisierung/Alphabetisierung pointiert zusammengefasst und auf die politischen Ereignisse
in Europa und Zentralasien nach 1989 bezogen. Lediglich der Schlusssatz ist für diese frühere
Arbeitsfassung nicht belegt. »Auch der Marxismus war ein fremdes Alphabet, von Lenin dem
halbasiatischen Russland aufgezwungen, das gegenläufige Resultat die Öffnung des
Riesenreiches für den Kapitalismus, so wie Hitlers Russlandfeldzug zur Öffnung Europas für
die Flutwelle der Dritten Welt geführt hat. Der Zerfall der Sowjetunion in ihre Bestandteile
öffnet mehr Türen und schwächt zugleich das Kapital. Jelzin hat Kafka gelesen »Freuet euch,
ihr Patienten – Der Arzt ist euch ins Bett gelegt.« (KOS 326) Mit der »Öffnung Europas für
die Flutwelle der Dritten Welt« erinnert Müller nicht nur an das Versagen des revolutionären
Anspruchs von 1917, sondern zugleich an einen Paradigmenwechsel in der Bewertung der
globalen Emanzipationsbestrebungen im eigenen Werk. Zeigte Müllers Schaffen bis Mitte der
siebziger Jahre im Wesentlichen die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit
gesellschaftlicher Emanzipation auf und zählte peinlich die Opfer, die dem als notwendig
erkannten Emanzipationsprozess im Namen des historischen Fortschritts dargebracht wurden,
wird spätestens mit der HAMLETMASCHINE ein Interesse an der Subversion und radikalen
Negierung des Status quo erkennbar. Es findet eine Fokusverschiebung der männlich
konnotierten rationalen Arbeit an der Utopie zum in erster Linie weiblich/schwarz besetzten
utopischen Potenzial von Destruktion, Hass und Rache statt. Mit ihr beginnt die
»Mobilisierung der Provinzen« (KOS 295), die Müller in den Folgestücken gegen die
›Festung Europa‹ marschieren lässt, bevor er sich mit der Wolokolamsker Chaussee noch
einmal den Bedingungen des Scheiterns der sozialistischen Bewegung in Deutschland/Europa
818
s. a. Deleuze/Guattari: 1227 – Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine. In: Deleuze/Guattari
1992, 481–585
819
W 5 140. Am Ende der sechsten Szene sucht der aus Rom verbannte Lucius’, Sohn des Gotenschlächters
Titus, der ausgesandt ist, die Androiden zu rächen und Rom zu retten, Asyl bei den Goten. Doch die
Clankriege der Adelsfamilien interessieren die (historische) Bewegung der Goten nicht. Sie
instrumentalisieren Lucius mittels Gehirnwäsche für ihren Auftrag, Rom/Die Erste Welt auszulöschen.
366
zuwendet.
Wie schon im AUFTRAG (»Ich gehe in den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen
meines Lebens.«, W 5 40) ist der Unterdrückungszusammenhang auch in ANATOMIE
TITUS konstitutiv für die Emanzipationsbestrebungen der Unterdrückten (»DER NEGER
SCHLEIFT DIE ZÄHNE AN DER KETTE«, W 5 105). Auf diese Logik der Unterdrückung
baut auch der EXKURS ÜBER DEN SCHLAF DER METROPOLEN, der das Verdrängte im
Zentrum der Verdrängung aufblitzen, die Marginalisierten das Herz der Macht sprengen lässt,
»HEIMHOLEND IN DAS NICHTS DIE ERSTE WELT« (W 5 114). Die Umkehrung der
Alphabetisierung ist in der Neubestimmung der Funktion von Schrift zu suchen: Dient die
Schrift der westlichen Welt wie das Theater der römischen Tragödie vorwiegend als Medium
zum Transport von Ideen, kündigt die Figur des Außenseiters Aaron von einem Körpertheater
und einer blutigen Schrift, die auf den Körpern der Opfer menschlicher Fortschrittsgeschichte
lesbar wird. »DER NEGER SIEHT DAS RÖMISCHE TRAUERSPIEL / AUS DER
KULISSE SEINES WELTTHEATERS / DER NEGER SCHREIBT EIN ANDRES
ALPHABET / GEDULD DES MESSERS UND GEWALT DER BEILE« (W 5 129) Bereits
zu Beginn der dritten Szene vermerkte der Kommentar: »DER NEGER IST SEIN EIGNER
REGISSEUR / ER ZIEHT DEN VORHANG SCHREIBT DEN PLOT SOUFFLIERT« (W 5
115) Die Figur des Aaron ist die einzige im Stück, die Gewalt nicht als Mittel zum Zweck
begreift, sondern als dem Spiel der Politik zugrunde liegendes Strukturprinzip. Sie ist die
allegorisierte Inkorporation des unterworfenen, schließlich verdrängten Körpers; zugleich
kennzeichnet sie die Wiedereinführung des Leibes in die Politik. Es ist eine Politik der
Wunden und des Blutes. Die neuen und alten Römer erfahren ihre Körper nur in seiner
Deformation, die dialektisch als Waffe zur Vernichtung des Gegners eingesetzt wird. Ihre
Legitimation findet jede neue Bluttat in der Logik der Vergeltung, einer – wie Nietzsche
beschreibt – aus der Ökonomie in die Moral überführten Kategorie. Aaron verweigert den
dialektischen Schulterschluss, indem er auf der Differenz beharrt. Noch sein Tod ist Revolte.
Beschrieben mit den Zeichen der ihm zugeschriebenen Schandtaten, wird der Sündenbock
lebendig begraben: »Das ist dein Urteil brusttief in die Erde / Bis dich die Fliegen essen und
die Hunde / Oder was sonst dir gleicht unter dem Boden/ Dass sie dich leichter finden
schreiben wir / Die Namen unsrer Toten auf dein Fell / Du bist ein guter Denkstein rot auf
schwarz« (W 5 182). Doch das Gericht des Weißen über den Schwarzen bleibt nicht das letzte
Wort, wenngleich die Replik des Schwarzen in den Versalien des »kommenden Volkes« 820
der Goten und artverwandter Nomaden erscheint: »WÄHREND DER NEGER IN DIE ERDE
WÄCHST / VERWANDELT LANGSAM VOM GEWÜRM DER TIEFE / IM STAUB DER
SICH ZUR WÜSTE SAMMELT UND / WÄCHST ÜBER ROM / SCHLAGEN DIE
GOTEN DIE HAUPTSTADT DER WELT / MIT PFEILGEWITTERN AN DAS KREUZ
DES SÜDENS« (W 5 188). »Das neue Rom«, weiß der Autor eines anderen Textes, der etwa
zur gleichen Zeit entsteht, »heißt USA, Che Guevara ist das Kreuz des Südens.« (W 8 261)
Ein Hinweis darauf, dass das an Seneca geschulte Bühnengemetzel der Elisabethaner, auf das
Müller an Stelle von JULIUS CÄSAR zurückgreift, weniger von tagespolitischer Aktualität,
als vielmehr von epochaler Bedeutung ist.
In der Figur des Aaron materialisiert sich aber auch ein Aspekt müllerscher Ästhetik, die der
Künstler selbst als »Dialog mit den Toten« (GI 2 64, JN 31) bezeichnet: »DISMEMBER
820
Deleuze 2000, 15
367
REMEMBER« (W 5 193). Die Kunst stellt als »geronnene Erfahrung« (W 8 316) eine Form
der Mnemotechnik dar. Sie gräbt – wie Aaron – die Leichen der Geschichte immer wieder
aus, um sie den Angehörigen vor die Tür zu stellen: »Oft hab ich Tote aus dem Grab gescharrt
/ Und aufgepflanzt vor ihrer Freunde Tür / Grad wenn der Schmerz beinah vergessen war /
Und schnitt in ihre Haut, wie in Baumrinde / Mit meinem Messe in gut römischer Schrift: /
LASST EUREN SCHMERZ NICHT STERBEN MEINEN TOD« (W 5 171)
Erinnerungsarbeit, beziehungsweise Trauerarbeit gehe aus von Schocks, mit denen man
lernen müsse umzugehen. »Und da geht es dann immer auch um die Befreiung von Toten«
(VE 341), die ansonsten in der westlichen Welt, »außer für die Stadtplanung« (W 8 177),
keine Rolle mehr spielen. »Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus
ihnen kann man Zukunft beziehen. / Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft.« (JN 31) Aarons
Verhalten ist bei aller vermeintlichen Bosheit in erster Linie Arbeit an der Differenz, die den
universalen Diskurs dem »Schweigen der Entropie« (W 8 212) vorzieht. »Die Toten schreiben
mit auf dem Papier der Zukunft.« (W 8 316)
Dass Titus selbst die ästhetische Schaltstelle ist, in der die Überführung des staatlichen
Diskurses in die Bewegung der Kriegsmaschine vorgenommen wird, mag kaum verwundern.
Schließlich ist ihm als Feldherrn das Manöver des Krieges vertrauter als die Mühle der
Verwaltung. Anlässlich der Schlachtung der Söhne Tamoras durch Titus, der sich nun
seinerseits der literarischen Vorlage Ovids zu bedienen weiß, um nach deren Rezeptur die
Vergewaltiger ihrer Erzeugerin zu servieren, auf dass sie deren Grab werde, heißt es in der
EXKURS ÜBER DEN KRIMINALROMAN untertitelten ANATOMIE des TITUS
ANDRONIKUS: »DER RÖMER LERNT DAS ALPHABET DES NEGERS« (W 5 160). Die
Rolle des schwarzen Schurken und vorbestimmten Opfers bietet ein Höchstmaß an
Identifikationsangeboten. Anlässlich der Büchner-Preis-Verleihung in Darmstadt 1984 sichert
sich der Autor metaphorisch einen Platz an der Seite derer, die auch in seinen Texten
(notwendig) zu den Verlierern gehören: »Ich bin ein Neger.« (N 28)
368
Schaubühne anlässlich Wilsons Inszenierung DEATH DESTRUCTION & DETROIT. Müller
zeigt sich bei dieser Begegnung insbesondere beeindruckt von Wilsons Umgang mit der Zeit
und illustriert seine Faszination mit der Beschreibung einer Probensituation, die im endlosen
Tanz zweier Laiendarsteller mündet: »ein dürrer alter Mann und eine dürre alte Frau. Das war
eine ungeheuer schöne Szene. Wilson ließ sie zwanzig Minuten tanzen, auch noch in der
Aufführung.« 821 Die Aufhebung, respektive extreme Dehnung der empirischen Zeit und die
damit einhergehende Intensivierung der Wahrnehmung sieht Müller im gezielten Einsatz von
bewusstseinsverändernden Substanzen begründet. Für Müller, der das Theater als »Medium
sozialer Selbstverständigung« 822 und Möglichkeit der Grenzerfahrung im Sinne Artauds 823
begreift, ist das ein Identifikationsmoment. Denn auch in seinen Augen müsse sich das – als
Prozess gedachte 824 – Theater im Extremfall einrichten, um die »Gesellschaft an ihre Grenze
zu bringen« (GI 1 59), das »Kontinuum der Normalität« (W 4 259) aufzusprengen. »Zeit ist
ein Hauptmoment in Wilsons Theater, ihn interessiert der Moment zwischen Blick und Blick,
was und wie sieht man während des Blinzelns. Das kommt auch aus der Erfahrung mit
Drogen, die Zeitdehnung unter Drogen. Die Bühnenzeit ist eine andere Zeit als die reale oder
die scheinbar reale Zeit. Eine Sekunde kann auf der Bühne eine Stunde dauern, ein
Jahrhundert fünf Minuten.« 825
Eine erste, zugleich intensive Zusammenarbeit erfolgt im Rahmen von Wilsons CIVIL
WARS, einem internationalen Theaterprojekt, für dessen deutschen Teil Müller sich als
Textlieferant zur Verfügung stellt. Dabei treten sogleich die Differenzen im Kunstverständnis
und in der Arbeitsweise beider Künstler zu Tage, die Müller jedoch bei aller Zerrissenheit
immer wieder versucht, für seine eigene Arbeit produktiv zu machen. »In Köln, bei CIVIL
WARS, hatten die Proben schon gefangen, als ich kam, und er hatte das Ganze
durchgezeichnet, alles stand schon fest, auch die Zeiten. […] Ich kam mir vor wie jemand, der
vor einem Automaten steht und nicht weiß, was er einwerfen soll.826 Das war mehr ein Spiel
821
KOS 327. In AUSSCHWEIFUNG UND DISZIPLINIERUNG, einem Text Heiner Müllers über Robert
Wilson vom Februar 1992 heißt es: »Als Bob 1978/79 in Berlin DEATH, DESTRUCTION & DETROIT
inszenierte, habe ich einige Proben besucht. Am ersten Abend habe ich gesehen, wie Bob bekifft am
Schaltpult saß und mit Geräuschen spielte und mit Licht. Das war mein erstes Bild von Bob. Und in einer
ziemlich langen Probe, in der Laien tanzten, entdeckte Bob zwei ganz Alte, mindestens siebzig, und die
sollten immer weitertanzen. Das taten sie dann auch, die beiden Alten, die ein Leben lang darauf gewartet
hatten, dass ihnen einmal die Bühne gehörte. Das war mein erster Eindruck von Bobs Art zu
improvisieren.« (W 8 410) HEINER MÜLLER ÜBER ROBERT WILSON, 1993 in einem »Merian Extra«-
Heft über das Hamburger Thalia-Theater erschienen, greift in weiten Teilen auf den im Vorjahr
entstandenen Text zurück: »Bei Proben zu DEATH, DESTRUCTION AND DETROIT an der Schaubühne
in Berlin ließ er einmal 50 alte Leute tanzen. Plötzlich sah er so einen ganz verschrumpelten, kleinen alten
Mann und eine ebensolche Frau. Die sollten jetzt allein tanzen. Sie hatten immer nur eine Teetasse
hereinbringen dürfen oder hinten rumgestanden. Zum ersten Mal in ihrem Leben gehörte ihnen die Bühne.
Sie blühten auf. Ich habe das sehr genossen.« (W 8 459)
822
Heise 1988, 89
823
Artaud begreift seine Konzeption vom Theater »der Grausamkeit und des Schreckens« (Artaud 1996, 90)
als Realität, die »unsere gesamte Vitalität ergründet und uns mit allen unseren Möglichkeiten konfrontiert«
(Artaud 1996, 91).
824
Ein besonderes Merkmal Wilsons Arbeit, das Müller für seine eigenen Texte ebenso wie für seine
Regiearbeiten reklamiert, ist deren »Prozesscharakter« (W 8 412), der verhindere, dass die Produktion im
Produkt verschwinde (s. a. W 8 175, GI 1 50, GI 2 67).
825
KOS 332. A. a. O. schreibt Müller: »Tatsächlich zeichnet sich seine Arbeit durch Zeitdehnung aus. Die
andere Zeiteinheit kommt natürlich auch aus der Drogenerfahrung. Da nimmt man in fünf Minuten mehr
wahr als sonst in einer Stunde.« (W 8 458)
826
In HEINER MÜLLER ÜBER ROBERT WILSON heißt es: »… ich kam mir vor wie jemand, der vor einem
369
als eine Arbeit, zwischen Zufall und Notwendigkeit, aber nicht beliebig. Wilsons Texte – das
beschreibt er selbst ganz gut – sind wie Wetter, das man nicht wahrnimmt, wenn es nicht
stört, genau wie amerikanisches Fernsehen, wo Bedeutung stört. So konnte ich nicht
schreiben. Dass da wirklich ganz fremde Elemente zusammenstießen, war das Interessante an
der Produktion, besonders im letzten Teil, wo sichtbar und hörbar zwei Maschinen
gegeneinander arbeiten. Da ging es nicht auf, aber die Störung setzte sich in Spannung um.
Ich glaube, das war für uns beide eine wichtige Erfahrung, der Rückgriff auf das Kinderspiel
ein Angriff auf tradiertes Theater.« (KOS 328f.) Trotz der gemeinsamen kindlichen Freude
am störenden Spiel und der Subsumierung der Arbeitsbeziehung zu Wilson unter die Kapitel-
Teil-Überschrift »Freunde«, wird der von Müller freundschaftlich »Bob« genannte Wilson
nicht explizit den Freunden zugeschlagen (über die Müller – soweit es lebende Personen
betrifft – ohnedies schweigt: »Ich werde also keine Namen sagen«, KOS 335) In einer
verworfenen Textfassung heißt es: »Den Wilson habe ich sehr gerne und er mich wohl auch.
Das geht vielleicht über eine Arbeitsbeziehung hinaus, aber trotzdem ist es etwas anderes, als
meine Beziehung zu Marquardt.« (SUSCHKE 568) Die Gemeinsamkeit – und das macht die
Qualität dieser Beziehung vermutlich aus – besteht im gegenseitigen Interesse an der
Differenz zu dem jeweiligen Widerpart, die strukturelle Übereinstimmungen, etwa
biografischer Prägung, nicht ausschließt. Wiederum also bildet die Differenz, das
entscheidende Bewegungsprinzip im Denken Müllers, den Auslöser für das Getriebe der
eigenen Produktivität. In Rotterdam, wo Wilson am niederländischen Teil seiner CIVIL
WARS arbeitet, lernen sich die beiden Künstler die Nacht verplaudernd näher kennen. »Er
erzählte von seiner Kindheit, ich von meiner. Er sprach von seinem Schrecken vor riesigen
Spielzeugen im Supermarkt, der Terror der Warenwelt. Dann lachte er und sagte: ›We are so
different.‹ Das war eigentlich der Anfang unsrer Beziehung, ›we are so different‹. Er hat noch
stundenlang erzählt, sein ganzes Leben. Ein Beispiel für die Differenz war eine Szene, in der
schwarze Figuren auf Stelzen in den Türen zum Zuschauerraum standen, mit Schreibgriffel
und Schreibtafel. Sie brauchten Text, und meine erste Idee war, dass sie einfach Orte
deutscher Geschichte aufsagen sollten [s. a. W 6 257f.]: Kunersdorf, Leuthen, Auschwitz,
Stalingrad, aber das funktionierte nicht, Wilsons Theatermaschine spuckte die deutschen
Namen aus. Sie sagten schließlich Börsenkurse an.« (KOS 330f.) Die Auflösung der
Geschichte, respektive deren Topografie (»Orte deutscher Geschichte«) in Geldflüsse
(»Börsenkurse«) korrespondiert dem Terror der Warenwelt, der eine biografische
Prädisposition für Wilsons Werk darstellt, wie die Struktur der Diktatur(en) für das Müllers.
Ostentativ betont Müller daher auch immer wieder die Differenz der Biografien als
Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit. »Sein Kindheitsschock war der Supermarkt als
Horrorkabinett, also der Schrecken, der von Produkten ausgeht. Und er wurde von seinem
Vater gezwungen, mit auf die Jagd zu gehen, und hat sich immer in den Bäumen versteckt,
weil er keine Tiere abschießen wollte. Bei mir war Politik der Horror, bei Bob waren es die
Produkte – wobei der Schrecken der gleiche ist.« (W 8 410) »Sein Schock als kleiner Junge
war der Supermarkt, die Warenwelt als Horrorkabinett. Mein Schrecken war die Verhaftung
meines Vaters durch die Gestapo, und alles, was dranhängt. Also eher ein politischer
Schrecken.« (W 8 455) Im Anschluss an Ernst Jünger betont Müller, dass es »zwischen zwei
Erfahrungen […] eigentlich keine Diskussion, keine Vermittlung« (HMA 4487, 287) gebe.
Automaten steht und die Währung nicht kennt und Geld reinsteckt, und immer wieder fällt es durch.« (W 8
457)
370
Hierin mag ein Grund bestehen, warum Müller Wilsons Werk trotz aller kritischen Distanz
und dem Bewusstsein des latenten Umschlags dessen Kunst in Ästhetizismus immer wieder
vor seinen Kritikern in Schutz nimmt.
Über diese von Müller wiederholt aufgegriffene ›Urszene‹ der Zusammenarbeit hinaus
spielen jedoch auch andere Aspekte, die sich aus der Differenz zwischen der deutschen und
der amerikanischen Theatertradition speisen, eine wesentliche Rolle für Müllers Affinität zur
Arbeitsweise Wilsons. Neben dem Umgang mit der Zeit und der Zerlegung der
Bewegungsabläufe in der Tradition Henry Fords 827 (bereinigt freilich um die ökonomischen
Zwänge dieses Erbes), betont Müller vor allen Dingen die »Trennung« (KOS 331),
beziehungsweise »Gleichberechtigung« (W 8 413 u. 456) der Elemente im Theater Robert
Wilsons, aus der »eine Art Demokratie in der Ästhetik« (W 8 456) resultiere. »Der Text wird
nie interpretiert, er ist ein Material wie das Licht oder der Ton oder wie das Dekor oder ein
Stuhl. Er lässt die Texte in Ruhe, und wenn die Texte gut sind, ist das gut für die Texte. Er ist
zunächst bildender Künstler, mit dem schrägen Blick, die Kraft kommt nicht aus der
Zentralperspektive, eher aus der versetzten Kausalität. Was ein Text sagt, darf ein
Schauspieler nicht bedienen.« (KOS 331) In diesem Sinne betreibe Wilson konträr zur
europäischen Theatertradition eine »Anatomie des Theaters« (GI 2 114), in der die Synthese
der Analyse vorgezogen würde. Weil Wilson die Texte nicht deute und/oder mit (einer
lediglich hinzugefügten) Bedeutung auflädt, lasse er die Texte selber arbeiten. Sie treten in
den gleichberechtigten Dialog mit den anderen theatralen Ausdrucksmitteln und erfahren in
diesem Spannungsfeld des Materials selbst eine formale Aufwertung. In der von Wilson
vorgenommenen De-Kontextualisierung sieht Müller ganz im Gegenteil eine Chance, seinen
Texten und Textsplittern eine andere, ihnen gemäßere Form der Wirksamkeit zu verleihen,
die jenseits der Repräsentation und also Selektion der im neunzehnten Jahrhundert
verankerten deutschen Theatertradition zum Tragen kommen kann. Müller schilderte dies
spezifische Interesse an Wilsons Arbeitsweise zusammenfassend bereits 1985 im Gespräch
mit Olivier Ortolani. »Was mich interessiert bei Wilson, nach der Arbeit mit ihm, ist, dass er
den Bestandteilen, den Elementen von Theater die Freiheit lässt. Er würde nie einen Text
interpretieren, was die übliche Art von Regisseuren im europäischen Theater ist, mit Texten
umzugehen. Aber ein guter Text braucht nicht die Interpretation durch einen Regisseur oder
durch einen Schauspieler. Was der Text sagt, sagt der Text. Das muss der Schauspieler nicht
noch sagen oder der Regisseur jetzt noch auslegen und interpretieren. Wilson interpretiert nie,
und das finde ich eine ganz wesentliche Qualität, und das interessiert mich. Da ist ein Text,
und der wird abgeliefert, aber nicht bewertet und nicht gefärbt und nicht interpretiert. Er ist
da. Genauso ist ein Bild da, und das Bild wird auch nicht interpretiert, es ist erstmal da. Dann
gibt es ein Geräusch, und das ist auch da und wird auch nicht interpretiert. Das finde ich
wichtig. Es ist ein demokratisches Theaterkonzept. Die Interpretation ist die Arbeit des
Zuschauers, die darf nicht auf der Bühne stattfinden. Dem Zuschauer darf diese Arbeit nicht
abgenommen werden. Das ist Konsumismus, dem Zuschauer diese Arbeit abzunehmen, das
827
Henry Ford gilt als der Erfinder der Fließbandarbeit. Die Zerlegung/Analyse der Arbeitsprozesse diente in
der Automobilfabrikation allerdings der Rationalisierung der Arbeitsprozesse. Das Ziel der Mechanisierung
bestand nicht in der Perfektionierung der menschlichen Beteiligung am Produktionsprozess, sondern in der
Reduzierung, respektive Ausschaltung des Menschen: »Kein Material wird bei uns mit der Hand bearbeitet,
keine einzige Verrichtung mit der Hand betrieben. Ist es zu erreichen, dass eine Maschine automatisch
funktioniert, so wird es durchgeführt. Von keinem einzigen Handgriff glauben wir, dass er nun endgültig auf
die beste und billigste Art verrichtet wird.« (Ford (1923), 104)
371
Vorkauen. Das ist kapitalistisches Theater. Aber es ist das Vorhandene und das Übliche.« (GI
1 153) Entgegen dem Vorhandenen und Üblichen sieht auch Müller im Theater ein
»Laboratorium sozialer Phantasie« (W 8 176), einen Ort spielerischer Erprobung des
eigentlichen Potenzials menschlichen Daseins, die die Möglichkeit existenzieller Gefährdung
der Mitwirkenden ausdrücklich einschließt. »Das Wesentliche am Theater ist die
Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser Verwandlung ist allgemein, auf die
kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. […] Und das Spezifische am Theater ist
eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die
Präsenz des potenziell Sterbenden.« (LV 95) Im Anschluss an Wolfgang Heise wird der
Begriff der Phantasie nicht lediglich auf den Bereich der Spekulation beschränkt, sondern als
»ein spielendes Erfassen gerade des real Möglichen, das dadurch in Wirklichkeit gesetzt
wird« 828 gefasst. Ein solches als Experimentierfeld verstandenes Theater zielt auf eine
gesellschaftlich eingreifende Praxis und betont somit seinen Status als Forum öffentlicher
Kommunikation. Müller polemisiert gegen ein Theater, das scheindialektische Lösungen der
dargestellten Konflikte anbietet und die Utopie durch ihre positive Darstellung unmöglich
macht. Dagegen setzt er eine Poetik des Schocks und der Zerstörung, die auf die
schöpferische Potenz »negativer Impulse« (GI 1 24) baut. In Wilsons Theater der gebremsten
Explosion finde »die Befreiung der Toten […] in der Zeitlupe statt« (W 8 290).
Aufgrund der eklatanten Differenzen hinsichtlich der Auffassung von Bedeutungsgehalt und
Funktion des Theaters im Allgemeinen und der Schauspielkunst im Besonderen sowie
Wilsons spezieller Arbeitsweise habe der amerikanische Regisseur immer wieder
Schwierigkeiten im Umgang »mit professionellen deutschen Schauspielern, die darauf
trainiert sind, einen Text auf eine Bedeutung zu reduzieren, die mögliche andre Bedeutungen
zudeckt und dem Zuschauer die Freiheit der Wahl nimmt. Theater als Freiheitsberaubung,
erkennungsdienstliche Behandlung von Kunst, Theater von Polizisten für Polizisten.« (KOS
331) Das selektive Verfahren der Hermeneutik, das Texte unter dem Vorwand der
Sinndeutung auf eine einzige Bedeutung reduzieren will, erscheint Müller wie auch Wilson
suspekt. »Das ist zum Beispiel ein ganz wichtiger Punkt bei Robert Wilson. Jedes Kunstwerk
hat ein Geheimnis, und das darf man nicht anrühren. Wenn man es anrührt ist es tot.« (HMA
4487, 287) Dass die Dominanz des Textes im europäischen Theater für Wilson eine
Herausforderung darstellt, beschreibt Müller in einer anderen für den Drucktext gestrichenen
Passage: »Die Fixierung auf Text im europäischen Theater ist ja nur eine historische
Fesselung. Das kann man natürlich auch nicht abstreifen, aber ich glaube, dass meine Texte
mit Wilsons Arbeit vereinbar sind. Wilson ermöglicht mir einen anderen Umgang mit dieser
Textlast. Europäisches Theater ist Texttheater, das ist unvermeidlich. Es ist also auch
Bedeutungsträger, aber ich glaube, man kriegt das zusammen.« (SUSCHKE 494)
Als weiteres Beispiel für Wilsons Vorbehalte gegenüber der Mentalität des westdeutschen
Schauspielers führt Müller dessen Inszenierung der HAMLETMASCHINE in New York und
Hamburg an. »Die HAMLETMASCHINE 1986 in New York war strenger, präziser als in
Hamburg, weil die Studenten in New York einen härteren Arbeitsmarkt vor sich haben. Die
sind disziplinierter und kommen nicht auf die Idee, dass sie Persönlichkeiten sind. Aber jeder
Schauspielstudent in Hamburg ist eine Persönlichkeit. Dadurch gibt es Unreinheiten, das
828
Heise 1968, 211
372
Private verwischt die Kontur.« 829 Der Disziplinierung durch den Arbeitsmarkt korrespondiert
die geringere Störanfälligkeit im Theater Wilsons. Als eine Art Über-Marionette 830 agiere der
Schauspieler an den unsichtbaren Fäden der Regie. Der Widerstand des Materials muss
zugunsten der Theatermaschine so niedrig wie möglich gehalten werden. Die ideale Folie und
»eigentliche Inspiration« Wilsons Ästhetik sieht Müller entsprechend in der Tradition des
japanischen Bunraku-Theaters. Müllers Beschreibung impliziert die eigene Faszination an
einer Form des Theaters, die er in Tokio auch persönlich kennenlernte. Ihn interessiert am
Marionettentheater des Bunraku – und zwar nicht ausschließlich im Zusammenhang mit
Wilson – in erster Linie die Trennung der theatralen Ausdrucksmittel. »Die Marionetten sind
dreiviertel lebensgroß, sehr schön gearbeitet, sehr ausdrucksvolle Gesichter.« (KOS 333) Sie
werden geführt von zwei bis drei stummen, schwarz verhüllten Puppenspielern. Sänger-
Darsteller (Joruri) und Lautenspieler (Shamisen-Spieler) sitzen auf einem separaten Steg
neben der Bühne und tragen »äußerst emotional und artistisch zugleich« (KOS 333) die
Handlung vor. »Durch die Trennung der Elemente wirkt das wie eine Umzingelung des
Publikums. Die toten Puppen, der Realismus ihrer Bewegungen, die Totenführer dahinter,
und der Sänger ihrer Emotionen.« (KOS 333f.) Auch im Theater Wilsons liegt der
Behandlung des Schauspielers die Mechanisierung der Bewegungen zugrunde, die den
Körpern die Psychologie austreibt. Im Gespräch weist Müller darauf hin, dass Wilson den
Text in der Theateraufführung behandle wie der Choreograf den Tänzer. Er stehe, selber vom
Ballett kommend, in der Tradition Balanchines und Cunninghams (s. a. GI 2 41). Doch gerade
in den gemeinsamen Arbeiten bleibt die Wirkung der von Müller zusammengestellten Texte
eher ornamental. Bei der Suche nach einer Begriffsbestimmung greift Müller daher auf einen
Fremdtext über das Theater Wilsons zurück: Der Surrealist Louis Aragon sah in Wilsons
Theaterproduktion DEAFMAN GLANCE, die im Jahr 1971 in Paris zur Aufführung kam und
dem Regisseur internationale Anerkennung einbrachte, die späte Realisierung eines spezifisch
surrealistischen Theaters: »Ich habe niemals etwas schöneres auf dieser Welt gesehen.« 831
829
KOS 334. Im einem Gespräch mit Wolfgang Heise von 1986 heißt es: »Aragon hat in einem offenen Brief
an den toten Breton das Theater von Robert Wilson als eine Maschine der Freiheit definiert.« Müller fügt
hier hinzu: »Ohne die Maschine ist die Freiheit nicht mehr zu haben.« (GI 2 66) S. a. die entsprechende
Passage in AUSSCHWEIFUNG UND DISZIPLINIERUNG: »Interessant war bei der
HAMLETMASCHINE noch die Differenz zwischen den Fassungen. Die New Yorker Fassung war viel
mechanischer, viel präziser, weil die Studenten dort gar nicht auf die Idee kamen, dass sie Individuen sind,
weil die Marktzwänge da schon viel härter sind als in Europa. In Hamburg hatte jeder Schauspielstudent die
Idee, dass er eigentlich etwas Besonderes war. Und dadurch war es ein bisschen gotischer in Hamburg, mit
den Ausfaserungen und Ausbuchtungen, die zufällig und individuell waren, und die Mechanik war
schwächer. Aber das Mechanische ist eben das, was die Freiheit produziert. Wenn etwas mechanisch
beherrscht wird, kann man damit spielen.« (W 8 413, s. a. W 8 458. Hervorhebung LDR)
830
In seinem Aufsatz DER SCHAUSPIELER UND DIE ÜBER-MARIONETTE schreibt Edward Gordon
Craig: »Kunst beruht auf Plan. Es versteht sich daher von selbst, dass zur Erschaffung eines Kunstwerks nur
mit den Materialien gearbeitet werden darf, über die man planend verfügen kann. Der Mensch gehört nicht
zu diesen Materialien [...] Der Schauspieler ist seinen Gefühlen preisgegeben, sie bemächtigen sich seiner
Glieder und lenken sie nach ihrem Willen. Er tanzt nach ihrer Pfeife, [...] wie einer, der von Sinnen ist. [...]
Und wie mit der Körperbewegung, so verhält es sich auch mit dem Gesichtsausdruck. [...] Der menschliche
Körper ist also [...] von Natur aus als Material für eine Kunst untauglich.« (Edward Gordon Craig 1967,
52ff.) Dagegen sei die »Über-Marionette« frei von diesen Nachteilen. Denn sie »wird nicht mit dem Leben
wetteifern, sie wird über das Leben hinausgehen. Ihr Vorbild wird nicht der Mensch aus Fleisch und Blut,
sondern der Körper in Trance sein; sie wird sich in eine Schönheit hüllen, die dem Tode ähnlich ist, und
doch lebendigen Geist ausstrahlen.« (Craig 1967, 67)
831
Louis Aragon: Surrealist durch die Stille. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919–1939. Ein
Lesebuch. Leipzig 1990, 710
373
Der intertextuelle Kunstgriff ermöglicht die Freilegung der Grundstruktur Wilsons Ästhetik,
wie sie Müller im Gespräch 1987 beschrieb: »Bekannt geworden ist Wilson durch ein
Gastspiel in Paris und Aragons Brief an den toten Andre Bréton, in dem er ihm mitteilt, hier
habe sich der Traum von surrealistischem Theater, dem Theater als Maschine der Freiheit,
erfüllt. Das ist übrigens ein schöner Begriff: Maschine und Freiheit, und wichtig, weil die
Mechanisierung der Bewegung und Abläufe die Leute frei macht vom Detail. Das konnte
Wilson nur entwickeln, weil er vom Tanz und von einer Theatertradition herkam, die die
Widerstände gar nicht kennt, die wir haben.« (GI 2 90) Die Terminologie vom »Theater in der
Dialektik von Freiheit und Mechanisierung.« (GI 2 112) greift Müller in KRIEG OHNE
SCHLACHT wieder auf. »Nach dem Gastspiel von DEAFMAN‘S GLANCE in Paris nannte
Aragon in einem Brief an den toten Bréton das Theater von Wilson eine Maschine der
Freiheit. Bedingung dieser Freiheit ist die Mechanisierung der Schauspieler, die totale
Disziplin.« (KOS 334) Wiederum betont Müller den Zusammenhang der mechanischen
Bewegung und der Freiheit der Bedeutung, die Kleists Aufsatz ÜBER DAS
MARIONETTENTHEATER auf den Plan ruft. In Kleists Text wird der Verlust des
Schwerpunkts beim (lebenden) Tänzer beklagt, der unvermeidlich sei, »seitdem wir von dem
Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter
uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten
irgendwo wieder offen ist.« 832 Der mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen begründete
Verlust der Grazie lasse sich erst dann kompensieren, »wenn die Erkenntnis gleichsam durch
ein Unendliches gegangen« 833 sei. Zur notwendigen Bedingung dieser Kompensation müssen
wir, so vermutet Kleists Ich-Erzähler, »wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in
den Stand der Unschuld zurückzufallen« 834 . Für Müllers durch die surrealistische Brille
Aragons gebrochenen Blick bedeutet dies die »Hochzeit von Mensch und Maschine« (JN 18),
will sagen: die bedingungslose Übernahme der Verantwortung für eine im umfassenden Sinn
von Mechanisierung und Technologisierung geprägte Welt. Dem daran anknüpfenden
Vorwurf einiger Kritiker, Wilson treibe Müllers Texten mit posthistorischer Freude an der
Beliebigkeit die historische und politische Dimension aus 835 , die deren eigentliche Qualität
überhaupt erst ausmache, widerlegt Müller in dem Wilson gewidmeten Text TAUBE UND
SAMURAI, in dem der Bezug zu Kleists Text ÜBER DAS MARIONETTENTHEATER
explizit hergestellt wird.
Robert Wilson kommt aus dem Raum, in dem Ambrose Bierce verschwunden ist,
nachdem er die Schrecken des Bürgerkriegs gesehen hatte. 836 Der Wiedergänger hat den
Schrecken unter der Haut, sein Theater ist die Auferstehung. Die Befreiung der Toten
832
Kleist-WuB 3, 476
833
Kleist-WuB 3, 480
834
ebd.
835
So schreibt etwa Jeanette R. Malkin: »Bei ihrer Zusammenarbeit wurden Müllers pointierte, mit Geschichte
gesättigte (und sie kritisch reflektierende) Texte in Wilsons Vision umgeformt: ihrer textuellen Komplexität
beraubt, aus dem Zusammenhang gerissen, wegen ihrer Klangwirkung eher als wegen ihrer Bedeutung
geschätzt und in eine bilderreiche Choreographie ohne politischen Anspruch verwandelt. [ ...] In gewisser
Hinsicht hat Wilson Müllers oft revolutionäre Texte gezähmt und institutionalisiert, indem er ihre natürliche
Subversivität einrahmte und schematisierte.« (Jeanette R. Malkin: Coopted and Tamed: The (Scandalous)
Müller/Wilson Symbiosis. In: Assaph (1999) 15, 105f. Zitiert nach Christel Weiler: Zusammenarbeit mit
Wilson. HMH 338–345, hier 339)
836
1913 ging der amerikanische Schriftsteller und Journalist Ambrose Bierce nach Mexiko, um über die
Mexikanische Revolution zu berichten. Er verschwand um 1914 spurlos in den Wirren des Bürgerkriegs.
374
findet in der Zeitlupe statt. Auf dieser Bühne hat Kleists Marionettentheater einen
Spielraum, Brechts epische Dramaturgie einen Tanzplatz. Eine Kunst ohne Anstrengung,
der Schritt pflanzt den Weg. Der tanzende Gott ist die Marionette. Sein/ihr Tanz entwirft
den Menschen aus neuem Fleisch, der aus der Hochzeit von Feuer und Wasser geboren
wird, von der Rimbaud geträumt hat. Wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis noch
einmal gegessen werden muss, damit der Mensch in den Stand der Unschuld
zurückfindet, muss der Babylonische Turm neu gebaut werden, damit die Verwirrung der
Sprachen ein Ende hat.
Mit der Weisheit der Märchen, dass die Geschichte der Menschen von der Geschichte der
Tiere (Pflanzen, Steine, Maschinen) nicht getrennt werden kann außer um den Preis des
Untergangs 837 , formuliert Robert Wilson das Thema der Epoche: Krieg der Klassen und
Rassen, Arten und Geschlechter, Bürgerkrieg in jedem Sinn. Wenn die Adler im Gleitflug
die Banner der Trennung zerreißen und zwischen den Schaltern der Weltbank die Panther
spazierengehen, wird das Theater der Auferstehung seine Bühne gefunden haben.
Seine Realität ist die Einheit von Mensch und Maschine, der nächste Schritt der
Evolution. (W 8 290)
Der »Krieg aller gegen alle« 838 von dem hier die Rede ist, entspringt jedoch nicht Hobbes
Vorstellung vom »Naturzustand« 839 des Menschen. Er geht der bürgerlichen Gesellschaft
folglich nicht voraus, vielmehr ist er Bedingung ihrer Ablösung. Müllers Formel zielt auf eine
Emanzipation von Mensch und Maschine von ihrer Funktion im Kapitalismus, simpel gesagt:
eine Revolutionierung im Verhältnis von Mensch und Produktionsmittel, der zufolge die
Funktion des Menschen nicht mehr in der Reproduktion seiner Arbeitskraft bestehe, sondern
in der Identifikation mit der Maschine. Mensch und Maschine wären mithin nicht mehr Mittel
zum Zweck im kapitalistischen Produktionsprozess sondern der Produktionsprozess selbst
authentischer Ausdruck menschlicher Selbstverwirklichung im Sinne Marx/Engels, eine
»Einheit«. Dass diesem Fernziel die radikale Zerschlagung der gesellschaftlichen Strukturen
vorangehen müsse, lässt sich im Beharren auf dem »Bürgerkrieg in jedem Sinn« ablesen. Die
Bejahung der Differenz wird zur notwendigen Voraussetzung einer Bewegung, die die
837
In HEINER MÜLLER ÜBER ROBERT WILSON begründet Müller Wilsons Entscheidung für die
Integration eines ›universalen Diskurses‹ in seine Kunst erneut als Reaktion auf einen biografischen Defekt.
Von seinem Vater gezwungen, mit auf die Jagd zu gehen, um »ein Mann zu« werden, habe sich Wilson auf
Bäumen versteckt und das geschossene Wild bedauert. »Als eine Art Wiedergutmachung kommen deshalb
immer Tiere in seinem Theater vor. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Menschheit eben nicht zu retten
ist, wenn sie Fauna und Flora nicht in ihr Programm mit einbezieht.« (W 8 455) Eine entsprechende Passage
war vorübergehend auch für die Autobiografie vorgesehen: »In allen Inszenierungen von Wilson gibt es
Tiere. Er erzählt, er musste als Junge – da sollte er natürlich ein Mann werden, wie jeder echte Amerikaner
– immer mit auf die Jagd. Wenn die Honoratioren zur Jagd gingen, der Bankier, der Anwalt der Arzt, der
Apotheker, war der Bänker das Problem, denn von dem waren sie alle abhängig, den brauchten sie. Nun war
der aber besonders Kurzsichtig und traf nie ein Tier. Er selbst, Bob, hat sich während der Jagd immer in den
Bäumen versteckt, hat zugeguckt, wie die Männer da die Tiere erlegten. Doch der Bänker war so
kurzsichtig, dass er nie was traf und das wurde für die Bankverbindung langsam schwierig. Was tun? Sie
haben zusammengelegt, die anderen Honoratioren, und einen riesigen Tiefkühlschrank gekauft und da einen
erschossenen Zwölfender reingestellt, extra für den Bänker, für die nächste Jagd. Die fand dann auch bald
statt und sie stellten den Hirsch auf eine Lichtung. Einer von ihnen saß mit im Jeep des Bänkers oder er hat
den Jeep gefahren und schrie dann auf: ›Ah da, ein Zwölfender‹. Der Bänker schoss nun wie ein Wilder auf
den Zwölfender und traf auch, weil der so ganz nah war und so still hielt. Aber dieser Scheiß-Hirsch fiel
nicht um, der war zu tiefgefroren. So wurde das ganze ruchbar, war ein großer Skandal in Waco/Texas.«
(SUSCHKE 497f.)
838
Hobbes 1918, 74
839
ebd.
375
Differenz der Sprachen in einem kollektiven Projekt wie dem babylonischen Turmbau wieder
zu vereinigen imstande ist.
Nichtsdestotrotz geht Müller mit dem Text seiner Autobiografie persönlichen Differenzen
wohlweislich aus dem Wege: Ȇber Freunde zu reden ist schwierig. Es sind wohl nicht viele,
jedenfalls werden es immer weniger außerhalb von Arbeitsbeziehungen. Aber jeder, der nicht
genannt wird, ist mit Recht gekränkt.« (KOS 335) Der Maßstab, den Müller zum Kriterium
der Freundschaft erhebt ist durch das Leben in zwei Diktaturen perforiert. »Es gibt vielleicht
zwei oder drei Männer, die sich für mich foltern lassen würden, Frauen wahrscheinlich
mehr.« (KOS 335) Der erneute Hinweis auf die Diktatur bringt einerseits zum Ausdruck, wie
stark politische Strukturen in Persönliches hineingreifen, beziehungsweise es geradezu
unmöglich machen. Andererseits wird an dieser intimen Stelle des Textes noch einmal ganz
deutlich sichtbar, worum es sich bei Müllers Autobiografie nicht handelt: nämlich um die
Konfessionen eines Privatmannes. Der Text bleibt noch beim scheinbar persönlichsten Detail
an die Funktion des Erzählers als Autor gebunden. »Die Frage stellt man sich, wenn man in
einer Diktatur aufwächst und lebt: Wie halte ich Folter aus. Das ist eine Kernfrage. Ich weiß
nicht, wie ich mich verhalten würde, einen Geschmack davon kriegt man beim Zahnarzt. Im
Widerstand bin ich gut, aber wer weiß, wie lange. Außerdem ist mein Widerstand rein
passiver Art. Als Aggressor bin ich wohl nur auf dem Theater zu gebrauchen oder auf dem
Papier. Ich muss angegriffen werden, damit ich mich verteidigen muss. Ich lebe von den
Fehlern der Angreifer, … das ist eher die asiatische Kampfweise als die germanische.« 840 Das
Paradigma des Zahnarztstuhls als Foltertisch geht von einer nicht anästhesierten Authentizität
der Schmerzerfahrung aus. Müllers Setting gemahnt an John Schlesingers Film MARATHON
MAN, in dem Dustin Hoffmann den von einem ehemaligen SS-Lagerarzt (Laurence Olivier)
gepeinigten Thomas Babington Levy spielt. Mit perfiden Foltermethoden – darunter
dentistischen Praktiken – versucht der alte Nazi in dem nach einer Roman-Vorlage von
William Goldmann entstandenen Film an die im Dritten Reich von Juden geraubten
Diamanten heranzukommen und verlängert damit den Terror der nationalsozialistischen
Diktatur in den Alltag Amerikas der siebziger Jahre hinüber. Die Zeichen, die das totalitäre
System auf dem individuellen Leib hinterlässt, bilden das Potenzial der eigenen
Widerstandskraft. Dabei erscheint die passive »Kampfweise« bei Müller auch als Metapher
für die Arbeit des Autors, die ein präformiertes Material der Sprache voraussetzt, auf dessen
»Terror« sie angemessen reagieren muss.
Angesichts des Kriteriums der Folter fallen Müller zwei »Freunde« ein, die in der
Druckfassung allerdings unter den Tisch fallen: »Der eine ist Fritz Marquardt. Wichtig ist bei
dieser Beziehung, dass es auch eine konfliktreiche Freundschaft ist. Er wird mir nie etwas
verschweigen, was er gegen mich hat. Im Allgemeinen bin ich zunehmend von Parasiten
umgeben, die mir kaum je ihre Meinung sagen. Dann Matthias Langhoff, den würde ich auch
840
KOS 335. Die kursiven Passagen sind im Drucktext gestrichen, sie entstammen dem Manuskript aus dem
Privatbesitz des langjährigen Regiemitarbeiters Müllers, Stephan Suschke (s. a. SUSCHKE 568) Im
Gespräch mit Matthias Langhoff über die Inszenierung von SCHLACHT an der Berliner Volksbühne gibt
Müller zu Protokoll: »Alles, was man in Deutschland macht, muss kriegerisch sein, muss als Krieg
verstanden werden. Und Theater ist nicht möglich in Deutschland, außer als Krieg gegen das Publikum. Es
gibt keine demokratische Tradition, es gibt kein emanzipiertes Publikum, weder bei uns noch in der
Bundesrepublik. Das Publikum versteht nur Krieg. Und da gibt es eine schwache Hoffnung, dass man das
Publikum genügend angreift, so dass es sich wehrt. Das ist die einzige Möglichkeit. Sobald man dem
Publikum einen Finger gibt, reißt es einem den Arm aus.« (GI 2 20)
376
dazu zählen. Alles andere sind Arbeitsbeziehungen, die auch durchaus Freundschaftscharakter
haben können.« (SUSCHKE 568) Wiederum wird die Konflikthaftigkeit, mithin die Differenz
der Beziehung betont. Im Gespräch mit Matthias Langhoff hatte Müller 1977 auf die
konstitutionelle Bedeutung der Selbstverteidigung für das eigene Schreiben hingewiesen: »…
natürlich ist Kunst zunächst eine Selbstverteidigung gegen eine Wirklichkeit, mit er man nicht
fertig wird. Und das ist auch die einzige Chance, dass es zu einer Angriffswaffe gegen
dieselbe Realität wird – ohne die Selbstverteidigungsfunktion wird Kunst keine
Angriffswaffe.« (GI 2 20)
Der Regisseur Fritz Marquardt hatte 1961 Tragelehns Inszenierung Müllers UMSIEDLERIN,
die zu einem Eklat führte, öffentlich als sensationell bezeichnet und musste sich dafür als
Redakteur der Zeitschrift »Theater der Zeit« in einem Parteiverfahren rechtfertigen.
Marquardt, der sich daraufhin von seiner Aussage distanzierte, bereute dies später gegenüber
Müller explizit (s. a. KOS 250). Er überstand die »Folter« unheroisch, indem er widerrief.
Müller vor den Folgen Tragelehns Inszenierung zu retten, stand nicht in seiner Macht. Also
gab er dem Blöken der Herde nach, um Müller später, in den siebziger Jahren, zu einer umso
wirkungsvolleren Rückkehr auf die (Volks)Bühne zu verhelfen. In der DDR ging es darum,
langfristig weiter arbeiten zu können. Heroismus war – wie in Brechts KEUNER-Geschichte
über das Verhalten gegenüber der Gewalt 841 – fehl am Platze. In dem Text GEGEN DEN
ZEITGEIST. DER REGISSEUR FRITZ MARQUARDT würdigt Müller die Arbeiten
Marquardts im umfassenden Sinne (s. a. W 8 353f.). Die Marquardt-Passage ist im
Arbeitsmanuskript der Autobiografie durchgestrichen und durch eine handschriftliche
Eintragung ersetzt: »Selbst mit der Folter als Kriterium ist die Zahl meiner Freunde vielleicht
größer, als ich weiß. Ich werde also keine Namen sagen. Mit vielen verbindet mich die
gleiche Grunderfahrung und eine ähnliche Biografie. Im allgemeinen bin ich zunehmend von
Parasiten umzingelt.« (KOS 335)
Eine Ausnahme macht Müller dennoch. In einem verspäteten Nachruf gedenkt er des toten
Philosophen Wolfgang Heise, dem er sich in besonderem Maße verbunden fühlte und
zeichnet damit zugleich die intimste Szene seiner Autobiografie. »Zu den toten Freunden
gehört Wolfgang Heise. Er war sehr wichtig für mich. Man konnte immer zu ihm kommen,
mit jedem Problem, und nicht nur mit theoretischen Problemen. Eigentlich ist er an
Gorbatschow gestorben. Er hat jahrzehntelang versucht, die Vernunft, die Ratio, oder was er
als Marxist dafür hielt, zu behaupten in einer zunehmend absurden und irrationalen Welt, in
einem System, das langsam in den Veitstanz überging oder in die Katatonie. Eine
marxistische Ästhetik, ein marxistisches Lehrgebäude. Das war nie dogmatisch, da passte
einfach alles rein, und es war auch offen. Es kam von ihm sicher keine Innovation, kein
Paradigmenwechsel, keine Ideen für meine Arbeit, aber er war ein Korrektiv. […] Als ich
erfuhr, dass er tot ist, habe ich zum erstenmal seit Jahrzehnten geweint.« (KOS 335f.)
841
Brecht-GW 12, 375
377
6.27. Kino, bildende Kunst, Musik
Das achtundzwanzigste Kapitel der Autobiografie wirft ein Schlaglicht auf die
Kunstgattungen jenseits der Literatur. So dienten Müller »Kino, bildende Kunst, Musik«
(KOS 337) nicht lediglich als Komplement zur Literatur, sondern als bevorzugte Quelle der
eigenen Produktivität sowie der Erweiterung seines ästhetischen Formenarsenals. Unter
Verweis auf die Arbeiten zahlreicher Künstler verschiedener Epochen und unterschiedlicher
Gattungen wird in diesem Kapitel der Autobiografie zugleich der Versuch unternommen, das
eigene Werk zu kontextualisieren, beziehungsweise zu positionieren. Das Kapitel setzt mit der
Frage nach Müllers Bezug zu Godard ein. Der Erzähler antwortet: »Godard ist eine
Anwendung von Brechts Ästhetik auf das Kino. Man sieht den Film bei ihm arbeiten, nicht
einfach ein Abbild. Man sieht, wie Filme gemacht werden, dass Filme Arbeit sind und nicht
Naturprodukte wie im traditionellen Kino.« (ebd.) Die Äußerung bezieht sich auf das
experimentelle, stets nach neuen Formen der Darstellung forschende Kino Jean-Luc Godards.
Müller dürfte in dessen Filmen das auch für die eigene Arbeit reklamierte Primat der
Produktion über das Produkt gesehen haben. Neben Godard hätte Luchino Viscontis Film
ROCCO UND SEINE BRÜDER einen tiefen Eindruck bei Müller hinterlassen. Der Aufsehen
erregende, 1960 in Venedig preisgekrönte Film, der dem Schauspieler Alain Delon zum
Durchbruch verhalf, hat eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte hinter sich. Einer der Gründe
dafür ist wohl in der schockierenden Brutalität zu suchen, die den Machern des
Familiendramas vielfach den Vorwurf misanthropischer Weltsicht eintrug. Am Ende des
Films ist die Familie – in Süditalien der existenzielle Grundpfeiler des sozialen
Zusammenhalts – zerstört. Müller sah in der Originalversion von ROCCO UND SEINE
BRÜDER, die 1993 zum ersten mal in einer rekonstruierten Fassung ungekürzt in
Deutschland ausgestrahlt wurde (ZDF), den »letzten Shakespeare« (W 8 621), den er »Bühne
und Film zusammengenommen […] sehen konnte« (ebd.). Im Zusammenhang mit seiner
MACBETH-Inszenierung hatte Müller bereits auf den Eindruck hingewiesen, den Stanley
Kubricks A CLOCKWORK ORANGE bei ihm hinterlassen hatte (s. a. KOS 264), ebenfalls
ein Film, dem die Gewaltdarstellung harsche Kritik, insbesondere seitens der katholischen
Kirche, eintrug. Müller erwähnt zwei weitere Filme des Hollywood-Regisseurs Elia Kazan.
BABY DOLL, 1954 nach einem Drehbuch von Tennessee Williams entstanden, handelt von
einem jungen Mädchen, das mit einem reichen Unternehmer verlobt wird. Wegen der
Darstellung sexueller Unterdrückung landete der Film vorübergehend auf dem Index der
amerikanischen Filmzulassungsbehörden. Zwei Jahre später fuhr Kazans Film DIE FAUST
IM NACKEN (ON THE WATERFRONT), der den Kampf des Hafenarbeiters Terry Maloy
gegen den ebenso mächtigen wie korrupten und brutalen Gewerkschaftsboss Johnny Friendly
schildert, acht Oskars ein. »Aber solche Filme wird es in Europa nicht mehr geben, weil die
Wirklichkeit sie nicht mehr hergibt. Ein Stück wie UMSIEDLERIN kann nicht mehr
geschrieben werden, weil es diese Bauern nicht mehr gibt. Die menschliche Substanz ist
aufgebraucht oder zermahlen, und weil das Kino von den Künsten die am meisten
kannibalische ist, gibt es da jetzt zunehmend nur noch plastic food, Remakes und Design.«
(KOS 337) Müller konstatiert hier den Verlust authentischer Erfahrung infolge medialer
Reizüberflutung – ein Phänomen, auf das seine Texte mit einem immer dichter werdenden
Metaphernbombardement antworten, indem sie sich unseren erfahrungslosen wie
schnelllebigen Rezeptionsgewohnheiten konsequent verweigern.
378
Dass das Medium Film in Müllers Arbeit eine Rolle spielt, wird nicht zuletzt an den Schnitt-
und Montage-Techniken deutlich, die seine Texte seit den siebziger Jahren verstärkt prägen.
Dabei geht er ebenso experimentell mit formalen Mitteln um wie die Avantgardisten des
Films. Etwa bei der semantischen Trennung von Bild- und Tonspur in dem Entwurf [FILM /
Im Baum die Argo] oder in einer Nachlassnotiz aus dem Entstehungsumfeld LEBEN
GUNDLINGS: »Et in arcadia ego: die Inspektion. / (Blick aus dem DZug Dresden: sanft
gehügelte Wiesen mit Engelfries) / karge Schönheit Preußens (in contrast, mit contempt für
Tropen + ausländisch aufdringlicher attrakt[iver] Effektschönheit) // Godard Szenarien –
Rubens Leda (d[ie] Macht des Geschlechts) / Rembrandt Selbstbildnis als Rohrdommeljäger
(half face in shadow) / sad triumph. Baldung Grien: Mucius Scävola / 931 Savery Turniere
am Vogelweiher / Poussin / 1972 Turchi (Loth mit Töchtern / 521 Turchi Adonis / 420
Enthauptung Agnes (Engel schauen zu mit Krone) / 580 Negri Nero Leute Agrippina / Motiv:
Todesschrift« (HMA 3392) Offenbar handelt es sich bei dem Text um Notate zur Lektüre
eines Bildbandes. Er vermischt Selbstzitat, Erinnerungsbild und Bildbeschreibung. Dabei lässt
er die aufgerufenen Bilder ineinanderstürzen, verleiht ihnen gleich einem Kuratoren einen
neuen Kontext und gibt sie so einer veränderten Betrachtungsweise preis. Noch einer der
letzten Texte Müllers ist eine Liebeserklärung an das Kino. In dem aus Müllers Nachlass
veröffentlichten Text mit dem Titel KINO heißt es: »Wie die meisten Autoren, die für das
Theater schreiben, liebe ich das Kino.« (W 8 621) Zugleich konstatiert Müller in dem kurzen
Text das Verschwinden der »dritte[n] Dimension der Charaktere Akteure Figuren, die mit der
bürgerlichen Welt im kapitalist[ischen] / bzw. sozialist[ischen] Totalitarismus verschwunden
ist.« (ebd.) Dass der Graben mit den globalen Konflikten des beginnenden 21. Jahrhunderts
wieder aufbrechen und auch in die Filmkunst wieder Eingang finden würde, konnte Müller
nicht voraussehen.
Nach dem kurzen Ausflug in die Welt des Films wendet sich die Autobiografie, wiederum
eingeleitet durch eine gezielte Frage des fiktiven Gegenübers, der bildenden Kunst zu. »In den
bildenden Künsten«, konstatiert Wolfgang Storch, »haben Müllers Texte eine Herkunft und
ein Gegenüber« 842 . Warum sich Müller, der in jungen Jahren durchaus eine zeichnerische
Ader besaß, für die künstlerische Ausdrucksform der Literatur entschied, kann heute nicht
mehr mit voller Bestimmtheit ausgemacht werden. In einer für den Drucktext der
Autobiografie gestrichenen Passage spricht Müller anekdotisch von einer biografischen Zäsur:
»Damals, mit sechzehn, war für mich sowieso schon klar, dass ich schreiben will und werde.
Vorher hatte ich mal so eine Phase mit dreizehn, vierzehn, in der ich Maler werden wollte. Da
gab es die schwere Enttäuschung, dass die Russen in Waren meinen Tolstoi nicht erkannt
haben, den ich nach meiner Meinung ganz hervorragend gemalt hatte. Sie haben den nicht
erkannt, die Schweine. Das war das Ende meiner malerischen Laufbahn.« (HMA 4487, 56)
Mit Blick auf die unzähligen Kritzeleien, mit denen Müllers Notate und Manuskripte
überzogen sind, kann man tatsächlich von einer Transformation der Zeichnung in Schrift
sprechen. Auch die Technik der Metaphernschwemme entspringt einer sehr bildlichen
Vorstellung von Literatur. Müller selbst bezeichnet sein Schreiben als »ein Auslöschen von
Bildern« (GI 2 142). Eine dezidierte Untersuchung zu Müllers Rezeption der bildenden
Künste – ebenso wie zu Film und Musik – steht noch aus. Sie könnte darüber Aufschluss
geben, inwiefern Müller Techniken anderer Kunstgattungen für sein Schreiben modifiziert.
842
Wolfgang Storch: Die Bildenden Künste. In: HMH 113–123, hier 113
379
Über Müllers Bezug zu Robert Rauschenberg, respektive Andy Warhol war im
Zusammenhang mit den Ausführungen zum USA-Kapitel der Autobiografie bereits die Rede.
In »Kino, bildende Kunst, Musik« führt Müller nun Anknüpfungspunkte an die Arbeiten
weiterer Maler, Bildhauer, Installationskünstler und Bühnenbildner an. Von großer Bedeutung
ist dabei die Akzentuierung des Stellenwertes der bildenden Künste für die eigene Arbeit. So
betont Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT: »Bildende Kunst war für mich seit den
sechziger Jahren wichtiger als Literatur, von da kamen mehr Anregungen. Gespräche mit
Malern oder Komponisten sind interessanter als Gespräche mit Schriftstellern. […] Seit ich
reisen konnte, war mir Italien näher als die Mark Brandenburg.« (KOS 238) Der erste und
dritte Satz finden sich als handschriftliche Eintragungen im vermutlich letzten
Arbeitsmanuskript – ein Hinweis darauf, wie differenziert Müller während der Endredaktion
noch an der semantischen Struktur des Textes feilte. Die nicht erst seit der Klassik gepflegte
Hinwendung von Künstlern nach Italien ist im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach dem
vermeintlich ganzheitlichen Denken einer idealisierten Renaissance zu denken, der Sehnsucht,
wie Müller im Gespräch formuliert, »nach einer verlorenen Einheit von Kunst und Leben«
(GI 2 145). Vermag Müller jedoch in den griechischen Statuen eine bruchlose »Einheit von
Kraft und Schönheit« (ebd.) zu sehen, wird die Renaissancekunst und insbesondere der Status
des Künstlers bereits in seiner sozialen Konflikthaftigkeit geschildert. So heißt es etwa in dem
auf den 20. Januar 1993 datierten Gedicht NACHDENKEN ÜBER MICHELANGELO: »Der
aus dem Stein nicht mehr herausfand / Im Griff / Der Borgias / Heimgesucht von Parasiten«
(W 1 266). Eine besondere Verbundenheit hegt Müller für den Tizian-Schüler Jacopo
Tintoretto, der seine Bilder theatralisch auflädt, zuweilen überfrachtet: »Für Tintoretto werfe
ich den Expressionismus weg.« (KOS 338) Eine Bildbeschreibung des um 1548 entstandenen
MARKUSWUNDERS findet sich in Müllers BRIEF AN ROBERT WILSON (s. a. W 8
316ff.), einem Text der das Scheitern einer Zusammenarbeit an DEATH DESTRUCTION &
DETROIT II dokumentiert. Dem Künstler Jannis Kounellis, der das Bühnenbild zu Müllers
MAUSER-Inszenierung von 1990 entwarf, bescheinigt Müller aufgrund seiner »Freiheit im
Umgang mit dem Mythos« (KOS 338) eine antike Art zu denken. Der Surrealismus wiederum
interessiert Müller in erster Linie als Kontrastprogramm zur »grauen Landschaft zwischen
Oder und Elbe« (ebd.). Neben Dali zeigt er sich vor allen Dingen von der Collage-Technik
Max Ernsts fasziniert. Allerdings, so Müllers Eindruck anlässlich eines Besuchs des New
Yorker Museum of Modern Art, verschwinde Max Ernst in der Serie, während sich de
Chiricos Bilder einzeln hielten, jedes für sich. »De Chirico wusste nicht, dass er Surrealist ist,
das war sein Vorteil.« (KOS 339) Im Gespräch mit Rainer Crone 1988 ist allerdings nicht
vom »MoMA« die Rede, sondern von einer Privatsammlung: »Vor Jahren habe ich bei einem
New Yorker Arzt zum ersten Mal Originale von de Chirico gesehen, das war ein richtiger
Schock. Ich kannte sehr viel von Max Ernst und wusste auch einiges über ihn – er ist ja ein
Maler für Schriftsteller. Doch in der New Yorker Praxis fiel mir auf, dass die Max-Ernst-
Bilder, die dort hingen, einzeln überhaupt nicht gingen, nur in der Masse; einzeln halten sie
sich überhaupt nicht als Bilder. Der einzige, der einzeln wirkte, und zwar schockartig, war de
Chirico. Wenn man irgendwie den Augenblick reflektiert, ohne einen Kontext, dann ist das
etwas ganz Ähnliches. Ich glaube, Benjamin hat über Kafka gesagt, Kafka beschreibe
ungeheuer präzis Gesten ohne Bezugssystem. Die Gesten beschreibt er ganz präzis, aber er
kennt kein Bezugssystem, oder er lässt es weg. Das ist bei de Chirico derselbe Effekt. Dali
hingegen malt die ganze Literatur mit, die drumherum ist oder die er gelesen hat, auch Max
Ernst tut das. Ich finde sie interessant, diese Isolierung des Augenblicks vom Kontext.« (GI 2
380
139) Der für Müller bei weitem wichtigste Protagonist der bildenden Kunst des zwanzigsten
Jahrhunderts ist jedoch Picasso. »Picasso […] war der letzte universelle Künstler. Danach
kommen die Spezialstrecken. Picasso ist eine Welt, danach hat jeder nur noch seine eigne
Kammer.« (KOS 339) Im Gespräch mit Alexander Kluge fügt Müller hinzu, Picasso wäre
»der letzte Renaissance-Künstler« (WT 14) gewesen. Bei Picasso findet er die obsessive
Methode der eigenen Arbeit vorgeprägt, ein Vorgehen, das er mit Bildbeschreibung
paradigmatisch durchgespielt hat. »Picasso verbeißt sich in seine Gegenstände, bis er sie von
allen Seiten gesehen und dargestellt hat – seine Methode ist die serielle Variation, die
konduktive Deformation – bis zur Sprengung des realen Kontextes, die den Blick auf andre
denkbare Wirklichkeit freigibt.« (GI 2 62f.) Einen Abschluss findet der Diskurs über bildende
Kunst mit dem Verweis auf die Arbeitsbeziehung zu dem Bühnenbildner Erich Wonder, mit
dem Müller wiederholt zusammenarbeitete: AUFTRAG (Bochum, 1982), LOHNDRÜCKER
(1988), HAMLET/MASCHINE (1990) und TRISTAN UND ISOLDE (1993). Wonder baue
»Räume, in denen Texte ausruhen und arbeiten können.« (KOS 339) Mit Wonder findet eine
intensive Auseinandersetzung über Kunst statt. Müller bezeichnet das Verhältnis zu ihm als
seine »intimste Beziehung zu bildender Kunst« (KOS 338) und zwar »nicht nur im Theater«
(KOS 339).
Wie die Literatur stellt die Musik für Müller weniger ein Quell der Inspiration als vielmehr
ein dramatisches Material dar. Ohne Musik, so Müller, könne er leben, »ohne Bilder nicht«
(KOS 340). In einem für den Drucktext der Autobiografie gestrichenen Satz heißt es: »Musik
ist nur wichtig im Zusammenhang mit dramatischen Arbeiten.« (SUSCHKE 541) Zwei
andere Sätze, die die gleiche Grundaussage transportieren bleiben: »Musik war wichtig in
Arbeitszusammenhängen.« (KOS 340) Und: »Ich bin eher ein Verwerter als ein Genießer von
Musik.« (KOS 341) Bereits Anfang der siebziger Jahre hatte sich Müller in der Zeitschrift
»Theater der Zeit« zum Stellenwert und den Möglichkeiten der Oper in der sozialistischen
Gesellschaft Gedanken gemacht. Der Text SECHS PUNKTE ZUR OPER ist von Skepsis
gegenüber der gegenwärtigen Praxis nicht frei. Allerdings sieht Müller auch Chancen: »die
Oper kann in höherem Grad als das Schauspiel ein operatives Genre sein: Was man noch
nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen. […] Jeder Gesang enthält ein utopisches
Moment, antizipiert eine bessere Welt.« (W 8 161) Daraus schließt er: »Im Prozess der
Entwicklung des Theaters vom Laboratorium zum Instrument sozialer Fantasie kommt der
Oper eine führende Rolle zu.« (W 8 162) Mit Blick auf die geplante TRISTAN-Inszenierung
in Bayreuth äußert Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT sein spezifisches Interesse an der
Oper wie folgt: »Was mich an der Oper interessiert, ist die menschliche Stimme im Kampf
mit der Partitur. Im Schauspiel sollte man Sprechtexte behandeln wie Musik. Aber das ist ein
Traum.« (KOS 340) Gerade den »stärkeren Materialwiderstand« (W 8 161) hatte Müller auch
in seinem früheren Text zur Oper als entschiedenen Vorteil des Musiktheaters gegenüber dem
Sprechtheater begriffen. Die Musik behauptet eine Wirklichkeit, die nicht von der Empirie
determiniert ist. Die Distanz zwischen Gesang und gesprochenem Wort, die betonte
Künstlichkeit, befreit das Kunstwerk von seiner vordergründig gesellschaftlich-sozialen
Funktionsbestimmung. Sie lässt das Kunstwerk gegenüber der Außenwelt konsistent
erscheinen; gerade darin liegt ihre (auch) politische Qualität. Im Sprechtheater hingegen ist
der Text / das Drama der rationalistischen Manipulation durch die Produzenten generell
stärker ausgesetzt und hat es dadurch schwerer, seinen eigenen Materialwert zu behaupten.
Daher Müllers Forderung/Traum, den Text wie »ein musikalisches Material« (GI 2 72) zu
381
behandeln.
Der Bayreuther TRISTAN bleibt Müllers einzige Opern-Regie. Die auf einen geometrisch
streng formalisierten Szenenausschnitt reduzierte Arbeit zielt darauf, die Konfliktstruktur
hinter dem orgiastischen Taumel Wagners Musik freizulegen – den unauflösbaren
Widerspruch zwischen der Loyalität gegenüber der paternalistischen Staatsmacht und dem
erstickten Aufbegehren gegen ihre Fesseln. »Eine Illustration ist im TRISTAN nicht möglich.
Es geht eher um das Verhältnis von Angst und Geometrie, um Geometrisierung, sogar
Kanalisierung. Das ist eine Grundspannung des Theaters. Angst vor der Verwandlung und die
Mathematisierung des Prozesses der Verwandlung.« (W 8 448) Müller sieht in Wagner
zuvörderst den »geniale[n] Dramatiker« und den »Erfinder der Filmmusik« (KOS 341),
womit auf die neoromantische Tradition des Hollywood-Kinos aber auch auf die
sowjetrussische Affinität für die Theatralik der Musik wagnerscher Provenienz angespielt
wird (»Die ›Tristan‹-Musik ist eine ungeheuer theatralische Musik, ihr Wesentliches liegt im
Schauspielerischen«, W 8 444). Ein genuines Interesse an Wagner bestehe vielmehr im
Hinblick auf Nietzsche: »Wagner hat mich zuerst mehr durch die Brille von Nietzsche
interessiert, natürlich spiegelt die Brille auch Nietzsche, der Konflikt zwischen zwei
versetzten Tätern.« (ebd.) Die Ambivalenz Nietzsches Beziehung zu Wagner hat in
Nietzsches Werk einen gewaltigen Abdruck hinterlassen. Bereits in der vierten
UNZEITGEMÄSSEN BETRACHTUNG, seiner ersten Wagner-Schrift, kündigt sich der
Bruch des einstigen Prototyps der Wagnerverehrung mit dem Komponisten an. Was Wagner
dem deutschen Volk in Nietzsches Augen sein werde, kündigt sich in RICHARD WAGNER
IN BAYREUTH bereits an: »Etwas, das er uns allen nicht sein kann, nämlich nicht der Seher
der Zukunft, wie er uns vielleicht erscheinen möchte, sondern als Deuter und Verklärer einer
Vergangenheit.« 843 In DER FALL WAGNER und ECCE HOMO setzt Nietzsche die
Auseinandersetzung mit Wagner unter Hochdruck fort. Unter der Überschrift »Musik ohne
Zukunft« heißt es in NIETZSCHE CONTRA WAGNER: »Die Deutschen selber haben keine
Zukunft …« 844 In der postum veröffentlichen Schrift hatte Nietzsche frühere Aussagen über
Wagner zusammengestellt, überarbeitet und ergänzt, um die Schicksalhaftigkeit der
Begegnung mit dem Künstler herauszustellen. Die Abkehr von Wagner ist für Nietzsches
philosophische Selbstbehauptung von zentraler Bedeutung. So schreibt Nietzsche im Vorwort
zu DER FALL WAGNER: »Wagner den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal; […]
Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das
begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen.« 845
Zugleich geht es Nietzsche darum, sich als Wagners Gegenspieler im Kampf »Dionysos
gegen den Gekreuzigten« 846 zu positionieren. 847
843
Nietzsche-W 1, 435
844
Nietzsche-KSA 6, 424
845
Nietzsche-W 2, 903
846
Nietzsche-KSA 6, 374
847
»Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hilfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden
Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende,
einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine
tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden,
die Ruhe, Stille, glattes Meer oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung von Kunst und Philosophie
verlangen. Die Rache am Leben selbst – die wollüstigste Art Rausch für solche Verarmte! … Dem Doppel-
Bedürfnis der Letzteren entspringt ebenso Wagner wie Schopenhauer – sie verneinen das Leben, sie
382
In einer längeren Passage, die für die Druckfassung gestrichen wurde, beschäftigt sich Heiner
Müller mit seiner Beziehung zu dem italienischen Komponisten und »Freund« Luigi Nono:
»Nono lernte ich durch Dessau in den späten sechziger Jahren kennen. Später gab es einen
Arbeitszusammenhang. Nono fragte mich, ob ich bei diesem Hörstück PROMETO
mitmachen wollte. Er suchte einen Sprecher für die griechischen Texte, Hölderlin war dabei,
ein paar italienische Sätze. […] Interessant war bei ihm, wie er mit Texten umging. Er hat nie
Texte vertont, er hat eine Lektüre mit Musik versucht. Er wollte einen Text mit Musik lesen,
meist sehr bekannte Texte. Er war ein sehr komplizierter Denker, ganz merkwürdig, sehr
anregend, und er war ein Freund. Es hat mich sehr getroffen als er 1990 starb, schon weil die
Gründe so läppisch waren. Er war ein Freund, und er war kein Deutscher, das ist ein anderes
Verhältnis, ein wärmeres Verhältnis. Deswegen habe ich auch dieses Mausoleum in
Groningen gebaut, eigentlich ist es ein Nono-Mausoleum. Der Hintergrund war das Fest zum
950. Jahrestag Groningens. Die Idee war, zu diesem Anlass die Stadtgrenzen mit Objekten,
mit Bauwerken zu markieren. Der Architekt Daniel Libeskind hat verschiedene Leute um
Mitarbeit gebeten, auch Nono und mich. Nono starb dann. Ich habe daraufhin einen Stahl-
Obelisken im Gedenken an ihn bauen lassen, an einem Wald an der Autobahn, davor drei
liegende Obelisken, dazwischen Lichtschranken. / Wenn man durch die eine Schranke
hindurchgeht, hört man Schreie, Frauenschreie, bei der anderen kratzende Fingernägel auf
Beton. Es erinnert ungeheuer an Stephen King. Als das fertig war, dachte ich, es sieht aus wie
der Friedhof der Kuscheltiere, ganz unwirklich. Beim dritten Obelisken erklingt DIOTIMA,
DIE STILLE, aber nur zu einer bestimmten Zeit. Auf den Stahldingern ist eine Weltkarte
abgebildet, wo Kriegsschauplätze der Welt abgebildet sind. Auf dem Obelisken steht mein
Text: BRUCHSTÜCK FÜR LUIGI NONO. Das war bisher mein einziger Ausflug in die
Architektur. Die Kriegsschauplätze sind übrigens Lateinamerika, da ist ja immer was los,
dann Mittelamerika, Afghanistan, Aserbeidschan. Auch Berlin habe ich damals natürlich zum
Kriegsschauplatz erklärt, dann der Nahe Osten, Irland, Südafrika. […] Es gibt ein ungelöstes
Problem mit Texten und neuer Musik. Ich glaube schon, das der Nono das am besten gelöst
hat, er hat die nicht vertont, er hat versucht, den Text mit Komposition einzuschließen, und
dann aufzubrechen und mit der Musik zu lesen – was Godard im Film macht, die Kamera als
Instrument der Lektüre.« (SUSCHKE 543ff.) Müllers Installation stellt eine Vielzahl von
Bezügen zur Rezeption Nonos sowie eigener Arbeiten her. Die Kratzgeräusche und
Frauenschreie gehen auf Wilsons Inszenierung von HAMLETMASCHINE zurück, in der
Wilson die klangliche Materialität des Textes bis zur Unerträglichkeit intensivierte. Zugleich
rufen sie die »Nagelspur« von Auschwitz auf, die den sinnlosen Todeskampf in dem
Vernichtungslager verewigt. In Luigi Nonos Streichquartett FRAGMENTE – STILLE, AN
DIOTIMA rezitiert der Schauspieler Bruno Ganz Gedichte von Friedrich Hölderlin. Die Karte
der Kriegsschauplätze gibt eine Topografie regionaler Konflikte wieder, die nach dem Ende
des Kalten Krieges in den Vordergrund treten und das Geschick der Weltbevölkerung
nachhaltig mitbestimmen. Müller rückte das Potenzial der regionalen Auseinandersetzungen
bei zunehmender Verhärtung, schließlich Aufweichung und Auflösung der Front zwischen
Erster und Zweiter Welt in seinem Schaffen zunehmend ins Zentrum seines Interesses. In den
Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd, arm und reich, Erster und Dritter Welt, sah er
die maßgeblichen Veränderungen heraufziehen, die die geopolitischen Geschicke des 21.
Jahrhunderts mitbestimmen sollten. Das Gedicht für Luigi Nono, das 1979 entstand,
383
dokumentiert diesen Paradigmenwechsel im Schreiben Müllers.
In Auschwitz
Die Nagelspur
Mann über Frau
Über Kind
Der Kirchenchor
Die Maschinengewehre
Gesang
Der zerschnittenen
Stimmbänder Marsyas
Gegen Apoll
Im Steinbruch der Völker
Unerhört
(W 1 211)
Der Text erschien erstmals 1985 im Programmheft der Mailänder Uraufführung von Nonos
PROMETO. In dem Gedicht ist die gemeinsame Erfahrung der Katastrophen aufgehoben, die
das 20. Jahrhundert perforierten. Ausgehend von einem MAUSER-Zitat, das das Dilemma
einer Emanzipationsbewegung benennt, die sich selbst immer wieder existenziell in Frage
stellen muss, um ihr Überleben gewährleisten zu können, fängt Müller in einem
intertextuellen Dreihundertsechzig-Grad-Schwenk 848 die Opfer ein, denen die Notwendigkeit
des permanenten Ausreißens geschuldet ist. Im zweiten Textblock wird die Apotheose der
patriarchalischen Struktur des Abendlandes als Totentanz vorgeführt. Die Hierarchie der
Gesellschaft zeigt sich noch in den Leichenbergen, die von der nationalsozialistischen
Vernichtungsindustrie ausgespuckt werden. Spätestens im Todeskampf versagt das Ideal
menschlicher Solidarität: »Das Schwächste unten, das Stärkste oben. In die Körpern der
Schwächeren eingekrallt oder an den Wänden empor versucht er, sie zu übersteigen. Die
menschliche Solidarität im Leiden wird im Todeskampf ausgelöscht. Die Nagelspur, die auch
an das Leiden des Gekreuzigten gemahnt, ist eine Spur, die noch einmal wie zum Hohn der
848
Martin Zenck hat eine Vielzahl dieser Quellen identifiziert (s. a. Ders.: Stimme/Musik. In: HMH 351–353)
384
Opfer die Hierarchie unter den Menschen festschreibt.« 849 Die zerbrochenen Gesänge nehmen
Bezug sowohl auf die sich anschließenden Blöcke über die Gewalt im Namen der
(herrschenden) christlichen Religion, als auch auf den Marsyas-Komplex, der paradigmatisch
die Praxis einer Politik vorführt, die in den Völkern lediglich Steinbrüche der eigenen
Machtinteressen sieht. Ob »das Fleisch der Instrumente« die Überreste der Opfer auf den
Schlacht- und Folterbänken meint oder auf das Fleisch einer im Namen der
Ideen/Ideologien/Religionen instrumentalisierten Menschheit abzielt, ist mit letzter Sicherheit
nicht bestimmbar. Ebenso unentscheidbar bleibt, ob die »Welt ohne Hammer und Nagel« die
Projektion einer Welt jenseits der (christlichen) Repräsentanz andeutet, die, wie Müller will,
ihre Höhepunkte in Auschwitz und Hiroshima feiert, oder – unmittelbar in diesem
Zusammenhang – der Möglichkeit Ausdruck verleiht, dass die Bedeutungen der Worte nicht
mehr ein für alle mal fixierbar und also beherrschbar gemacht würden. Der nüchterne, knappe
Duktus des Textes zeugt zum einen von der Inkommensurabilität des Dargestellten, zum
anderen ist er Ausdruck des Bewusstseins der Undarstellbarkeit der aufgerufenen Desaster.
Einen deutlichen Niederschlag findet diese Tatsache in den Leerzeilen, die das Schweigen
bewohnt, das im Folgegedicht der Werkausgabe als Sprache des Engels der Verzweiflung
vorgeführt wird. Sein Gesang ist dort als der (stumme) Schrei (des Marsyas) gekennzeichnet«
(s. a. W 1 212). Möglicherweise sieht Müller in diesem Gesang sogar das Paradigma einer
jeden Kunst. »Unter dem Gesang ist der Tod, ist die Leere, und nur daraus kommt der Glanz.«
(GI 2 78) Nicht zuletzt stellt das NONO-Gedicht demzufolge eine Funktionsbestimmung der
Kunst in Auseinandersetzung mit der von Adorno und Celan reflektierten (Un-)Möglichkeit
dar, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben oder überhaupt glaubhaft Kunst zu produzieren.
Müllers Text kann als notwendig scheiternder Versuch gelesen werden, mit zerschnittenen
Stimmbändern zu reden, dem Unerhörten Gehör zu verleihen, dem Schweigen eine Stimme.
Das Scheitern gehört zum Text. In den Rede-Pausen, den ›Brüchen‹ im ›Stückwerk‹ ist der
Leser allein mit dem Schmerz über die aneinander gereihten Bilder des Grauens, die die
Negativfolie der Geschichte des Menschen wiedergeben. Zwischen den Zeilen eröffnet sich
der noch ungeschriebene Raum einer Geschichte jenseits der beschriebenen Gewalt.
Betrachtet Müller die Arbeiten Nonos an seinen Texten prinzipiell als gelungen, sieht er die
Vertonung seiner Texte generell als problematisch an. Der Komponist Paul Dessau habe
gelegentlich versucht, Texte von Müller zu vertonen. »Er hat aber irgendwann aufgegeben
und gesagt: ›Die brauchen keine Musik.‹ Das stimmt. Da ist so viel musikalische Struktur
drin, das ist nicht mehr nötig.« (SUSCHKE 542) Nono gelinge die Vertonung lediglich aus
dem Grund, dass er die Texte musikalisch nicht ausdeute, sondern versuche, sie »zu lesen«.
Selbst Heiner Goebbels, der vermutlich produktivste Komponist auf der Grundlage Müllers
Texte – ein Grenzgänger zwischen E- und U-Musik –, sieht in ihnen eine ausgeprägte
musikalische Performanz, die eine Vertonung auf den ersten Blick unmöglich macht. 850
Müllers Sprache sei »selbst schon musikalisch im strengen Sinn; eher verwandt der Musik
Bachs oder Schönbergs als der Chopins oder Strawinskys« 851 . Von daher müssen die
849
Genia Schulz: Die Kunst des Bruchstücks. Über ein Gedicht von Heiner Müller. In: Paul-Gerhard
Klussmann/Heinrich Mohr (Hg.): Spiele und Spiegelungen von Schrecken und Tod. Zum Werk von Heiner
Müller. Sonderband zum 60.Geburtstag des Dichters. Bonn 1990 [= Jahrbuch zur Literatur in der DDR. Bd.
7], 157–171, hier 160
850
Zu Heiner Goebbels Müller-Vertonungen s. a. Olaf Schmitt: Heiner Goebbels. In: HMH 356–359
851
Heiner Goebbels: Heiner Müller vertonen? In: Wolfgang Sandner (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als
Inszenierung. Berlin 2002, 57f., hier 57
385
hinzutretenden musikalisch-theatralischen Mittel autonom gegenüber den Texten agieren
»oder zumindest immer wieder den autonomen Raum zwischen Text und Möglichkeit
öffnen« 852 Wolfgang Rihm, der DIE HAMLETMASCHINE vertonte, betont die hohe
imaginative Qualität Müllers Texte, »die keine Ablaufstrategie mehr aufzwingen« 853 .
Entsprechend gleiche das musikalische Potenzial Müllers Text dem eines »Steinbruchs« 854 :
»Die Theater-Texte Müllers haben jene Qualität imaginativer Blöcke« 855 , die Rihm sich zu
behauen berufen fühlte. Müller, dem Arbeiter par excellence im Steinbruch der Literatur –
und wie das Kapitel zeigt: der anderen Künste –, machte kein Hehl daraus, dass diese
Sichtweise nicht vorbehaltlos auf sein Einverständnis stieß. Nonos nichtdiskursiven
Klanggebäude schienen ihm geräumiger, was die Haltbarkeit der eigenen Texte anging.
Das neunundzwanzigste Kapitel von KRIEG OHNE SCHLACHT schließt die eigentliche
autobiografische Darstellung ab. Mit dem Zusammenbruch der DDR endet der vermeintliche
Lebensbericht. Dies ist ein grundlegendes Indiz für den Konstruktionscharakter und die
Fiktionalität des vorliegenden Textes, der trotz anderslautender Bekenntnisse nach spezifisch
ästhetischen Kriterien hergestellt wurde. Das letzte empirische Ereignis auf das sich Müller in
diesem Kapitel bezieht, ist die erste freie Wahl zur Volkskammer der DDR im Frühjahr 1990,
die bezeichnender Weise auch die letzte ist: »DIE DEUTSCHEN ERLEBEN DIE FREIHEIT
IMMER NUR AM TAG IHRER BEERDIGUNG.« 856 Wie bereits bei den vorangegangenen
Kapiteln stellt das Textkonvolut aus dem Privatbesitz Stephan Suschkes hinsichtlich der
Überlieferungssituation die unmittelbare Vorstufe des Drucktextes dar. Die weitestgehende
Übereinstimmung des handschriftlichen Korrektorats mit der Buchfassung weist das
Manuskript als Produkt Müllers Endredaktion aus. Die Abweichung in der Seitenzählung ist
auf die Verknüpfung ursprünglich separat geplanter Kapitel zurückzuführen. Auf den
Manuskriptseiten 450 bis 453 finden sich die Ausführungen zum zeitweilig vorgesehenen
Kapitel »25. Bildbeschreibung«. Unter der Überschrift »30. Wolokolamsker Chaussee, 1985
bis 1989« folgen die sich anschließenden Passagen auf den Seiten 499 bis 531. Während die
Seiten 512/513 fehlen und zu mehreren Seiten handschriftliche Ergänzungen auf gesonderten
Blättern vorgenommen worden sind (beispielsweise »507«, »507a«, »507 b«, »507c« etc.),
finden sich darüber hinaus drei Blatt mit der durchgestrichenen Paginierung 517 bis 519, die
852
ebd.
853
Rihm 1997, Bd. 2, 31
854
ebd.
855
ebd.
856
W 8 383. In DEUTSCHLAND ORTLOS. ANMERKUNG ZU KLEIST, Müllers Rede anlässlich der
Entgegennahme des Kleist-Preises, wird dieser Satz explizit als Marx-Zitat ausgewiesen. In der KRITIK
DER HEGELSCHEN RECHTSPHILOSOPHIE schreibt Marx: »Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt
sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch
nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre
Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und
zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten,
und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns
immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.« (MEW 1, 379f.)
386
komplett eliminierte Passagen enthalten. Auf Seite 520 wurde die Überschrift »33.
Literarische Preise« eliminiert. Das Manuskript weist neben der Zusammenfassung der
Kapitel auch die Neufassung der Kapitelüberschrift aus, die für die Druckfassung verbindlich
ist: »WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, 1985–1987«. Die Überschrift zitiert nicht nur den
Titel einer der letzten umfangreichen dramatischen Arbeiten Müllers. Er suggeriert zugleich
die Identifikation eines Lebensmodells mit der historischen Perspektive eines
Gesellschaftsentwurfs, der seine Realisierung auf deutschem Boden nur der Präsenz der
sowjetischen Panzer zu verdanken hat. Als sechster Teil dieses fünfteiligen Dramas wäre
quasi Müllers Nachruf, die ERINNERUNG AN EINEN STAAT, zu verstehen, die – sieht
man von Dokumentenanhang und Dossier ab – das Schlusswort seiner Autobiografie darstellt.
Die Eröffnung des Kapitels erfolgt wiederum durch eine Frage. Die für ein separates Kapitel
vorgesehene Frage, »War BILDBESCHREIBUNG eine Auftragsarbeit?« (Suschke 450), wird
dabei handschriftlich durch jene Frage ersetzt, die der neuen Kapitelüberschrift
korrespondiert: »1985 hast du dein bisher letztes Stück geschrieben, WOLOKOLAMSKER
Chaussee …« (SUSCHKE 450 = KOS 342) Die zeitliche Perspektive der Darstellung enthält
einen Hinweis darauf, dass ein Zusammenhang besteht zwischen eben jenem (weit
zurückliegenden) letzten Stück, dem letzten (erzählenden) Kapitel der Autobiografie sowie
dem Ende der zweiten Diktatur, an dessen Existenz das Ich der autobiografischen
Konstruktion den Impetus seiner Arbeit und somit die Genese seines Werkes knüpft. Den
Bogen zu BILDBESCHREIBUNG bekommt der Erzähler, indem er die geänderte Frage
ignoriert: »Vorher war BILDBESCHREIBUNG« (SUSCHKE 450 = KOS 342). Eine kleine
handschriftliche Änderung des vormaligen Kapitelbeginns verleibt den Exkurs zu
BILDBESCHREIBUNG dem Komplex WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ein. Die
vermeintliche Unmittelbarkeit der (fiktiven) Gesprächssituation, die den Text der
Autobiografie in den Bereich der oral history einschmuggeln will, erweist sich als subtiles
Täuschungsmanöver des Autors, das er im Nachwort – wie Helge Malchow später in seinem
Vorwort zur erweiterten Neuauflage – freilich selbst unterlaufen wird.
BILDBESCHREIBUNG bildet Müllers Aussage zufolge den »Endpunkt oder Nullpunkt« (GI
1 184) einer auf Reduzierung abzielenden experimentellen Entwicklung im eigenen
dramatischen Schaffen. Es ist – ähnlich wie es in KRIEG OHNE SCHLACHT über das Stück
ANATOMIE TITUS heißt – ein »Manövergelände« (KOS 324) und stellt ein »Formenarsenal
für kommende Arbeiten« (KOS 343) bereit. »Danach konnte ich WOLOKOLAMSKER
CHAUSSEE schreiben. Es war ein alter Plan. Der Weg der Panzer von Berlin nach Moskau
und zurück, und weiter von Moskau nach Budapest und Prag.« (KOS 343) Die Vorlage – eine
teilkolorierte Tuschezeichnung der bulgarischen Bühnenbildstudentin Emilia Kolewa –
stammt aus der Zeit Müllers unzähliger Bulgarien-Reisen während der siebziger Jahre. Für die
Realisierung des alten Plans nutzt Müller einen gemeinsamen Aufenthalt mit Margarita
Broich in Mietenkam am Chiemsee. Abgesehen von dieser wohl eher zufälligen Ortswahl
bezeichnet Müller den Schreibprozess als »Urlaub von der DDR« (ebd.), beziehungsweise
einen »vielleicht narzisstische[n], Befreiungsakt« (ebd.). In einer Anmerkung zum Text heißt
es: »Bildbeschreibung kann als eine Übermalung der ALKESTIS gelesen werden, die das No-
Spiel KUMASAKA, den 11. Gesang der ODYSSEE, Hitchcocks VÖGEL und Shakespeares
STURM zitiert. Der Text beschreibt eine Landschaft jenseits des Todes. Die Handlung ist
beliebig, da die Folgen Vergangenheit sind, Explosion einer Erinnerung in einer
abgestorbenen dramatischen Struktur.« (W 2 119) Die expliziten intertextuellen Verweise
387
betreiben mit der Preisgabe der Quellen zugleich ihre Verdunklung. Sie können jedoch als
Indiz gelten für die stark assoziativ geprägte Arbeitsweise, die wohl für die Mehrzahl Müllers
Texte charakteristisch sein dürfte. Entgegen dem eher kryptischen literarischen Kommentar
unterstreicht Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT die Funktion der bildlichen Vorlage. So
seinen es gerade die »Unkorrektheiten der Zeichnung« (KOS 342) und offenbaren »Fehler«
(ebd.) gewesen, die ihn zu dem Text inspiriert hätten. Sie stellten die »Freiräume für
Phantasie« (ebd.) dar, in die der Text eindringen konnte, um das Bild in einen Wirbel
wechselnder Identitäten aufzulösen. Dazu dient eine mehrfach potenzierte »Übermalung« die
in einer inflationären Bedeutungsproduktion die Bedeutungen letztendlich auslöscht. »Die
Struktur des Textes ist, ein Bild stellt das andre in Frage. Eine Schicht löscht jeweils die
vorige aus, und die Optiken wechseln. Zuletzt wird der Betrachter selbst in Frage gestellt, also
auch der Beschreiber des Bildes.« (ebd.) Die Grundlage dieser Technik ist das Palimpsest, der
unter der Oberfläche unzugängliche Urtext – sicher verwahrt unter der sichtbaren
»Übermalung«. Deshalb betont Müller in einer für die Druckfassung der Autobiografie
getilgten Passage auch die Zufälligkeit der Vorlage, die eben nur einen ›möglichen‹, nicht
aber ›den‹ Urtext darstelle – ebenso wenig wie jene Texte, die der Stückkommentar aufruft.
Trotz der materiellen Vorlage ist die ursprüngliche Schreibintention vom Schreibprozess
absorbiert worden: »Es ist besonders schwierig zu erzählen, wie ich angefangen habe, das zu
schreiben, denn BILDBESCHREIBUNG ist bei mir das extremste Beispiel von automatischer
Schreibweise, wenn auch entlang einer Vorlage, und deswegen ist es am schwersten zu
rekonstruieren.« 857 Zugleich wird die »Übermalung« in der Schrift als Versuch kenntlich, die
»Fehler« als geschichtsphilosophische Perspektive im Text auch typografisch markant zu
reinstallieren: »gesucht: die Lücke im Ablauf, das Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das
Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER«
(W 2 118). BILDBESCHREIBUNG wäre mithin der Versuch, das Potenzial der Zeichnung in
das Medium der Schrift zu transferieren und somit für die eigene Arbeit fruchtbar zu machen.
Müller sieht in BILDBESCHREIBUNG das Modell einer emanzipierten Kunst. »Das kann
jeder machen, mehr oder weniger gut und jeder anders. Die avancierteste Kunst ist die
demokratischste, jeder Mensch kann ein Bild beschreiben, die Beschreibung produziert neue
Bilder, wenn er mitschreibt, was ihm einfällt während der Beschreibung. Es ist ein
Spielmodell, das allen zur Verfügung steht, die sehen und schreiben können.« (KOS 343)
Dagegen sei WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE »ein elitärer Text. Von heute aus gesehen
ist er vielleicht minoritär. […] der Klavierauszug einer Partitur die aussteht. Die Struktur ist
857
SUSCHKE 450. Was Müller unter »automatischer Schreibweise« verstehen könnte formuliert er wenige
Manuskriptseiten später: »Ich denke nicht mehr über den Vorgang des Schreibens nach, mich interessiert
das Machen nicht mehr, ich kann das. Ich weiß, ich könnte das immer. Du kannst mir ein anderes Bild
hinlegen, das kann ich dann auch beschreiben. Und wenn ich das kann, habe ich keinen Grund mehr,
darüber nachzudenken. Ich weiß, das ist eine Fähigkeit, die mir jeder Zeit zur Verfügung steht, die mit ein
bisschen Konzentration und Zeit und Ruhe abrufbar ist. Und mich interessiert überhaupt nicht mehr der
Prozess, das habe ich im Griff, das ist fast schon wie gehen oder Rad fahren. Hast du einmal Rad fahren
gelernt, kannst du es immer. Brecht sagte, man muss schreiben wie man Rad fährt. Wer Rad fahren gelernt
hat, weiß, es erscheint einem am Anfang fast unmöglich, und man kann den Moment nicht beschreiben, von
dem an man es plötzlich kann. Du übst, du fährst gegen tausend Mauern, kippst hundertmal um, und
plötzlich kannst du Rad fahren. Wenn du es aber einmal kannst, denkst du nicht mehr darüber nach –
brauchst du auch nicht. Wenn du darüber nachdenkst, fällst du sofort wieder vom Rad.« (SUSCHKE 452f.;
die kursiv gedruckte Passage ist im Manuskript nicht gestrichen, sondern lediglich redigiert, war
demzufolge laut dokumentiertem Stand der Überarbeitung noch für den Druck vorgesehen)
388
durchsichtig und einfach, weil es unmittelbar politisch ist, mehr als die früheren Stücke. In der
Politik ist Raffinement Betrug und Ironie verboten.« (ebd.) Das Minoritäre des Textes besteht
in seinem politischen Gestus, der die grundsätzliche Bejahung einer Idee voraussetzt, die mit
Kommunismus nur unzureichend beschrieben ist. Es ist die Utopie einer emanzipierten
Gesellschaft, die der alternativen Wirklichkeit der Kunst nicht mehr bedarf, weil sie diese
Wirklichkeit eingeholt oder hinter sich gelassen hat. Ob eine solche Gesellschaft (zumal aus
der Sicht des Künstlers selbst) wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt. Allein sie
erscheint notwendig: Zum Zeitpunkt der Niederschrift sieht der Autor der
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE in ihr die einzige Alternative zur globalen Katastrophe.
Der Hinweis darauf, dass die Partitur noch aussteht, impliziert sowohl die Notwendigkeit der
historischen Einlösung des im Stücktext transportierten Konfliktfeldes als auch die
(momentane) Unfähigkeit des Künstlers, das Konfliktpotenzial aufzufächern und
gesellschaftlich zu orchestrieren. Nur in der kleinsten Größe, als Quintessenz – so suggeriert
die minimalistische Anlage der Problematik –, kann das Furchzentrum des Textes (an einem
anderen Ort zu einer anderen Zeit) möglicherweise wieder zum Kraftzentrum werden, das die
Form der Tragödie unter rezeptionsästhetisch Gesichtspunkten immer war. Insofern ist die
Stückfolge der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE nicht lediglich »Requiem« »auf das Ende
des sozialistischen Blocks« (KOS 344), sondern zugleich Manifest im blochschen Sinne einer
noch nicht eingelösten Geschichte.
»WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ist nach GERMANIA und ZEMENT der dritte Versuch
in der Proletarischen Tragödie im Zeitalter der Konterrevolution, das mit der Einheit von
Mensch und Maschine zu Ende gehen wird, dem nächsten Schritt der Evolution (der die
Revolution voraussetzt und Drama nicht mehr braucht). Das Bild: der verwundete Mensch,
der in der Zeitlupe seine Verbände sich abreißt, dem im Zeitraffer die Verbände wieder
angelegt werden. / Zeitraum: DER AUGENBliCK DER WAHRHEIT WENN IM SPIEGEL /
DAS FEINDBILD AUFTAUCHT … Die Alternative ist der schwarze Spiegel, der nichts
mehr herausgibt.« (W 5 247) Die Terminologie des Kommentars, der den fünfteiligen Zyklus
der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE beschließt, verknüpft poetologische und
geschichtsphilosophische Überlegungen. Mit dem Status des ›Versuchs‹, betont Müller den
Prozesscharakter des Textes im Anschluss an Brechts VERSUCHE-Hefte, die
Arbeitsprozesse wiedergeben und nicht Denkresultate formulieren. Bei Brecht steht gerade
die nicht-tragische Anschauung des Politischen im Vordergrund. Die Rede von der
»Proletarischen Tragödie« zielt mithin auf die späte Einlösung dieses paradoxen
Begriffspaares, das vor der Folie des Untergangs ihre eigentliche Bedeutung erhält. Erst mit
der politischen Auflösung des Ostblocks gewinnt die mit ihm verknüpfte Idee
gesellschaftlicher Emanzipation eine tragische Dimension. Sie wird als Hybris des Systems
kenntlich – Motor und Verhängnis der Revolution. Das Dilemma besteht in der Indifferenz
gegenüber dem Konflikt selbst. Doch kann im Gegenteil nur die offene Wunde den Schmerz
am Leben erhalten, der die mögliche Voraussetzung für die Verwertung der
Schmerzerfahrung im revolutionären Prozess darstellen würde. Gerade die unvermeidbaren
wie notwendigen Wunden, die sich das kommunistische Projekt immer wieder selbst zufügen
musste, könnten zu einem gelingen desselben beitragen – wären sie nicht permanent künstlich
verschlossen worden zu dem Zweck, die moralische Legitimation der Bewegung vor den
Augen der Welt nicht zu verlieren. Vor der Folie Nietzsches in der GENEALOGIE DER
389
MORAL entwickelten Mnemonik des Schmerzes 858 hat sie diese vermeintliche Legitimation
mit der Negation des Schmerzes bereits verspielt. Und was bitte, fragen sich die Stimmen der
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, soll das für eine Moral sein, die »sich selber nicht
befehlen« (W 5 94) kann, wie es der Kommandeur mit Nietzsche formuliert 859 . Eine weitere
Parallele zu Nietzsches ZARATHUSTRA tut sich auf, wenn die Rede auf das Feindbild im
Spiegel kommt: »Aber der schlimmste Feind, dem du begegnen kannst, wirst du immer dir
selber sein.« 860 Die Metapher, die Müller dem fünften Teil der WOLOKOLAMSKER
CHAUSSEE entnimmt, bestimmt auch die autobiografische Schrift. In Nachlassnotizen aus
dem Entstehungsumfeld von KRIEG OHNE SCHLACHT wird auf die »unity Freund –
Feind« (HMA 4476) hingewiesen, eine Einheit, die in der Selbstwahrnehmung Müllers
Arbeitsweise als Kampf, respektive »Schlacht« dargestellt wird. Weil sich die politische
Bewegung, die die fünf Texte der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE analytisch umkreisen,
dem Feind in sich selbst nicht ins Angesicht zu blicken getraut, steht sie plötzlich vor dem
leeren Spiegel, oder besser: dem Nichts. Müllers Sätze nehmen die politische Entwicklung
seismografisch vorweg. Wenige Monate nachdem diese Sätze formuliert werden, ist der
Spiegel tatsächlich leer: »Statt Mauern stehen Spiegel um mich her / Mein Blick sucht mein
Gesicht Das Glas bleibt leer« (W 1 317), rekapituliert Müllers lyrisches Ich als VAMPIR die
Situation ex post in seinem Todesjahr 1995 und formuliert damit die kollektive Erfahrung
einer ganzen Bevölkerung.
»WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE war von Anfang an in fünf relativ selbständigen Teilen
geplant, auch weil ich damit rechnen musste, dass die letzten drei in der DDR nicht möglich
sind.« (KOS 344) Der Plan ist alt. Die Niederschrift der Szenenfolge erfolgt zwischen
1983/84 (WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE I: RUSSISCHE ERÖFFNUNG) und 1987
(WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE V: DER FINDLING). Zunächst wird der Titel DIE
ANDERE SCHLACHT in Erwägung gezogen, dann – in Anlehnung an die Bewegung der
sowjetischen Panzer – DER WEG DER PANZER 861 . »Das ist die Straße von Berlin nach
Moskau, von Moskau nach Berlin, nach Prag, nach Budapest.« (SUSCHKE 502) Müller
schwebt vor, die Geschichte des Ostblocks als militärische, juridische und moralische Folge
des Krieges zu beschreiben. Heraus kommt ein Text, der Elemente der Lehrstücks, der
Tragödie (inklusive des Satyrspiels) sowie des Langgedichts vereint. Die Dialogstruktur ist in
858
»… nur was nicht aufhört wehzutun, bleibt im Gedächtnis […]. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer
ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder
(wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Kastrationen),
die grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde
Systeme von Grausamkeiten) - alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das
mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet.« (Nietzsche-W 2, 803)
859
»Eure Vornehmheit sei Gehorsam! Euer Befehlen selber sei ein Gehorchen! / Einem guten Kriegsmanne
klingt ›du sollst‹ angenehmer als ›ich will‹. Und alles, was euch lieb ist, sollt ihr euch erst noch befehlen
lassen.« (Nietzsche-W 2, 313) »Dies aber ist das dritte, was ich hörte: dass Befehlen schwerer ist, als
Gehorchen. Und nicht nur, dass der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und dass leicht ihn diese
Last zerdrückt; – / Ein Versuch und Wagnis erschien mir in allem Befehlen; und stets, wenn es befiehlt,
wagt das Lebendige sich selber dran. / Ja noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da noch muss es sein
Befehlen büßen. Seinem eignen Gesetze muss es Richter und Rächer und Opfer werden. / Wie geschieht
dies doch! so fragte ich mich. Was überredet das Lebendige, dass es gehorcht und befiehlt und befehlend
noch Gehorsam übt?« (Nietzsche-W 2, 370)
860
Nietzsche-W 2, 327
861
Der Titel der französischen Textausgabe lautet entsprechend LA ROUTE DE CHARS (s. a. SUSCHKE
502).
390
den Textkorpus zurückgenommen. Es darf bezweifelt werden, ob BILDBESCHREIBUNG,
wie Müller selbst nahe legt, »ein Autodrama« ist, »ein Stück, das man mit sich selbst
aufführt« (KOS 342). In jedem Fall wird Eke der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE nicht
gerecht, wenn er sie als »Diskurs der Erinnerung auf der Bühne eines inneren Kopf-Raum-
Theaters« 862 verorten will. Zwar sind die Figuren lediglich Zitate eines Erinnerungsdiskurses,
der in nüchternen, zuweilen stolpernden Blankversen das verdrängte Gedächtnis des
deutschen Sozialismus nachzeichnet, doch präsentiert das Ich dieser Textteile allein schon
aufgrund der intertextuellen Anlage des Textkorpus keinen Innerlichkeitsdiskurs, sondern
lässt Erinnerung im kollektiven Feld sozialer Praxis stattfinden. Wenn Müller mit Blick auf
die RUSSISCHE ERÖFFNUNG betont, »der Platz des Zuschauers ist zwischen Waffe und
Ziel«, wird die Kollektivität des Rezeptionsprozesses – wie im Lehrstück – geradezu zur
Voraussetzung des Textverständnisses erklärt. Gerade in den beiden ersten Teilen der
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE wird zudem die kultische Funktion der Findung neuer
Rechtsprinzipien angesichts einer ungesicherten, weil neuen Moral verhandelt, die soziale
Interaktion dringend voraussetzt.
Müller beklagt, die Geschichtsschreibung sei rechten wie linken Apologeten überlassen
worden, die Geschichte jeweils im Namen der ihnen geläufigen Ideologien subsumiert hätte.
Allein in der Trivialliteratur seien die eigentlichen Einschnitte beschrieben worden, die
katastrophalen wie weitreichenden Folgen dieses ›letzten Krieges um Arbeitskräfte‹ (s. a.
KOS 347). »Der Zweite Weltkrieg war auch eine deutsche Tragödie. Das Tempo der linken
Verdrängung stand in beiden Nachkriegsdeutschland dem der rechten nicht nach. Ich kenne
keinen bedeutenden Roman, in dem die Trecks ein Thema sind, nur Dokumente und Berichte,
oder die Schrecken der Befreiung. Das Tempo des Vergessens schafft ein Vakuum. Die
westdeutsche Linke hat sich an Auschwitz erinnert, nicht an Stalingrad, eine Tragödie von
zwei Völkern, dann kam als nächstes der Vietnam- Krieg. Im Osten war die Unschuld
Staatsräson, ein Volk von Antifaschisten. Dabei waren die Trecks eine Völkerwanderung von
ungeheuren Dimensionen. Diese, wie immer du es nennen willst, Vertreibung, Flucht,
Umsiedlung – ein ungeheurer Einschnitt in europäische Geschichte. Aber das kommt nicht
vor in der deutschen Nachkriegsliteratur, nur bei Konsalik, nur in der Trivialliteratur.« (KOS
345f.) Doch auch Müller schert sich, abgesehen von einer Randpassage in seinem frühen
Stück DIE UMSIEDLERIN, wenig um diese Dimension des Krieges. Vorlage für die beiden
ersten Teile von WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ist der gleichnamige Roman von
Alexander Bek (1953, deutsch 1962). Als Müller Beks Roman Anfang der sechziger Jahre in
die Hände fällt, interessiert ihn vor allen Dingen »[d]ie Erschießung eines Soldaten wegen
Desertion bei einem fingierten Angriff, ein juristisches Problem« (KOS 346), stoffliche
Grundlage des ersten Teils der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und zwar als
»Gegenentw[urf] zum Homburg« (HMA 5328). Im zweiten Teil ist es »die Außerkraftsetzung
der Sowjetordnung in einer Ausnahmesituation« (KOS 347). Dass dieser latent
antistalinistische Ansatz sowohl im Roman Beks als vor allem auch bei Müller in den Teilen
III–V nicht zum Tragen kommt, macht das eigentliche Dilemma der sozialistischen
Entwicklung aus. Die Übertretung des geltenden Kriegsrechts durch den Kommandanten wird
im ersten Teil des Stückkomplexes zum zentralen Problem: »Der Leutnant fragte Haben wir
das Recht / Ich sagte Mein Befehl wird ausgeführt / Und war es Unrecht soll man mich
862
Eke 1999, 230
391
erschießen« (W 5 93) Das geltende Kriegsrecht dürfe in diesem konkreten Fall keine
Anwendung finden, weil der Angriff auf eine affektive Fehlhandlung des Kommandeurs
angesichts der um sich greifenden Angst seiner Truppe vor dem (bislang imaginären) Feind
zurückzuführen ist (»Ich zielte auf den Fluss und schoss den Gurt leer / Als wärs ein
deutscher Fluss«, W 5 90). Es handelt sich um einen Widerstreit zwischen (geschriebenem)
Recht und einem moralisch übergeordneten, situationsbedingten Recht der Notwendigkeit,
das indes auf Subversion beruht. Die Frage: »Braucht es einen Toten / Oder den Blick auf
einen solchen Tod / Damit aus einem Bataillon ein Bataillon wird« (W 5 93f.). Das Stück
beantwortet die Frage mit ja. Allerdings führt es diese Entscheidung nicht auf eine moralische
Legitimation zurück, sondern rückt die Problematik der Entscheidung selbst ins Zentrum der
Darstellung. Denn offenbar geht es weniger um das Delikt der Desertion, als um die
Statuierung eines Exempels vermittelst eines Gründungsmords im Sinne von MAUSER:
»Was zählt ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts« (W 4 253). Die Erschießung des
Gruppenführers erscheint dem Kommandeur als einziger Ausweg aus der Erstarrung, die »der
General der Angst heißt« (W 5 88), über seine Truppe verhängt hat. »Ich wusste nur der
Schrecken treibt die Angst aus« (W 5 90), begründet der Kommandant die zweifelhafte
Methode des fingierten Angriffs, die ihn in eine reale Entscheidungssituation zwingt. »So
ging den ersten Schritt mein Bataillon / Auf unserm Weg von Moskau nach Berlin / Und
immer geht der Tote meinen Schritt« (W 5 96). Das auf dem Stellvertreterprinzip beruhende
Opfer ermöglicht den Erfolg des Projekts. Damit ist der Sieg letztendlich diskreditiert. Anders
als in Kleists Drama PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG, wo der Rechtskonflikt am Ende
des Stücks durch den souveränen Herrscher selbst aufgelöst wird, bleibt der Konflikt bei
Müller bestehen. Auch hat der Kommandeur den Erschießungsbefehl, anders als in
MAUSER, gegen das Einverständnis des Delinquenten durchgesetzt. Die Identifikation des
Kommandanten mit dem Opfer kann als Versuch gefasst werden, die inkommensurable
Schuld, die dem Sieg über den Feind als unerlässliche Bedingung voranging, nicht vergessen
zu machen.
In KRIEG OHNE SCHLACHT geht Müller auf diese Problematik nicht weiter ein.
Stattdessen analysiert er den Zusammenhang zwischen Individuum und Masse,
beziehungsweise dessen ökonomische und militärische Implikationen. Ausgehend von dem
Hinweis, dass der Kommandeur in Beks Roman – die Figur des Kasachen Momysch-Uly –
ein Asiat ist, konstatiert Müller: »Russland ist asiatisch geprägt, die erste Qualität ist die
Quantität, die Masse setzt die Menschenrechte außer Kraft, sie sind nicht einmal mehr ein
Privileg, wie in den Demokratien. Asien kann das Individuum nur über die Marktwirtschaft
entdecken, die es in den Industrieländern gerade zum Verschwinden bringt. Der Zweite
Weltkrieg war der letzte Krieg um Arbeitskräfte. Der Nationalsozialismus hat mit dem
Holocaust die deutsche Industrie und ihre Wehrmacht um den Sieg gebracht, Kriege sind
heute eher ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Schaffung von
Arbeitsplätzen und Vernichtung von Arbeitskräften, Kriege um neue Technologien.« (KOS
347) Die Passage liefert einen wichtigen Hinweis auf das Ungenügen Heiner Müllers am Text
der autobiografischen Interviews. Sie findet sich als handschriftlicher Einschub im
Manuskript (s. a. SUSCHKE 505a), umgeben von ebenso zahl- wie umfangreichen
Streichungen. Auffällig ist Müllers Technik der Montage und die Bevorzugung des harten
Schnitts, nicht zuletzt das kontroverse analytische Reflexionsniveau. Das Primat der
392
Ökonomie über die Militärmaschine 863 – auf die Spitze getrieben in den Vernichtungslagern
der Nationalsozialisten, die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft bei absoluter Minimierung
der Lohnkosten garantierten (das Individuum wird sprichwörtlich bis aufs letzte Haar dem
Produktionsprozess einverleibt) – macht Auschwitz zum Altar des Kapitals. Hier wird der
Sieg der Wehrmacht einem irrationalen Rassenwahn geopfert, der die »Gesundschrumpfung
Deutschlands auf seinen ökonomisch potenten Kern« (GI 3 66) – die Bundesrepublik – nach
sich zieht. In der Folge dienen die Kriege als Experimentierfelder zur Erprobung neuer
Technologien. Verschwinde das Individuum in der westlichen Zivilisation zusehends in den
Produkten, über die es sich definiert, erscheine Asien hingegen als grenzenloser Raum, in
dem der Wert des Individuums positiv nur über seine Kaufkraft als Konsument zu erschließen
sei. Wirkt das analytische Potenzial Müllers Aussage auf den ersten Blick eher blass, wird der
Blick zugleich auf die Widerständigkeit des asiatischen Marktes gelenkt, die
Chance/Hoffnung, dass sich der asiatische Markt weniger dem Kapitalismus modifiziere als
umgekehrt das asiatische Virus den Kapitalismus infiziert. In der sozialistischen Prägung
bleibt dieses Asien ein gesichtsloser Korpus und ein unerschließbarer Raum barbarischer
Verhaltensweisen, denen aus Sicht der westlichen Welt kaum Verständnis, geschweige denn
moralische Akzeptanz angetragen werden können. Doch entspringen dieser fremdartigen
kollektiven Moral nicht nur die Ansichten eines General Schukow – »Wie räumt man ein
Minenfeld? […] mit den Stiefeln eines marschierenden Bataillons« (LV 46) –, sondern ebenso
jene eines Kommandanten, der im Bauernopfer des Gruppenführers auch ein Teil seiner selbst
preisgibt; oder wie Brecht den Konflikt in der MASSNAHME beschreibt: »Also beschlossen
wir: jetzt / Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper. / Furchtbar ist es, zu töten. / Aber
nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut / Da doch nur mit Gewalt diese tötende /
Welt zu ändern ist, wie / Jeder Lebende weiß. / Noch ist es uns, sagten wir / Nicht vergönnt,
nicht zu töten. Einzig mit dem / Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern, begründeten wir
/ Die Maßnahme.« 864
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE II: WALD BEI MOSKAU variiert den juridischen
Konflikt des ersten Teils. Der Widerspruch zwischen gesetzmäßiger Ordnung und ihrer
anarchischen Auflösung ergibt sich in diesem Fall aus der unrechtmäßigen Degradierung des
Bataillonsarztes im Rang eines Hauptmanns durch den Kommandeur. Weil der »Doktor« mit
seiner »medizinische[n] Hochschulbildung« – »Medizinische Hochschulbildung« ist zugleich
die Überschrift des Romankapitels in Alexander Beks DIE WOLOKOLAMSKER
CHAUSSEE, dem Müller den Stoff entnimmt – den Sanitätszug mit den Verwundeten im
Stich gelassen hat, soll er seine Rangabzeichen abnehmen und fortan als Soldat kämpfen:
»Das Schlachtfeld Ihre Universität.« (W 5 204) Doch der Arzt insistiert auf der Einhaltung
geltenden Kriegsrechts: »Sie / Haben kein Recht […] / Er hatte recht […] / gebunden waren
863
Umgekehrt, jedoch ebenso nachvollziehbar, hatte Müller in einer für die Druckfassung der Autobiografie
gestrichenen Passage argumentiert: »Ich glaube einfach, dass sich auch jetzt wieder herausstellt, dass die
politischen und ökonomischen Mittel nicht mehr ausreichen, um den Standard der weißen Rasse zu halten,
man braucht dazu militärische. Das gilt nach wie vor, wir leben immer noch in einem militärischen
Jahrhundert, auch wenn es ein paar Jahre mal so aussah, als ob es ein ökonomisches sei. Aber es ist das
Jahrhundert der Kriege oder ein Jahrhundert von Kriegen, es gab in diesem 20. Jahrhundert wesentlich mehr
Kriege als im 19., viel mehr als im 18. Das Ökonomische ist ja nur ein[e] Oberfläche, aber darunter wird
weiter marschiert, da drunter ist weiter Krieg. Es hat noch keinen Frieden gegeben in diesem Jahrhundert.«
(SUSCHKE 504)
864
Brecht-BFA 3, 124
393
meine Hände / Fest wie mit Ketten / An das sowjetische an unser Kriegsrecht« (W 5 201).
Problematisch sind die Folgen des Verhaltens des Arztes für die Truppe vor allem deshalb,
weil die Isolation von den Verwundeten dem Kollektiv das Potenzial authentischer
Schmerzerfahrung entzieht, die dem eigenen Leiden einen Sinn verleihen würde. Die Schnitte
in den kollektiven Korpus, die »Narben die nach Wunden schrein« (W 5 202), bedürfen der
Verifizierung durch die tatsächlichen Opfer des Kampfes. Die Truppe bleibt, solange der
Kampf dauert – und nur solange besteht die Truppe – auf ihre Verwundeten angewiesen:
»Und jetzt marschieren wir zurück und suchen […] / Den Sanitätszug […] / Weil wir dem
Feind nichts lassen keinen Mann / Kein Fahrzeug keine Waffe keinen Toten« (W 5 200).
Stärker noch als im ersten Teil der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ist die
Wiederherstellung der Ordnung an einen Akt der Anarchie gebunden, der nicht allein die
Disziplin des ohnehin zersprengten Bataillons erschüttert und die Stellung des Kommandeurs
zu unterlaufen droht, sondern Gefahr läuft, das Sowjetsystem selbst existenziell in Frage zu
stellen. »Was wird aus der Sowjetordnung wenn / Ich das Gesetz in meine Hände nehme […]
/ Und jeder ist sein eigner Kommandeur / Nach meinem Beispiel morgen wenn jetzt ich / Die
Hände nicht mehr kommandieren kann / Und nehme das Gesetz unter den Stiefel« (W 5
201f.). Zusätzliche Schärfe wird dem Konflikt durch die Zwangslage der Einkesselung durch
den Feind und den implizierten (Selbst-)Vorwurf an den Kommandeur verliehen, die Truppe
überhaupt erst in Bedrängnis gebracht zu haben: »Der Bataillonsarzt hat den Sanitätszug / Im
Stich gelassen der ihm anvertraut war / Aber wer hat das Bataillon geführt / In diesen Wald
der keinen Ausgang hat / Als in die deutschen Panzer und Geschütze / Vielleicht solltest du
auch dir selber gleich / Die Rangabzeichen von den Schultern reißen / Genosse Kommandeur
der schlecht geführt hat« (W 5 203). »DU HAST UNS IN DEN TOD GEFÜHRT FÜHR
NICHT MEHR« (W 5 202), heißt es in Anlehnung an Brechts FATZER, KOMM 865 am
Kulminationspunkt des Stückes. Der Widerstreit zwischen der Anwendung des Kriegsrechts
und seiner Außerkraftsetzung durch einen Akt anarchischer Selbstjustiz im Namen der Moral
seitens des Kommandeurs wird zum Schluss nicht aufgehoben. Mit dem Befehl des
Kommandeurs, »Nehmen sie Ihre Rangabzeichen ab / Eh ich sie Ihnen von den Schultern
reiße« (W 5 205), endet das Stück unversöhnlich und alle Fragen offen lassend. Folglich
bleibt auch die Frage nach seinem Führungsanspruch und damit die nach der Legitimation
eines jeden Führungsanspruchs letztendlich offen.
In KRIEG OHNE SCHLACHT versucht Müller eine nachträgliche Deutung, die über die
Stückaussage hinausgeht. Er sieht in der rechtlich unzulässigen Handlungsweise des
Kommandeurs »die Wiedergeburt des Revolutionärs aus dem Geist des Partisanen. Mag der
Partisan in einer Industriegesellschaft ein Hund auf der Autobahn sein. Es kommt darauf an,
wie viele Hunde sich auf der Autobahn versammeln. Vielleicht wird das im Text nicht
deutlich, ist verdeckt von der Faszination durch die Logik des Krieges, der von den Toten
lebt.« (KOS 347) Die einseitige Parteinahme für den subversiven Akt wiederholt sich in der
Genese des Textes der Autobiografie. In einer Arbeitsfassung war noch vom (vermutlich
unentscheidbaren) Kampf mit den divergierenden Rechtsstandpunkten in der Zerreißsituation
des Kriegs die Rede: »Dieser Text ist mein Nahkampf mit der Faszination der Logik des
Krieges. Aber der Kampf wird nicht bemerkt, bei den meisten kommt nur die Faszination an.«
865
Bei Brecht bildet die Variation des Verses »Verlass jetzt deinen Posten« (Brecht-BFA 10, 511) quasi den
Refrain am Ende einer jeden Strophe des ersten Gedichtsteils: »Verlass den alten Posten« (Brecht-BFA 10,
510f.); »Verlass den Posten« (Brecht-BFA 10, 511); »Beziehe den neuen Posten« (ebd.).
394
(SUSCHKE 506) Die Faszination ist Ausdruck des, wie Müller immer wieder betont,
notwendigen Einverständnisses mit dem Material (s. a. KOS 289). Nur eine Frage
revolutionärer Selbstverständigung kann im Stück selbst scheinbar beantwortet werden: »Die
Sowjetordnung dachte ich wo bleibt sie / Wenn die Sowjetunion verschwunden ist […] / Der
Boden unter deinen Stiefeln ist / Sowjetunion die Sowjetordnung lebt / In deinem Herzen und
in deinem Kopf / Und wenn auf der verbrannten Erde nur noch / Die leeren Panzer
aufeinander krachen / Und wenn wir in den Wolken weiter kämpfen / Wo das Gedächtnis
unsrer Toten lebt« (W 5 204). Die Passage spiegelt das Dilemma des Autors wider, den
absurd heroischen Versuch, »eine Fahne, die man auf dem Boden der Tatsachen nicht mehr
hoch halten kann, an die Wolken zu nageln.« (KOS 348) Müller selbst betont in diesem
Zusammenhang den Illusionscharakter der späten Hoffnung auf das Tauwetter in der
Führungsspitze der KPdSU. Im Sinne einer hypothetischen Legitimation für die eigene Arbeit
kam diesem »Prinzip Hoffnung« (Bloch) zeitweilig sogar der Stellenwert einer
poetologischen Funktion zu: »Auch für mich war Gorbatschows Programm zu Anfang ein
Hoffnungssignal für das scheiternde Unternehmen ›Sozialismus‹, die Illusion von der
Reformierbarkeit des Systems hat schon eine Weile gedauert, beinahe bis zum dritten Teil
von WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, 1986. Wenigstens hat sie für die ersten beiden Teile
ausgereicht. Eine Arbeitsillusion, oder das, was Rilke ›herbeirühmen‹ genannt hat. Ich habe
versucht, eine Hoffnung zu denken. Aber man schreibt mehr, als man denkt, und andres. Ich
hatte bei der ›Berliner Begegnung 1981‹ einen sehr skeptischen Text vorgetragen der vor
lauter Hoffnung kaum verstanden wurde, mit der neuen Alternative: Untergang oder Barbarei.
Als ich anfing, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE zu schreiben, war das ein Versuch, eine
Bewegung aufzunehmen, die vielleicht den Untergang oder die andre Barbarei noch hätte
aufhalten können. Was ich geschrieben habe, ist ein Nachruf, auf die Sowjetunion, auf die
DDR. Das begann im zweiten Teil mit dem Zitat der Katalaunischen Schlacht: ›Und wenn wir
in den Wolken weiter kämpfen‹.« (KOS 348) Müllers Diskussionsbeitrag auf der »Berliner
Begegnung« im Dezember 1981 ist integraler Bestandteil der Autobiografie. Der Text ist im
Materialanhang von KRIEG OHNE SCHLACHT als »Dokument 17« ausgewiesen. Im
Rahmen des »Internationalen Gesprächs der Schriftsteller«, das Anfang Mai 1987 in Ostberlin
stattfand (»Dokument 18«), sprach Müller sogar von der »Renaissance einer Hoffnung, die
mit den Namen Lenin und Trotzki verbunden war und von Stalin auf Eis gelegt wurde.«
(KOS 412) In Müllers Konstruktion erscheint das Tauwetter als unmittelbarer Anschluss an
»die Hoffnung des Oktobers« (gemeint ist die Revolution von 1917), die in der »Einheit von
Gleichheit und Freiheit« (ebd.) bestanden habe. Er warnt davor, das Programm Gorbatschows
als Annäherung an den Westen zu (miss)verstehen. Es gehe »im Gegenteil um die
Herausbildung des anderen, um die wirkliche Alternative zum Kapitalismus, nicht um das
Aufgeben von Positionen, sondern um die Eroberung der einzigen Position, die Zukunft
möglich macht.« (KOS 413) Dass Gorbatschows Programm vor allen Dingen ein letztes
Aufbäumen des Kolosses Sowjetunion vor dem ökonomischen Kollaps ist, verschweigt
Müller aus guten Gründen. Die Reformierbarkeit des Systems erweist sich – wie die
Wahlergebnisse 1990 verdeutlichen – als Fata Morgana einiger (weniger) Intellektueller. Sie
müssen in der Folge feststellen, wie ihrem Trugbild der Boden unter den Füßen entschwindet,
bis es im Nichts schwebt oder »an die Wolken« genagelt werden muss. Müller sah in dieser
Sakralisierung der Utopie eine Chance ihrer Rettung. Das sinnbildliche Bündnis mit den
Toten ist ein Indiz dafür. Die Notwendigkeit ihrer Wiederkehr war ihm, ebenso wie die
Gewissheit einer »Renaissance des Sozialismus«, kein fremder Gedanke. Im Entwurf eines
395
Briefes an Michail Gorbatschow vom 30. Dezember 1992 schreibt Heiner Müller: »Ich
bedauere, dass ich es nicht erleben werde, aber ich bin sicher, dass es in 50 Jahren eine
Renaissance des Sozialismus geben wird – der Leninismus/Stalinismus war eine falsche
Anwendung – und was die Verbrechen betrifft: die Inquisition war schlimmer: sie wurde
gemacht von den besten Köpfen Europas, aber das Christentum hat überlebt.« (W 8 434)
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE III: DAS DUELL bezieht sich auf die Ereignisse des 17.
Juni 1953. Im Namen des Streikkomitees von seinem Stellvertreter aufgefordert seinen Posten
zu räumen, wartet der Leiter des »VEB OKTOBER oder FORTSCHRITT« (W 5 215) auf das
Eintreffen der sowjetischen Panzer. Die Folie des Stücks bildet Anna Seghers’ gleichnamige
Erzählung. Der Kommunist Bötcher setzt dort im Zuge der Bildungsreform seinen Schützling,
den Arbeiter Helwig, an der Arbeiter- und Bauernfakultät gegen den Widerstand des
Professors Winkelfried durch, der ihn während der NS-Diktatur durch seine Unterschrift ins
KZ gebracht hatte: »Im Hörsaal Dresden Neunzehnvierunddreißig / Draußen marschierte die
SA Wir hockten / Über den Formeln Dann die Unterschrift / Man hielt uns das Papier unter
die Nase / JUDEN UND KOMMUNISTEN AUS DEM HÖRSAAL / Wer schreibt der bleibt /
Du hast die Mathematik / Gewählt Mein Studium war das Zuchthaus und / Das Einmaleins
des Überlebens meine / Mathematik zwanzig Semester lang.« (W 5 217) Bötcher hat jedoch
nicht nur gegen die intellektuelle Impertinenz des Professors zu kämpfen, sondern ebenso
schwer gegen die Resignation Helwigs, der Winkelfrieds Vorurteil (»Es ist genetisch / Der
eine hat es und der andre nicht« 866 ) verinnerlicht hat und also Zeugnis davon ablegt, welch
tiefe Spur die Jahrhunderte lange Unterdrückung in den Menschen hinterlassen hat. Mit der
bestandenen Prüfung des Arbeiters Helwig erbringt Bötcher den Beweis gegen Winkelfrieds
in bürgerlichen Ressentiments verhaftete Behauptung einer Zwei-Klassen-Bildung und
verschafft sich dadurch verspätet Genugtuung für die Jahre im Lager. »Es war wie ein Duell
mein Feind sein Prüfer / Der mir durch seine Unterschrift voraus war / Zwanzig Semester
Mathematik / Und meine Waffe er dem sie nicht in den Kopf ging.« Anders als bei Seghers,
wo Helwig am Schluss der Erzählung seinem toten Mentor eine Referenz erweist, reicht der
Stellvertreter seinem Chef im dritten Teil der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE als
Abgeordneter des Streikkomitees wie Nero dem Seneca den Schierlingsbecher in Form des
demontierten Türschilds mit der Aufschrift »DIREKTOR« (W 5 215). In der
Auseinandersetzung zwischen dem Leiter und seinem revoltierenden Ziehsohn kündigt sich
auch der politische Generationenkonflikt zwischen den Nutznießern des Systems und seinen
Erbauern an, die ihre Handlungen durch die während der NS-Zeit ertragenen Demütigungen
legitimiert sehen. 1989 führt dieser Konflikt zum Zusammenbruch der politischen Ordnung:
»Der Riss zwischen den Generationen in der Führungsschicht war die Initialzündung für die
Implosion des Systems.« (KOS 351) In DAS DUELL wird der avisierte Machtwechsel indes
nicht vollzogen. Sekundiert vom Kettenrasseln der heranrückenden sowjetischen Panzer setzt
der Stellvertreter seine Unterschrift unter die ungesäumt verfasste Selbstkritik: »Wer schreibt
der bleibt« (W 5 220). Die Unterschrift zitiert diejenige des Professors, die den Direktor ins
KZ gebracht hatte. Das Déjà-vus lässt den Widerruf des Stellvertreters im Lichte des Verrats
unter der NS-Herrschaft erscheinen. Die Panzer des Großen Bruders wiederholen den
866
W 5 216. In der Erzählung DAS DUELL von Anna Seghers äußert Winkelfried gegenüber Bötcher: »Unsre
Prüfung bringt eine natürliche Auswahl. Da wird sich herausstellen, wer das Recht auf die Hochschule hat,
wer nicht. So ist das.« (Anna Seghers: Das Duell. In: Das Schilfrohr. Erzählungen 1957–1965. Berlin 1994.
248–280, hier 264)
396
Gewaltakt durch die Nationalsozialisten. »Und als ich seinen Rücken sah / Gekrümmt auf das
Papier auf meinem Schreibtisch / […] Sehnte ich mich zurück in meine Zelle / Im Zuchthaus
Brandenburg zum erstenmal / Einen Herzschlag lang« (ebd.). Dass dieser Herzschlag auch im
Sinne eines Infarkts zu verstehen ist, der die Zerrissenheit des deutschen Kommunismus
angesichts der gegen die Arbeiter auffahrenden Sowjetpanzer am 17. Juni kennzeichnet, wird
in der Metaphorik deutlich, mit der die Panzer begrüßt werden: »Wir werden wieder an die
Brust genommen / Die Amme ist schon unterwegs Sie fährt / T Vierunddreißig« (W 5 219).
Im Bild der Amme wird die politische Unmündigkeit der deutschen Kommunisten ins
Groteske verzerrt. Die Gewaltstruktur des stalinschen Patriarchats kehrt in den Tanks als
nährende Mutter wieder und verhindert damit, wie es eingangs heißt, »vielleicht das erste Jahr
/ Vom letzten Krieg Wenn uns die Panzer nicht / Zum zweitenmal wieder geboren hätten« (W
5 215). So erfüllen die »Russenpanzer« gleichzeitig die Funktionen eines Garanten des
atomaren Gleichgewichts als auch diejenige des »Geburtshelfer[s] der deutschen Republik«
(W 5 219): »Hab ich gesagt Stalin ist tot Heil Stalin / Da kommt er das Gespenst im
Panzerturm / Unter den Ketten fault die Rote Rosa / Breit wie Berlin Wir sind die
Totengräber.« (W 5 220) Im Angesicht der Niederwerfung des Aufstandes erkennt der
Kommunist seine Rolle – tragische Ironie der Geschichte – in der des Totengräbers der
kommunistischen Utopie. Das von ihm geleitete Unternehmen »VEB OKTOBER oder
FORTSCHRITT« ist in der Panzerung des Status quo erstarrt. Die Arbeit am Fortschritt bleibt
hohle Phrase: Sie besteht – und darin gleicht sie strukturell der Lohnarbeit im Kapitalismus –
ausschließlich in der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft. Müller kennzeichnet diese
Tatsache durch die Verfremdung der Präposition. Mit dem abgeschraubten Türschild und der
Selbstkritik des Stellvertreters in der Tasche kehrt der Direktor zur Tagesordnung zurück:
»Dann gingen wir zurück in unsre Arbeit.« (ebd.) Ursachen und Folgen der politischen
Ereignisse, die den Anstoß zu einer produktiven Auseinandersetzung hätten bilden können,
werden damit von vornherein komplett ausgeblendet. Dieser Tatsache wird durch die Tilgung
des Tages im Kalenders Rechnung getragen, auf die der Stückanfang rekurriert: »Das war im
Juni in dem schwarzen Monat / Im fünften Jahr der Republik Den wir / Gestrichen haben aus
unserm Kalender« (W 5 215) Dass Müller diesen Tag ins Zentrum seiner Stückfolge stellt, ist
ein deutlicher Hinweis auf den Stellenwert, den Müller weniger dem Ereignis selbst als
vielmehr der versäumten Auseinandersetzung darüber beimisst. Das Schweigen über die
Fehler erweist sich als die Erbkrankheit des Systems, denn es tradiert die Fehler der
vorangegangenen Epochen. Angesichts eines solchen zyklischen Geschichtsverlaufs macht
der Begriff »Fortschritt« keinen Sinn. Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 aus der
Perspektive von 1986 erscheint in der Tat eher dem Charakter eines Requiems zu
entsprechen, als der Entzündung eines fruchtbaren politischen Diskurses zu dienen.
Entsprechend formuliert Müller in KRIEG OHNE SCHLACHT: »WOLOKOLAMSKER
CHAUSSEE III bis V sind meine letzten drei Szenen zur DDR. Das Schreiben ging sehr
schnell, es wurde leichter, je mehr die DDR an Gewicht verlor, an Legitimation.« (KOS 349)
Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, dass Müller die Problematik nicht an den politischen
Verwerfungen der fünfziger Jahre, insbesondere Stalins Tod im März 1953 exemplifiziert,
sondern an das Paradigma der nationalsozialistischen Herrschaft knüpft und damit als Folge
des Zweiten Weltkriegs kenntlich macht. In einer handschriftlich ins Manuskript seiner
Autobiografie eingefügten Passage (s. a. SUSCHKE 507a) beschreibt Müller, dass die in den
Konzentrationslagern der Nazis sozialisierten Kommunisten der DDR-Führung nicht nur im
tragischen Sinne als »Totengräber« der von ihnen repräsentierten Idee zu sehen sind, sondern
397
selber als Puppenspieler in einem grotesken Totentanz mitwirken: »Die DDR bezog ihre
Legitimation zunehmend nur noch aus den Toten, Heinar Kipphardt beschrieb mir nach dem
Begräbnis von Ernst Busch den Tenor der Grabreden: Jetzt ist er unser, jetzt gehört er uns.«
(KOS 349) Der »Griff des Staates nach den Toten« (WT 106) erfährt in der Verteidigung des
»antifaschistischen Schutzwalls«, wie die innerdeutsche Grenze im offiziellen Jargon der
SED-Ideologie bezeichnet wurde, eine Wendung ins Ungeheuerliche. Die völlige
Sinnentleerung der kommunistischen Idee komme demzufolge in der Verfügung des
Staatsapparates über die tot(geschwiegen)en Maueropfer zum Ausdruck. »Der Beweis für die
Existenz der DDR, seit der Ablehnung von Stalins Tauschangebot: ›Deutschland gegen
Neutralität‹ durch Adenauer beziehungsweise die USA nur noch militärisches Glacis der
Sowjetunion, war zuletzt nur noch die Grenze, die Toten an der Mauer, dem Mausoleum nicht
nur des deutschen Sozialismus, ihre letzte perverse Legitimation als Staat.« (ebd.) Die DDR
ein Reich des Todes, die deutsch-deutsche Grenze eine Zeitmauer, die die Toten staut. Als
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE III 1987 in »Theater der Zeit« abgedruckt und kurz
darauf in am Hans-Otto-Theater in Potsdam (in KRIEG OHNE SCHLACHT ist vom dritten
Stock der Volksbühne die Rede) uraufgeführt wird, weiß Müller, dass auch des Staates letztes
Stündlein bald geschlagen haben wird: »Das Manuskript hätte sogar bei Honecker auf dem
Tisch gelegen, niemand wollte mehr entscheiden. Das war Ende 1987, und da wusste ich: Es
ist zu Ende. Wenn sie nicht mehr verbieten können, ist es aus.« (KOS 349f.)
Zum vierten Teil von WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE findet sich in KRIEG OHNE
SCHLACHT lediglich eine Aussage zur strukturellen Beschaffenheit des Textes: »Dass in
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE die Farce (KENTAUREN) vor der Tragödie (DER
FINDLING) steht, konnte ich 1987 nicht begründen. Heute scheint es mir die Norm. Im
Drama seit Shakespeare steckte die Farce im Bauch der Tragödie, mit dem Bankrott der
sozialistischen Alternative geht die Ära Shakespeares zu Ende, und im Bauch der Farce lauern
die Tragödien.« (KOS 344) Die Aussage bezieht sich auf einen Satz in den Anmerkungen zu
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE V. Dort heißt es: »Das Satyrspiel KENTAUREN
beschreibt die Tragödie als Farce.« (W 5 247) Allerdings versucht die Darstellung der
Autobiografie eine geschichtsphilosophische Konkretisierung der in den Anmerkungen
vorgenommenen formal-ästhetischen Gattungszuschreibungen. Waren die komischen
Brechungen in Shakespeares Tragödien und in deren Nachfolge für gewöhnlich als
Spiegelungen der tragischen Konflikte ins Burleske angelegt, sieht Müller mit dem Untergang
des Ostblocks und der daran geknüpften Preisgabe einer konkreten Arbeit an der
gesellschaftlichen Emanzipation des Menschen die Tragödie im Spiegel der Farce aufblitzen.
Wie die Tragödien des Euripides auf die Auflösung der Demokratie in der attischen Polis mit
dem Einbruch der Komödie reagieren 867 , zeigt Müllers Satyrspiel den ins Groteske entstellten
tragischen Konflikt (»Farce in Kostümen of tragedy«, W 5 339) angesichts der Aushöhlung
des Machtanspruchs einer in der eigenen Ideologie befangenen »Arbeiterklasse«. Das Stück
setzt ein mit einem spiegelbildlichen Zitat Franz Kafkas Erzählung DIE VERWANDLUNG,
auf die Müller im Untertitel des Stückes explizit verweist: »Ein Greuelmärchen aus dem
867
Die Vermischung tragischer und komischer Handlungselemente in der Tragödie wird als ›palintonos
harmonia‹ bezeichnet, als spannungsreiche »gegenstrebige Harmonie« (Seidensticker 1982, 11) oder
»entgegengesetzte Spannung« (Zimmermann 1986, 26). Seidensticker bezeichnet die ›palintonos harmonia‹
auch als »spannungsreiche Identität und wechselseitige Steigerung von Komik und Tragik«, als »Kontraste,
die sich gegenseitig Steigern« (Seidensticker 1982, 244f.).
398
Sächsischen des Gregor Samsa« (W 5 229). Während sich die topografisch präzisierte
Genrebezeichnung nicht auf den ersten Blick erschließt, liegt der Kafka-Bezug klar auf der
Hand. Kafkas Protagonist erwacht nach einer ruhelosen Nacht aus dem Schlaf, um
festzustellen, dass er eine grauenhafte Metamorphose durchgemacht hat: »Als Gregor Samsa
eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem
ungeheueren Ungeziefer verwandelt.« 868 In Müllers Stück erwacht ein Oberst der
Staatssicherheit in einen Traum hinein, der ebenso ausweglos erscheint: »Ich hatte einen
Traum Es war ein Alptraum / Ich wachte auf und alles war in Ordnung.« (W 5 231) Die
Utopie des Apparates, der den Menschen auf die Parameter »Ordnung«/»Sicherheit« und
»Bewusstsein« reduziert, wird zum Horrorszenario. »Kein Vorfall keine Ordnungswidrigkeit /
Und kein Verbrechen Unsre Menschen sind / Wie sie im Buch und in der Zeitung stehn.«
(ebd.) Der Dialektik des Apparates zufolge stellt jedoch die generelle menschliche
Unzulänglichkeit die einzige Daseinsberechtigung der Staatssicherheit dar, ihr »täglich Brot«
(W 5 232). »die Mutter / Der Ordnung ist die Ordnungswidrigkeit / Der Vater der
Staatssicherheit ist der Staatsfeind / Und wenn das Licht in allen Köpfen brennt / Bleiben wir
sitzen auf unserm Bewusstsein.« (W 5 231) Diese »dia / Lektische Einheit« (W 5 231f.) ist
die tragische Crux eines Systems, das sich die Verbesserung des Menschen und also die
Abschaffung seiner Fehler auf die Fahnen geschrieben hat. Zugleich spiegelt sich in dem
Konflikt der Anspruch eines Schreibens, das potenziell an der eigenen Überwindung arbeitet.
Was der Oberst über den Staat sagt, kann als Selbstkommentar Müllers zum eigenen Schaffen
gelesen werden, denn der Untergang des Staates (und nicht – wie im Stück – seine
Vollendung) stürzt den Autor in eine existenzielle Schaffenskrise, die im writer’s block (s. a.
W 1 257–263) an ihrer eigenen Überwindung hart arbeiten muss. In Anlehnung an Carl
Schmitts BEGRIFF DES POLITISCHEN 869 , Bertolt Brechts FATZER, KOMM 870 und
Shakespeares RICHARD III. 871 formuliert der verzweifelte Funktionär: »Der Staat ist eine
Mühle die muss mahlen / Der Staat braucht Feinde wie die Mühle Korn braucht / Der Staat
der keinen Feind hat ist kein Staat mehr Ein Königreich für einen Staatsfeind Wer / Wenn
alles hier in Ordnung ist braucht uns« (W 5 232). Infolge dieser Einsicht schickt der Beamte
jenen Untergebenen, der ihn von dem katastrophalen Eintreten des Idealfalls in Kenntnis
gesetzt hatte, zur Bewährung in die (Fehler-)Produktion. Um die Unordnung wieder
herzustellen, opfert er ihn an der »Front der Dialektik« (W 5 234). Die vermeintliche Lösung
des Widerspruchs führt indes umso tiefer ins Herz der Finsternis einer derart radikal
betriebenen Dialektik der Aufklärung. Sie gipfelt in der eigentlichen Metamorphose, der
Geburt des modernen Kentauren aus dem Geiste der Identifikation des Funktionärs mit der
Funktion: »Und als ich aufstehn wollte […] / Durchzuckte mich ein Schmerz wie eine
Schweißnaht / Ich war mit meinem Schreibtisch fest verwachsen / Und fest mit mir
verwachsen war mein Schreibtisch« (ebd.) Das wieder hergestellte dialektische Gleichgewicht
beschert dem Apparat jedoch keinen reinen Tisch, sondern den leeren. Was bleibt sind die
868
Kafka-GW 5, 57
869
»Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich also theoretisch und praktisch an der Fähigkeit,
Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in
denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird.« (Schmitt 1987, 67)
870
»Lass dir die Ordnung gefallen, Ordner. / Der Staat braucht dich nicht mehr / Gib ihn heraus.« (Brecht-BFA
10, 513)
871
»A horse! a horse! my kingdom for a horse!« (William Shakespeare: Richard III. In: The illustrated
Stratford Shakespeare. London 1982, 583)
399
Sterilisatoren der Dienstvorschrift: »Kein Alkohol im Dienst Rauchen verboten / Besondre
Vorkommnisse keine Ordnung / und Sauberkeit Und Sicherheit Und Sau / Bedienung Eine
Akte zum Verzehr / Und einen Schreibtisch zur Reproduktion / Berkeit und Sicherheit und
Sau Was knackt / In unserm Holz He Ist der Wurm drin Hilfe« (W 5 236) Der mit Ideologie
nicht beizukommenden Kreatur, die das Stottern im Text auslöst, wird allein die Kraft
beigemessen, den Leerlauf des hygienischen Zirkels klinischer Ideologieproduktion zu
sprengen. Oder verkörpert der Wurm nur die augenfällige Wiederkehr des Verdrängten im
Zentrum der Verdrängung an der Schweißnaht zwischen Funktionär und Funktion?
Wurde die Abwesenheit der Panzer im vierten Teil der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE
durch die Panzerung des Funktionsträgers mit seinem Schreibtisch, den Dienstvorschriften,
und einer ihrer Substanz beraubten Dialektik kompensiert, kehren sie in DER FINDLING,
dem letzten Text der Stückfolge, auf breiter Front wieder, um den letzten Versuch eines
reformierten Sozialismus – den »Prager Frühling« als Einlösung des roten Oktobers von 1917
– niederzuwalzen. Der Adoptivsohn eines kommunistischen Funktionsträgers, der im KZ der
Fähigkeit beraubt wurde, legitimen Nachwuchs zu zeugen (»Ich kam aus dem Lager /
Zerprügelt mein Geschlecht Kein Kind mehr Du / Warst meine Zukunft«, W 5 241),
solidarisiert sich 1968 mit den Aufständischen und wird dafür von seinem Adoptivvater der
Staatssicherheit übergeben. Verteidigt der Vater die Panzer des sozialistischen Bruderblocks
als einzige Garanten der Aufrechterhaltung der kommunistischen Idee als Bollwerk gegen den
Ansturm der kapitalistischen Warenwelt – »Uns alle hätten sie schon aufgehängt / Wenn wir
die Panzer nicht im Rücken hätten« (W 5 241f.) – vermag der Ziehsohn darin lediglich die
Pervertierung einer Idee zu erkennen: »Mit Panzerketten auf den Leib geschrieben / Habt ihr
sie UNSERN MENSCHEN eure Sache« (W 5 241). Die Spur der Panzer verläuft mitten
durch das familiäre Wohnzimmer. Dem Krieg des Vaters gegen die Revolten des Sohnes
(»lange Haare Jeans und Jatz«, ebd.) und dessen Trauer um einen auf der Flucht in den
Westen erschossenen Freund (»Gefallen an der Mauer Stalins Denkmal / Für Rosa
Luxemburg«, W 5 243) steht der Krebs der Stiefmutter (»Ihr Krebs du kannst Genosse zu ihm
sagen«, W 5 242) und der versuchte Suizid des Ziehvaters im Jahr des Mauerbaus, dem auf
einer Parteiversammlung politisch das Genick gebrochen wurde, gegenüber. Angesichts der
Preisgabe seines kommunistischen Ideals greift er zur Dienstwaffe. Doch der Sohn zwingt den
Vater, den selbst geschaffenen Widerspruch auszuhalten: »Und dein Augenblick / Der
Wahrheit IM SPIEGEL DAS FEINDBILD war / Dein letzter Augenblick Der Maskenball /
Der toten Avantgarde dein letzter Film« (W 5 245). Doch im Gegensatz zu den ersten drei
Teilen der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE intendiert der Erinnerungsdiskurs in
FINDLING das Vergessen – allein neunmal wird die rituelle Textzeile VERGESSEN UND
VERGESSEN UND VERGESSEN repetiert, die den zweiten Teil des Textes strukturiert. Die
permanente Wiederholung kennzeichnet das selbst auferlegte Vergessen-Müssen, das ein
Nicht-Vergessen-Können impliziert. In diesem Spannungsfeld werden die Traumata des
Kommunismus transportiert, die vergeblichen und/oder fragwürdigen Versuche seiner
Ansiedlung im Reich der Empirie. Das Gespenst des Kommunismus geht jedoch nur dort
noch um, wo es die offiziellen Verwalter der Idee mit Stumpf und Stiel auszurotten
gedachten: »Die Geisterstädte / VERGESSEN Kronstadt Budapest und Prag / Wo das
Gespenst des Kommunismus umgeht / Klopfzeichen in der Kanalisation / VERGESSEN
UND VERGESSEN UND VERGESSEN / Begraben immer wieder von der Scheiße / Und
aus der Scheiße steht es wieder auf / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN
400
/ Dreht seine Runden und geht seinen Gang« (W 5 243). Am Ende des Textes steht der
inkommensurable Fluch des Vaters gegen seinen Adoptivsohn, entlehnt bei Kleist, bei dem
der Ziehvater seinem Sohn den Schädel eindrückt und noch im letzten Winkel der Hölle mit
seiner Rache zu überziehen gedenkt 872 . Bei Müller ist es der Sohn, der den Fluch des Vaters
tradiert, als er sich im Moment größter Verzweiflung selbst zur Flucht über die Mauer und
also für den Tod im Kugelhagel der Grenzsoldaten entscheidet. Die Gewaltutopie bleibt
Fantasie eines im vermeintlichen Heldentod nach einem letzten Ausweg und Sinn für seine
Narben suchenden Sohnes, denn die Denunziation des Vaters durchkreuzt die Pläne des
Sohnes: »Das letzte was ich hörte war sein Weinen / Und seine Stimme die dagegen anschrie /
Erschießen solln sie dich du Nazibastard / Erschießen solln sie dich wie einen Hund / Und das
Geläut des Telefons als er / Den Hörer aufnahm und wählte die Nummer« (W 5 246). Die
Wunden, mit denen der Sohn im Stasiknast die »Gefängnisordnung außer Kraft« (W 5 239)
zu setzen sucht, aktualisieren seinen Schmerz. Nach seiner Rehabilitierung wird er vom
»Klassenfeind« befreit: »Mein zweiter Umzug war mit Brief und Siegel / Mit willst du
wirklich Weißt du was du tust / Hier hast du Wohnung Arbeit Sicherheit / Dort gilt der
Mensch nichts nur das Kapital / Mit meinen Wunden die aufplatzen wieder / Und wieder
wenn sie nur mit Fingern zeigen / Auf meine Narben Jetzt in Westberlin« (W 5 239) Als
Subjekt der Rede des Erinnerungsdiskurses weilt der Adoptivsohn – so lange die Mauer steht
– unerreichbar für den väterlichen Fluch im Reich der Untoten in der »Halbstadt der alten und
neuen Witwen« (W 5 239). Dort ist er allein mit dem Phantomschmerz seiner Wunden und
dem Heimweh, das »ein Brechreiz« und »ein Blutsturz« ist (W 5 240).
Als Müller den Text 1988 am Deutschen Theater liest, ist seine Stimme brüchig. Es ist nicht
nur sein »Abschied von der DDR«, sondern in erster Linie die späte Verweigerung der
Identifikation mit einem System, das schon längst nur noch in der Pervertierung der ihm zu
Grunde liegenden Idee sozialer Gerechtigkeit existierte. Obwohl die drei letzten Teile der
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE trotz ihrer politischen Brisanz die Zensurbehörden mit
geradezu sensationeller Leichtigkeit passieren, bleibt der bis zuletzt schwer einschätzbaren
872
» In dem Kirchenstaat herrscht ein Gesetz, nach welchem kein Verbrecher zum Tode geführt werden kann,
bevor er die Absolution empfangen. Piachi, als ihm der Stab gebrochen war, verweigerte sich hartnäckig der
Absolution. Nachdem man vergebens alles, was die Religion an die Hand gab, versucht hatte, ihm die
Strafwürdigkeit seiner Handlung fühlbar zu machen, hoffte man, ihn durch den Anblick des Todes, der
seiner wartete, in das Gefühl der Reue hineinzuschrecken und führte ihn nach dem Galgen hinaus. Hier
stand ein Priester und schilderte ihm, mit der Lunge der letzten Posaune, alle Schrecknisse der Hölle, in die
seine Seele hinabzufahren im Begriff war; dort ein anderer, den Leib des Herrn, das heilige
Entsühnungsmittel in der Hand, und pries ihm die Wohnungen des ewigen Friedens. - ›Willst du der
Wohltat der Erlösung teilhaftig werden?‹ fragten ihn beide. ›Willst du das Abendmahl empfangen?‹ – Nein,
antwortete Piachi. – ›Warum nicht?‹ – Ich will nicht selig sein. Ich will in den untersten Grund der Hölle
hinabfahren. Ich will den Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wiederfinden, und meine Rache, die ich
hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder aufnehmen! - Und damit bestieg er die Leiter und forderte
den Nachrichter auf, sein Amt zu tun. Kurz, man sah sich genötigt, mit der Hinrichtung einzuhalten, und den
Unglücklichen, den das Gesetz in Schutz nahm, wieder in das Gefängnis zurückzuführen. Drei
hintereinander folgende Tage machte man dieselben Versuche und immer mit demselben Erfolg. Als er am
dritten Tage wieder, ohne an den Galgen geknüpft zu werden, die Leiter herabsteigen musste: hob er, mit
einer grimmigen Gebärde, die Hände empor, das unmenschliche Gesetz verfluchend, das ihn nicht zur Hölle
fahren lassen wolle. Er rief die ganze Schar der Teufel herbei, ihn zu holen, verschwor sich, sein einziger
Wunsch sei, gerichtet und verdammt zu werden, und versicherte, er würde noch dem ersten, besten Priester
an den Hals kommen, um des Nicolo in der Hölle wieder habhaft zu werden! – Als man dem Papst dies
meldete, befahl er, ihn ohne Absolution hinzurichten; kein Priester begleitete ihn, man knüpfte ihn, ganz in
der Stille, auf dem Platz del popolo auf.« ( Kleist-WuB 3, 236f.)
401
Staatsmacht und ihrem gerade in der Hauptstadt massiv präsenten Polizeiapparat gegenüber
rituelle Vorsicht geboten: »In dieser Spannung habe ich den fünften Teil von
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE im Deutschen Theater auf einer Sonntagsmatinee nach
der LOHNDRÜCKER-Premiere vorgelesen. Vorher musste ich den Intendanten darüber
informieren, weil der Text noch für gefährlich galt. Dieter Mann war einverstanden. Es war
eine atemlose Stille im überfüllten Zuschauerraum. Die Leute hielten noch im Januar 1988
nicht für möglich, dass so etwas laut gelesen wird. Auch ich hatte Schwierigkeiten, das zu
lesen, ohne dass die Stimme zitterte, weil mir der Abschied von der DDR nicht leicht fiel.
Plötzlich fehlt ein Gegner, fehlt die Macht, und im Vakuum wird man sich selbst zum
Gegner.« (KOS 351) Die strukturelle Übereinstimmung der Situation des Autors mit
derjenigen des alten Kommunisten im Stück, der im Spiegel auf sein eigentliches Feindbild
stößt, ist kein Zufall. Wiederholt betont Müller im Umfeld seiner Autobiografie, dass der
Erfahrungsdruck unter der Diktatur Bedingung seines Schreibens gewesen sei – eine
poetologische Konstruktion, die durchaus ernst genommen werden muss. Es folgt einer
inneren Logik, dass Müller den Zusammenbruch der DDR mit dem Infragestellen einer
bestimmten Form künstlerischen Selbstverständnisses verknüpft. Zugleich liegt darin die
Voraussetzung dafür, neue Wege beschreiten zu können. Die wiederholt betonte »Trennung
der Kommunisten von der Macht« (GI 3 56, 58 u. 73f; LN 10) gilt im übertragenen Sinne
auch für den Anspruch an das eigene Schreiben. Spätestens im Umfeld von MOMMSENS
BLOCK – und also KRIEG OHNE SCHLACHT – wird Müller frei für einen anderen Blick
auf Geschichte, Gesellschaft, Kunst und die eigene Arbeit. Dass das »Telos« dabei zusehends
aus dem Blickfeld herausfällt, mag den späten Texten kaum zum Nachteil gereichen. In einer
gestrichenen Passage im Manuskript der Autobiografie wird als Materialgrundlage für das
Stück auf die Verhaftung Thomas Braschs hingewiesen. Der Sohn jüdischer Exilanten, dessen
Vater Horst Brasch in der DDR zeitweilig die Position des stellvertretenden Kulturministers
inne hatte, wurde wegen des Verteilens von Flugblättern im Zusammenhang mit dem
Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR 1968 verhaftet und zu zwei Jahren und
drei Monaten Haft verurteilt. 1969 wurde Brasch auf Bewährung freigelassen und verließ
nach neuerlichen Konflikten mit der Staatsgewalt im Gefolge Wolf Biermanns die DDR. Im
Manuskript betont Müller »die preußische Struktur, die da plötzlich wieder hochkam in der
DDR. Hinter WOLOKOLAMSKER [CHAUSSEE] V steckt die Geschichte von Thomas
Brasch mit seinem Vater. Sein Vater hatte selbst seine Genossen angerufen, hatte seinen Sohn
verhaften lassen. Sein Vater hatte auch bei Honecker darauf bestanden, dass Thomas die Zeit
absitzt. Honecker hatte angeboten, er könne früher raus, doch der preußische Vater sagte:
›Nein, der soll das absitzen.‹« (SUSCHKE 509)
In die unmittelbare Vorwendezeit fällt Müllers Inszenierung seines Stückes
LOHNDRÜCKER am Deutschen Theater in Berlin 1988. Wie für die Struktur des letzten in
der DDR entstandenen Stückkomplexes WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, reklamiert
Müller für seine erste eigene Inszenierung am Hoftheater der DDR-Führung eine unmittelbare
politische Motivation: »In der Politik ist Raffinement Betrug und Ironie verboten. […]
Lohndrücker musste einfach sein, weil es um Politik ging, um Geschichte, um die Geschichte
der DDR, die vor dem Ende war und den kalten Blick brauchte, der die Dinge einfach macht.
Die Inszenierung von LOHNDRÜCKEr ist aus dem Rückblick auf die gescheiterte DDR
gemacht …« (KOS 343f.) Um so erstaunlicher erscheint es von daher, dass die Arbeit ohne
Intervention der zuständigen Behörden im Zentralkomitee oder in der Bezirksleitung über die
402
Bühne geht. Im Bühnenbild Erich Wonders, das einem düsteren Bunker gleicht, verweigert
die Inszenierung jeglichen Bezug zum Milieu. Bewusst lehnt Müller eine historisierende
Synthese von Stoff- (1948/49), Entstehungs- (1956) und Rezeptionsebene (1988) ab. Die
Struktur der Aufführung erschließt sich vielmehr über eine archäologische Sichtweise. Eine
Filmsequenz, die in Anlehnung an ein Goya-Bild zwei Männer zeigt, die hüfthoch im Wasser
stehend auf einen dritten einschlagen, eröffnet die Inszenierung. Der anschließenden ersten
Lohndrückerszene folgt eine Grand-Guignol-Version von HORATIER. Damit erscheint der
»Lohndrücker« Balke von Beginn an in einem ambivalenten Licht, das den Täter vom Opfer
und schließlich vom Helden der Arbeit nicht zu trennen erlaubt. In den Nazifabriken
funktionierte der politisch indifferente Balke ebenso reibungslos wie beim Aufbau des
Sozialismus. Im Zentrum der Aufführung steht der Ringofen selbst, der mehreren
semantischen Metamorphosen unterzogen wird. Mal ist er Schmelztiegel der neuen
Gesellschaft und Schmiede des Neuen Menschen, mal glühender Panzerdeckel und Symbol
für das sinnlose Verheizen menschlicher Kreativität und Arbeitskraft. Die Ofendeckel
erscheinen als die roten Augen eine Ungeheuers oder geben den Blick frei auf die Glut des
Ätna, in die sich Empedokles stürzt (Müller verwendet in seiner Inszenierung Hölderlins
Text). Evident ist die Lesart, die sich Müller aus der Perspektive des untergehenden Staates
bietet: »LOHNDRÜCKER ist die Diagnose eines Krankheitsbildes. Der Text wusste mehr als
der Autor. Dass die Krankheit ein Geburtsfehler war, eine Erbkrankheit vielleicht, war die
Entdeckung der Inszenierung.« (KOS 352)
Knapp zwei Jahre später Inszeniert Müller am gleichen Theater Shakespeares HAMLET,
erweitert um seinen eigenen Schrumpfkopf des Stückes, DIE HAMLETMASCHINE. Wird
die Rolle Hamlets in der in endlose Stagnation aufgelösten Stückhandlung von derjenigen des
desillusionierten Hamletdarstellers komplett antizipiert, bleibt die Rolle des Fortinbras
unbesetzt. Der Messias bleibt aus. Veränderung kommt bloß noch als Klimawandel vor. Die
Geschichte hat sich zugunsten einer Natur-Zeit oder Welt-Zeit verabschiedet. Die Kategorie
der Zeit hat sich, so scheint es, menschlichen Begriffen überhaupt entzogen, oder besser: der
Mensch hat sich aus der Zeit verabschiedet. Wieder und wieder kreuzt die tote Ophelia die
Szene. Der Stillstand nagelt die Zuschauer acht Stunden lang in den Stuhlreihen fest. Am
Ende hält die tote Ophelia den toten Hamlet im Arm – eine Pieta. Vom Band läuft ihr
wildharrendes Manifest, das die HAMLETMASCHINE beschließt. Mit Zbigniew Herberts
Gedicht FORTINBRAS’ KLAGE endet die Inszenierung. »Die Proben zu
HAMLET/MASCHINE fielen in die Zeit vor, während und nach der sogenannten Wende.
Das wirkte sich natürlich auf die Arbeit aus. Die Schauspieler waren politisch sehr umtriebig,
auch außerhalb des Theaters, und ich hatte keine Antwort auf die Frage: Wer ist Fortinbras?
Die blonde Lichtgestalt aus dem Norden wie in der Gründgens-Inszenierung, über die ich das
im ›Reich‹ gelesen hatte, konnte es nicht sein, der Vorläufer des Sozialismus auch nicht mehr,
wie bei Wide in Karl-Marx-Stadt. Ich hatte im Carl-Schmitt-Archiv in Düsseldorf eine Notiz
aus einem Pappkarton mit Hamlet-Material gelesen ›Kafka ist Fortinbras‹. Ich kannte die
These von Carl Schmitt vom ›Einbruch der Zeit in das Spiel‹, der aus dem Rachedrama eine
Tragödie gemacht hat. Wobei die Zeit die Funktion des Mythos übernimmt, der die
Bedingung der Tragödie ist. Während Shakespeare HAMLET schrieb, war die Dynastie der
Tudors von der Dynastie der Stuarts abgelöst worden, Elisabeth von Jakob, dem Sohn der
Maria Stuart, von der das Gerücht ging, dass sie den Mörder ihres Mannes geheiratet hätte. So
entstand, wie Malraux über Faulkners FREISTATT geschrieben hat, ›der Einbruch der
403
antiken Tragödie in den Kriminalroman‹. Carl Schmitt: Wenn der zögernde Jakob = Hamlet
sich in Fortinbras verwandelt, entsteht eine mystische Einheit von Drama, Traum und
Geschichte. Auch uns hat die Zeit auf die Sprünge geholfen. Aus Stalins Geist, der in der
ersten Stunde auftrat, wurde in der letzten Stunde der Aufführung die Deutsche Bank.
Inzwischen spielen deutsche Hamlets lieber den Fortinbras.« (KOS 352f.) Die Passage geht
zurück auf ein Gespräch, das Müller 1990 mit Dieter Kranz führte. »Ich hab bis zuletzt die
Rolle des Fortinbras nicht besetzt, weil ich nicht wusste, was damit machen. Dieser Schluss
entstand im Zusammenhang mit den Ereignissen draußen. Im Nachlass von Carl Schmitt hatte
ich einen interessanten Satz gefunden: ›Wenn am Ende des Dramas der unschlüssige Hamlet
= Jakob, also der erste Stuart, sich in Fortinbras verwandelt, dann entsteht eine mythische
Einheit von Traum, Drama und Geschichte.‹ Das fand ich interessant, die Verwandlung von
Hamlet in Fortinbras. Oder folgende dunkle Bemerkung, auch im Nachlass: ›Kafka ist
Fortinbras.‹ Die Verwandlung Hamlets in Fortinbras wird ja schon angedeutet, wenn Hamlet
den Fortinbras-Text spricht. Fortinbras tritt gar nicht auf, er ist nur eine Kunst-Figur aus der
Postmoderne. / Wir sind aufgewachsen mit diesem schönen, heute fast rührenden Satz von
Marx: ›Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.‹ Vor ein paar
Jahren las ich am Hauptgebäude der Deutschen Bank in München eine Art ›Gegenspruch‹ es
war der brutalste Satz, den ich seit langem gelesen hatte: ›Aus Ideen werden Märkte.‹ / Am
Schluss kommt der Mann, der den Geist gespielt hat, in einem Manageranzug mit einer
goldenen Tafel, mit der er Hamlets Gesicht auslöscht. Von Stalins Geist zur Deutschen
Bank.« 873 Müllers Inszenierung reflektiert damit bewusst die eigene Entstehungssituation.
Beschleunigt durch den Berlin-Besuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail
Gorbatschow anlässlich des vierzigsten Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 erfolgt »der
Einbruch der Zeit in das Spiel« um den Dänenprinzen. Der Riss, der in Shakespeares Drama
nicht nur die geschichtlich philosophische Gemengelage aus dem Gleichgewicht bringt,
sondern mitten durch den Protagonisten verläuft, ist in der Gegenwart angekommen und lässt
sich mit Ideologie und Propaganda nicht mehr retuschieren. Seit dem Sommer verlassen
Zehntausende Menschen über Ungarn und die CSSR die DDR. In Leipzig, Berlin und
andernorts erobert die Bevölkerung den öffentlichen Raum. Das Einlenken der Regierung ist
zu einer Frage der Zeit geworden. Für Müller, der den Abschied von der DDR künstlerisch
bereits vollzogen zu haben vorgibt, wird es in zunehmendem Maße problematisch, die
Schauspieler mental von der Straße abzuholen und in den Probeprozess zu integrieren. Viele
von ihnen sind politisch engagiert. So wird auch die große Berliner Demonstration vom 4.
November 1989 maßgeblich von Schauspielern des Deutschen Theaters unterstützt. Sie fällt
Mitten in die Probenarbeit zur HAMLET-Inszenierung (Premiere 29. Januar 1990). Am
gleichen Tag öffnet die CSSR ihre Grenze nach Westdeutschland und bietet so
ausreisewilligen DDR-Bürgern eine relativ bequeme Fluchmöglichkeit. Vier Tage und eine
Nacht später fällt die Berliner Mauer.
Hunderttausende Menschen ziehen am 4. November friedlich durch die Ostberliner
Innenstadt, flankiert von einem dichten Kordon der Volkspolizei. Auch die Staatssicherheit ist
massiv präsent. »Ohne Polizeischutz, beziehungsweise, im Fall der DDR, ohne
Staatssicherheit, ist in Deutschland kein Staat und keine Revolution zu machen.« (KOS 354)
Unter den Rednern auf der abschließenden Kundgebung auf dem Alexanderplatz findet sich
873
zitiert nach Suschke 2003, 142
404
neben Stephan Heym, Christa Wolf und anderen auch Heiner Müller. In seiner Autobiografie
beschreibt er die Szenerie ausführlich: »Ich stand, mit andern Nationalpreisträgern, Vertretern
der Opposition und zwei Funktionären auf der Rednerliste, und als ich hinkam, hatte ich das
ungute Gefühl, dass da ein Theater inszeniert wird, das von der Wirklichkeit schon überholt
ist, bei den Akten, das Theater der Befreiung von einem Staat, der nicht mehr existierte. Ich
wusste nicht, was ich sagen sollte, das nicht wie ein Nachvollzug geklungen hätte. Ich hatte
daran gedacht, den Brecht-Text FATZER, KOMM vorzutragen, mit der Aufforderung an die
Staatsmänner, den Staat herauszugeben, der sie nicht mehr braucht. Ich hatte den Text in der
Tasche, aber vor den 500.000 Demonstranten kam es mir plötzlich albern vor, dem kranken
Löwen einen Tritt zu versetzen, der mir sicher Applaus eingetragen hätte. […] Dann kamen
drei junge Leute mit einem Flugblatt zu mir, das sie verfasst hatten, es war ein Aufruf zur
Gründung unabhängiger Gewerkschaften, und sie fragten mich, ob ich das für sie vorlesen
könnte, weil sie keine Redezeit kriegten. Das Programm wäre so dicht, es gab keinen Platz
mehr für sie. Ich sah keinen Grund, nein zu sagen. Also habe ich das vorgelesen, mit einem
Satz über die Trennung der Intelligenz von der Bevölkerung durch Privilegien. Dieser Aufruf
zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften war eine Polemik gegen den FDGB, der die
Interessen der Arbeiter gegen Staat und Partei nie vertreten hätte, und gab einen Ausblick auf
die zu erwartenden sozialen Kämpfe, die mit Sicherheit auf dem Rücken der Arbeiter
ausgetragen würden. Das klang sicher fremd aus meinem Mund, und es war kein Text für
500.000 Menschen, die glücklich sein wollten, auch nicht für den Block der Staatssicherheit,
aus dem, wie mir Beobachter erzählten, der erste Protest kam. Als ich nach Pfiffen und Buh-
Chören von dem Podest herunterstieg, stand unten ein alter Ordner und sagte zu mir: ›Das war
billig.‹ Auch Stefan Heym hat mir den Text übel genommen. Für ihn war es ein glücklicher
Tag. Die Arbeiter hatten die ökonomische Daumenschraube kommen sehn, er sah die
endliche Heraufkunft eines demokratischen Sozialismus.« (KOS 354f.) Die Problematik
Müllers Redebeitrag besteht in der Weigerung des Dichters, auf die allgemeine Welle der
Euphorie aufzuspringen. Hinzu kommen organisatorische Versäumnisse, Zufälle,
Belanglosigkeiten, denen erst in der nachträglichen Beschreibung Bedeutung beigemessen
wird: Das Versäumnis des Organisators, den Redner vorzustellen etwa, der organisierte
Protest aus dem »Stasi-Block« (SUSCHKE 514) oder einfach nur die wodkabelegte
unprätentiöse Stimme. Das allgemeine Befremden, das Müllers Redetext aus der
enthusiastischen Masse entgegenschlägt, ist verständlich. »Und dann war das, was ich sagte
einfach nicht populär damals, weil die Leute im Vollrausch waren und nur Schönes hören
wollten. Stefan Heym und Christa Wolf, das war schön, und Steffi Spira, das war noch
schöner.« (ebd.) Nur der Schriftsteller Jurek Becker habe mit Müller übereingestimmt: »Er
sagte auch, die anderen polieren die Karosserie oder streichen sie neu, und da ist plötzlich
einer und zeigt den Motor. Das hat ihn gefreut.« (ebd.) Auch Müller selbst weiß diese
Erfahrung ex post positiv zu bewerten. »Man erschrickt erst mal, wenn von 500.000 vielleicht
20.000 ›Buh‹ rufen, aber dann macht es auch plötzlich Spaß, dann wird es wieder Krieg, dann
ist es gut. Und überhaupt, das Kriegerische ist eine Grundfrage in allen gesellschaftlichen
Begegnungen und Verhältnissen […] Und es war für mich völlig klar, dass ich dort als ein
Mensch stehe, der die letzten DDR-Jahrzehnte als Privilegierter erlebt und erfahren hat.« (WT
58) Der vierte Akt der HAMLETMASCHINE hat den Dramatiker eingeholt: »Mein Platz,
wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den
Fronten, darüber.« (W 4 550) Das Projekt, das Müller ein Leben lang interessierte – ein
Gesellschaftssystem, das ausgeht von der realen Möglichkeit einer gesellschaftlich verbürgten
405
Emanzipation des Menschen –, war in seinen Augen bereits seit den sechziger Jahren
nachhaltig diskreditiert. Vierzig Jahre nach der Diagnose des Geburtsfehlers war es, nunmehr
endgültig zu Fall gebracht, auf der WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE zu Grabe getragen
worden. »Mein Drama findet nicht mehr statt.« (W 4 551) Angesichts dieser Erkenntnis bleibt
dem Dichter nicht viel anderes übrig, als »Wortschleim absondernd in [s]einer schalldichten
Sprechblase über der Schlacht« (ebd.) zu schweben oder künftige Konflikte zu antizipieren.
Dass die Massen den Wortschleim plötzlich für bare Münze nehmen, ist einem ungeheuren
Illusionspotenzial geschuldet, dass von den kommenden sozialen Kämpfen nichts hören will.
»Das eigentlich Gespenstische an der Veranstaltung war für mich eigentlich, wie der alte
Stefan Heym sich da freute, dass nun die Revolution kommt und die Freiheit und die
Demokratie und das alles. Das hatte auch was Rührendes, weil er, glaube ich, echt sentimental
war in dem Moment. […] Jetzt machen wir eine bessere DDR mit Demokratie und
Sozialismus und allem, was Spaß macht. So war ja die Rede von Heym – endlich der
demokratische Sozialismus. Während der von mir verlesene Aufruf schon von dem sprach,
was anschließend kommen wird, nämlich die ökonomische Daumenschraube.« (SUSCHKE
517)
Betrachtet man den Text des Flugblattes aus heutiger Perspektive erscheint er ebenso
unspektakulär wie pragmatisch als Gebrauchsanweisung für den sinnvollen Umgang mit einer
Demokratie, die als politische Vollstreckerin eines ökonomischen Gefüges erscheint. Es geht
seinen Autoren darum, die Interessen der kleinen Leute zu artikulieren und zu bündeln. Doch
Ende 1989 löst bereits Müllers Präambel befremden aus: »Ein Ergebnis bisheriger DDR-
Politik ist die Trennung der Künstler von der Bevölkerung durch Privilegien. Wir brauchen
Solidarität statt Privilegien. Ich lese einen Aufruf der ›Initiative für unabhängige
Gewerkschaften‹.« (W 8 359). Müller weiß hohles Pathos durch analytischen Scharfsinn zu
ersetzten und entzieht sich damit kalt dem Bedürfnis der Menge nach emotionalem Futter.
Dabei verfährt er genau so, wie mit anderen literarischen Texten auch. Er (re)zitiert bereits
vorhandene Texte, indem er sie in neue (Kon)Texte einstellt. Dass der Kontext in diesem Fall
mit der Intention der ursprünglichen Autoren in eins fällt, macht vielleicht die eminent
politische Wirkung dieses Textes aus, die sich – aus dem gleichen Grund – in dieser Wirkung
gleichzeitig zu erschöpfen scheint. Dem Vorwurf vierzigjährigen Versagens des ostdeutschen
Gewerkschaftsbundes FDGB folgt der Aufruf zur Gründung ›unabhängiger Gewerkschaften‹.
»Wir dürfen uns nicht mehr organisieren lassen, auch nicht von ›neuen Männern‹ – wir
müssen uns selbst organisieren. Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die
Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen, die Löhne kaum.
Wenn Subventionen wegfallen, trifft es vor allem uns. Der Staat fordert Leistung, bald wird er
mit Entlassung drohn. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen! Wenn der Lebensstandard
für die meisten von uns nicht erheblich sinken soll, brauchen wir eigene
Interessenvertretungen.« (KOS 414) Spätestens mit der Aufnahme in den Materialanhang der
Autobiografie und unter dem Titel 4. NOVEMBER 1989 ALEXANDERPLATZ BERLIN /
DDR in den »Schriften«-Band der Werkausgabe 874 ist dieser stilistisch heikle Text in die
Autorschaft Heiner Müllers überführt und von der einschlägigen Forschung als solcher zu
behandeln, nicht im Sinne seines ›Ursprungs‹ beim Autor, sondern als Material im Dschungel
874
Zuerst in Angela Luberski (Hrsg.): Wir treten aus unseren Rollen heraus. Dokumente des Aufbruchs.
Theaterarbeit in der DDR. Bd. 19. Berlin 1990, 231f.
406
der Zitate, die sein Werk umfasst.
Auf die zahlreichen Anfeindungen infolge der Rede vom 4. November 1989 auf dem
Alexanderplatz in den Medien reagiert Müller mit dem im Dezember des gleichen Jahres
verfassten, streckenweise polemischen Text PLÄDOYER FÜR DEN WIDERSPRUCH 875 ,
der am 14. Dezember 1989 im »Neuen Deutschland« und am 24. Januar des Folgejahres in
der »taz« erscheint. Dem Vorwurf eines Theaterkritikers des »Neuen Deutschland«, als
Volksredner versagt zu haben, entgegnet Müller: »Ich kann ihn beruhigen: das war nie mein
Berufswunsch.« (KOS 415f.) Die eigentliche Qualität seiner Rede hebt er rhetorisch als
»Fehler« (KOS 416) hervor: »Ich hatte den strapazierten Begriff DIALOG so verstanden, dass
er niemanden ausschließen sollte. Als mir am Fuß der improvisierten Tribüne eine Welle von
Hass entgegenschlug, wusste ich, dass ich an Blaubarts verbotene Tür geklopft hatte, die Tür
zu dem Zimmer, in dem er seine Opfer aufbewahrt.« 876 Die Aussage rekurriert auf Müllers
Terminus eines ›universalen Diskurses‹ (s. a. W 8 212) und beruft sich damit auf das Ende der
Repräsentation. Müller verweigert sich den in die kritischen Intellektuellen projizierten
Erwartungen neuer Führerschaft, wie sie etwa Vaclav Havel (Staatspräsident der CSSR,
später der Tschechischen Republik) angenommen hat. Unter Berufung auf die
INTERNATIONALE (»UNS AUS DEM ELEND ZU ERLÖSEN / DAS KÖNNEN WIR
NUR SELBER TUN«, KOS 417) konkretisiert Müller im weiteren Textverlauf seine
Aussage. »Ich bin kein Wortführer einer Bewegung. Entscheidend ist, dass endlich die
Sprachlosen sprechen und die Steine reden. Der Widerstand von Intellektuellen und
Künstlern, die seit Jahrzehnten privilegiert sind, gegen den drohenden Ausverkauf wird wenig
ausrichten, wenn ein Dialog mit der lange schweigenden oder Fremdsprachen redenden
Mehrheit der jahrzehntelang Unterprivilegierten und im Namen des Sozialismus Entrechteten
nicht zustande kommt.« (KOS 419) Im Gespräch mit Alexander Kluge betont Müller in
diesem Zusammenhang, dass die intellektuelle Repräsentanz anachronistisch sei und/oder
eine Anmaßung darstelle: »Vor allem, weil an der ganzen Geschichte wichtig war, an der
ganzen Bewegung, dass die Sprachlosen sprechen, und nicht, dass die Sprecher der Nation
jetzt für die Sprachlosen reden. Das war der große Irrtum der Intellektuellen, die hofften, dass
sie sich wieder zum Sprachrohr machen könnten. Aber das geht nicht mehr. Diese Rolle ist
vorbei.« (WT 55) Und im Interview mit Frank M. Raddatz betont Müller: »Ich war fünfzehn
Jahre Sprachrohr und ich werde mich hüten, jetzt, wo die Leute endlich selbst sprechen,
dazwischenzuquasseln.« (LN 23) Immer wieder kommt Müller im Gespräch auf das
vermeintliche Ende der Repräsentanz zu sprechen (s. a. GI 3 41, GI 3 50, GI 3 52) Die quasi
inkognito gehaltene Rede macht Müller dennoch zum gesichtslosen Sprachrohr für die
Selbstorganisation des Proletariats (wie sie zur gleichen Zeit in etwa auch von den Initiatoren
der Oppositionsgruppe »Demokratie jetzt!« gefordert wird). Dass für die von Ihm
vorgetragenen Forderungen keine Massenbasis besteht, lässt ihn als Sprecher eines
namenlosen Volkes erscheinen, dessen Rede ins Reich der Utopie verweist.
Im PLÄDOYER FÜR DEN WIDERSPRUCH schwingen eine Anzahl anderer Themen mit,
die sich auf den politischen Zusammenbruch des Ostblocks beziehen und Müllers
875
Als Dokument 20 findet sich dieser Text auch im Materialanhang der Autobiografie (s. a. KOS 415–419).
876
KOS 416. In einem Entwurf zu dem Text heißt es noch: »Meine Unlust offne Türen einzurennen, hat mich
vor eine fest verschlossne Tür geführt.« (HMA 4401). Das Blaubart-Motiv kehrt in SELBSTKRITIK 2
ZERBROCHNER SCHLÜSSEL wieder (s. a. W 1 235).
407
essayistisches Schreiben der nächsten Jahre kennzeichnen werden: So die »Kolonisierung der
eigenen Bevölkerung in den osteuropäischen Ländern« (KOS 416), das »Prinzip der
negativen Auslese« (KOS 417), die »Überschussproduktion […] von Staatsfeinden« (ebd.)
oder die Frage, inwiefern es sich bei der politischen »Wende« in der DDR um eine
Revolution handle. Ein Leitgedanke des Plädoyers besteht in der von Müller geäußerten
Befürchtung, »dass die Massen, die aus dem Schatten Stalins mit einem Jahrhundertschritt
herausgetreten sind, im Rausch der Freiheit diese Mauer, die durch die Welt geht, aus den
Augen verlieren.« (KOS 418) An diese Sorge ist die Hoffnung geknüpft, dass »die DDR als
basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie der
BRD« (ebd.) erhalten bleibt, ohne die »Europa eine Filiale der USA sein« (KOS 419) werde.
Bedingung dafür sei »nicht Einheit, sondern die Ausformulierung der vorhandnen
Differenzen, nicht Disziplin, sondern Widerspruch, nicht Schulterschluss, sondern Offenheit
für die Bewegung der Widersprüche nicht nur in unserm Land« (KOS 418). Müller begründet
seine Vorbehalte gegenüber der Demokratie mit der Tatsache, dass Hitler seinen Staatsstreich
im Gegensatz zu Lenin »auf einen Wahlsieg gründen« konnte, »insofern ist auch Auschwitz
ein Resultat von freien Wahlen« (ebd.). Zugleich bezweifle er, dass es in der Bundesrepublik
»unter dem Diktat der Industrie« (ebd.) freie Wahlen je gegeben habe. Zielt Müllers Text auf
den Erhalt der Souveränität eines zweiten deutschen Staates, dürfte er nicht ernsthaft der
Illusion erlegen sein, die Bundesrepublik dulde ein ökonomisch zerrüttetes Territorium als
Laboratorium sozialer Experimente in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Sein Text ist somit
auch ein erstes Statement zu einem wieder zusammenrückenden Deutschland, eine
bedrückend hellsichtige Analyse der Grundlagen einer unvermeidlichen Wiedervereinigung
aus der Perspektive des sinkenden Schiffs DDR. Deshalb fordert er: »Wir sollten keine
Anstrengung und kein Risiko scheun für das Überleben unsrer Utopie von einer Gesellschaft,
die den wirklichen Bedürfnissen ihrer Bevölkerung gerecht wird ohne den weltweit üblichen
Verzicht auf Solidarität mit andern Völkern.« (KOS 419) Müllers Aufruf klingt in diesem
Zusammenhang nicht, wie der Germanist Domdey will877 , wie die eiserne Durchhalteparole
in der Atempause des SED-Sonderparteitags 878 , sondern wie ein weiterer Nachruf, der
nunmehr nicht mehr dem Staat gilt, sondern all jenen Utopien, die vom Sog dessen
Untergangs unweigerlich mit in die Tiefe gerissen werden. Auch von daher macht das
Schlussbild Müllers HAMLET/MASCHINE-Inszenierung von 1989/90 Sinn:
»WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE« sitzt
Ophelia auf dem Grunde der »Tiefsee. […] reglos in der weißen Verpackung« (W 4 553f.)
Zu literarischen Preisen war im Rahmen der Autobiografie ursprünglich ein eigenständiges
Kapitel vorgesehen. In dem Konvolut aus dem Privatbesitz des Regisseurs Stefan Suschke ist
877
s. a. Domdey 1998, 232
878
Auf dem SED-Sonderparteitag ging es vor allen Dingen um die existenzielle Frage der Einheit der Partei.
Am 8. Dezember beschört Modrow die 2300 Delegierten, die Partei nicht zerbrechen zu lassen. Am 9.
Dezember wird Gysi mit großer Mehrheit zum Parteivorsitzenden gewählt. Die Selbstauflösung der Partei
ist vom Tisch. Nach einwöchiger Pause wird der Parteitag am 16. Dezember abgeschlossen. Müllers Text
bezieht zum leninschen Fraktionsverbot – einer heiligen Kuh der sozialistischen Staatsparteien des
Ostblocks – explizit Stellung: »Meine Hoffnung: dass die SED besser ist als ihre Führung (deren
Hauptschuld die Unterdrückung des intellektuellen Potenzials der Basis) und von der Straße lernt, dass
Bewegung von unten ausgeht, Erstarrung von oben und überlebt als eine andre Partei, vielleicht nicht durch
Einheit. Lenins Fraktionsverbot, für Machterhaltung gegen die Fortsetzung der Revolution, die nur ein
Prozess sein kann und kein Besitzstand, ist der Virus, der die kommunistischen Parteien seit siebzig Jahren
schwächt.« (KOS 418)
408
die Kapitelüberschrift »33. Literarische Preise« noch deutlich erkennbar. Die im Laufe der
Überarbeitung geänderte Nummerierung (547 bis 552 gestrichen) weist eine alternative
Kapitelstruktur auf, in der die Passage über den Nationalpreis der DDR im Gegensatz zur
Druckfassung den Abschluss bildet. Die neue Seitenzählung (517 bis 522) ordnet den
Komplex dem Kapitel »WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, 1985–1987« unter. Von den
Kriterien der Preiswürdigkeit war bereits im ersten Kapitel der Autobiografie die Rede. Im
Zusammenhang mit einem von Müllers arbeitslosem Vater diktierten Schulaufsatz über den
kriegsvorbereitenden Reichaustobahnbau der Nationalsozialisten heißt es dort. »Der Aufsatz
wurde prämiert, mein Vater bekam Arbeit bei der Autobahn.« (KOS 24) Das Verhältnis von
prämiertem Text und Prämie ist hier grundsätzlich diskreditiert durch den Verrat des Vaters
an den eigenen politischen Überzeugungen. Die körperliche Schwäche des Vaters (»Er war
nur ein halbes Jahr dort, hielt das Schaufeln nicht aus«, ebd.) ist nur ein Schwacher Trost für
den daraus resultierenden »Verratsschock« (ebd.). Eine Spiegelung erfährt diese Szene 1971:
»Es gibt einen Preis für den ich mich sehr schäme. Und zwar, weil ich ihn abgelehnt habe.
Müller begründet die Ablehnung des Förderpreises zum Lessingpreis der Stadt Hamburg mit
politischen Repressionen. Dass er das Stipendium überhaupt zugesprochen bekommen soll,
erfährt Müller erst in einem grotesken Gespräch mit Roland Bauer, seinem
»Lieblingskontrolleur, dem Ideologiesekretär von Berlin« (KOS 356f.). Der wirft Müller vor,
sich in der Westpresse mit Republikflüchtlingen gemein zu machen. Am gleichen Tag findet
Müller einen abschlägigen Bescheid für ein Bulgarien-Visum im Flur seiner Wohnung. Der
Zusammenhang ist klar. Um eine mediale Instrumentalisierung des Dramatikers durch
westdeutsche Institutionen und Medien vorzubeugen, wird er persönlich unter Druck gesetzt.
Damit er seine ausgewiesene Frau in Bulgarien besuchen kann, ist Müller andererseits auf das
Visum angewiesen. In einem Telegramm nach Hamburg gibt er vor, dass ihn vom
Hauptpreisträger »Horkheimer mehr als eine Staatsgrenze« (KOS 357) trenne. In KRIEG
OHNE SCHLACHT bezeichnet Müller diese Äußerung als kalkulierte Lüge und zitiert einen
Entwurf des Schreibens: »Sehr geehrter Herr Senator, das Lessingpreiskollegium hat mich
eines Stipendiums für wert befunden. Ich muss daraus schließen, dass meine Arbeit
missverstanden wird und möchte den Irrtum aufklären helfen, indem ich Ihre Förderung
ablehne. Ich arbeite in der DDR, und das heißt, in meinem Fall, nicht gegen diesen Staat, für
dessen Anerkennung Ihre Behörde, soweit mir bekannt ist, bisher nicht eintritt.« (KOS 358)
Als er nach Hause kommt, findet er im Flur seiner Wohnung einen Zettel mit der Nachricht,
dass er seine Reisepapiere am nächsten Tag im Polizeipräsidium abholen könne. An Stelle
Müllers erhält Walter Kempowski das Stipendium.
Im Gegensatz zur Ablehnung des Lessing-Förderpreises, die Müller unter das Zeichen des
Verrats stellt, hält er die Annahme des Nationalpreises der DDR für legitim, gleichwohl ihn
ein Kameramann der DEFA verhöhnt: »›Das Geld ist ja ganz schön, aber die Schande!‹«
(KOS 356) Müller selbst bezeichnet den Preis als Politikum: »Der Preis war keine Ehre,
sondern ein Politikum. Der Volksmund sprach von der ›Massenorganisation‹ der
Nationalpreisträger. Den Preis ablehnen wäre ein Affront gewesen und hätte, was ich
vorhatte, schwieriger gemacht. Es ging nicht um Privilegien, sondern um Arbeit. Ein Jahr
danach war ich der meistgespielte Autor in der DDR. Die Folge des Nationalpreises war
einfach, dass kein Funktionär in irgendeiner Bezirksstadt dem Intendanten mehr sagen
konnte: ›Müller nicht‹. Ich würde mich heute nicht anders verhalten. Es ist wichtig, dass
meine Sachen zur Wirkung kommen, nicht dass ich den edlen Ritter spiele.« (ebd.)
409
Abgesehen von dieser pragmatischen Opportunität, die dem Zur-Wirkung-Kommen der
eigenen Texte geschuldet ist, hält sich Müller offenbar für einen integren Arbeiter im
Weinberg der Dichtung. So heißt es in einer für die Druckfassung nicht berücksichtigten
Passage der Autobiografie: »Ich bin nie zu einem Funktionär gegangen, um ein Auto zu
kriegen. Diese Möglichkeit gab es immer. Du gingst ins Ministerium für Kultur und kriegtest
ein Auto. Ich habe nie so etwas genommen, das war auch das Verdächtige an mir, die
Nichterpressbarkeit. Das Einzige, was ich mir vorwerfe, ist das Telegramm, in dem ich den
Lessingpreis ablehnte.« (SUSCHKE 519) Davon abgesehen habe er sich eine gewisse
subversive Unabhängigkeit bewahrt, indem er Angebote und Geschenke seitens des Staates,
die über das Reiseprivileg hinausgingen (auch das eine rein pragmatische Entscheidung)
grundsätzlich ablehnte. Er bleibt zeitlebens der ›Nomade‹ (s. a. KOS 87), als der er Anfang
der fünfziger Jahre nach Berlin kommt, immer auf der Suche nach einer entsprechenden
künstlerischen Ausdrucksform. Das Privatleben ist sekundär, ja, existiert im engeren Sinne
nur als Funktion des Schreibens. Eine längere, für den Druck komplett getilgte Passage aus
dem Manuskript der Autobiografie erteilt darüber nähere Auskunft: »Die großen DDR-
Literaten lebten immer abgehoben von der ökonomischen Realität […] Die meisten
Großdichter haben sich nie in der Wirklichkeit aufgehalten. Die einzige Realität war die
Belästigung durch die Stasi. Aber es ist doch klar, der Heym war nie in einer Kneipe im
Prenzlauer Berg oder so, das war undenkbar. Die sind nie mit der Straßenbahn gefahren, nie
mit der S-Bahn, damit fängt es doch an. Die lebten immer in irgendeinem
Wolkenkuckucksheim. Nun behaupte ich ja nicht, dass ich das Volk verstehe, weil ich
mangels Führerschein U-Bahn gefahren bin. Bloß die wussten einfach nicht, was wirklich los
ist. Das war schon bei der Biermann-Geschichte so auffällig, dass sie plötzlich nach der
Partei-Reaktion aus allen Wolken fielen. Ich habe einfach anders gelebt, ich hatte nie ein
idyllisches Haus auf dem Land, ich bin auch froh darüber. Ich war auch immer zu faul.
Natürlich habe ich in den letzten Jahren solche Angebote gekriegt, ich war nur immer zu faul,
mich darum zu kümmern, obwohl das jetzt sicher eine gute Kapitalanlage wäre. Das letzte
Angebot war ein Haus für 50.000 Mark am Buckower See. Das wäre natürlich klug gewesen,
aber vielleicht war es ein Westgrundstück, kannst du auch nicht wissen. Das einzige Privileg,
das ich hatte, waren die Reisen, das war alles, sonst nichts. Allerdings habe ich nie eine müde
Mark gekriegt für irgendeine Reise, das war sowieso eine Voraussetzung für die Reisen. Man
kriegte normalerweise, wenn man im Schriftstellerverband war, vom Ministerium Reisegeld,
Spesen. Ich habe das nie beansprucht, das heißt, ich habe sie natürlich immer mit D-Mark-
Verdienst im Westen beschissen, aber ich habe alles selbst finanziert. Das war natürlich auch
eine Möglichkeit, dieses Privileg schneller zu kriegen, ganz simpel. So was meine ich, wenn
ich sage, ich bin kein Intellektueller, kein Literart. Wie die möbliert sind, diese Schriftsteller,
das muss man sich mal ansehen. Ich hatte wenig Kontakte zu anderen Schriftstellern, nur zu
Jüngeren, die es werden wollten oder die, die noch nicht arriviert waren, nie zu den offiziellen
Schriftstellern. Hat mich auch nie interessiert, mit denen zu sprechen. Die Ausnahme war
Hermlin, den haben wir ab und zu besucht, das war alles. Ich kann es einfach nur so
beschreiben, dass meine Existenz als literarischer Autor, glaube ich, sehr stark von meinen
Lebensbedingungen und meiner Lebensweise getrennt ist. Ich nenne mal ein Beispiel: Mir
fällt es ungeheuer schwer, druckreif zu reden. Mir fällt es ganz schwer zu sagen, ›ich sagte‹.
Ich werde immer sagen, ›ich habe gesagt‹. Verstehst du, was ich mit dem Beispiel meine?
Und was ich vorher mit Literaten sagen wollte, das ist diese Idee der Einheit von Kunst und
Leben. Auch das Leben ist dort Kunst, das ist ein Lebensstil. Das habe ich nie gekannt. Als
410
« (SUSCHKE 518f.)
1985 erhält Heiner Müller in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung. Mit seiner Preisrede DIE WUNDE WOYZECK hält er der
bürgerlichen Selbstgefälligkeit des westdeutschen Literaturbetriebs den Spiegel vor. Der Tag
der Preisverleihung ist der Todestag dreier RAF-Protagonisten. Am 18. Oktober 1977 wurden
Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin tot in ihren Zellen im
Hochsicherheitstrakt der JVA Stuttgart-Stammheim aufgefunden – keine anderthalb Jahre
nach Ulrike Meinhof, die bereits am 15. Mai des Vorjahres starb. »Ulrike Meinhof, Tochter
Preußens und spätgeborene Braut eines anderen Findlings der deutschen Literatur, der sich am
Wannsee begraben hat, Protagonistin im letzten Drama der bürgerlichen Welt, der
bewaffneten WIEDERKEHR DES JUNGEN GENOSSEN AUS DER KALKGRUBE, ist
seine [Woyzecks] Schwester mit dem blutigen Halsband der Marie.« (W 8 282) Der Satz, der
den ersten der drei Textteile Müllers Preisrede beschließt, spannt den Bogen von Kleist über
Büchner und Brecht zur RAF. Dass ausgerechnet der Junge Genosse aus Brechts
MASSNAHME (dazu in seiner weiblichen Metamorphose) exhumiert werden soll, um mit
seiner spontanen, auf Individualismus beruhenden emotionsgeleiteten, blinden
Gewaltbereitschaft den Schlusspunkt eines spezifisch bürgerlichen Dramas zu setzen,
erscheint dabei als ebenso einleuchtende wie provokante Konstruktion. Mit der Erwähnung
Ulrike Meinhofs streut Müller Salz in eine schwärende Wunde jüngerer deutscher Geschichte.
»Meine schönste Erinnerung an die Preisverleihung in Darmstadt ist die eisige Stille im
Festsaal, als in meinem Redetext der Name Ulrike Meinhof fiel.« (KOS 358) Die
»Süddeutsche Zeitung«, die den Text des Büchner-Preisträgers traditionell in der
Wochenendausgabe abdruckt, sieht sich genötigt, dem Text eine Erklärung/Entschuldigung
für die Leser voranzustellen, in der Joachim Kaiser einräumt, man habe vor der Publikation
»ein wenig gezögert« 879 und erläutert, dass es sich bei dem Redetext um »Kunst-Prosa«
handle. Im Arbeitsmanuskript der Autobiografie erscheint der Meinhof-Satz in einem
Kontext, der den Terror der RAF auf eine Ebene internationaler Politik bezieht und somit
zugleich als Strategie gegen staatlich sanktionierte Gewalt lesbar werden lässt: »Links neben
mir saß in Darmstadt Weizsäcker und rechts der Präsident der Akademie. Ich hatte gerade im
Radio von der Hinrichtung von Steve Biko 880 in Südafrika gehört, das habe ich dann schnell
noch als ersten Satz in die Rede eingebaut – kleines Befremden. Dann war eisige Stille bei der
Stelle, in der ich Ulrike Meinhof erwähne. Das war spürbar, ein schöner Moment. Dann setzte
879
Joachim Kaisers. In: Süddeutsche Zeitung vom 19./20. Oktober 1985
880
Der südafrikanische Bürgerrechtler und Begründer der Black-Consciousness-Bewegung Steve Biko war
bereits am 12. September 1977 den Folgen einer schweren Kopfverletzung erlegen, die ihm beim Verhör im
»Police-Room 6-1-9« (einer berüchtigten Folterkammer) beigebracht worden war. Die brutalen Umstände
von Bikos Tod führten zu einem weltweiten Aufschrei. Die Verantwortlichen für Bikos Tod wurden indes
nie rechtlich belangt.
411
ich mich wieder neben Weizsäcker, und er sagte: Er wäre sehr bestürzt, er hätte das noch gar
nicht erfahren mit der Hinrichtung. Er hätte in seinem Büro noch hinterlassen, dass man sich
dafür einsetzen solle, dass die Hinrichtung ausgesetzt wird. Er war wirklich sehr
mitgenommen davon.« (SUSCHKE 522)
Der letzte Abschnitt des Kapitels befasst sich mit dem Stellenwert, den die untergegangene
DDR in der Arbeit Heiner Müllers einnimmt. Die Auflösungserscheinungen von 1989 werden
von Müller auf einen Geburtsfehler des Systems zurückgeführt, der weit vor die Gründung
der DDR zurückreicht. »Das Problem bestand doch darin, dass die Verhältnisse nur durch den
Zusammenbruch des ganzen Systems zu verändern waren, das im Grunde seit 1918 zum Tode
verurteilt war, ökonomisch.« (KOS 359) Es geht um die Frage nach der Berechtigung eines
emanzipatorischen Anspruchs, der aus der Sicht kapitalistischer Produktionsverhältnisse mehr
als fragwürdig erscheinen muss. Die Isolation der Revolution im industriell
unterentwickelten, agrarischen Russland und die späte Kolonialisierung des Ostblocks auf der
Grundlage stalinistischer Repression lassen das Experiment von vornherein als gescheitert
erscheinen. Doch bilde diese Schwäche zugleich die Grundlage für eine Rechfertigung des
Systems. Sie bestehe in der »Alternativlosigkeit der Alternative« (ebd.) insbesondere
deutscher Provenienz. Verfügten die anderen sozialistischen Staaten des Ostblocks nach dem
von Gorbatschow angestoßenen Öffnungsprozess prinzipiell über die Möglichkeit, Reformen
auf nationaler Ebene durchzusetzen, sei der Osten Deutschlands von einer solchen
Möglichkeit generell abgeschnitten gewesen, denn: »Die Identität der Deutschen war und ist
die Deutschmark. Der Entzug der Deutschmark bedeutete für die DDR-Bevölkerung die
Verweigerung der Identität. Polen konnte von einem andern Polen träumen, für die DDR gab
es keine andre Alternative als die Bundesrepublik.« (KOS 359f.) Mit der Übergabe des
ostdeutschen Territoriums an den westdeutschen Markt, respektive der Heimkehr der
Ostdeutschen ins Reich der D-Mark, habe allerdings ein gegenläufiger Prozess eingesetzt. Er
habe die Utopie befreit von einer desaströsen Praxis. Die Befreiung von der staatlich
verordneten Ideologie eines real existierenden Sozialismus lasse nunmehr die tatsächlichen
sozialen Widersprüche aufbrechen und nähre die Hoffnung, dass geschichtliche Bewegung in
Zukunft zumindest wieder denkbar sei. »Jetzt erst, nach der Vereinigung, gibt es auch in
Deutschland wieder eine Basis für Klassenkampf. Jetzt kann man nichts mehr an den Gegner
delegieren, jetzt, das braucht sicher seine Zeit, können die sozialen Widersprüche sich
entfalten, befreit von Ideologien.« (KOS 360) Im Arbeitsmanuskript schließt sich die
folgende Passage an: »Jetzt ist man allein mit den eigenen Widersprüchen. Deswegen ist die
Vereinigung für mich eine Hoffnung, sie ist eine Hoffnung auf das Aufbrechen der wirklichen
Konflikte, der ökonomischen und sozialen, die nichts mit Ideologie zu tun haben. Die Angst
davor ist aber auch da – wenn man keinen Feind mehr hat, ist man nur noch sein eigener
Feind.« (SUSCHKE 527) Die Angst, die der Hoffnung korrespondiert, führt ins
Furchtzentrum des Konfliktfeldes, denn dem Anspruch emanzipatorischer Bestrebungen
fallen womöglich die eigenen Vorstellungen und Wünsche zum Opfer. Dennoch hält Müller
an diesem ambivalenten Prinzip der Ausformulierung von Differenzen fest, an dessen
Bruchstellen das Subjekt lediglich als potenziell Verschwindendes noch gezeigt werden kann.
So heißt es im Gespräch mit Frank M. Raddatz vom Februar 1989: »… wenn es Dichotomien
gibt, dann gibt es mehr Chancen, und je mehr Dichotomien es gibt, um so größer sind die
Chancen, aus der Scheiße herauszukommen. Das wussten schon die Indianer, die sagen: ›Das
Eine ist das Böse.‹« (LN 54) Müller weist auf das abendländische Dilemma des
412
Selektionsprinzips in der Tradition Platons hin, demzufolge das Gute und Schöne im
Bestreben nach einer Einheit der Gegensätze begründet liege, deren Ziel die Vollkommenheit
der Erstarrung sei. 881 Allein aus den Widersprüchen und Differenzen hingegen sei die Kraft
zu beziehen, die eine historisch eingreifende Praxis hervorzubringen vermag. »Permanente
Widersprüchlichkeit bedeutet auch Offenheit der Geschichte.« 882
Im Gespräch mit den Schauspielern Ulrich Mühe und Hilmar Thate für die Dezemberausgabe
der Zeitschrift »Theater heute« von 1989 stellt Müller die Angst vor dem Phantomschmerz,
den die Leerstelle der verschwindenden DDR zurückgelassen hat, grundsätzlich in Frage:
Was bedeutet es für Künstler, die gelernt haben, sich unter den Bedingungen eines
unterdrückenden Staates gleichsam immer im Widerspruch, im Widerstand zu
artikulieren, wenn dieser Grundwiderspruch wegfällt, wenn sie plötzlich positive
Repräsentanten einer positiv eingeschätzten Entwicklung werden könnten? Fehlt dann ein
kreativer Stimulus?
Müller: Ich brauche das nicht mehr. Ich weiß nicht, wie ich vor 20 Jahren geantwortet
hätte.
Mühe: Wenn ein echtes Feindbild fehlt, geht bestimmt erst mal was verloren.
Müller: Mir nicht. Ich hab auch dann noch genügend Feinde.
(GI 3 62)
Der Untergang der DDR bedeute insofern eher eine Verschärfung der Konflikte, als deren
Auflösung. Dabei zeigt sich, wie ideologiebedürftig die Medienöffentlichkeit ist, denn die
Propagandamaschine läuft – und sei es im Leerlauf – auf Hochtouren weiter, was eine
Analyse der Situation von vornherein unmöglich erscheinen lässt. »Der Jubel von einigen
deutschen Intellektuellen über den Golfkrieg, die klammheimliche Freude über einen neuen
Hitler, verrät die Angst vor einem Leben ohne Feindbild. Die Verteufelung der DDR, die
Dämonisierung der Staatssicherheit, bedient nicht nur die Wonnen des gewöhnlichen
Antikommunismus, sondern betäubt auch diese Angst. Wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn
im Spiegel.« (KOS 360) Die Suche nach neuen Feindbildern verläuft Müllers Darstellung
zufolge in unterschiedlichen Richtungen. Einerseits schießt sie sich auf neue Feinde ein
(Saddam Hussein), andererseits verschafft sie sich Genugtuung an den repressiven Organen
des gestürzten Systems, dem »Schwarzen Peter« Stasi. Dabei machen sie vergessen, dass die
Mehrheit der DDR-Bürger keine Dissidenten, sondern Mitläufer waren. »Der Gysi hat das
mal ganz gut formuliert: Es sind 16 Millionen Opfer und 16 Millionen Mitläufer.«
(SUSCHKE 528) Der kolonisierten Bevölkerung (s. a. KOS 245) entspreche ihr parasitärer
Charakter: »… man muss auch sehen, dass die Bevölkerung den Staat aufgefressen hat. […]
Die Bevölkerung als Parasit der staatlichen Struktur.« (SUSCHKE 530) Müller beschreibt die
881
Über den Begriff des Guten und des Schönen bei Platon geben insbesondere der Dialog PHILEBOS und das
SYMPOSION Auskunft. In PHILEBOS, Platons Dialog über das Verhältnis von Lust (pathos) und
Erkenntnis (phronesis) etwa wird das idealisierte Gute als »das immer ohne jeden Zusatz von etwas
anderem sich selbst unverbrüchlich Gleichbleibende« (Platon 1998, Bd. IV, 118) dargestellt.
882
Fiebach 1990, 37. Das Fragment/Nichtabgeschlossene betont diese Offenheit.
413
Feindschaft zwischen Staatsapparat und Bevölkerung in der DDR als symbiotische Struktur,
vergleichbar derjenigen zwischen Arbeiter und Kapitalist im Westen: »Nicht alle DDR-
Bürger, die bei den Wahlen mit Ja gestimmt haben, lebten unter einem Leidensdruck. Es war
ein Waffenstillstand, ein mafiotisches Agreement zwischen Partei und Bevölkerung. Die
Ideologie hat nie gegriffen. Der Terror in einer schwäbischen Kleinstadt ist nur anders
schlimm als der Terror in Strausberg war. Was die DDR zusammenhielt, war ein Netz von
Abhängigkeiten. Das neue Netz hat von oben gesehn weitere Maschen, von unten gesehn sind
sie enger. Der ökonomische Druck sorgt dafür, dass niemandem schwindlig wird, weil ihm
der ideologische Druck fehlt. In der DDR war Geld für die Mehrheit der Bevölkerung kein
Problem.« (KOS 360f.) In der Bundesrepublik fällt der Einzelne leichter durch die Maschen
des sozialen Netzwerks, wieder einen Fuß hinein zu bekommen ins Kollektiv der glücklichen
Konsumenten erscheint da schon schwieriger. In der Buchfassung lässt Müller den
ökonomischen Druck an die Stelle des ideologischen treten. Gegenüber dem
Arbeitsmanuskript bedeutet das eine Zuspitzung. Dort ist lediglich von einer Vergleichbarkeit
der Strukturen die Rede. »Das Wesentliche in der DDR war doch wie im Westen ein Netz von
Abhängigkeiten. Das waren andere Abhängigkeiten, ein anderer Druck, aber nicht mehr
Druck als im Westen. Der ökonomische Druck ist auf jeden Fall genauso hart, wie es in der
DDR der ideologische Druck war. Ich glaube, für die kleinsten, engsten Lebensbereiche sogar
härter. Das erfahren die Leute jetzt auch allmählich.« (SUSCHKE 530) Angesichts der
Sozialgesetzgebung der Bundesregierung zu Beginn des neuen Jahrtausends, die darauf zielt,
eine verarmte Masse von Sozialleistungsempfängern in eine flexible Billiglohnreserve für
globalisierte Kapitalinteressen zu verwandeln, erscheint das analytische Potenzial Müllers
Aussage das eines durchschnittlichen Politikers bei weitem zu übertreffen. Möglicherweise
hängt das nicht zuletzt mit der biografischen Prägung zusammen, die das vorliegende Buch zu
beschreiben versucht. »Es ist ein Privileg für einen Autor, in einem Leben drei Staaten
untergehen zu sehn. Die Weimarer Republik, den faschistischen Staat und die DDR. Den
Untergang der Bundesrepublik Deutschland werde ich wohl nicht mehr erleben.« (KOS 361)
Die Schlusskonstruktion geht auf eine handschriftliche Einfügung im Arbeitsmanuskript
zurück. Wurden die drei vorhergehenden Sätze samt vorangestellter Frage vermutlich von
Stefan Suschke notiert – die Frage wurde im Übrigen im Verlagslektorat noch einmal
modifiziert 883 –, lassen sich die letzte Frage und das FATZER-Zitat im Schriftbild eindeutig
auf Heiner Müller zurückführen. Dem versagt am Schluss die eigene Stimme und er antwortet
mit einem intertextuellen Verweis auf ein geschichtsphilosophisches Motiv aus Brechts
Fragment: »Also kein Phantomschmerz bei Heiner Müller … // ›Wie früher Geister kamen aus
Vergangenheit / so jetzt aus Zukunft ebenso.‹« (ebd.) Die Stelle des Schmerzes über das
Zerbrechen der Konstruktion, die den eigenen Lebens- und Schaffensraum markierte, wird
besetzt mit der Überzeugung, dass die Geschichte trotz der Verkündung des Posthistoires
wiederkehren wird – nicht mehr jedoch für das Ich des Textes, das sich wohlweislich bereits
verabschiedet hat, indem es hinter die Verse eines anderen Autors zurückgetreten ist. Müllers
späten Texte legen eindrücklich Zeugnis davon ab, wie Müller sich der Zuständigkeit für
diese Zukunft verweigert. Sein Werk widmet sich dennoch der Voraussetzung der Zukunft,
indem es an der Befreiung der Toten weiter arbeitet, mit denen diese Zukunft im Verlaufe des
zwanzigsten Jahrhunderts begraben wurde. 1991 hatte Heiner Müller im Anschluss an das
883
»Wie denkst du im Augenblick an diesen verschwindenden Staat?« (SUSCHKE 531) »Wie denkst Du
heute, Anfang 1992, an diesen verschwindenden Staat?« (KOS 361)
414
nämliche FATZER-Zitat gegenüber Alexander Weigel bemerkt: »Furcht vor der Zukunft
reduziert sich durch mein Alter. Ich habe nicht mehr viel zu fürchten als den Tod, gegen den
ich persönlich nichts einwenden kann.« (GI 3 128) Fünf Jahre später mutmaßt Volker Braun
in einem Text über MÜLLERS ABGANG, die Krebserkrankung der Speiseröhre, die Müller
schneller in das Reich der Toten befördern sollte, als er selber vermuten konnte, sei ein
»Symptom des Ekels an den Verhältnissen, gegen die er, resistent gegen Verheißungen, aber
nicht gegen Verblödung, keine Abwehrkräfte besaß.« 884
884
Volker Braun: Müllers Abgang. In: KALKFELL, 19. s. a. den Nachruf von Christoph Hein: »Er starb an der
von ihm immer beschriebenen Krankheit, am Krebs. Sein Krebs hieß Ekel, MEIN EKEL AM HEUTE UND
HIER. Der Ekel hatte in den letzten Jahren Futter bekommen, reichlich, aber man hatte diesen auch vor der
letzten Zeitenwende gemästet. Futter für seinen Ekel, dafür war stets gesorgt.« (Christoph Hein: Wunden.
Für Heiner Müller zum 9. 1. 1996. In: KALKFELL, 24)
415
7. Die Reflexion des autobiografischen Diskurses
Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar
durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hinhorcht,
etwa in der Nacht, wenn alles ringsherum still ist, so hört man zum Beispiel
das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels.
(Franz Kafka)
Die Reflexion der poetischen Verfasstheit und das Bewusstsein des Scheiterns des Projektes
als literarisches, zieht sich durch den gesamten Text der Autobiografie. Seinen essenziellen,
geradezu programmatischen Ausdruck findet sie jedoch im Spannungsfeld zwischen jenem
dem Interviewteil vorangestellten Zitat aus LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN und dem
ihm nachgestellten Textteil ERINNERUNG AN EINEN STAAT. Aus dem Nachlass Heiner
Müllers lässt sich die Entstehungsgeschichte dieser Reflexionsebene bis zu einem gewissen
Grad nachvollziehen. So finden sich einige der im Drucktext manifesten Gedanken bereits im
Gesprächsprotokoll vorgeprägt, während andere aus knappen Notizen aus dem
Entstehungsumfeld hervorgehen. Die wenigsten werden im Zuge der Niederschrift des
Nachwortes gänzlich neu formuliert.
Mit der ERINNERUNG AN EINEN STAAT gewinnt die Autobiografie eine neue poetische
Qualität. Eine handschriftliche Nachlassnotiz stellt den Zusammenhang der Kapitelüberschrift
mit dem Nachwort explizit her und belegt damit die herausgehobene Stellung des Textes
gegenüber der autobiografischen Erzählung der vorangegangenen neunundzwanzig Kapitel:
»(Nachwort) / Erinnerung an einen Staat / Das Ende des Wohlstands« (HMA 4488). Das
dreißigste Kapitel – im Inhaltsverzeichnis ist abweichend von der Kapitelüberschrift
tatsächlich von einem »Nachwort« die Rede 885 – exemplifiziert und intensiviert die in der
redaktionellen Überarbeitung der Interviews begonnene ästhetische Formalisierung des
Gesprächsmaterials, indem es die Modifikation von Leben in Schrift durch die Reflexion des
Verhältnisses dieser Schrift zu jenem Bereich ersetzt, der trotz Müllers gegenteiliger
Behauptung als Literatur zu bezeichnen ist. Bereits im eigentlichen Erzähltext der
Autobiografie finden sich zahlreiche Äußerungen und Hinweise auf diese Problematik.
Massiv erfolgt die Autoreflexion jedoch erst im letzten Kapitel des Buches und wird damit
rückblickend konstitutiv für das Verständnis des gesamten Textkorpus. Weil dieser
Reflexionsebene als Teil der wirkungsästhetischen Strukturierung des Textes ein besonderer
Stellenwert zukommt, soll er im Rahmen der Untersuchung literarischer Strategien der
Autobiografie in diesem Kapitel der vorliegenden Arbeit verhältnismäßig detaillierter
behandelt werden, als es die gut fünf Buchseiten der Kiepenheuer & Witsch-Ausgabe zu
rechtfertigen scheinen.
885
In der der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Textausgabe heißt es: »Erinnerungen an einen Staat –
Nachwort« (KOS 8). Im Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe von 1992 heißt es weniger unkorrekt:
»Erinnerung an einen Staat – Nachwort« (KOS1 9).
416
David Beikirch hat darauf hingewiesen, dass das Material im Nachlass Heiner Müllers einen
Punkt aufzeige, »an dem das Projekt Autobiografie offenbar als gescheitert
wahrgenommen« 886 werde. Zugleich sei dieser Punkt als Zäsur zu verstehen, »mit der eine
Reflexion auf die Bedeutungsstruktur des Textes beginnt.« 887 Im Nachwort wird dieser Punkt
manifest. Doch nicht die Wahrnehmung des autobiografischen Materials, das in KRIEG
OHNE SCHLACHT einer weitgehend homogenen Lebenserzählung subsumiert wurde,
generiert die »Erfahrung des Scheiterns«, einem »Privileg der Intellektuellen Osteuropas« (W
8 395), in deren Verantwortung es läge, die ideologisch kontaminierte Fracht ins neue
Jahrtausend zu retten. Vielmehr ist das Scheitern bereits Bestandteil eines poetologischen
Selbstverständnisses, das die autobiografische Krise bewusst auf den Ruin des Staates
bezieht, in dessen Untergang das Scheitern eines Lebensentwurfs gespiegelt werden kann. Die
poetische Reflexion dieses Scheiterns setzt nicht erst mit dem Entstehen von KRIEG OHNE
SCHLACHT ein, erhält jedoch durch das autobiografische Projekt eine neue
Projektionsfläche. Neben dem Faschismustrauma seiner Kindheit beschreibt Müller »die
Jahrhunderterfahrung des blitzhaften Aufscheinens und des langsamen und beinahe lautlosen
Untergangs einer großen Utopie in der westlichen Grenzprovinz des dritten Rom«
ausdrücklich als »Grunderfahrung« (W 8 608). Im Interview betont Müller: »Wenn man
schreibt, ist man angewiesen auf eine Grunderfahrung, von der man geprägt wurde. Meine
Grunderfahrung war: Staat als Gewalt. Auf der einen Seite die faschistische Gewalt, auf der
anderen die kommunistische – in Klammern: stalinistische – Gegengewalt. Mit der konnte ich
mich identifizieren. Auch aus ganz subjektiven autobiografischen Gründen. Das war für einen
Dramatiker natürlich eine produktive Situation.« (GI 3 154) Die von Müller angestrengte
Terminologie lässt darauf schließen, dass es sich bei dem verschwundenen Staat um ein
Gebilde handelt, das nicht losgelöst von einem sehr weit gefassten historischen Kontext
betrachtet werden kann. Müller betont, dass es sich in seiner Darstellung beim Untergang der
DDR nicht um das Verschwinden einer empirischen Formation handelt, sondern um einen
freilich nicht weniger komplexen ästhetischen Entwurf. »Vielleicht machte gerade das Irreale
des Staatsgebildes DDR seine Anziehung für Künstler und Intellektuelle aus. Die
entscheidende Abweichung von Hölderlins ÖDIPUS in meiner Theaterfassung für Besson
war ein Wort in dem Monolog des Protagonisten nach der Selbstblendung. Hölderlin: …
Denn süß ist es / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von Übeln. Müller: …Denn süß ist wohnen
/ Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem. Die DDR, die ich, im Doppelsinn des Worts,
beschrieben habe, die Beschreibung ist auch eine Übermalung, war ein Traum, den
Geschichte zum Alptraum gemacht hat, wie das Preußen Kleists und Shakespeares England.«
(KOS 363) In Müllers Augen bleibt Deutschland auch nach der Wende ortlos. »Die Energie
ist ortlos. […] eigentlich war Deutschland nie ein Ort, es war immer eine Utopie.« (LV 117)
Das Beharren auf der Virtualität impliziert den Gedanken der grundsätzlichen
Veränderbarkeit. Doch das Ödipus-Zitat kennzeichnet auch die Hybris einer utopischen
Vorstellung, die immer in Ideologie umzuschlagen droht, weil sie von der konkreten
Erfahrung absieht.
Ähnlich wie MOMMSENS BLOCK – der ›writer’s block‹ ist programmatisch: die Lücke im
Text der fundamentale Einspruch gegen den historischen Kontext der Entstehung – muss die
886
Beikirch 2004
887
ebd.
417
ERINNERUNG AN EINEN STAAT als Versuch gelesen werden, das Scheitern künstlerisch
produktiv zu machen. »Dieser Staat hat mir nichts geschenkt und ich habe mir von ihm nichts
schenken lassen als die Erfahrung des Scheiterns einer Utopie, die der Motor meines
Schreibens war, das diese Erfahrung dokumentiert mit Texten jenseits der Zensur« (W 8 604)
Müller vergleicht seine Situation mit der Goyas: »Für meine Literatur war das Leben in der
DDR etwas wie die Erfahrung Goyas in der Zange zwischen seiner Sympathie für die Ideen
der Französischen Revolution und dem Terror der napoleonischen Besatzungsarmee,
zwischen der Bauernguerilla für Monarchie und Klerus und dem Schrecken des Neuen, das
vor seinen Augen die Züge des Alten annahm, die Taubheit seine Waffe gegen die arge
Erkenntnis, weil das Auge des Malers die Blindheit verweigerte.« (KOS 365) Der
»lebenslange Sehzwang« ( W 4 492) ist der Fluch des Künstlers. Er unterwirft ihn einem
schöpferisch Drang. Um nicht unter dem »Bombardement der Bilder« (ebd.) verschüttet zu
werden, muss er dem Inkommensurablen Gestalt verleihen. Dabei geht es darum, den Prozess
des Scheiterns einzufangen und als poetischen Ausdruck zu transportieren. Eben das tut
Müller im Schlusskapitel seiner Autobiografie. Das Ich des Textes tritt dabei hinter die
Beschreibung der gescheiterten Hoffnung einer sozialistischen Alternative zur als sicher
vorausgesetzten Katastrophe im Namen des Kapitals zurück. Die Erinnerungsspur des
Schlusskapitels lässt die Konditionen dieses Scheiterns noch einmal vor dem innerem Auge
des Erzählers aufleuchten wie die sich selbst auslöschende Spur des Blitzes: »Manchmal ist
das Gedächtnis eine Dunkelkammer, in der plötzlich ein vergessenes Bild aufscheint
(manchmal nur ein Blitz mit dem es wieder verschwindet)« (HMA 5266).
Auch formal fällt das abschließende Kapitel aus dem Rahmen des Textes der Autobiografie
heraus, denn das fiktive Gegenüber – die Instanz des Interviewpartners – findet darin keine
Entsprechung. Der Text ist in vier voneinander relativ unabhängige Teile gegliedert: Der
Überschrift folgen zwei Zitate, die im Sinne eines Mottos die doppelte Ausgangslage der im
Text verhandelten Problematik des doppelten Scheiterns – gesellschaftlich-politisch
einerseits, subjektiv-künstlerisch andererseits – metaphorisch spiegeln. Es folgen die
eigentliche Erinnerung an einen Staat, die Reflexion und Problematisierung des
autobiografischen Diskurses im Verhältnis zum eigenen Kunstverständnis sowie die formelle
Danksagung für die redaktionelle Mitarbeit. Signatur und Datierung verleihen dem Text
darüber hinaus einen dokumentarischen Charakter. Zugleich rücken sie ihn formal in die Nähe
eines Pro-/Epilogs (zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen die Entscheidung fiel,
das Vorwort zugunsten eines Nachwortes zu verwerfen, kann nicht endgültig festgestellt
werden) und verweisen damit auf seine herausgehobene Funktion, die eine Reflexion des
gesamten Projektes »Eine Autobiografie« einschließt.
Die faktische Existenz des Staates DDR bildet zugleich den Ausgangspunkt und den
Gegenstand des müllerschen Schreibens. Das Bild von diesem Staat nimmt schon von daher
einen zentralen Stellenwert im Schaffen des Künstlers ein. Der Staat stellt in Müllers Texten
stets ein Mittel zu seiner eigenen Überwindung im Sinne Nietzsches ZARATHUSTRA dar.
»Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt
das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.« 888 So ist es in der
UMSIEDLERIN gerade an jenem notorischen Kommunisten Flint, festzustellen: »Der Zweck
von unserm Staat ist, dass er aufhört. / Nicht wenn die Posten verteilt sind, ist er fertig /
888
Nietzsche-W 2, 316
418
Sondern wenn er nicht mehr gebraucht wird. Und / Sehr müssen wir ihn noch verbessern, uns
auch / Und die halbe Welt mit, dass er aufhörn kann.« (W 3 277) Dabei interessiert Müller der
Staat vor allen Dingen in seiner Ausprägung als Diktatur. Die Ursachen dafür mögen in
Müllers Biografie begründet liegen. Wesentlich aber ist, dass Müller eine Ästhetisierung
dieser biografischen Erfahrung vornimmt, indem er die Diktatur als Folie, ja als Bedingung
des eigenen Schreibens erklärt. »Mein Leben in der DDR war ein Purgatorium, zugleich die
Bedingung für mein dramatisches Werk.« (W 8 604) Die Passage aus einem Gespräch mit
Robert Weichinger für »Die Presse« vom Juni 1990 fasst Müllers Verhältnis zur Staatsform
der Diktatur zusammen: »Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen und dann in die nächste
hineingewachsen. Bei mir ist es so wie bei einem Fisch, der einen bestimmten Wasserdruck
gewohnt ist, eine bestimmte Tiefe, wo der Druck größer ist. Aber es wird einem leicht
schwindlig, wenn man zu schnell nach oben schwimmt, da kann bei einem Fisch die Blase
platzen. (Lacht.) Das heißt, man entwickelt Reflexe, die diesem Druck standhalten. Also, ich
sah keinen Grund wegzugehen. Ich hab Widerstände gern. Und diese Folie der Diktatur war ja
interessant für Theatermacher. Die großen Zeiten des Theaters waren schließlich nie die
Zeiten der Demokratie.« (GI 3 85, s. a. GI 3 78f., 85, 97f.) Sieht man einmal davon ab, dass
die Geburt des europäischen Theaters mit der Herausbildung der attischen Demokratie in
engem Zusammenhang steht, mag Müller recht behalten. Dennoch ist die Aussage eher als
Reflex auf das verschwinden derjenigen Struktur zu sehen, die Müller die historische
Perspektive betreffend für die vorläufig einzig relevante hielt. Und vor allen Dingen: In ihr
hatte er das Lebens- und Erfahrungsfeld, das er benötigte, um seinen primären Lebensinhalt
zu realisieren, nämlich das Schreiben. Müller begnügt sich also mit ganz pragmatischen
Beweggründen für seine Haltung gegenüber der DDR. In einem offenen Gespräch anlässlich
der Büchner-Preisverleihung in Darmstadt betont er, dass das Schreiben – seine
Existenzgrundlage – vom Bestand zweier deutscher Staaten abhinge. »Ich wurde in dem
anderen gespielt und deswegen konnte ich in dem, in dem ich lebe, davon leben, dass ich
schreibe. […] Aber auch nur, weil ich in dem anderen gelebt habe. Wenn ich in diesem gelebt
hätte, hätte ich davon nicht leben können.« (NEGER 41) Müller beschreibt diese Situation
lakonisch als »das Problem der gegenseitigen Kulturpolitik« (ebd.) Gemeint ist damit
zweierlei. Das Schreiben bedarf des Erfahrungsdrucks und der authentischen Folie der
Diktatur. Das Diktat besteht, zumindest dem Anspruch nach, in der Emanzipation von der
Klassengesellschaft. Dass die unter dieser Voraussetzung entstandenen Texte in dem Staat,
der den Humus ihrer Entstehung bildet, nicht gespielt werden dürfen, hängt mit der Absurdität
seines Bestehens zusammen. So lassen Müllers Texte die Sprechblasen der vom »Neuen
Deutschland« tradierten SED-Ideologie ebenso konservativ erscheinen wie die hohlen
Phrasen der bürgerliche Werte dreschenden »FAZ«. Dass seine Texte in diesem geistigen
Klima mit grandioser Wirkungslosigkeit verpuffen, kann den Autor nicht stören. Der
westdeutsche Kulturbetrieb dient ihm lediglich dazu, die vegetative Existenz zu sichern und
infolge der zunehmenden internationalen Anerkennung die eigene Person gegen Übergriffe
seitens der DDR-Behörden ein Stück weit zu immunisieren. »Wenn ich nicht rausgekonnt
hätte, hätte ich auch nicht hier bleiben können. Ich hätte das meiste von dem, was ich
geschrieben habe, nicht schreiben können, ohne zu reisen.« (GI 3 77) An eine Flucht sei dabei
nie zudenken gewesen, die Bundesrepublik sei aus der Perspektive des Schriftsteller »ein
Atavismus, keine Alternative« (W 8 607) gewesen. Müller habe den »unsäglichen Ulbricht«
akzeptieren können, weil er »Globke, Kiesinger, Filbinger, Lübke nicht für denkbar hielt«
(ebd.). Immerhin ermöglicht die Sicht auf zwei Systeme einen genaueren Blick auf die
419
Trennung der Welt, die sich für Müller in der Berliner Mauer materialisiert. »Die DDR ist mir
deshalb wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses Land gehen. Das ist der
wirkliche Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer. In der DDR
herrscht ein viel größerer Erfahrungsdruck als hier [im Westen], und das interessiert mich
ganz berufsmäßig: Erfahrungsdruck als Voraussetzung zum Schreiben.« (GI 1 135) Bezüglich
des wirklichen Zustands der Welt heißt es in einem Nachlasstext: »Das Leben in der DDR
war, nach dem Mauerbau, dem letzten Mittel, den Status quo zu erhalten, auf den die
Großmächte sich, im Schatten des von beiden Seiten möglichen Atomschlags, als auf das
kleinere Übel geeinigt hatten (Chruschtschow hat es formuliert: Lieber 16 Millionen
Gefangene als ein Dritter Weltkrieg), ein Leben in der wirklichen Situation statt in der
simulierten Freiheit der Bundesrepublik.« (W 8 614) Zugleich weiß Müller, dass der Status
quo der deutschen Teilung nur eine imaginäre Grenze darstellt unter deren Mantel ganz
andere Konfliktherde schwelen. »Die Teilung Deutschlands war ein Ausdruck der Teilung der
Welt, die nicht aufgehoben ist mit der Einheit Deutschlands und mit der Entspannung
zwischen Ost und West.« (GI 3 121) Breits 1985 hatte Müller unter Verweis auf den Status
quo darauf hingewiesen, dass das »Frieden« stiftende »atomare Gleichgewicht« den »Krieg
auf der Nord-Süd-Achse« (GI 1 158) impliziere. »Status quo als Festschreibung von Hunger,
Unterentwicklung, Umweltproblemen, der Entwicklungshilfe gegen die Bevölkerung auf drei
Kontinenten.« (GI 1 159)
In KRIEG OHNE SCHLACHT wird der geschliffene »Schutzwall« als Fall einer Zeitmauer
beschrieben, der halb Europa von einer in der Wirklichkeit pervertierten Utopie befreit, indem
er es in die kalte Freiheit der grenzenlosen Konsumgesellschaft entlässt. »Der Mauerbau war
ein Versuch, die Zeit anzuhalten, Notwehr gegen den ökonomischen Angriff des
kapitalistischen Westens, die Mauer ein Bild der wirklichen Lage in Beton. Am besten
beschreibt den ›real existierenden‹ Sozialismus der Kafkatext DAS STADTWAPPEN. Kein
Staat kann eine Bevölkerung gegen ihren Willen mehr als eine Generation lang in einen
Wartesaal sperren, wo man die Züge auf dem Bildschirm vorbeifahren sieht, in die man nicht
einsteigen darf. Jetzt ist, wie der deutsche Volksmund sagt, Polen offen.« (KOS 365) Der
Verweis auf die Kafka-Erzählung ist evident. Der babylonische Turm gehört zu den zentralen
Motiven in Kafkas Werk. In Kafkas Denken steht das Bild für den Sündenfall des Menschen,
der in seine anthropologische Verfassung untilgbar eingeschrieben ist. So bilden Besitzgier
und Gewalt der rivalisierenden Gruppen in Kafkas Erzählung zugleich Bedingung und Folge
der Utopie vom Himmelsturm. Müller kommentiert diese Tatsache mit Aischylos: »Ein
andres Requiem auf das sozialistische Experiment in Osteuropa hat Äschylos geschrieben: So
sprach der Adler, als er an dem Pfeil / Der ihn durchbohrte, das Gefieder sah: / So sind wir
keinem anderen erlegen / Als unsrer eignen Schwinge.« (KOS 365f.) Die Bestrebungen des
Menschen, sich über sich selbst zu erheben, führen immer wieder zu seinem Absturz. Es wäre
ein Missverständnis, Müller Fatalität zu unterstellen. Der Absturz ist zwar Schicksal, zugleich
jedoch hält er die Verbindung zum Denken eines möglichen anderen Ablaufs wach. Deshalb
gewährleistet gerade die Erinnerung an die Niederlagen und Krisen, beziehungsweise deren
Bedingungen den Anschluss an die Zukunft. Zugrunde liegt Kafkas STADTWAPPEN der
Traum von einer harmonischen Menschengemeinschaft, die das Paradies auf Erden wieder
herzustellen sucht und damit Gottes Zorn auf sich zieht. In der Darstellung des babylonischen
420
Turmbaus im Buch Genesis 889 erreicht Gott sein Ziel durch die Verwirrung der Sprache:
Aufgrund der unmöglich gewordenen Verständigung verstreuen sich die Babylonier über die
ganze Welt – das gemeinsame Projekt liegt in Schutt und Asche. Kafkas Text beschreibt im
Gegensatz zum Alten Testament ein Babel in der verewigten Erwartung des göttlichen
Präventivschlags. Die Faust Gottes im Stadtwappen markiert die Heraldik des Stillstands in
der Erwartung der Auslöschung. Die Bewohner haben sich in der Erstarrung eines
Bürgerkriegs um leere Symbole häuslich eingerichtet. An die Arbeit selbst, die Glück verheißt
und Vernichtung beschert, wagt sich niemand heran. »Alles was in dieser Stadt an Sagen und
Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeitem Tage, an
welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgenden Schlägen
zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen.« 890 Für seine
Frankenberger PARTY in GERMANIA 3 schreibt Müller Kafkas Erzählung komplett ab. Sie
dient hier als Replik des Bürgermeistersohns auf das Credo des Kommunisten Ebertfranz:
»Der Kommunismus kommt, so sicher wie das Amen in der Kirche.« (W 5 289). Der hängt
sich am Ende der Szene an dem Nagel auf, an dem zuvor das Bildnis Stalins hing und trägt
damit der (späten) Einsicht Rechnung, dass Stalin nicht der Heiland der Revolution war,
sondern deren Liquidator. Dass Müller DAS STADTWAPPEN für die kohärente Darstellung
des »real existierenden« Sozialismus hält, spiegelt sich in diesem Satz, der das Dilemma einer
Bewegung zusammenfasst, die das Ziel zur Ikone gemacht hat, das die alltägliche Dreckarbeit
legitimieren soll. In der Folge schlägt Müller eine Umkehrung dieses Verhältnisses vor und
fordert, den Kommunismus zu vergessen und stattdessen an ihm zu arbeiten. »Ich bin nicht
mehr sicher, dass der Kommunismus, wie mein Vater mir Achtjährigem aus dem Buch eines
indischen Philosophen vorlas, das Schicksal der Menschheit ist, aber er bleibt ein
Menschheitstraum, an dessen Erfüllung eine Generation nach der anderen arbeiten wird bis
zum Untergang der Welt.« (W 8 465)
Nach 1989 häufen sich Formulierungen über den Stellenwert des Staates und insbesondere
der Diktatur im Denken Müllers. Die Intensivierung des Diskurses ist der Einsicht geschuldet,
dass der Staat verschwunden ist, bevor er seine eigentliche Aufgabe – die Schaffung der
Rahmenbedingungen für die Emanzipation des Menschen – überhaupt in Angriff nehmen
konnte. Insbesondere in Interviews kommt Müller immer wieder auf die Rolle der Diktatur
bezüglich der eigenen künstlerischen Produktion zu sprechen. »Gerade diese schwarze Folie
der Diktatur und dieses gebrochene oder ambivalente Verhältnis zum Staat war für mich ein
Movens, also eine Inspiration zum Schreiben.« (GI 3 98) Mit der Demokratie tut sich Müller
ausdrücklich schwerer. »Ich kann schwer demokratisch denken nach 40 Jahren Diktatur.« (GI
3 79) Zwölf Jahre Nationalsozialismus und vier Jahre Besatzungszeit werden in dieser
Aussage unterschlagen; sie sind indes in Betracht zu ziehen, will man Müllers grundsätzliche
Bejahung der SED-Diktatur nachvollziehen. Im übrigen handle es sich bei der westdeutschen
Demokratie um alles andere als demokratische Strukturen: »Demokratie gibt es ja gar nicht.
Das ist ja auch eine Fiktion. Es ist nach wie vor eine Oligarchie, und anders hat die
Demokratie noch gar nicht funktioniert. Es sind wenige, die auf Kosten von vielen leben.
Brecht hat das politisch formuliert. [Assheuer:] Oder Hofmannsthal. ›Manche freilich …
[Müller:] … manche freilich müssen drunten sterben.‹ Ja, das ist ja ein Jahrhundertgedicht.
889
s. a. Genesis 11, 1–9
890
Kafka-GW 8, 71
421
Und das ist heute die Situation. Ich kann da nicht in Jubel ausbrechen über Freiheit und
Demokratie.« (GI 3 191) Entsprechend schwer wiegt der unweigerliche Verlust des
Erfahrungsdruckes mit dem Wegfall der herkömmlichen politischen Struktur. Der
Aushöhlung der Macht folgt ihr Verschwinden. Was die Freiheit von den Fesseln bedeutet,
die Müller zuvor an den Schreibtisch ketteten, beschrieb bereits Hegel in seiner
PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES: »Kein positives Werk noch Tat kann also die
allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des
Verschwindens.« 891
Die prinzipielle Loyalität Müllers gegenüber der DDR besteht weit über deren Verschwinden
hinaus bis zu Müllers Tod im Jahr 1995. Geschuldet ist sie weniger der Überzeugung, in der
besten unter vielen möglichen Welten zu leben, denn vielmehr ihrer Alternativlosigkeit. Noch
bei Übernahme der Akademie-Präsidentschaft im Jahr 1990 ist der zähe Wille zu erkennen,
eine der »wichtigen kulturellen Bestandteile [der DDR] gegen die damals umfassend
politisch-ideologisch motivierte Liquidierung (›Abwicklung‹)« 892 zu verteidigen – ein Indiz
dafür, dass die DDR in Müllers Denken ein alternativlos utopisch besetzter Raum blieb (der
Kapitalismus bietet keine gesellschaftliche Perspektive insofern er an der permanenten und
endlosen Reproduktion des Bestehenden fortwirkt). Entsprechend reagieren Müllers Texte auf
die Leerstelle, die die schwindende DDR zurücklässt, lange bevor sie de jure und de facto
verschwunden ist: »Und was dann im Laufe der Jahre mit meinen Texten passiert ist, geht
weniger von mir aus, es ist ein Reflex auf die Aushöhlung der Macht. Zuletzt war da nur noch
ein Vakuum, und darauf reagieren die Texte.« (KOS 113) Der Druckverlust indiziert indes
keinen »Phantomschmerz« (KOS 361), sondern sammelt die Trümmer des
zusammenstürzenden Gebildes in einem Archiv der Zukunft: abrufbare Erfahrungen für ein
›kommendes Volk‹ (Deleuze). Die Voraussetzung dafür bildet die Auseinandersetzung mit
dem Scheitern der DDR und ihren vermeintlichen Ursachen. Die Zeit der Krise, die Reaktion
auf das Verschwinden des Kunstgebildes DDR, manifestiert sich im Schreiben Müllers
zunehmend mit dem Eingeständnis der Ratlosigkeit und der Verweigerung von Sinngebung.
In Müllers Theatervorstellung ist der Raum immer zuerst da und wartet darauf, von Figuren
ausgeschritten zu werden (s. a. GI 3 162). Doch wie bewegt man Figuren im Vakuum?
Welche Perspektive hat das Verschwundene? Antwort auf diese Fragen vermögen die späten
Texte Müllers zu geben, in denen vom ENDE DER HANDSCHRIFT die Rede ist und das
Scheitern angesichts der subjektiven Verlusterfahrung mitteilbar gemacht wird. Was als
persönlicher Unglücksfall im Krebstod seine Vollendung findet, weiß der Autor insofern
vollmundig als Glücksfall mit großem Materialwert zu preisen: »Auch die Erfahrung des
Scheiterns ist ein großes Kapital, das ist jetzt ein ungeheures Material für Kunst. Ich denke
schon, dass es eine Menschheitserfahrung ist, dieses Scheitern. Es ist doch ein seltener
Glücksfall in einem Lebenslauf, zwei Staaten untergehen zu sehen.« (GI 3 117) Nur vor
dieser Folie spiele die eigene Vita in ästhetischer Hinsicht überhaupt eine Rolle und
rechtfertige eine (kommerzielle) Autobiografie wie diejenige Müllers: »[Die] Biografie [ist]
unwichtig außer wenn sie Information über Zeitgeschichte transportiert« (HMA 4480).
Als unmittelbare Reaktion auf die Erfahrung des Scheiterns muss auch Müllers Autobiografie
gelesen werden. Das Verhältnis des Erzählers zum Staat, das Müller in seiner Autobiografie
891
Hegel-W 3, 435f.
892
Joachim Fiebach: Nach 1989. In: HMH 16–23, hier 18
422
konstruiert, ist also keinesfalls ein vorderhand oder gar ausschließlich antagonistisches, wie
die Sekundärliteratur immer wieder suggerieren will. Es ist weder eine konstitutionelle
Gegnerschaft 893 , auch keine kritische Auseinandersetzung mit dem »ideologischen common
sense des ›Arbeiter-und-Bauern-Staates‹ DDR« 894 und erst recht nicht die Identifikation im
Sinne eines »Gralshüter[s] der Feindschaft gegen ›den Westen‹« 895 . Vielmehr stellt der Staat
die Bühne dar, auf der Müller den Konflikt mit seiner Biografie austrägt. Mit den
wechselnden Arrangements (Leser, Berufsanfänger, Stückeschreiber/Dramaturg, auf
internationalem Parkett agierender Dramatiker und Regisseur) ändern sich die Bühnenbilder
(faschistische Diktatur, Besatzungszeit, DDR als Hort progressiver Kunst/restriktiver
Kulturpolitik, USA und Asien, Westeuropa und der Ostblock) bis das Theater in sich
zusammenstürzt. »Je mehr Staat, desto mehr Drama. Je weniger Staat, desto mehr Komödie«
(KOS 112f.), zitiert Müller den griechischen Künstler Jannis Kounellis. Müller interessiert an
diesem »Mehr« in erster Linie der Druck, dessen Fehlen beim passieren der hermetischen
Grenze gen Westen wie »das Auftauchen aus tiefem Wasser in eine flachere Schicht […]
Schwindel erzeugte« (KOS 364). Das Fehlen bezieht sich vor allem auf die historisch-
gesellschaftliche Langzeitperspektive. Legitimiere sich der Anspruch des sozialistischen
Projekts zumindest theoretisch durch das Ringen nach einem universalen Diskurs, »der nichts
auslässt und niemanden ausschließt« (W 8 212) – de facto das Ende der Repräsentanz –,
arbeite der kapitalistische Westen am »Schweigen der Entropie« (ebd.). Unabhängig von dem
miserablen Versuch einer Realisierung der Utopie in den sozialistischen Eiskesseln, bleibe die
»Vorstellung von einer anderen Gesellschaft […] ein Kraftquell« (GI 1 83). Wurde das
nationalsozialistische Regime lediglich als Unterdrückungszusammenhang erfahren, liegt dem
Verhältnis zur Diktatur des Proletariats, die auf dem Imperativ einer umfassenden
Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beruht, ein prinzipielles Einverständnis
seitens Müllers zugrunde. »Der Aufenthalt in der DDR war in erster Linie ein Aufenthalt in
einem Material. Das ist wie in der Architektur, auch Architektur hat mehr mit Staat zu tun als
Malerei, und das Drama hat mehr mit Staat zu tun als andre literarische Gattungen. Da gibt es
auch ein bestimmtes Verhältnis zur Macht, auch eine Faszination durch Macht, ein Sich-
Reiben an Macht und an Macht teilhaben, auch vielleicht sich der Macht unterwerfen, damit
man teilhat.« (KOS 113) In zahlreichen Interviews aus der Wendezeit ist dieses Thema
vielfach vorgeprägt. Dabei stellt sich heraus, dass Müller die Termini »Macht« und »Gewalt«
synonym verwendet: »Ich bin unter der einen Diktatur aufgewachsen und unter der nächsten
erwachsen geworden. Die war zuerst eine Gegendiktatur, eine Gegengewalt für mich, selbst in
stalinistischer Form. Ich konnte mich damit halb identifizieren. […] Sogar mit der Gewalt, so
lange sie nicht mich selbst betraf. Man gewöhnt sich an die Gewalt, man ist sogar fasziniert
von ihr.« (GI 3 78f.) Der Druck, unter dem die eigene Wahrnehmung steht, gründet auf der
Diskrepanz zwischen den subjektiven Handelnsdispositionen und dem objektiven
Erscheinungsbild der Macht. Daraus entsteht ein Zwiespalt, der die Mehrzahl Müllers
Interviewtexte nicht unwesentlich prägt: eine bei aller kritisch-analytischen Genauigkeit
überaus loyale Grundhaltung gegenüber dem politischen Regime der DDR. Mit dieser
893
»Der weitaus größte Teil der biografischen Mitteilungen ist bestimmt vom Spannungsfeld, das sich – bei
wachsender Spannung – zwischen dem Stückeschreiber und dem Machtapparat der DDR aufgebaut hat.«
(Schemme 1995, 205)
894
Norbert Otto Eke: Geschichte und Gedächtnis im Drama. In: HMH 52–58, hier 56
895
Horst Domdey: Die Tragödie des Terrors. Heiner Müller – letzter Poet der Klassenschlacht. Ein Essay. In:
Theater heute. Jahrbuch 1991, 104
423
Diskrepanz zwischen der Utopie des Programms und dessen erbärmlicher Wirklichkeit im
»real existierenden Sozialismus« begründet Müller letztendlich auch die Entstehung von
KRIEG OHNE SCHLACHT, als einen Versuch »die Verbindung einer Biografie mit der
Geschichte eines Landes« (Müller 1992, 9) zu verknüpfen: »… aus dieser Diskrepanz ergab
sich eine Spannung, und das Leben in so einer Struktur brachte einen sehr großen
Erfahrungsdruck. Ich würde es mal ganz ästhetizistisch formulieren: Es gibt einen Text von T.
S. Eliot, wo er schreibt: Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung.« (ebd.)
Trotz der partiellen Identifikation bleibt die »Faszination der Macht« (KOS 114) stets an
einen Diskurs des Anders- und Fremdseins gekoppelt, der aus einer Fluchtbewegung
hervorgeht, die – ausgelöst durch den Reflex auf ein frühes Kindheitstrauma – zum
Paradigma der eigenen Arbeit werden sollte. »Ich habe jahrzehntelang ein Problem mit
Uniformen, mit Polizei gehabt, das war angstbesetzt aus der Kindheit, und mit Angst musst
du irgendwie umgehen. Das galt auch für Gespräche mit Funktionären – nicht, dass ich da
Angst hatte, aber sie waren für mich immer die Polizei, und auf diesem Terrain musste man
sich vorsichtig bewegen. Es gab eigentlich immer seit der Verhaftung meines Vaters durch
die Nazis – wenn damals auch noch nicht bewusst – ein Schuldgefühl, weil man ja immer
anders dachte, als offiziell gedacht werden sollte. Ich war immer anders und hatte immer
etwas zu verbergen.« (ebd.) Wie die Formulierung Müllers verdeutlicht, ruft nicht die Angst
selbst das Gefühl der Fremdheit hervor, vielmehr liegt es in der Fluchtbewegung begründet,
die der Erfahrungsdruck auslöst. Diese Bewegung zwingt das Ich zu permanenten
Metamorphosen, die ihre Medialisierung in der Schrift erfahren. Bleibt der Druck aus, läuft
die künstlerische Produktion Gefahr, ihrer wichtigsten Antriebskraft beraubt zu werden. Trotz
Müllers Gewissheit, auf ein derartiges Stimulans nicht mehr angewiesen zu sein 896 , wird sein
dramatisches Werk mit der politischen Wende von 1989 brüchig. Die Mehrzahl der
vornehmlich essayistischen, lyrischen und Prosaarbeiten dienen in der Tat der
Positionsbestimmung, die um den Verlust einer Perspektive auf Einlösung der stets
implizierten Utopie kreisen. In ihnen findet Müllers Flucht ins Persönliche, die vielmehr eine
öffentliche Autopsie darstellt, einen kohärenten Ausdruck. Auf das überflüssig Werden der
Maskierung reagiert Müller mit einer radikalen Öffnung. Unter der Hand dessen, dem die
Handschrift abhanden kommt, geraten noch die intimsten Aussagen in ihrer bisweilen
bissigen Verweigerungshaltung zu eminent politischen Sprengkörpern.
Ein Beispiel, das von diesem Paradigmenwechsel in Müllers Schreiben eindrücklich Zeugnis
ablegt, stellt neben Texten wie MOMMSENS BLOCK oder TRAUMTEXT OKROBER 1995
die ERINNERUNG AN EINEN STAAT dar. Der Text kann als Versuch gelesen werden,
einen Zufluchtsraum für das flüchtige Ich jenseits der Bedingungen von Diktat und Diktatur
896
»Ich kann sehr gut auskommen mit dem, was jetzt ist. Diese Reibung war durchaus ein Motiv, da ich ja in
einem Land lebte, in dem die Literatur sehr ernst genommen wurde. Aber diese Reibung brauche ich
inzwischen nicht mehr. Ich kann mich selber motivieren und bin nicht mehr abhängig davon, dass jemand
etwas gegen mich hat. Jetzt geht es einfach darum, in der Zeit, die mir noch bleibt, das zu schreiben, was ich
schon lange schreiben will. Damit habe ich genug zu tun. Und das ist unabhängig von politischen Systemen
und gesellschaftlichen Strukturen.« (GI 1 133)
424
aufzuspüren. Indem er das Scheitern einem historischen Modell einstellt, zieht er Fluchtlinien
von der Antike bis in die Gegenwart und bildet so ein rhizomartiges Gebilde, das lineare
Geschichte in archäologische Schichten aufbricht. Diese Methode öffnet nicht nur neue
Perspektiven, sie zeigt zugleich Eingriffsmöglichkeiten auf, ist offen für die Manipulation und
impliziert damit die Neuordnung des Geschichteten. Auf diese Art und Weise deckt Müller
eine Vielzahl von Querverweisen auf, die aus seiner Sicht in direktem Zusammenhang mit
dem Verschwinden eines Phänotyps und der zugleich als notwendig betrachteten
Vergewisserung über die ihm zugrunde liegende Idee stehen.
Gleich die erste Bohrung legt ein Grundmuster europäischer Geschichte frei. Das erste dem
Kapitel vorangestellte Motto zitiert eine Passage über die Ausdehnung des Römischen
Imperiums aus dem vierten Buch Tacitus’ ANNALEN, in dem die Regierungszeit des Kaisers
Tiberius (14 n. Chr. bis 37 n. Chr.) beschrieben wird. »Die Mauren hatte König Nuba 897 vom
römischen Volk zum Geschenk erhalten. / Die schlimmsten Tyrannen kommen aus dem Exil.
/ Tacitus, Annalen« 898 Es ist vor allen Dingen der letzte Vers, der dem Zitat Sinn in Bezug auf
Müllers autobiografische Staatskunde verleiht. Er trifft nicht nur auf den Österreicher und
Festungshäftling Hitler zu. Das aus Stalins Russland heimkehrende Nationalkomitee Freies
Deutschland, allen voran Walter Ulbricht, Statthalter des sozialistischen Diktators und
Kolonisator des deutschen Ostens, lässt den Fortschritt in der Gestalt des Terrors der
Einparteienherrschaft auftreten, zu deren Konsul er sich aufschwingt. Wie der im Herzen
Roms sozialisierte Maurenkönig die römische Zivilisation über sein barbarisches Volk bringt
und es so für römische Zwecke funktionalisiert, tragen die Moskauer Exilanten Stalins
sozialistische Fackel in die Länder des Ostblocks. »Natürlich ist es eine Tragödie von
Dummheit und Inkompetenz, die hier passiert ist, aber dieser Befestigungs-, dieser
Sicherheitswahn der Funktionäre ist verständlich. All diese Menschen, die Partei-, die
Regierungsspitze, sie kamen aus der Verbannung, und die haben Deutschland erlebt als ein
feindliches Land und die deutsche Bevölkerung als eine feindliche Bevölkerung. Sie konnten
damit gar nicht anders umgehen als mit diesem Sicherheitswahn. Das ist nicht nur komisch,
das ist auch tragisch.« (GI 3 132f.) Insofern beschreibt das Tacitus-Zitat das Dilemma der
Geschichte des Sozialismus als archaisches Prinzip: Das Neue tritt im Mantel der Gewalt auf,
als Usurpator im blutigen Gewand, der seine Legitimation aus einem verhängten Recht
bezieht, das nicht von ihm stammt. Es gehört zur Qualität des literarischen Zitats, dass es auf
diesen Bedeutungsgehalt nicht reduziert werden kann. Ebenso verweist es etwa auf die
Situation des deutschen Westens, über den unter dem Mantel der westlichen Demokratie der
Terror der Warenwelt verhängt wurde, der nach dem Verschwinden der DDR auf die
östlichen Provinzen ausgeweitet wird. Ex post liest sich der aus der Perspektive des
Scheiterns geschilderte Versuch einer Kolonisation im Namen des Fortschritts als Desaster.
Der Schrecken des Stalinismus ist mithin nicht »DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES
NEUEN« (W 4 259), vielmehr erscheint er als Maske des zu überwindenden Alten, »als ein
897
König Juba II. wurde als Sohn des Königs Juba I. von Numidien geboren, der sich mit Pompeius gegen
Julius Caesar verschworen hatte. Nach der Niederlage Pompeius’ und seiner Anhänger gegen Julius Caesar
in der Schlacht bei Thapsus (46 v. Chr.), floh Juba zurück in sein Reich. Doch seine Untertanen
verweigerten ihm den Einlass in die Hauptstadt Cirta. Daraufhin beging der glücklose Herrscher
Selbstmord. Sein Sohn wuchs im Römischen Exil auf und genoss eine standesgemäße Ausbildung. 25. v.
Chr. wurde Juba II. von Augustus als Herrscher im Königreich Mauretanien eingesetzt (bis 25 n. Chr.).
898
KOS 362, s. a. LN 45. Bei Tacitus heißt es: »Mauros Iuba rex acceperat donum populi Romani.« (Tacitus:
Annalen 4,5)
425
Vorauskommando auf dem Weg in die kapitalistische Zukunft« (W 8 463).
Eine Entsprechung findet der Sinngehalt des Tacitus-Zitats in einer Passage des
nachfolgenden Essays: »In der DDR konnte Benjamins Traum vom Kommunismus als
Befreiung der Toten nur parodiert werden, weil für die Überlebenden der doppelt besiegten
Kommunistischen Partei die Macht zugleich ein Joch und ein Geschenk war. Der verordnete
Antifaschismus war ein Totenkult. Eine ganze Bevölkerung wurde zu Gefangenen der Toten.
Durch den nachträglichen Gehorsam der überlebenden Besiegten gegenüber den siegreichen
Toten der Gegenpartei, nach dem Modell Friedrichs des Zweiten, des einzigen Intellektuellen
auf einem deutschen Thron, der nach seiner Zähmung ein wirklicher Soldatenkönig wurde 899 ,
verloren die Toten des Antifaschismus ihre Aura. Die Replik auf die Konzentrationslager war
›das sozialistische Lager‹. Es selektierte auch noch seine Toten.« (KOS 363f.) Die von
Benjamin für eine marxistische Geschichtsschreibung eingeforderte Befreiung der Toten
implizierte die Kritik am »Ideal der befreiten Enkel« 900 . Dass die Sozialdemokratie »der
Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen« 901 suggerierte, stellte in
Benjamins Augen den Grund ihres historischen Versagens dar. Stattdessen überließ sie die
ritualisierten Totenfeiern den Nationalsozialisten, die mit ihrem funktionalisierten Todestrieb
ein ganzes Volk zur Hölle jagen wollten, dass ihnen darin willfährig Folge leistete. Die DDR,
Geschenk der sowjetischen Führung an die deutschen Exilkommunisten und Stalins
Gängelband, entpuppt sich für die »doppelt besiegten« Beschenkten als Büchse der Pandora.
Gekettet an das Joch der Macht, sehen sie sich außer Stande, an die Befreiung der mit den
Toten begrabenen Zukunft zu gehen. Stattdessen sind sie gezwungen, sich von den Toten in
Haftung nehmen lassen für die an ihnen verübten Untaten bis in alle Ewigkeit. Der
»verordnete Antifaschismus« erweist sich als ein Totenkult, der auch die Gegenwart, bevor
sie zu sich kommen kann, mit ins Grab nimmt. Insofern projizierte das »sozialistische Lager«
die Rampe von Auschwitz ins Totenreich: »die guten ins Töpfchen / die schlechten in
Kröpfchen.« 902 Die Blaupause für das »Prinzip Auschwitz« (KOS 363) sieht Müller in der
biblischen Vorstellung vom Jüngsten Gericht, das die Toten selektiert. Unter Zuhilfenahme
des Lebensbuches, in dem die Werke der Menschen verzeichnet sind, schickt der
Weltenrichter ihre Seelen ins Elysium oder wirft sie in den Feuersee des Vergessens 903 . Eine
Alternative zur Apokalypse setzte das Ende des Stellvertreterprinzips voraus, das Müller in
der christlichen Religion begründet sieht. (s. a. JN 29f.) »Carl Schmitt erwähnt in einem Text
über Dostojewskis Großinquisitor eine französisch-katholische Darstellung des Jüngsten
Gerichts. Der Weltenrichter hat sein Urteil gesprochen, und aus der heulenden Masse der
Kranken und Verbrecher steht ein Lepröser auf und erhebt Einspruch gegen das Urteil:
J‘apelle! Der Lepröse ist Gottes Sohn. Sein Einspruch wäre das Ende der Repräsentation, des
christlichen Jahrtausends.« (KOS 365f.) Das Bekenntnis des Gottessohnes zur (qualitativen)
Minorität der aus der Art geschlagenen, die Norm negierenden Abweichler stellt eine
Referenz an die Figur des Asozialen dar, wie sie Müller u. a. in der Bearbeitung Brechts
FATZER explizit herausstellte. Seine eigentliche Qualität besteht in der Behauptung der
899
s. a. die Szenen PREUSSISCHE SPIELE und ACH WIE GUT DASS NIEMAND WEISS / DASS ICH
RUMPELSTILZCHEN HEISS ODER / DIE SCHULE DER NATION in Müllers Stück LEBEN
GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI
900
Benjamin-GS I, 700
901
ebd.
902
Grimm 1969, 96
903
s. a. Die Offenbarung des Johannes 20, 11–15
426
Differenz gegenüber der normativen Macht eines Gesetzeswortes, das ohne Dialektik
auskommen muss, weil es den Widerspruch nicht kennt und aus diesem Grunde angewiesen
ist auf Selektion. Am Grenzübergang Friedrichstraße, einem der wenigen Schlupflöcher für
DDR-Privilegierte in der innerdeutschen Grenze, erfährt der Autor ein historisches Déjà-vu
der Rampe von Auschwitz: »Ich erinnere mich an das Bild eines Grenzsoldaten auf der
Kontrollbrücke über dem Westbahnsteig des Bahnhofs Friedrichstraße, in Breeches und
Stiefeln, die Hände in die Hüften gestemmt wie ein SS-Mann an der Rampe, wenn man lange
stehen muss, auf der Brücke oder an der Rampe, wahrscheinlich die bequemste Position.«
(KOS 364)
Eine weitere Korrespondenz findet das Tacitus-Zitat im zweiten dem ERINNERUNGS-
Kapitel vorangestellten Motto 904 : »Der Augenblick der Wahrheit wenn im Spiegel / Das
Feindbild auftaucht« (KOS 362). Die Verse gehen zurück auf ein Gespräch mit Wolfgang
Heise von 1986. Ein erster expliziter Hinweis auf die Verwendung des Zitats im Bezug auf
das Nachwort findet sich in einer Nachlassnotiz: »Wolokolamsker Chaussee 2 / Der
Augenblick / der Wahrheit Im / Spiegel das Feindbild // (Nachwort) / Erinnerung an einen
Staat / Das Ende des Wohlstands« (HMA 4488) Das Zitat ist wortgetreu, Abweichungen
existieren lediglich hinsichtlich der Interpunktion und der nachträglichen Überführung in den
(gebrochenen) Blankvers. In dem Gespräch mit Heise über Brecht betont Müller sein
Interesse am »Lernen durch Schrecken« (GI 2 55). In Brechts Postulat der Fremdwerdung als
Voraussetzung einer Erkenntnis durch Schock, sieht Müller einen zentralen Punkt und die
Bedingung für geschichtliche Bewegung überhaupt. Jacques Lacan knüpft
Entwicklungsfähigkeit von vornherein an die verfremdete Erkenntnis in der spiegelbildlichen
Verkehrung. »Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne,
den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme
eines Bildes ausgelöste Verwandlung.« 905 Der Spiegel ist Garant für Emanzipation. Mit dem
Wegfall der DDR und der Beseitigung der letzten Relikte einer stalinistischen Struktur gerate
der Osten Deutschlands jedoch in den Sog der westlichen Demokratie, der als Heimkehr in
den »Schoß des Kapitals« (W 8 464) und also Regression erfahren wird. Im letzten Teil der
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, seinem mutmaßlichen »Abschied von der DDR« (KOS
351), hatte Müller in Anlehnung an Kleists FINDLING den Blick in den Spiegel zum
Prüfstein der kommunistischen Lehre gemacht, die in der Lage sein muss, die selbst erzeugten
Widersprüche auszuhalten, ohne daran zu zerbrechen: »Und dein Augenblick / Der Wahrheit
IM SPIEGEL DAS FEINDBILD war / Dein letzter Augenblick Der Maskenball / Der toten
Avantgarde dein letzter Film« (W 5 245). Was Brecht/Müller als historisches
Bewegungsprinzip und Ausweg aus der permanenten Reproduktion des alten
Gewaltzusammenhanges begriffen haben, bildete hier den tragischen Endpunkt einer an den
Folgen der eigenen Courage erstarrenden Bewegung. Die Lehre verwandelt sich in der Folge
in Leere, die einer sozialistischen Wirklichkeit die Farben ausgesogen hat und kein Bild mehr
hergibt (VAMPIR) oder in das im leeren Theater vergessene Brautkleid des Kommunismus,
904
Mit der Technik der Zitatreihung verweist der Text auf seinen eigenen literarischen
Produktionsmechanismus und beleuchtet damit zugleich die »Dialogiziät« (Bachtin) von Texten als
Merkmal gesellschaftlicher Diskursbildung, die des Subjekts ausschließlich als autoreferenzielle ›Realität
des Diskurses‹ bedarf. Die Aussage ›Ich‹ ist immer an eine Sprecherinstanz gebunden und besitzt somit
ausschließlich diskursive Realität (s. a. Benveniste 1977, 279ff.).
905
Lacan 1985, 318
427
das nach der blutigen Brautnacht vergeblich auf eine Wiederbelebung wartet
(THEATERTOD). Müllers späten Texte oszillieren zwischen diesem Verlust persönlicher
Integrität und der Erfahrung geschichtlichen Scheiterns.
Der Text ERINNERUNG AN EINEN STAAT beschreibt die Geburt des Gedächtnisses aus
eben jener Erfahrung eines Verlusts und des darüber empfundenen Schmerzes. Der Verlust
besteht im Scheitern einer historischen Perspektive des Kommunismus. Gerade in diesem als
Geburtsfehler angelegten Scheitern vermag Müller jedoch eine Chance aufzuspüren. Im
Vorwort zu einer 1993 von Thomas Grimm herausgegebenen Anthologie 906 bemerkt Müller:
»Zum ersten Mal ist ein Staat, einer der kurzlebigsten der europäischen Geschichte,
letztendlich das Geschenk eines Imperiums an seine doppelt besiegten Vasallen (Tacitus: Die
Mauren hatte König Nuba vom römischen Volk zum Geschenk erhalten), nach vierzigjähriger
Zersetzungsarbeit einfach von der Bildfläche verschwunden. Das ergibt eine Chance,
vielleicht die letzte.« (W 8 463) Worin diese Chance bestehen könnte, darüber gibt der Text
keine Auskunft – möglicherweise im Nachdenken über die utopische Kraft der Gründe für das
vierzigjährige Scheitern. Wie in der von Cicero tradierten Simonides-Geschichte 907 , dient die
Trauerarbeit des Müllertextes zugleich der Rekonstruktion des Katastrophenhergangs. Sie
analysiert das verlassene Schlachtfeld, benennt die zerschlagenen Gegenstände und fügt sie so
im Geiste zusammen. Aus den Trümmern entsteht so ein Andenken an die unter ihnen
begrabene Zukunft, ein Eingedenken im benjaminschen Sinne. Die »Erinnerung« ist nichts
anderes als das Medium, mit dessen Hilfe die »Wunde« Gedächtnis lesbar wird. In der
GENEALOGIE DER MORAL macht Nietzsche auf die blutige Wurzel der Mnemotechnik
aufmerksam: »nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis. […] Es ging niemals
ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu
machen« 908 . Die mnemotechnische Belebung-Personwerdung der Gedächtnisbilder bedeutet
906
DAS LIEBESLEBEN DER HYÄNEN. In: Thomas Grimm: Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der
sozialistischen Utopie. Berlin 1993, 7f. (s. a. W 8 463–465)
907
Haverkamp/Lachmann sehen in der Simonides-Geschichte die »Urszene der Mnemotechnik«
(Haverkamp/Lachmann 1991, 26). Sie beschreibe »den vergessenen Ursprung dieser Kunst aus den Folgen
einer Katastrophe« (ebd.). Cicero zieht die Simonides-Episode lediglich zur Illustration des Verhältnisses
von Bild und Schrift im Gedächtnisraum heran. Im Anschluss an die Wachstafel-Metapher des Aristoteles
gehe es um die Vorzugsrolle der visuellen Wahrnehmung sowie deren eigentümliche Zurücknahme auf die
Lesbarkeit der Schrift: »Man erzählt sich, dass Simonides, als er bei Skopas, einem reichen und vornehmen
Manne zu Krannon in Thessalien speiste, ein Lied auf ihn gesungen habe, in dem nach Dichterart zur
Ausschmückung Kastor und Pollux ausführlich besungen worden seien. Da habe Skopas in allzu schäbiger
Gesinnung zu Simonides gesagt, er werde Ihm für dieses Lied die Hälfte dessen geben, was er mit ihm
vereinbart habe; die andere Hälfte solle er gefälligst bei seinen Tyndrariden holen, die er ebenso gepriesen
habe. Kurz darauf habe man Simonides, so heißt es, ausgerichtet, dass er nach draußen kommen solle; zwei
junge Männer stünden an der Türe, die dringend nach ihm riefen. Da sei er aufgestanden und
hinausgegangen, habe aber niemanden gesehen. Unterdessen sei der Raum, wo Skopas speiste, eingestürzt.
Durch diesen Einsturz sei er selbst mit seinen Angehörigen verschüttet und getötet worden. Als die
Verwandten sie bestatten wollten und die Opfer auf keine Weise von einander unterscheiden konnten, soll
Simonides aufgrund der Tatsache, dass er sich daran erinnern konnte, an welcher Stelle der betreffende
jeweils gelegen hatte, Hinweise für die Bestattung jedes einzelnen gegeben haben. Durch diesen Vorfall
aufmerksam geworden, soll er damals herausgefunden haben, dass es vor allem die Anordnung sei, die zur
Erhellung der Erinnerung beitrage. Wer diese Seite seines Geistes zu trainieren suche, müsse deshalb
bestimmte Plätze wählen, sich die Dinge, die er im Gedächtnis zu behalten wünsche, in seiner Phantasie
vorstellen und sie auf die bewussten Plätze setzen. So werde die Reihenfolge dieser Plätze die Anordnung
des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir könnten die Plätze
anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen.« (Cicero 1976, 433)
908
Nietzsche-W 2, 802
428
indes auch, dass die Bilder als personae Masken sind 909 , Masken der Dinge, die im Fundus
des Gedächtnistheaters deponiert werden. Die Übersetzung des zu Erinnernden ins
Erinnerungsbild ist bereits Entstellung. Die similitudo (Ähnlichkeit) läuft mithin nicht auf das
Abbild vom Urbild hinaus, sondern ist simulatio (Verstellung). In dieser Befreiung vom
Prinzip der mimesis liegt ihr utopischer Gehalt begründet.
Evident wird die erfahrungslose Leere im Bild des Ostblocks als gefrorener Kessel. So
erkennt der archäologische Blick, dass bereits die Geburtsstunde des Sozialismus auf
deutschem Boden einem Vorgang der Entschleunigung, oder vielmehr einem Akt der
Erstarrung geschuldet ist, der die kinetische Energie der (nationalsozialistischen)
»Bewegung« auf den Status quo des Kalten Krieges herunterfährt. Bereits der Jude Victor
Klemperer hatte die nationalsozialistische Gesellschaft auf das Prinzip permanenter
»Bewegung« zurückgeführt. In LTI, Klemperers Sprachanalyse des Dritten Reiches, heißt es:
»So sehr ist Bewegung das Wesen des Nazismus, dass es sich selber geradezu als ›die
Bewegung‹ bezeichnet.« 910 Anknüpfend an diesen Gedanken formuliert Bernd Böhmel, der
Faschismus sei existenziell an die Grenzenlosigkeit von Zeit und Raum gebunden, die die
Bewegung in die Ewigkeit hinein verlängert und die Utopie eines Tausendjährigen Reiches
gebiert. Daraus resultiere der »Angriff als spezielle Form der gesellschaftlichen
Realisierung« 911 . Doch setze diese Form »Raum voraus als Feld für den Angriff. Ohne Raum
kein Angriff. Alles, was vorwärts der Kampfzone liegt, ist potenziell Angriffsfeld,
gesellschaftlich Lebenszeit, philosophisch Unsterblichkeit.« 912 Dem ständig sich erneuernden
Angriff als Form der gesellschaftlichen Realisierung stellen sich allein diejenigen in den Weg,
die nicht vom Raum, sondern in ihm leben: die Juden. Deren Theologie geht von der
erwarteten Endlichkeit der Welt aus. »Die Diaspora verschärft die Kollision. Sie setzt die
Verheißung in Kraft. Solange sie dauert, steht die Endlichkeit der Welt auf gegen die Utopie.
Da die Juden in der Diaspora leben, werden sie wieder und wieder von den Sichelschnitten
der Wehrmacht erfasst, in Polen, Holland, Norwegen, der Sowjetunion, in allen angegriffenen
Gebieten. Es ist unheimlich wie im Märchen vom Hasen und dem Igel. Wo die Wehrmacht
hinkommt, sind die Juden schon da. Sie sind das Deutschlands Unsterblichkeit leibhaftig auf
den Weg zerstreute philosophische Hindernis.« 913 In einem anderen Text hatte Bernd Böhmel
im Anschluss an Ernst Jünger (DIE TOTALE MOBILMACHUNG) und Carl Schmitt (der
»absolute Feind« in der THEORIE DES PARTISANEN) darauf hingewiesen, dass das
Vernichtungswerk der Nationalsozialisten auf eine gesellschaftliche
»Geschwindigkeitsdifferenz« zurückgeführt werden müsse. Die Todeslager fungierten als
Beschleuniger. »Im Vernichtungstrakt wird die Zivilbevölkerung beschleunigt. Sie wird in
Basis, Materialien zerlegt, in Hitze, Asche, Rauch, die der Ausbreitung von Geschwindigkeit
wenig oder keinen Widerstand entgegensetzen.« 914 Andererseits legt sich die
Vernichtungsmaschinerie quer zum Angriff, indem sie das Schienennetz blockiert und die
Mobilität der Wehrmacht reduziert. Müller greift im Zusammenhang mit Hitlers
Expansionsplänen wiederholt auf diesen Gedankengang zurück. So betont er etwa im
909
s. a. Fuhrmann 1979, 83–106, bes. 85f.
910
Victor Klemperer 1975, 238
911
Böhmel 1996, 19
912
ebd.
913
ebd.
914
Böhmel 1992, 445
429
Gespräch mit Frank Michael Raddatz bezüglich Hitlers Expansionsstrategie: »Sein Problem
war, dass er zu wenig Treibstoff für sein Programm, die Strategie der Mobilität hatte.« (JN
79) In einem Gespräch mit jungen französischen Regisseuren, dass unter dem Titel
AUSCHWITZ UND KEIN ENDE zuerst in der DRUCKSACHE 16 erschien, einer
Schriftenreihe die Müller nach der Übernahme der Leitung des Berliner Ensembles in
Anlehnung an Brechts VERSUCHE-Hefte anregte, heißt es: »Mao Tse-tung hat gesagt, der
Nationalsozialismus war unbesiegbar, solange er im Angriff war. Es war ein Angriff ins
Leere, in den leeren Raum, nur Bewegung, keine Reserven. Als der Angriff vor Moskau zum
Stehen gebracht wurde, war es vorbei. Der erste Stopp war schon das Ende. Und der Kessel
von Stalingrad ist der Sarg von Attila. Der einzig nationale Stoff sind die Nibelungen.«
(MARTERPFAHL 56) Die implizite Verknüpfung von Auschwitz (»Attilas Sarg«) mit
Stalingrad ist schlüssig. In seinem letzten Stück GERMANIA 3 GESPENSTER AM TOTEN
MANN legt Müller Hitler die Worte in den Mund: »Der Jude war mein Unglück er säuft mein
/ Benzin das mir zum Sieg fehlt Seine Asche / Beschwert die Ketten meiner Panzer.« (W 5
267) Müller führt die fatale Begegnung des deutschen Todestriebes mit der jüdischen
Endzeiterwartung auf die gestörte Selbstwahrnehmung der Deutschen zurück, deren Ursache
die Geschichte eines Scheiterns sei. Von den Bauernkriegen über den Dreißigjährigen Krieg
bis hin zu der geplatzten bürgerlichen Revolution von 1848 sei in der deutschen Geschichte
jede ernst zu nehmende Emanzipationsbestrebung von reaktionären Kräften niedergewalzt
worden. »Und aus der Angst, keine Identität zu haben, entsteht der Todestrieb. Also der
Wunsch, auszulöschen oder ausgelöscht zu werden. In dem Zusammenhang fällt mir noch
eines ein: Es mag seltsam klingen, aber es gibt eine merkwürdige, eine totale Affinität
zwischen Deutschen und Juden. Sie ergibt sich aus diesen Identitätsproblemen. Der Deutsche
ist nicht zu Hause, der Jude ist nicht zu Hause. Der Deutsche ist sich selber fremd, der Jude ist
sich selber fremd – gemacht worden. Aus dieser Affinität heraus kam es dann zu jener
tödlichen Begegnung.« (GI 1 180) Die ›tödliche Begegnung‹ bleibt nicht ohne existenzielle
Auswirkung auf Müllers autobiografische Konstruktion. In einem Text aus dem Nachlass,
[Die deutsche Form der Revolution …], beschreibt Müller im Zusammenhang mit den Stasi-
Vorwürfen die eigene Judaisierung als gesellschaftliches Phänomen jenseits ideologischer
Grenzen. Seien die Juden eine ›zur Ablenkung vom Klassenkampf erfundene Rasse‹, die von
Hitler zum »Sündenbock für die Defekte des [vom] Kapitalismus auserwählten Volk[es]« (W
8 605) gestempelt worden ist, trete in der DDR »in den Augen von Staat [und Volk] die
Intelligenz an die leergeräumte Position der Juden – die Leerstelle das Vakuum der
unkalkulierbaren Beschleunigung.« (W 8 606) Was Müller hier beschreibt, ist der aggressive
Abwehrmechanismus der kleinbürgerlichen Mentalität gegenüber jeglicher Störung ihres
Dornröschenschlafes: »Der Kleinbürger erträgt nur Zustände, der Wechsel ist ihm verhasst.«
(ebd.)
Müller eröffnet die ERINNERUNG AN EINEN STAAT explizit mit einem Gedanken Bernd
Böhmels: »Bernd Böhmel überraschte mich vor ungefähr zehn Jahren mit der These, dass die
Übernahme der konterrevolutionären deutschen Strategie der Kesselschlacht durch die Rote
Armee das Ende des sowjetischen Zeitalters eingeleitet und die Staatengebilde des Ostblocks
zu gefrorenen Kesseln gemacht habe, mit Abgrenzung nach außen und Kolonisierung der
Binnenstruktur, bewohnt von gefangenen Befreiten.« (KOS 362) Der Einstieg in das
Nachwort stellt ein Beispiel für die serielle Verwertung ein und desselben Materials dar.
Müller verwendet den Satz mit geringfügigen Abweichungen als Einleitung zu dem von
430
Böhmel 1992 in »Sinn und Form« veröffentlichten Aufsatz DAS GEHEIMNIS DES SIEGES
– DUELL MIT SCHLIEFFEN. In diesem Zusammenhang bezeichnet Müller Böhmels Text
als »eine der raren Orientierungshilfen im Denkschlamm der Postmoderne« (W 8 417). In
einem Gespräch für den Tagesspiegel vom 9. November 1991 – dem Jahrestag des 18.
Brumaire (1799), der doppelten Ausrufung der Republik (1918), des Hitler-Ludendorff-
Putsches (1923), der SS-Gründung (1925) sowie des Mauerfalls (1989) – beschreibt Müller
den Zusammenhang von der Übernahme der Kesselschlacht mit dem »Ende des sowjetischen
Zeitalters« noch dezidierter als in (s)einer Autobiografie: »Ich weiß nicht, ob Stalingrad ein
Sieg war. Ich meine, es war auch für die Sowjets kein Sieg. Das ist, was mich interessiert:
Was ist ein Sieg, was ist eine Niederlage? Stalingrad war die zweite sowjetische
Kesselschacht. Die erste war Kursk, soviel ich weiß. Wenn man es kurz beschreiben will, so
hat der Kessel zwei Seiten, eine Außen- und eine Innenseite. Die motorisierten Verbände
schneiden ein Segment aus dem Territorium, und vorher narkotisieren die Flugzeuge, das ist
eine ganz chirurgische Sache. Und dann kommt die Infanterie und räumt auf, danach die
Polizei oder was auch immer. Das wesentliche ist die Abgrenzung nach außen und die
Zerstörung der Infrastruktur. Stalin war gegen die Kesselstrategie. Seine Vorstellung war, in
der Bürgerkriegsstrategie auf breiter Front den Feind aus dem Land treiben. Dagegen hat
Schukow sich durchgesetzt und hatte Erfolg. Danach gab es nur noch sowjetische
Kesselschlachten. Das Ergebnis war – das ist nicht meine Idee, sondern eine geniale Einsicht
von Bernd Böhmel: die sozialistischen Staaten oder sogenannten sozialistischen Staaten
waren gefrorene Kessel: Abgrenzung nach außen und Zerstörung der Infrastruktur. Es war das
Ende der Sowjetunion, Stalingrad.« 915 Zu den »gefangenen Befreiten« oder »doppelt
besiegten Vasallen« (W 8 463) einer stagnierenden Revolution und ihrer weltpolitischen
Verstrickungen rechnet sich Müller ausdrücklich selbst hinzu. Das gestörte Verhältnis zur
Macht ist gleichsam Bestandteil des eigenen Lebens wie fundamentale Bedingung des
eigenen künstlerischen Ausdrucks. Der Mythos Stalingrad übte bereits auf den jugendlichen
Müller einen ungeheuren Eindruck aus. Als Dreizehnjähriger hörte er in einer Sendung des
Moskauer Rundfunks ein Gedicht Erich Weinerts, von dem sich ihm die Verszeilen »Mutter,
ich komme aus Stalingrad« eingeprägt hätten, die der Geist des toten Sohnes über sein leeres
Grab haucht. Später findet Müller diesen Eindruck in der Lektüre einer Unzahl sowjetischer
Kriegsdarstellungen und Romane bestätigt (s. a. Müller 1992, 11f.).
Die Energie der nationalsozialistischen Kriegsmaschine – in Westdeutschland in die
kapitalistische Produktion reintegriert, die im »Wirtschaftswunder« ihre Klimax erfuhr – sei
im Osten Deutschlands und den bereits auf Jalta Stalins Hoheit anvertrauten Staaten im Raum
zwischen der innerdeutschen Grenze und Moskau eingefroren worden. Dabei hängen
915
GI 3 143f. Noch eineinhalb Jahre später kommt Müller im Gespräch für den »Freitag« explizit auf Böhmels
These zur Erklärung für das Ende des Ostblocks zurück: »Der Kessel hat zwei Seiten: von außen die
Eingrenzung, innen Zerstörung der Infrastruktur. Die Bomber betäuben, das ist die Narkose, dann kommen
die motorisierten Verbände, das ist die Operation, dann kommt die Infanterie und räumt auf. Der Kessel,
sagt Bernd Böhmel, von dem diese seltsame, aber einleuchtende These stammt, ist die Strategie der
Konterrevolution. In Stalingrad haben die Sowjets sie übernommen. / Stalin war immer gegen
Kesselschlachten, er dachte noch in Kategorien des Bürgerkrieges: Massen marschieren auf breiter Front
nach vorne. Schukow hat sich 1942 gegen Stalin durchgesetzt. In Stalingrad gab es den ersten großen
Kessel, danach bis zum April 1945 nur noch Kesselschlachten. Wenn man eine Strategie übernimmt,
integriert man den Gegner. Das Ergebnis der Übernahme der konterrevolutionären Strategie war die Bildung
der Ostblockstaaten als gefrorene Kessel: Abgrenzung nach außen, Zerstörung der Binnenstruktur. Das war
das gleiche Prinzip. Das Ende der DDR war eigentlich Stalingrad.« (GI 3 203f.)
431
Bewegung in Permanenz und Stillstand im gefrorenen Kessel kausal miteinander zusammen.
Die Identifikation mit der Strategie des Gegners führt zur Ununterscheidbarkeit mit ihm. Im
Anschluss an Wassili Grossmans Roman LEBEN UND SCHICKSAL bezeichnet Müller das
Zusammentreffen von Roter Armee und Wehrmacht als das Aufeinandertreffen einer
Zivilisation der Städte und einer der Steppe und Dörfer: »ein Endpunkt« (Müller 1992, 12).
Die Übernahme der Strategie, mit der die Wehrmacht ihre Gegner sedierte und deren
Übertragung auf den Staatsapparat, lässt die sowjetische Kolonialpolitik nach 1945 als
Fortsetzung des Krieges mit den Mitteln des besiegten Feindes erscheinen. War in der
Bewegungsphilosophie der Nazis Angriff identisch mit Lebenszeit, staute sich hinter der
Zeitmauer des Ostblocks das Leben in Zeitlupe auf, die jeden Moment drohte, ins Standbild
überzuspringen und von dort in den Rücklauf oder Filmriss. Ostdeutschland bekam in diesem
Welttheater des Sozialismus die Rolle des Grenzpostens auf den Festen des verblutenden
Weltgeistes übertragen, der die Verwerfungen der Weltpolitik klaglos mit ansehen musste.
»Die DDR war ein Staat auf Widerruf, eine Ableitung der Sowjetunion, militärisches Glacis
im Westen, schwer zu halten gegen den ökonomischen Sog des anderen reicheren
Deutschland, schwer aufzugeben wegen der zunehmenden Unsicherheit des polnischen
Zwischenraums: Stalins Politik war Befestigung, nicht Eroberung.« (KOS 362) Eine fatale
Bedingung des desaströsen Geschichtsverlaufes sei die »Enthauptung der deutschen
Arbeiterbewegung, der Tod Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts« (GI 3 91) gewesen.
Böhmel sieht in dieser Enthauptung die Bedingung für den Siegeszug Hitlers: »Am 15. 1.
1919 erschlägt Runge Rosa Luxemburg. Die Sau muss schwimmen. Man wirft sie in den
Kanal. Sie schwimmt 167 Tage, dann kehrt sie zurück, es wird ein Zug sein ohne Wiederkehr
und Runges Spur sich verlieren in einem Schneeloch bei Stalingrad. […] Rosa wird
geschlachtet, Schlieffens Zeitalter rückt in den Zenith. Es folgt der Zug in den Kessel an der
Wolga, wo das Feuer von den Wänden fällt und unser Schicksal sich erfüllt.« 916 Die Folge,
betont Müller, sei der Anschluss der deutschen Arbeiterbewegung an Moskau gewesen, die
Ostdeutschland und den Ostblock auf den Status von Grenzbefestigungen Stalins reduziert
hätte (s. a. GI 3 91), der die Revolution im nuklearen Patt einfror. Mit dem Ende des Kalten
Krieges büßten sie ihre Funktion ein. »Nach Hiroshima waren Feldzüge á la Napoleon, die
durch Zerschlagung feudaler Zollschranken die bleibende Errungenschaft der Französischen
Revolution, die Freiheit der Ausbeutung, exportiert hatten, nur noch in Generalstäben
denkbar, hatte der Traum von einer Welt jenseits der Ausbeutung keine Realität mehr. Das
Ende der militärischen Konfrontation bedeutete notwendig das Ende der DDR, eines ihrer
teuersten Produkte.« (KOS 363)
Die Böhmel-Passage der ERINNERUNG AN EINEN STAAT geht auf eine gestrichene
Passage im Manuskript der Rohfassung zurück, die Müllers in Gesprächen der
vorangegangenen Jahre bereits mehrfach bekundetes Interesse an den Thesen Böhmels
dezidiert herausstellt und auf die eigene künstlerische Tätigkeit bezieht. »Das letzte Ende war
Stalingrad. Der Sieg der Russen war die totale Niederlage, für die Deutschen und für die
Russen. Stalingrad war das Ende von zwei Völkern, Deutschland und Russland. Der Punkt,
wie es dahin gekommen ist, ist interessant. Alles, was danach kam, waren Folgen. Vielleicht
war es auch nur das Ende von zwei Ideen, zwei Programmen. Das ist jetzt nicht so sehr auf
meinem Mist gewachsen, aber das finde ich schon ein großes Konzept von dem unglücklichen
916
Böhmel 1996, 19
432
Böhmel. An diesem Konzept doktort er seit Jahren herum und wird nie fertig damit. Böhmel
ist so ein Benjamin-Typ, er produziert ein ewiges, lebenslanges Fragment. Seine These ist
ganz einleuchtend, er kam auf sie, weil er versucht hat, über meine Stücke zu schreiben:
Schlieffen ist der Liquidator von Marx. 917 Klingt etwas abstrus auf Anhieb, doch der
Schlieffenplan ist vor dem Ersten Weltkrieg in Erwartung eines Zweifrontenkrieges
entwickelt worden, weil Deutschland aufgrund seiner geografischen Lage immer mit zwei
Fronten rechnen musste, Russland und Frankreich. Daraus ergab sich das Konzept des
Bewegungskrieges, also Angriff ohne Reserven. Der Schlieffenplan bedeutete – was
Frankreich betrifft – den Vorstoß durch das neutrale Holland und Belgien bis hinter Paris. Die
direkt angreifende Umzingelungsflanke und der mittlere Flügel mussten beweglich bleiben.
Man muss zurückweichen können, notfalls die Franzosen nach Deutschland reinlassen
können, und dann quetscht man sie von hinten an die Schweiz. Das Wesentliche daran ist
Bewegung, die Bewegung darf nicht aufhören. Die Korrektur, die Moltke vorgenommen hat –
er hat den mittleren Flügel festgemacht –, war das Ende. Damit hörte die Bewegung auf, es
kommt der Stellungskrieg, Materialschlacht. Die Materialüberlegenheit des Gegners kam zum
Tragen. 918 Hitler hat daraus gelernt. Der Blitzkrieg ist nur eine Steigerung des
Schlieffenplans. Das Wesentliche ist der Kessel, die Umzingelung. Die These von Böhmel ist
nun die: Der Kessel, das ist die Strategie der Konterrevolution. Der Kessel hat zwei Seiten,
Abgrenzung nach außen, Zerstörung der Infrastruktur nach innen. Kessel ist seitdem auch für
die Polizei ein Begriff. Auch dieses amerikanische Kosmos-Programm ist ein kosmischer
Kessel von der Idee her. Das revolutionäre sowjetische Zeitalter ist nach Böhmel in dem
Moment zu Ende, in dem die Sowjets diese Strategie der Konterrevolution übernahmen.
Schukow hat sich durchgesetzt gegen Stalin. Stalin war gegen Kesselschlachten. Er sagte
immer: ›Wo sind die Reserven? Damit zerstört man das eigene Territorium.‹ Von Stalingrad
an gab es in der Sowjetunion nur noch Kesselschlachten. Das Ergebnis waren gefrorene
Kessel in Gestalt dieser sozialistischen Länder, Abgrenzung nach außen, Zerstörung der
Infrastruktur nach innen, Außerkraftsetzung von Menschenrechten und so weiter. Das ist
schon ganz interessant. Ich habe das jetzt sehr vereinfacht, aber damit kann man was
anfangen. Und auch die Juden störten einfach die Bewegung. Auch das KZ, die
Vernichtungslager, sind eine Konsequenz daraus.« (HMA 4487, 341ff.) Die Passage macht
wie alle früheren Verweise auf das Konzept Böhmels überdeutlich, dass die Gründe für den
Zusammenbruch des Systems von Müller nicht in einer verfehlten Politik der DDR selbst
gesehen werden, vielmehr das System selbst bereits als Folge historischer Ereignisse
betrachtet werden müsse, die Müller auf die Jahre 1918 (Novemberrevolution und Ermordung
Rosa Luxemburgs/Karl Liebknechts im Januar 1919), 1933 (Machtergreifung der
Nationalsozialisten unter Hitler) und 1942 (Einkesselung der 6. Armee bei Stalingrad und
Endgültige Niederlage im Februar 1943) datiert (s. a. Müller 1992, 11). Daraus, räumt Müller
917
Im Interview hatte Müller 1988 darauf hingewiesen, dass der Schlieffen-Plan »marxistisch gesehen, die
Befreiung des Proletariats aus der Ausbeutung durch die Rückführung in den Jägerstatus« gewesen sei. »Die
historische Regression wird zugleich als Befreiung erfahren. Das ist ein Motiv für die Kriegsbegeisterung
von 1914.« (GI 2 121)
918
Im Gespräch mit Alexander Kluge formuliert Müller: »Ein anderer Aspekt ist natürlich, dass der Schlieffen-
Plan ja auch auf der ununterbrochenen Bewegung beruhte. Und Moltke hat eine Korrektur an dem Plan
gemacht. Für Schlieffen war klar, dass er den mittleren Teil des Frontabschnittes beweglich halten und auch
die Franzosen nach Deutschland hereinlassen wollte, damit die Bewegung erhalten bleibt. Moltke hat dann
aus Patriotismus die Mitte festgemacht und damit eigentlich den Stellungskrieg provoziert, und das heißt,
die materielle Überlegenheit des Gegners …« (LV 136)
433
ein, folge ein explizites Desinteresse an den Oberflächenbewegungen der Wendezeit. »Ich
kann sehr gut auskommen mit dem, was jetzt ist. Diese Reibung war durchaus ein Motiv, da
ich ja in einem Land lebte, in dem die Literatur sehr ernst genommen wurde. Aber diese
Reibung brauche ich inzwischen nicht mehr. Ich kann mich selber motivieren und bin nicht
mehr abhängig davon, dass jemand etwas gegen mich hat. Jetzt geht es einfach darum, in der
Zeit, die mir noch bleibt, das zu schreiben, was ich schon lange schreiben will. Damit habe
ich genug zu tun. Und das ist unabhängig von politischen Systemen und gesellschaftlichen
Strukturen.« (GI 3 133) Die sogenannte Wende sei nichts anderes gewesen als die Befreiung
der DDR-Bevölkerung aus der »imaginierten Warteschleife des REAL EXISTIERENDEN
SOZIALISMUS« (W 8 382) und ihre Einspeisung in die Warengesellschaft, beziehungsweise
in die »ökonomisch dominierte Warteschleife« (W 8 383) des Westens. Dagegen hätten die
wirklichen Veränderungen, »die dann hier nur wie Implosionen einer Sprechblase spektakulär
geworden sind, […] viel früher stattgefunden, aber so als unterirdische, tektonische Beben.«
(Müller 1992, 11; s. a. GI 3 143) Aus diesem Grund sei die Katastrophe von Stalingrad
wichtiger als der Fall der Mauer, »die nur eine Folge ist […] von Erosionen, Veränderungen
und Umwälzungen, die unterirdisch stattgefunden haben.« (GI 3 132) Aber auch Schlieffen-
Plan und Stalingrad lassen sich in einen weiter gefassten Kontext einbetten, der seine
Bezugspunkte aus dem Raum der Geschichte in das Reich des Mythos verlegt. »Wenn man
über Stalingrad schreibt oder redet, dann fallen einem die Nibelungen ein, wenn man in
Deutschland aufgewachsen ist; da fällt einem Rosa Luxemburg ein, wenn man in der DDR
aufgewachsen ist – und das alles gehört zu diesem Komplex Stalingrad. Es fällt einem auch
Stalin ein, natürlich; alles, was damit zusammenhängt. Aber nur in so einem Kontext ist das
interessant, und nicht als isoliertes Ereignis.« (KALKFELL 139) Wiederum ist es Böhmel,
der Müllers Position beschreibt, die nach dem Verschwinden der Sowjetunion und ihrer
Satteliten als Position der Vergeblichkeit kenntlich wird. »Bei Stalingrad gelangt der Angriff
in die Utopie. Keiner kommt zurück. Wer wiederkommt, bleibt Widergänger, dauerhaft im
Wesen verändert und der Welt unheimlich. […] Im Bernstein asiatischer Zeitreserve
gestrandet, treibt die 6. Armee inkomplett in die Ewigkeit; und einzig Literatur träumt davon,
sie wieder zu bewegen. Mansteins Verlorene Siege, Müllers Glückloser Engel sind Beispiele
einer tschechowschen Sehnsucht, die mit der Roten Armee zieht. Das Sowjetische Zeitalter
rückt in den Zenith. Die universelle Klasse erscheint nicht.« 919 Mit dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums ist die Utopie, die dem Wahnsinn von Stalingrad einen Sinn zu verleihen
vermochte, in weite Ferne gerückt. Doch Antworten erhält nicht derjenige, der die Utopie zu
den Akten legt und ihre Trümmer an der Kette eines linearen Geschichtsbegriffs aufreiht,
sondern jener, der die Schichten freilegt und die Sedimente der zurückliegenden Ereignisse
auf ihren Zukunftsgehalt hin befragt.
Auf die Frage nach dem Verhältnis der explizit als autobiografisch gekennzeichneten Texte
BERICHT ÜBER DEN GROSSVATER und DER VATER zur Wirklichkeit antwortet Müller
919
Böhmel 1992, 434f.
434
im ersten Kapitel der Autobiografie: »Wie Literatur.« (KOS 15) Durch die ästhetisch
notwendige Abwendung von den empirischen Tatsachen mache sich der Dichter schuldig. Es
besteht jedoch keine Rechtfertigung, dieser Schuld auszuweichen. In einer für die
Druckfassung gestrichenen Passage der Autobiografie rechtfertigt Müller diese vampirische
Tendenz ästhetischen Ausdrucks: »Ich habe oft über das Verhältnis zwischen Geschriebenem
und Erzähltem nachgedacht, die Ungerechtigkeit gegen die Gegenstände oder Personen der
Beschreibung, in diesem Fall gegen meinen Vater und meinen Großvater. Diese
Ungerechtigkeit hat etwas zu tun mit dem Problem von Literatur überhaupt. Alles wird Stoff,
alles wird Gegenstand, alles wird Material. Ich habe immer wieder das Bedürfnis gehabt –
und das ist ein Grund, warum es diese vielen Interviews gibt, glaube ich –, einfach so zu
schreiben, wie es einem einfällt, was mir nie gelungen ist und nie gelingen wird, so zu
schreiben wie man denkt, wie man spricht. Das ist so ein Traum, den man als Autor hat. Das
ist wirklich ein Traum, der wahrscheinlich überhaupt nicht realisierbar ist, der früher mal real
war, als die Leute noch nicht geschrieben haben, als es Erzähler gab. Das wieder zu erreichen,
in ganz seltenen Momenten, diese Freiheit, die Freiheit vom Formzwang, ist ein großes
Glück, das gibt es manchmal bei Goethe, ganz selten. Als er alt war, hat er diktiert, da entsteht
dann so was manchmal. Eine andere Linie, die auch damit zu tun hat, ist diese Freiheit des
Traums; bloß, wenn du einen Traum aufschreibst, ist das schon wieder was andres, ist schon
wieder fest. Das ist ein Problem von Literatur und Kunst überhaupt im Verhältnis zum Leben,
Literatur frisst das Leben auf, nicht nur das eigene, auch anderes Leben.« (HMA 4487, 7f.)
Das Problem der Authentizität der Schrift taucht in Müllers späten Texten immer
unvermittelter auf. Es ist an den Versuch geknüpft, sich vorbehaltlos auszuliefern, sich als
Material zur Verfügung zu stellen. Doch noch in den schonungslosen persönlichen
Preisgaben, die viele der späten Gedichte darstellen, siegt die Form über den Inhalt,
produziert die ästhetische (Ver)Form(ung) neue Bedeutungen, die weit über den Bereich
subjektiver Erfahrung hinausweisen. Das beschriebene Scheitern dupliziert sich im Scheitern
der Darstellbarkeit. Die Fiktion muss die Authentizität dem Effekt opfern. Es liegt in der
Natur des Mediums Schrift, die Wirklichkeit zu entstellen. Müller versucht, das Problem als
lebensweltliche Entfremdung zu fassen, als Verlust der »Erzählung in der Schrift« durch das
»Verschwinden des Erzählers in den Medien« (KOS 366). Im Gegensatz zur klassischen
Autobiografie, mit der das sich erinnernde Ich die disparaten Momente seines Lebens in ein
Erzählkontinuum zu bannen und so zumindest im Nachhinein darüber zu verfügen sucht, stellt
Müller – unter Berufung auf den Verlust der »Kunst des Erzählens« (ebd.) – die
Unmöglichkeit ungebrochener Identität aus. Das »Verschwinden des Erzählers« ist
gleichbedeutend mit dem Tod der Reflexion (über sich selbst) und eröffnet dem abgetretenen
Biografen die Möglichkeit, sich auf ein Spiel mit seiner Biografie einzulassen, dessen
Ausgang, trotz allen inszenatorischen Geschicks seitens Heiner Müllers, offen bleiben wird.
Der Text ersetzt nicht den Autor, er entlässt ihn: »Erkläre nichts. Stell es hin. Sag’s.
Verschwinde.« 920 Dass hierin zugleich die Bedingung für Müllers Schreiben besteht, macht
die Sprengkraft seiner späten Texte jenseits der Dramatik aus, wie sich anhand der Genese der
Schlusspassage Müllers Autobiografie exemplarisch vorführen lässt.
Der letzte Abschnitt der ERINNERUNG AN EINEN STAAT rekurriert unmittelbar auf die
Reflexion des autobiografischen Diskurses, der den Text KRIEG OHNE SCHLACHT
920
Canetti 1987, 148
435
unterschwellig strukturiert. Er geht zurück auf eine Vielzahl divergierender Notizen und
Entwürfe, die sich in ebenso loser wie unzusammenhängender Form unter der Signatur HMA
4480 im Nachlass des Dichters befinden. Diese genetische Primärquelle fängt den
Denkprozess ein, der zur Entstehung dieser Passage führt und vermittelt ein Bild davon, wie
hart der Autor mit dem Text seiner Autobiografie haderte, beziehungsweise wie verzweifelt er
dabei um künstlerische Selbstverständigung rang. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei
diesem künstlerischen Selbstverständnis nicht um eine starre Konstruktion, sondern um einen
ständigen Metamorphosen unterworfenen Prozess handelt, in dem ästhetische Überlegungen
mit individuellen Prädispositionen und gesellschaftlichen Entwicklungen in permanenter
Interaktion stehen. Es gehe Heiner Müller in all seinen Arbeiten »um den Ort des eigenen
Schreibens, die Selbstreflexion des Autors, der in gewisser Weise keiner mehr sein möchte
und es doch sein muss« 921 , schreibt Genia Schulz in der ersten Müllers Stücken gewidmeten
Monografie 1980. Wolfgang Emmerich weist indes darauf hin, dass Müllers Autorschaft im
Licht seiner historischen Veränderbarkeit betrachtet werden müsse. Habe Heiner Müller
Autorschaft bis in die siebziger Jahre hinein als enge – wenngleich hochkomplizierte und
konfliktreiche – Verknüpfung des künstlerischen Schaffens mit den gesellschaftlichen
Prozessen (»Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes. (Kafka)«, W 8 208) begriffen,
erfolge die »Verflüchtigung der Autorschaft« 922 im Verlauf der siebziger Jahre angesichts der
stehenden Zeit erstarrter Verhältnisse als Rückzugsbewegung und Sinnverweigerung. Nach
dem Zusammenbruch der DDR sprechen poetische Reflexionen von der Verantwortung des
Autors für seine Werke. Die »Selbstkritik« überführt das Befremden des Autors angesichts
der Re-Lektüre der eigenen Texte in Poesie und lässt sie somit selbst als ästhetisches
Phänomen erscheinen: »Das Gefühl des Scheiterns, das Bewusstsein der Niederlage beim
wiederlesen der alten Texte«, formuliert bereits Anfang der siebziger Jahre, wird nun zur
bestimmenden Grundlage der Erfahrungsproduktion und ist somit letztlich der einzige Garant
für die Bewahrung der durch Ideologie und Verbrechen entstellten Vision von einer Welt
jenseits der ökonomischen Dominanz des Kapitalismus.
In KRIEG OHNE SCHLACHT wird die Historizität und der Wandel der Selbstreflexion des
Autors transportiert und zugleich verworfen. 923 Sie wird ersetzt durch den Verweis auf ein
Werk, das sich allein durch sein materielles Vorhandensein legitimiert und keiner
Rechtfertigung eines maßgeblichen Erzeugers bedarf. Deleuze/Guattari sehen die eigentliche
Qualität des Kunstwerks eben darin, dass es von seinem Schöpfer grundsätzlich absehen
könne: »es existiert an sich« 924 . Wiederholt betont Müller, dass er mit seinen literarischen
Arbeiten keine Intention verfolge, die außerhalb der Texte liege. Im Gegenteil: Wie eine
Reihe von Äußerungen Müllers nahe legt, seien Absicht und Text zwei völlig verschiedene
Dinge. »Das Schreiben verbrennt die Intentionen. Es ist eine Praxis, keine Theorie. Es ist eine
andere Form von Leben. Es ist ganz einfach eine Methode, die eigenen Erfahrungen zu
verarbeiten. Ich schreibe nicht, sondern der Text schreibt.« (GI 2 132) »Die Sprache setzt sich
letztlich durch gegen den Autor. Gegen die Intention des Autors.« (GI 3 159) »Die Autorität
ist der Text, nicht der Autor.« (GI 3 161) Es sei eine Dummheit, »eine Kette von Situationen
als Wunschzettel des Autors zu lesen. Ein Text lebt aus dem Widerspruch von Intention und
921
Schulz 1980, 19
922
Emmerich 1992, 295
923
s. a. Beikirch 2004
924
Deleuze/Guattari 2000, 192
436
Material, Autor und Wirklichkeit« (W 8 176).
Die explizite Identifikation von Leben und Schreiben – »Meine Hauptexistenz ist im
Schreiben« (GI 1 93) – lassen den Stellenwert der Biografie für das Schreiben,
beziehungsweise deren ästhetische Überformung äußert schwierig und den Begriff der
Autobiografie obsolet erscheinen. Roland Barthes betont, dass eine Trennung von Leben und
künstlerischer Arbeit paradox sei. Die »Zeit der Erzählung« gehe »mit der Jugend des
Subjekts zu Ende: eine Biografie gibt es nur von unproduktivem Leben. Sobald ich produziere
und schreibe, nimmt mir (zum Glück) der Text selbst meine narrative Dauer.« 925 Das Leben
ist in der Arbeit. Müllers Aussagen zu diesem Komplex sind ebenso vielgestaltig wie
widersprüchlich und wohl nur im Kontext der jeweiligen Äußerungen kohärent zu deuten.
Müller bezeichnet den Schreibvorgang generell als das »Verschweigen einer Autobiografie,
[…] das Maskieren des Biografischen« (GI 1 151). Darum bevorzuge er ausdrücklich die
dramatische Form, um Selbstaussagen zu treffen: »Ich kann das eine sagen, und ich kann das
andere sagen.« (GI 1 94) Das Drama biete den Vorteil, »dass man andere sprechen lassen
kann anstelle von sich selbst, Figuren, die Masken des eigenen Ich sind. […] Und man kann
von einer etwas sagen lassen und von der anderen genau das Gegenteil.« (GI 2 131). Das gilt
jedoch in gleichem Maße für die unterschiedlichen Sprachmasken, in denen sich der Autor in
einer Unzahl von Interviews präsentiert. Sascha Löschner spricht von der Destruktion des
Autorennamens in der Öffentlichkeit mittels bewusst dunkler, vieldeutiger, ja teilweise
unsinniger Aussagen. 926 Der Grund für Müllers Maskenspiele liegt indes nicht, wie Löschner
vermutet, in der Angst vor Festschreibung durch Interpretation begründet, sondern ist einem
dialektischen Denken geschuldet, das ohne die Verwicklung in Widersprüche nicht
auskommt. In einer kurzen Poetik des Interviews gibt Müller 1985 (im Interview) zu
bedenken: »… dass man im Gespräch etwas leichtfertiger formulieren kann, als wenn man
schreibt. Man ist ja nicht so sehr in die Pflicht genommen. Man kann am nächsten Tag das
Gegenteil sagen.« (GI 1 155) Müller liefert für seine Affinität zur Dramatik eine biografische
Begründung: »Vielleicht habe ich da keine Wahl gehabt – das kam aus Widersprüchen und
Situationen heraus, in denen man nicht aussprechen oder fühlen kann, dass man ein
eigenständiges Subjekt ist. Wenn man ein Objekt der Geschichte ist, braucht man andere
Figuren, um über die Probleme zu reden.« (GI 1 89) Es geht um die Behauptung subjektiver
Autonomie in der Situation äußerster, bisweilen existenzieller Bedrängnis. Das Schreiben
generiert den Bereich der Freiheit, dessen Bedingung der äußere Zwang ist. Nicht zufällig
gehen dem Dramatiker, dem die Kunst als »Voraussetzung des Lebens« (JN 100) gilt,
aufgrund des plötzlichen (politischen) Druckabfalls der Wendezeit die Masken aus. »Die
Masken sind verbraucht fin de partie« (W 1 317), rekapituliert Müller die Situation 1995 im
Gedicht VAMPIR, die unverkennbar seiner persönlichen Lage entspricht.
In der Tat ist der Autor in KRIEG OHNE SCHLACHT weniger auf der Mitteilungsebene des
Text anwesend, als vielmehr in der dramatischen Struktur. In der Figuration, respektive
Anordnung des Materials wird die Handschrift sichtbar, die zugleich die Spur ihres
Verschwindens zeichnet. Das Erzählte verweist weniger auf den Produzenten der Erzählung,
denn die Art und Weise des Erzählens auf seine Vakanz. Wer »ich« sagt ist in jedem
Einzelfall neu zu überprüfen und in keinem Fall abschließend bestimmbar. Foucault hatte die
925
Barthes 1978, 4
926
s. a. Löschner 2002, 98
437
Funktion des Autors in literarischen Texten als die (auch innerhalb ein und desselben Textes)
variable Distanz eines alter ego (des Schriftstellers) zum behandelten Gegenstand
beschrieben. Es ist die Kunstfigur, die auf der Bruchkante zwischen Erzähler, Erzählung und
der Makrostruktur des Textes balanciert. Seine Autorität hat der Autobiograf an die Diskurse
abgegeben. Die Figuration ersetzt die Repräsentation. Das Ich ist weder identisch mit Heiner
Müller, noch geht es restlos in einer geschlossenen Kunstfigur auf. Es oszilliert vielmehr
zwischen dem jeweils dargestellten Gegenstand und der (variablen) Perspektive des
Betrachters. Dem Autor obliegt die Perspektivsteuerung des Textes, der Erzähler ist ihm
funktionell beigeordnet. Müller selbst betont, dass die Biografie als Material der poetischen
Überformung nur sehr begrenzt tauge: »Ich habe ein paar Mal versucht über mich zu
schreiben, und das hat mich immer ganz schnell gelangweilt, weil es mir nicht wichtig genug
erschien. Das mag ein Fehler sein.« (GI 1 14) Im Gegenzug, betont Müller ein Jahr später
(1976), fließe in die Beschreibung anderer Personen/Figuren die eigene Biografie
unvermeidlich ein. »Und ich glaube, dass das immer wichtiger wird, dass man sich als Autor
immer weniger heraushalten darf. Der Begriff der Objektivität ist völlig entleert.« (GI 1 35)
Und 1980: »Im Moment interessiere ich mich eigentlich nur für mich. Das finde ich ein ganz
legitimes Interesse, denn ich habe mich so lange nicht um mich gekümmert. Und ich fühle
mich auch ganz wohl mit mir. Weil ich da zum ersten Mal einen wirklichen Feind habe und
auch einen Freund. Das hat natürlich einen Trend zur Prosa.« (GI 1 60) Im Gespräch mit
Hermann Theißen über KRIEG OHNE SCHLACHT formuliert Müller 1992: »Wenn man
schreibt oder Kunst macht, wird das Leben sowieso immer mehr Material. Man lebt im
Material. […] Die Differenz zwischen dem Leben in der Literatur und dem in der Realität
wird wahrscheinlich immer größer, je länger man schreibt.« (Müller 1992, 9) Die
Lebensgeschichte disponiert die Wahrnehmung von Wirklichkeit wie umgekehrt das
Schreiben die Lebensgeschichte nachhaltig perforiert. Der biografische Fußabdruck des
Autors im Material ist mithin ebenso unvermeidlich wie die nachträgliche Bereinigung der
Erinnerung um die Spuren der Kunst vergeblich bleiben muss.
Eine positive Formulierung dieses Sachverhaltes gelingt Müller im Gespräch mit Hendrik
Werner. »Es ist natürlich eine Abplattung von Erinnerung, wenn man vor anderen darüber
redet. Wirkliche Erinnerung braucht schon die Arbeit der Formulierung. Da entsteht
womöglich etwas ganz anderes, was vielleicht faktologisch nicht mehr standhält, aber es
entsteht so etwas wie die wirkliche Erinnerung.« (VE 342) Die Gewissheit, dem Grundsatz
gemäß, das Poetische sei das absolut reelle, schreibend in den Besitz der Wahrheit zu
gelangen, wird jedoch mit Blick auf die eigene Autobiografie grundsätzlich bezweifelt.
»Andre beschreiben treibt manchmal, wenn man schreiben kann und auch noch Glück hat, die
Wahrheit hervor. Sich selbst beschreiben transformiert die Wahrheit. Über sich selbst kann
man reden. Die gesprochene Lüge ist eine Wahrheit, die geschriebene nicht.« (HMA 4480)
Bleibt die gesprochene Lüge im dialektischen Feld als im Widerspruch aufhebbarer Zweck
(Hegel) grundsätzlich wahr, stellt die Beschreibung eine irreversible Übermalung dar, die das
Selbstbild maßgeblich verändern muss. Offenbar gerät Müller während der Arbeit an seiner
Autobiografie in einen Loyalitätskonflikt. Das Schreiben über die eigene Person in einer
durchsichtigen Maske liegt ihm nicht. Mit dem konstruierten, das autobiografische Gespräch
nur imitierenden Interviewcharakter des Textes, der die gesprochenen Lügen in den Bereich
der Wahrheit verweist, gibt sich Müller nur scheinbar zufrieden. Kurzerhand spricht er seiner
Autobiografie den Kunstcharakter ab: Er habe den Text in der ihm zur Verfügung stehenden
438
Zeit, »nicht zu Literatur machen« (KOS 367) können. Die Begründung, die er dafür liefert,
fasst Müllers Äußerungen zum autobiografischen Diskurs kursorisch zusammen. Zugleich
betont sie, dass es sich bei der vorliegenden Autobiografie, die bewusst den unbestimmten
Artikel »Eine« im Untertitel führt, um einen halbherzigen Versuch handle, der nur unter
Vorbehalt als solche auch rezipierbar sei. »Mein Interesse an meiner Person reicht zum
Schreiben einer Autobiografie nicht aus. Mein Interesse an mir ist am heftigsten, wenn ich
über andre rede. Ich brauche meine Zeit, um über andres zu schreiben als über meine Person.
Deshalb der vorliegende disparate Text, der problematisch bleibt.« (KOS 366) Müllers
Rezeptionsvorgabe ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem inkongruenten
Verhältnis Leben – Schrift und dem daraus resultierenden Ungenügen über die poetische
Aussagekraft des autobiografischen Projektes. Der Versuch, dem autobiografischen Material
(insbesondere der Kriegserfahrung) mit Prosa beizukommen, ist als Beleg für dieses
Ungenügen zu betrachten (s. a. W 2 177–188).
In einer Vielzahl von Interviews hatte Heiner Müller auf den existentiellen Zusammenhang
von literarischer Arbeit und Leben hingewiesen und betont, dass Schreiben unverfälschter
»Lebensausdruck« (GI 2 102) sei. »Ich lebte vielleicht zu sehr/tief in der Welt meiner Stücke«
(HMA 4489), lautet eine handschriftliche Notiz aus dem Nachlass. Was in diesem Satz als
leise Befürchtung zur Sprache kommt, macht eine wesentliche Qualität Müllers ästhetischer
Produktion aus. In seinen poetischen Texten materialisiert sich das enge Verhältnis von Arbeit
und Leben. Sie bilden die Schwelle zwischen subjektivem Erleben und objektivem
Geschehen. Im Produktionsprozess durchdringen Ich und Welt einander. Bei der Arbeit an
KRIEG OHNE SCHLACHT sei dieses Verhältnis aufgrund der Vielzahl sich
widersprechender Intentionen der am Entstehungsprozess beteiligten Personen massiv gestört
gewesen. Die Mehrzahl der Nachlass-Notate unter der Signatur HMA 4480 zielen auf diese
Problematik. Die vierzehn handbeschriebenen Blätter befinden sich in einer Mappe mit der
Aufschrift »Biografisches«. Die Äußerungen markieren den zentralen Punkt der »Erfahrung
des Scheiterns« (W 8 395), der für Müllers Spätwerk konstitutiv ist. Sie sind Marksteine auf
dem Weg zu der Einsicht, dass die Beschreibung dieses Scheiterns der einzige Ausweg aus
der Erstarrung des eigenen Werkes in der Klassizität seiner Wirkungslosigkeit sein könnte. In
einem Briefentwurf an Helge Malchow hatte Müller noch erwogen, den Vertrag mit
Kiepenheuer & Witsch platzen zu lassen und den gezahlten Vorschuss zurück zu zahlen. Im
gleichen Schreiben finden sich jedoch bereits Vorschläge zu einer möglichen Überarbeitung
(»vielleicht durch Umformulierung der Fragen + Einschübe v[on] geschriebenem Text«,
HMA 4480) sowie Ansätze einer reflektierten Beschreibung der Gründe des vermeintlichen
Scheiterns. Ein grundlegendes Defizit der Arbeitsfassung, auf die Müllers Entwurf sich
vermutlich bezieht (das Nachlassdokument HMA 4487), ist dessen Ansicht nach der
missglückte Sprung vom Faktologischen in die Literatur. Der Text bleibe »zwischen Literatur
und Interview« (Müller 1992, 9) angesiedelt. Müller beklagt die mangelnde Distanz zum
Material: »Jetzt fehlt dem Ganzen Abstand« (HMA 4480). Deleuze/Guattari zufolge setzt
Literatur die Entstehung einer Redefigur voraus, »die uns der Fähigkeit ›ich‹ zu sagen
beraubt.« 927 Müller vermisst diesen Abstand zum ›Ich‹ seiner Lebenserzählung. Sie erscheint
ihm zu persönlich. Dabei bleibt der »Privatmann Heiner Müller« von Vornherein
ausgeblendet – für Müller Bedingung, sich auf das Projekt Helge Malchows überhaupt
927
Deleuze 2000, 13
439
einzulassen. So finden sich bereits im Interview kaum Äußerungen, die Hinweise auf ein
Leben jenseits von Arbeitszusammenhängen liefern würden. Dennoch werden Episoden, die
Müller in der Arbeit an der transkribierten Textfassung »zu privat« 928 erscheinen, »in
selbstzensorischer Pose« 929 gestrichen. Die gescheiterte Liebe des alternden Schriftstellers,
Margarita Broich, findet nicht ein einziges Mal Erwähnung. Wo Müller den mangelnden
Abstand zum Material beklagt, konstatiert die Gesprächspartnerin die fehlende Bereitschaft
zur Cofessio. »Heiners Anteil lag vor allem in der Zensur. Er nahm Unmengen von
Streichungen vor, vor allem Dinge die ihm zu persönlich schienen. Es sollte um den ›Dichter‹
Müller gehen, nicht um den ›Privatmann‹. Schon in den Gesprächen gab es bewusste
Aussparungen, ein Ausweichen seinerseits, ein Abblocken bei persönlichen Themen. Im
Zwiegespräch hielt er persönliche Bekenntnisse für legitim, nicht aber im Interview. Das war
eine Kunstform.« 930 Aber für ein Interview sind die Vorgaben in diesem Fall zu restriktiv.
Dass das Ergebnis – eine nachvollziehbare Lebensgeschichte – im Vorfeld feststeht, behindert
die vom Dialektiker Müller ansonsten so souverän gehandhabte Form eines tatsächlichen
Dialogs.
An die Stelle der persönlichen Geschichte tritt die Darstellung der Konvergenzpunkte der
Person mit den Schichten historischer Sedimente. Dabei entsteht keine Linie, sondern ein
Rhizom. In einem entsprechenden Vermerk notiert Müller das Arbeitsziel: »Warnung f[or]
readers / this book (24 cassettes konversat[ion]) / Interview not literature / Ungeschützt durch
Literatur / Biografie unwichtig / außer wenn sie Information / über Zeitgeschichte trans- /
portiert« (HMA 4480). Der Zeit stand haltende Texte bedürfen Müllers Notiz zufolge der
ästhetischen Überformung. Biografische Zeugenschaft stellt sich in diesem Zusammenhang
als Vehikel zeitgeschichtlicher Überlieferung dar und erhält nur als solche den Anspruch auf
Berücksichtigung durch die Kunst (man denke an Müllers Mommsen). Das beste Beispiel für
diese Haltung ist das Nachwort selbst: Die ERINNERUNG AN EINEN STAAT kommt
weitgehend ohne ein sich erinnerndes Subjekt aus oder untergräbt die Autorität des Sprechers
gezielt. Indem Müller die Ansicht, es handle sich bei KRIEG OHNE SCHLACHT um einen
jenseits des ästhetischen Feldes zu verortenden Text im Text selbst platziert, macht ihn zu
einem Dokument eines Scheiterns. Die Autobiografie diene, so will es die explizite
Rezeptionssteuerung, nicht der retrospektiven Selbstkonstitution, sondern als Medium,
Schauplatz, Kampfplatz der Auseinandersetzung mit dem autobiografischem Material. Diese
Auseinandersetzung dient sowohl der künstlerischen Selbstverständigung, als darin auch der
Problematisierung von Subjektivität, die im Text ihren objektiven Ausdruck findet. Der
Produktionsprozess dient der Vermittlung: Er ist beschreibbar als Scheitern. Im Text ist dieses
Scheitern zugleich virulent und ästhetisch gebannt.
Eine andere Notiz formuliert noch deutlicher, welch geringer Stellenwert der eigenen
Biografie für das Schreiben beigemessen wird. Sie repetiert die Irrelevanz der
Lebensgeschichte für die künstlerische Darstellung und weist den Angriff auf eine
vermeintliche Lebenswirklichkeit als eigentliche Funktion der Kunst aus. »Die eigent[liche]
Biografie die Texte / (deshalb kein Gegenstand von Literatur) // Banalität der Fakten macht
mir bewusst, dass meine Texte der Traum von einer Sache (function of art)« (HMA 4480).
928
Katja Lange-Müller im Gespräch mit LDR
929
ebd.
930
ebd.
440
Leben erscheint in diesem Zusammenhang weniger als Bedingung denn als Funktion des
Schreibens. Wiederholt betont Müller in diesem Zusammenhang, dass das Schreiben eine
eigenständige Form der Existenz sei. Aus dieser Perspektive erscheinen Müllers Texte in der
Tat als »das genauere Erzähl-Gedächtnis des Autors« 931 . Die Aversion gegen die »Banalität
der Fakten« gründet im Ekel an einer Wirklichkeit, die von einer Mehrheit für alternativlos
gehalten wird, weil sie weitgehend reibungslos funktioniert. Die wesentliche Funktion der
Kunst ist es hingegen, Träume zu produzieren, Fluchtlinien zu zeichnen, die Wirklichkeit
unmöglich zu machen. Eine kohärente Erklärung für die Verweigerung des Prädikats
›Literatur‹ kann in der Differenz der Interessen gesehen werden. Die Mitarbeiter am Text
Müllers Autobiografie verfolgen mit dem Buch jeweils eigene Intentionen. Der Initiator des
Buches und Cheflektor bei Kiepenheuer & Witsch, Helge Malchow, möchte ein verkaufbares
Produkt, während Katja Lange-Müller, die an der Redaktion des transkribierten Textes
maßgeblich beteiligt ist, wie Müller vermutet, eigene literarische Ambitionen verfolgt. In dem
oben zitierten Briefentwurf an Helge Malchow heißt es: »Katja war die falsche Wahl […] die
Redaktion betreffend, weil man von einem wirklichen Autor nicht verlangen kann, dass er
sich auf einen anderen Autor wirklich einlässt.« (HMA 4480) Diese anders gelagerten
Interessen lassen Müller bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle über den Text entgleiten,
den er zwar autorisiert, der in seinen Augen jedoch nicht zuletzt aus diesem Grund zumindest
»problematisch bleibt« (KOS 366). Bestätigung findet diese Vermutung in einer weiteren
Notiz, in der Müller betont, der Text sei »– uneinheitlich – kein Ganzes / Ich konnte daraus in
der mir zur Verfügung stehenden Zeit keine Literatur machen. Ein Schriftsteller ist ein
Mensch, dem das Schreiben schwer fällt. // Schreiben in der Geschwindigkeit des Denkens«
(HMA 4480). Die Aussage erschließt sich im Entsehungszusammenhang als Referenz an den
Termindruck unter dem das Buch vom Cheflektor des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Helge
Malchow forciert wurde. Zugleich bezieht sie die an der Entstehung beteiligten Personen
explizit in den Entstehungsprozess mit ein und weist das Produkt »Eine Autobiografie« somit
als Ergebnis kollektiver Produktion aus. Müllers Aussage eignet jedoch ein weiter gehendes
Sinnpotenzial, das auf die grundsätzliche (Un)Möglichkeit der Überführung von Leben in
Schrift anspielt und somit auf die ästhetische Bedeutungsproduktion selbst rekurriert. Die
Zeit, von der hier die Rede ist, um die Einheit/Ganzheit herzustellen, ist die vom Tod her
gedachte Frist, die das Schreiben als Aufschub kennzeichnet. Die Herbeiführung des
Zustandes zeitloser Harmonie wäre gleichbedeutend mit der Aufgabe der schöpferischen
Arbeit. Kommt Zeit, kommt Tod. Der gedachte Endpunkt ist die Bedingung kohärenter
Selbstdarstellung, der die Darstellung zugleich ausschließt. Er setzt die Fähigkeit voraus, in
der Geschwindigkeit des Denkens zu schreiben, die der Disposition des Schriftstellers (»ein
Mensch, dem das Schreiben schwer fällt«) diametral entgegengesetzt ist. Müller hat mehrfach
darauf hingewiesen, dass sich in seinem Selbstverständnis als Autor das Leben ausschließlich
über das Werk erschließe. Es muss also einerseits davon ausgegangen werden, dass Müllers
Aussage auf die Vollendung seines Werkes zielt, von dem ihn das Nachdenken über die
eigene Biografie andererseits abhält. Da die Herstellung eines Zustandes vollkommener
Harmonie/totaler Erstarrung im Abschluss des Lebenswerkes Müller als wenig
wünschenswert erscheint, muss die abschließende Reflexion darüber vertagt werden auf den
gedachten Endpunkt des Todes, der eine solche Reflexion für das Subjekt freilich sinnlos
erscheinen lässt. Nur die Erfahrung des Todes könnte den Autor in die Lage versetzen, dem
931
Völker, Klaus: Der Thesenritter. Heiner Müllers Memoiren. In: Theater heute 8/1992, 53f., hier 54
441
Leben im umfassenden Sinn eine Bedeutung zu verleihen, die jedoch jenseits der
Beschreibbarkeit liegt. Die Wunde der Biografie – im Sinne einer abschließenden
Aussöhnung mit einem Werk, das in seiner Vollendung strahlt – wird bewusst offen gehalten,
um dem vorzeitigen Tod in der Schrift von der Schippe zu springen. Dass sich dieser Prozess
jenseits der biografischen Grenzen fortsetzen kann, beschreibt Müller 1987 im Rekurs auf
Benn: »Es gibt einen Text von Benn über den Tod von Dichtern: Das Werk ist zur Ruhe
gekommen und leuchtet in der Vollendung. Das ist ein ambivalenter Satz. Einerseits ist es
richtig, man übersieht das Werk nur vom Tod des Urhebers her, aber diese Übersicht ist dann
auch eine Art Sargdeckel, es wird dann abgerundet, wird eine runde Sache, die man durch die
Zeiten rollen kann. Und lebendig wird es nur, wenn es immer wieder zerbrochen wird in seine
Teile. Die Teile setzen sich, wenn das Werk gut war, immer wieder neu und anders
zusammen.« (GI 2 87f.) Mit der permanenten Zerschlagung und (Re)Zitation des eigenen
Werkes hat Müller diese Technik bereits zu Lebzeiten intensiv betrieben. Indes muss ihm
bewusst gewesen sein, dass er mit dem Projekt seiner Autobiografie die Pforten zu einem
Bereich aufstoßen würde, den er aus gutem Grund bisher gemieden hatte, weil er an die
Bedingungen des eigenen Schreibens rührte. Die Vollendung in der Selbstvergewisserung
über den »Ort des eigenen Schreibens« 932 und die vollständige Durchdringung dessen
biografischer Bedingungen sind ihm aus diesem Grunde suspekt, weil gleichbedeutend mit
dem Tod als Autor. Der Makel des Werkes hingegen hält den Motor der Sprache am Laufen,
einer Sprache, die das permanente Scheitern an der Vollkommenheit in der Reflexion
beschreibt. Darin gleicht er Kafkas alterndem Hunde: »Immer mehr in letzter Zeit überdenke
ich mein Leben, suche den entscheidenden, alles verschuldenden Fehler, den ich vielleicht
begangen habe, und kann ihn nicht finden. Und ich muss ihn doch begangen haben, denn
hätte ich ihn nicht begangen und hätte trotzdem durch die redliche Arbeit eines langen Lebens
das, was ich wollte, nicht erreicht, so wäre bewiesen, dass das, was ich wollte, unmöglich war
und völlige Hoffnungslosigkeit würde daraus folgen.« 933 Die Suche nach dem »alles
verschuldenden« und »vielleicht erlösende[n] FEHLER« (W 2 118), ist insofern ebenso
existenziell, wie sie erfolglos bleiben muss.
Noch deutlicher wird diese conditio sine qua non des Schreibens in zwei weiteren Notaten aus
dem Entstehungszusammenhang von KRIEG OHNE SCHLACHT hervorgehoben:
»Nachwort // Durch Redaktion uneinheitlich / aber solange ich lebe, kann ein Bericht über
mein Leben ohnehin kein Ganzes sein« (HMA 4488) »Erst wenn ich tot bin wird mein Leben
ein Ganzes sein. Bis dahin muss ich mit meinen Widersprüchen, Illusionen, Irrtümern leben.«
(HMA 4480) Der Tod erscheint hier als Erlösung von einer Selbstentfremdung, die als
notwendige Voraussetzung des eigenen Schaffens gedacht wird. »Im Normalfall taucht die
gesamte Biographie erst in den letzten Sekunden des Lebens auf, im berühmten Sterbefilm.
Erst dann weiß man, wer man ist. Das ist der erste klare Blick auf den eigenen genetischen
Code; damit hat man dann seine Schuldigkeit getan und kann gehen. Kunst ist der Versuch,
die Zeit bis dahin zu verzögern, anzuhalten. Der Erkenntnistrieb ist ein Todestrieb, und Kunst
ist der Versuch, den Erkenntnistrieb zu betäuben, gegen ihn Widerstände aufzubauen.« (JN
71) Die Widersprüche, Illusionen und Irrtümer sind als Produktionsmittel einer Kunst, die die
Spur des Fremd-Werdens nachzeichnet, unersetzbar. Allen und allem gerecht zu werden hält
932
Schulz 1980, 19
933
Franz Kafka: Forschungen eines Hundes. In: Franz Kafka: Das Werk. Ffm. (Zweitausendeins) 2004 , 980–
1010, hier 991
442
Müller daher nicht für die »Sache eines Autors dessen Arbeit darin besteht sich selbst fremd
zu werden« (HMA 4480). Die Selbsterkenntnis bedeutet das Ende der Kunst. »In dem
Moment, wo du etwas über dich formulierst, bist du schon ein anderer, und wenn du genau
weißt oder zumindest die Illusion zulässt, du wüsstest genau über dich Bescheid, dann kannst
du als Schriftsteller nichts mehr machen. Es ist wahrscheinlich richtiger, die
widersprüchlichen Faktoren einer Situation, einfach nebeneinander stehen zu lassen.« (HMA
4487, 218)
Leben ist Material. Programmatische Aussagen, die die Fremdheit gegenüber der eigenen
Subjektivität thematisieren, evozieren ein performatives Gedächtnismodell. Kontext ist der
Guerillakrieg eines Dichters, dessen Sprache den Druck der Diktatur benötigt. Auf der Bühne
des Textes arrangiert der Autor den Konflikt mit der von ihm aufgerufenen und als fremd
erfahrenen Lebensgeschichte. Dieser eigentliche Konflikt ist die »Schlacht ohne Krieg« 934 ,
der Kampf ohne festes Bezugssystem, die Suche nach dem »alles verschuldenden Fehler«, die
permanente (Lebens-/Schaffens-)Krise, die Müller dem Kontinuum der Normalität
entgegensetzt, in dem er das alles andere als dialektische »Prinzip Auschwitz« (KOS 363)
alternativlos am wirken sieht (s. a. MARTERPFAHL 60f.). Die Fremdheit, respektive
Verfremdung des lebensgeschichtlichen Materials ist demzufolge essenzielle Bedingung der
autobiografischen Produktion. Nicht zufällig ist Müllers Autobiografie zwischen zwei
poetologischen Fixpunkten verankert, die die Illusion ungebrochener Identität nicht zulassen.
Das Motto zitiert eine Sequenz aus LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, einem Text, der
das Ich in einen Wirbel von (A-)Identitäten auflöst: »Soll ich von mir reden Ich wer / von
wem ist die Rede wenn / von mir die rede geht Ich wer ist das« (KOS 9) Dieses Motto wird in
der Schlusspassage der ERINNERUNG AN EINEN STAAT perpetuiert: »Bis zu meinem
Tod muss ich mit meinen Widersprüchen leben, mir selbst so fremd wie möglich.« (KOS 366)
Der Satz geht ebenfalls auf das Konvolut HMA 4480 im Nachlass Heiner Müllers zurück. In
einer Randnotiz zum Entwurf der Schlusspassage verzeichnet Müller dort die Fremdheit als
fundamentale Bedingung der Selbstbeschreibung: »So fremd wie möglich / Widerspr[üche]
leben / mir selber fremd / Ich ist / ein anderer.« (HMA 4480) Die Konstitution des ›Erzähler-
Ich‹ vollzieht sich im Prozess sozialer Interaktion. Der lebensgeschichtliche Zusammenhang
dient dabei lediglich als Material, dem der Autor gleichgültig, zuweilen auch misstrauisch
gegenübersteht. »Wer ist ›ich‹?«, fragen Deleuze/Guattari, in WAS IST PHILOSOPHIE? und
antworten: »Immer eine dritte Person.« 935 Die Selbst- oder vielmehr Fremddarstellung
Müllers ist entsprechend alles andere als psychologische Introspektion eines Ich-Kerns,
sondern gebunden an die Inszenierung seiner Dichterrolle. Die psychologische Innensicht
wird konsequent vermieden. Mit Hilfe von Anekdoten und pointierten Geschichten werden
stattdessen (dramatische) Vorgänge skizziert. Die Verweigerung der Innerlichkeit generiert
das Drama der Lebensgeschichte, die Lebensgeschichte als Drama. Die Gegnerschaft zu sich
selbst disponiert die Gedächtnisarbeit, in deren Gegenwart die dramatisierten Sedimente der
Erinnerung als Fremdkörper erfahren werden. Dem korrespondiert auf der Textebene die
Fremdheit, mit der der Autor dem eigenen Gedächtnismaterial gegenübertritt: Aus dem
biografischen Material ist ein eigenständiges Stück erwachsen, das der fiktive Erzähler der
Lebensgeschichte »aus einer ästhetischen Distanz heraus betrachtet« 936 . Diese ›Distanz‹ steht
934
Pickerodt 1995, 71
935
Deleuze/Guattari 2000, 73
936
Pickerodt 1995, 69
443
für den Konflikt, den Müller redend in der Schwebe hält. Für diese Unverfügbarkeit der
Erinnerung angesichts der Trümmer einer Autobiografie, oder, deutlicher noch, für die
Ursprungslosigkeit einer nie stattgefundenen Präsenz, ist das krappsche Besprechen von
Tonbändern demzufolge die adäquate Form. Die zugrunde liegende Überlegung formuliert
Müller in einem anderen Notat: »Wie schreibt man heute für Leser des nächsten
Jahrhunderts.« (HMA 4482)
Das von Müller favorisierte performative Modell der Subjektkonstitution spiegelt sich in Carl
Schmitts THEORIE DES PARTISANEN: »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. […]
Der Feind steht auf meiner eigenen Ebene. Aus diesem Grunde muss ich mich mit ihm
kämpfend auseinandersetzen, um das eigene Maß, die eigene Gestalt zu gewinnen.« 937 Nicht
zuletzt der Titel Müllers Autobiografie ist ein offener Hinweis darauf, dass der
Ausnahmezustand des Krieges die Folie der Fremdwerdung darstellt. Der Autor ist ein
Krieger auf dem Schlachtfeld der Ästhetik. Seine Autorität delegiert er an die Texte, die das
Kampfgeschehen bewahren und fortschreiben. Er zieht das Leben im Material seinem Tod
durch Beschreibung vor. Dabei kann die Begegnung zwischen Ich und Ich durchaus tödlich
verlaufen: »Ich bin der eine und der andre ich. / Einer zuviel. Wer zieht durch wen dich
Strich« (W 4 473), heißt es etwa im Rededuell der feindlichen Brüder, die einst beide
Kommunisten waren. Nur die – eher zufällige – Rollenverteilung (A, B) in der NACHT DER
LANGEN MESSER lässt den Verräter schuldlos, seinen politisch integren Bruder hingegen
als Mörder erscheinen. Einen anderen Zusammenstoß mit tödlichem Ausgang, der als
unmittelbarer Reflex auf die enteignete Biografie gelesen werden kann, schildert das Sonett
TRAUMWALD.
Das Gedicht kehrt die Pointe eines entstellten Nietzsche-Zitats um, das im Gedichtband
Müllers Werkausgabe nur wenige Seiten später folgt: »Im ächten Manne / ist ein Kind
versteckt / das will sterben« 938 . In der Schattenwelt des Traumes darf die Utopie der ewigen
937
Schmitt 1975, 87f.
938
W 1 305. Im Abschnitt »Von alten und jungen Weiblein« heißt es im ersten Teil Nietzsches
ZARATHUSTRA: »Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr Frauen, so entdeckt
mir doch das Kind im Manne!« (Nietzsche-W 2, 329)
444
Jugend weiter leben; der Mann wird hier dem Kind geopfert. Der Traumwald – ein Rekurs auf
die Grundmotivik Wagners PARSIFAL 939 – steht für den Sinnverlust in einer Welt, in der die
Benennungen nicht greifen (das sinnlose Aufreihen der Tiere nach dem Alphabet). Das
lyrische Ich subjektiviert die Unmöglichkeit eines historischen Bewusstseins zu dieser Welt in
ein anderes Verhältnis zu treten, als an ihr zu scheitern. Seine einzige Perspektive scheint der
Tod zu sein, dem es gemessen-feierlich entgegenschreitet. Das Bild des gepanzerten Kindes
oszilliert zwischen einer Figur der Apokalypse und dem Kokon der Utopie von einer
Rückeroberung des Paradieses durch die Unschuldigen. Doch macht der notwendige Mord am
durch die Erkenntnis gegangenen Mann, die Hoffnung auf die Einlösung dieser Utopie
sogleich wieder zunichte. Innerhalb des Gedichtes wird so der Ausweg aus dem Dilemma des
zirkulären historischen Gewaltzusammenhanges verweigert. Das Betreten des Traumwaldes
durch das lyrische Subjekt markiert den Sündenfall. Im Eindringen in das nicht decodierbare
und demzufolge nur als Grauen und Vorschein des Todes erfahrbare Reich der Utopie liegt
die Schuld begründet, die die Verantwortung für dessen Scheitern trägt. Dennoch ist das Bild
nicht ohne Trost. Denn was am Ende des Textes das Leben und damit seine Stimme verliert,
ist lediglich die Sprecherinstanz, das lyrische Ich, das verschwindend die Möglichkeit einer
Welt zurücklässt, die der Decodierung und sinnvollen Einlösung der utopischen Chiffre harrt.
Zugleich ist das Gedicht lesbar als »Wunsch, der gleichzeitig eine Furcht ist, sich selbst fremd
zu werden« (W 8 485). Der Wunsch geht auf die im Gedicht beschriebene Erfahrung des
Scheiterns an der Urszene der eigenen Kunst zurück. Nur das die Erfahrung der eigenen
Niederlage immer wieder besiegelnde Kind, ist in der Lage, das Geheimnis des Waldes zu
hüten, das die blinde Schrift Müllers Texte hervorbringt – poetische »Formeln des Rhapsoden
aus dem Reich der Mütter« (KOS 366).
Aus dem Nachlass geht hervor, dass Müller anstelle eines Nachwortes zeitweise ein Vorwort
mit dem Titel IM FADENKREUZ plante. Dass Müller dieses Vorwort nicht als Komplement
zur ERINNERUNG AN EINEN STAAT in Erwägung gezogen haben dürfte, lässt sich an der
Tatsache ablesen, dass es zwischen Vorwort-Entwürfen und der ERINNERUNG AN EINEN
STAAT zu inhaltlichen Überschneidungen kommt. Die Ortsangabe »La Palma« liefert einen
Hinweis auf den Entstehungszusammenhang. Sie legt die Vermutung nahe, die Entwürfe
seien anlässlich der autobiografischen Interviews im Ferienhaus des »KiWi«-Verlegers Neven
du Mont auf der Kanareninsel im Februar 1991 entstanden. Diese Annahme ist jedoch nicht
zwingend.
Der erste – ungleich kürzere – der beiden Entwürfe besteht in einer handschriftlichen Notiz:
»Krieg ohne Schlacht / Leben in 2 Diktaturen / Vorwort: Im Fadenkreuz // Ich sitze auf der
Terrasse eines Nobelhauses auf La Palma, das mir nicht gehört, mit dem Golfkrieg stündlich
per Radio verbunden + denke darüber nach, warum ich 14 Kassetten lang über mein Leben
(+Arbeiten) in Deutschland gesprochen habe. Ein Text diesseits der Literatur, wenn man
939
s. a. Gustav Seibt: Einklänge. Zu Heiner Müllers Gedicht »Traumwald«. In: Sinn und Form 4/1998, 554–
558
445
Literatur als Adresse weniger an Zeitgenossen als an die Nachwelt begreift.« (HMA 4481)
Der Einbezug des unmittelbaren Zeitgeschehens – die Besatzung Kuwaits durch die irakische
Armee und das anschließende Eingreifen der amerikanischen Streitkräfte – relativiert die
Relevanz der eigenen Biografie, benennt jedoch zugleich ein weltpolitisches Phänomen nach
dem Verschwinden der Zweiten Welt: das Ende des Kalten Krieges entfacht den heißen Krieg
an der Peripherie zwischen Erster und Dritter Welt. Ein Krieg um Ressourcen hat den Krieg
der Ideologien abgelöst. Dem entspricht der vermeintliche Adressat des Buches: Es sind die
Zeitgenossen, die die Nachwelt aus geschichtlicher Perspektive nicht vor, sondern hinter sich
gelassen haben. Die Zukunft liegt unter den Trümmern Osteuropas begraben.
Der zweite Entwurf enthält eine Zeichnung Müllers, die jeweils ein halbes Porträt Hitlers und
Stalins (versehen mit deren Namenszügen) zu einem einzigen Gesicht verschmilzt, über das
ein Fadenkreuz gelegt ist. Die möglicherweise als Skizze zur Umschlaggestaltung des Buches
entstandene Grafik ruft die eigentlichen Diktatoren Müllers autobiografischer Schrift auf den
Plan und illustriert den Untertitel »Leben in zwei Diktaturen«. Daneben findet sich ein
alternativer Titel, der ebenfalls in der Gestalt eines Fadenkreuzes gesetzt ist und einen
expliziten Hinweis auf die Entstehungssituation enthält: »Der Terror der Sprache / Die
Sprache des Terrors / Leben in 2 Diktaturen / HM [Heiner Müller] im Gespräch m[it] KL
[Katja Lange-Müller] [und] HM [Helge Malchow]« (HMA 4482). Angesichts der starken
politischen Konnotation des Textes der Autobiografie erscheint Müllers Gestaltungsvorschlag
durchaus schlüssig. Die später realisierten Umschlagfotos von Kurt Steinhausen scheinen
Müllers Idee tatsächlich aufzunehmen – allerdings in einer für das Gros der Rezipienten nicht
nachvollziehbaren Form. Sie zeigen das Porträt des Dichters – Zigarre rauchend – im
doppelten Fadenkreuz seiner Brille. Im Text der Autobiografie findet sich eine motivische
Entsprechung zu Müllers Layout-Skizze. »Mich interessiert, was Deutschland betrifft, der
Zweite Weltkrieg. Jetzt ist es möglich, Hitler und Stalin in Beziehung zu setzen, auch im
Theater. Die beiden können jetzt miteinander reden, ihre Arbeit ist getan. Oder, mit Gottfried
Benn: ›Ihr Werk ist zur Ruhe gekommen und leuchtet in der Vollendung.‹ Der Plan, das zu
machen, ist fünf, sechs Jahre alt. Es gibt Notizen und Entwürfe.« (KOS 257) Die Passage
bezieht sich auf Überlegungen, die in Müllers letztem Stück GERMANIA 3 GESPENSTER
AM TOTEN MANN zum tragen kommen (s. a. die Szenen PANZERSCHLACHT und ES
BLIES EIN JÄGER WOHL / IN SEIN HORN).
Dem geplanten »Vorwort« zu KRIEG OHNE SCHLACHT stellt Müller als Motto eine
Passage aus Stendhals inhaltlich wie formal ausufernden Jugenderinnerungen (in der Urschrift
beinahe neunhundert Seiten in drei Bänden) voran: »Großer Gott! Wer wird das lesen? Was
für ein Zeug! / Ich würde lügen und einen Roman schreiben, wenn ich einen ausführlichen
Bericht schreiben wollte. / Meine Erinnerung ist nur ein aus diesem Anlass verfertigter
Roman. / Stendhal: Leben des Henri Brulard« (HMA 4482). Die Lektüre der Autobiografie
Stendhals (Henri Beyles) Alter Ego fließt unmittelbar in die Reflexion über die eigene Arbeit
ein. Das Zitat und zwei weitere in den Text des Vorwort-Entwurfs montierte Textstellen aus
VIE DE HENRI BRULARD verdeutlicht, wie eng Rezeption und Produktion in der Arbeit
Heiner Müllers miteinander verknüpft sind. Der Entwurf trägt die Überschrift KRIEG OHNE
SCHLACHT LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN: »Ich sitze auf der Terrasse eines Hauses auf
La Palma (das mir nicht gehört), per Radio stündlich, wenn ich will, mit dem Golfkrieg
verbunden, der nach dem kurzen Jubel über die endgültige Verteilung der Welt durch den
Zusammenbr[uch] d[es] Ostens/der 2. Welt die Dinge wieder in das rechte Licht gerückt hat,
446
zum Blick auf die wirkliche Lage, und lese in Stendhals LEBEN DES HENRI BRULARD.
›Ich befand mich heute früh, am 16. Oktober 1832, bei herrlichem Sonnenschein in San Pietro
in Montorio auf dem Janiculus in Rom. Ein leichter, kaum merklicher Scirocco trieb ein paar
weiße Wölkchen über den Albanerberg. Die Luft war voll köstlicher Wärme; ich freute mich
des Lebens.‹ 940 Am ersten Februar 1991 kann ich, (obwohl) 12 Jahre älter als Stendhal bei
seiner Niederschrift, den letzten Satz nicht (mehr) ohne zögern unterschreiben. Auch der
Sonnenuntergang, der den Wolken die Farben aller Limonaden meiner Kindheit aufträgt,
Waldmeister ausgenommen (die mir die liebste Lim[onade] war), ist da keine Hilfe. Ich denke
an Brechts Galilei nach seinem Widerruf, ein Gefangener der Inquisition, der sich von seiner
(erst) verachteten, jetzt gefürchteten Tochter, dem gläubigen Spitzel der Inquisition, die
Wandinschriften aus der Bibliothek des Montaigne vorlesen lässt, und seine Replik auf den
Satz: Den Tod sollst du nicht fürchten noch ersehnen: ERST WAR DAS ERSTE SCHWER /
JETZT IST ES DAS ZWEITE. Warum habe ich acht Tage (und) vierzehn Kassetten lang über
mein Leben geredet, mein Leben in 4 deutschen Staaten, zwei davon habe ich untergehen
sehn, wen interessiert das und warum mich, einen Text diesseits der Literatur, wenn man
Literatur als Adresse weniger an Zeitgenossen als an eine imaginierte Nachwelt begreift, ein
Leben in zwei Diktaturen und jetzt in einem Gebilde, das sich gegen das bessere Wissen
einiger Minderheiten als Demokratie versteht, mit Freiheit zu allem, was man bezahlen kann.
Nach einem Ausflug über die Insel erzählt mir mein Dialogpartner Katja (meine phallische
Schreibmaschine verweigert das -in) von ihrer Begegnung mit einem tausendjährigen Baum
über einer Schlucht, um den die Hexen weben. Stendhal: ›Wenn man ein Fünfziger ist. Diese
unerwartete Entdeckung ärgert mich gar nicht. Ich hatte eben an Hannibal und an die Römer
gedacht. Größere als ich sind dahingegangen! …‹ Stendhal hatte den Vorteil einer Nachwelt,
die nicht in Zweifel stand, er konnte mit dem Leser von 1935 941 rechnen, das Grauen vor dem
Analpha[beten] der Zukunft war außerhalb seiner Fantasie. Wie schreibt man heute für Leser
des nächsten Jahrhunderts.« (HMA 4482) Müller greift den Anfang BRULARDS in
verfremdeter Form auf. Das nachfolgende Zitat der Einstiegspassage Stendhals weist Müllers
Texteinstieg seinerseits als Zitat aus. Stendhals Brulard bewegt sich durch die Wahl seines
Standpunktes und die Beschreibung seiner Umgebung im Kontext einer intakten
christlichen/abendländischen Welt. Der vom Renaissance-Baumeister Donato Bramante 1502
auf dem kleinen Innenhof des Franziskanerklosters neben San Pietro in Montorio in Rom
errichtete »Tempietto« ist dem Andenken des Apostels und Kirchenbegründers Petrus
gewidmet, dessen Martyrium am umgekehrten Kreuz einer Legende zufolge an jenem Ort
stattgefunden haben soll. Indes muss sich das Erzähl-Ich Müllers autobiografischer
Konstruktion zu einer alles andere als heilen Welt verhalten. Das gilt sowohl für das
angedeutete Besitzverhältnis, das den Schreibenden an einen Ort bannt, mit dem ihm jegliche
Identifikation versagt bleiben muss – die ›eigene‹ (Zweite) Welt hat sich ins Ortlose
verflüchtigt –, als auch für den medial vermittelten weltpolitischen Zustand, der zwar »in das
rechte Licht gerückt«, aber massiv aus dem Lot geraten scheint. Brulards Blick trinkt die im
Morgenglanz erstrahlende Landschaft samt der ihr eingeschriebenen Kulturgüter im
Hochgefühl eines erfüllten Daseins. Bei Müller geht die Sonne unter. Sie taucht den Himmel
in die trügerischen Farben einer Erinnerung an mit Wasser gestreckte Fruchtauszüge. Die
erinnerte Kindheit ist ebenso unwiederbringlich verloren, wie der Tag, den die sinkende
940
s. a. Stendhal 1981, 7
941
Stendhal hatte mit der Niederschrift seiner Jugenderinnerungen im November 1835 begonnen.
447
Sonne mit sich nimmt. Zwischen den Zeilen flackert das Bewusstsein der beginnenden
Krankheit auf, die Ahnung des nahen Todes, den nicht zu ersehnen angesichts des
konstatierten Zustandes der Welt und der persönlichen Krisenerfahrung so schwer fällt. Eine
Antwort auf die Frage nach dem Sinn der biografischen Selbstbefragung gibt es nicht. Sie
bringt lediglich quantitative Aspekte hervor: acht Tage, vierzehn Kassetten, vier deutsche
Staaten, zwei davon Diktaturen, untergegangene. Auch die Frage nach dem Adressaten bleibt
ohne Antwort. Angesichts der katastrophalen Situation des Planeten – so die düstere Prognose
Müllers – könne mit dem Leser von 2091 nicht verbindlich gerechnet werden. Müllers
Zukunft ist gemeinsam mit Osteuropa untergegangen. Die Nachwelt gehört den
Analphabeten. Der Utopie vom »Verschwinden des Autors« (W 8 211) folgt das
Schreckensbild der Liquidation des Lesers. Der tausendjährige Baum, um den die Hexen
weben, wird sich aus der alle Differenzen tilgenden Schlucht der Geschichtslosigkeit wohl
nicht mehr lange heraushalten können. Sein dumpfer Aufschlag wird den Beginn des
»Schweigen[s] der Entropie« (W 8 212) markiert haben. »… die Worte / Fallen in das
Getriebe der Welt« (W 4 84), aufhalten können sie es nicht.
448
8. Jenseits des autobiografischen Diskurses
… da der Intellektuelle kein Repräsentant mehr sein kann, kann er nur noch
Symptom sein oder sich als Symptom zur Verfügung stellen – und als
Dokument.
(Heiner Müller)
8.1. Dokumente
DIE HAMLETMASCHINE verhandelt das Scheitern einer revolutionären Hoffnung als das
Scheitern des Intellektuellen. HAMLET »ist ein Stück über einen jungen Mann, der Mitglied
der herrschenden Schicht ist und der durch Wittenberg auch ein Intellektueller geworden ist.
Es geht um einen Riss zwischen zwei Epochen. Und in diesem Riss geht er unter.« (WT 43)
Shakespeares HAMLET gilt Müller als Paradigma für »das Versagen von Intellektuellen in
bestimmten historischen Phasen, das vielleicht notwendige Versagen« (W 8 241). Es ist »ein
stellvertretendes Versagen« (ebd.). In einem Text über den Materialwert des marxistischen
französischen Philosophen Althusser konstatiert Müller im Anschluss an dessen Schüler
Foucault: »… da der Intellektuelle kein Repräsentant mehr sein kann, kann er nur noch
Symptom sein oder sich als Symptom zur Verfügung stellen – und als Dokument.« (W 8 244)
Der Autopsie, der Öffnung und Veröffentlichung des Autors als Material korrespondiert die
Verweigerung der Herrschaft über die Diskurse. Die Aufgabe repräsentativen Sprechens
durch den Autor schreibt ihn zugleich als Stoff in das Stück wieder ein. Prospero – »der
untote Hamlet« (W 8 337) und Müllers Alternative zum Dänenprinz – zerbricht seinen
Zauberstab als Replik auf den Vorwurf Calibans: »YOU TAUHGT ME LANGUAGE AND
MY PROFIT ON’T IS I KNOW HOW TO CURSE« (ebd.) Die Sklaven haben das letzte
Wort. Der Rest ist Schweigen.
Was Joachim Fiebach im Zusammenhang mit Müllers HAMLETMASCHINE feststellt, hat
auch mit Blick auf KRIEG OHNE SCHLACHT Bestand: »Die Struktur des Textes spricht
deutlicher und eindringlicher von der historischen Lage als das, was er thematisiert.« 942
Besonders deutlich wird das, wenn man sich das Konstruktionsprinzip Müllers Autobiografie
vor Augen führt, die poetische Elemente permanent mit dokumentarischen durchmischt. Den
meisten Kapitelüberschriften wird eine Zeitangabe oder Jahreszahl beigefügt, die auf einen
lebens- und entstehungsgeschichtlichen Kontext verweist. Das verleiht den
Kapitelüberschriften einen explizit dokumentarischen Duktus. Die eigentliche
lebensgeschichtliche Darstellung ist darüber hinaus perforiert von Fragen und Kommentaren
eines fiktiven Gesprächspartners, wodurch zum einen die Genese des Textes aus einem
autobiografischen Interview transportiert, andererseits der Bezug auf vermeintlich empirische
historische Daten suggeriert wird. Die Eröffnung etwa ein Drittel der Kapitel durch eine Frage
des Gesprächpartners geht vermutlich auf konzeptionelle Überlegungen im
Entstehungsprozess von KRIEG OHNE SCHLACHT zurück, die darauf hinausliefen, durch
942
Fiebach 1990, 19
449
Fragen zu Beginn der jeweiligen Kapitel den dokumentarischen Charakter des Textes stärker
hervorzuheben (»questions on top of chapter 1/2/3/4 …«, HMA 4480).
Eine grundsätzlich neue Qualität gewinnt der faktologische Gestus des Textes im
Materialanhang der Autobiografie. Der Appendix versammelt 21 Dokumente von denen
lediglich acht (im Erstdruck neun) auf die Autorschaft Heiner Müllers zurückzuführen sind. 943
Wolf Schneller bezeichnet ihn im Handelsblatt als einen ȟberaus informativen
Dokumentenanhang, der die Brechungen des Autors mit der Staatsmacht kenntlich macht.« 944
In der Neuauflage wird dieser Anhang um ein Dossier mit Unterlagen des Ministeriums für
Staatssicherheit der DDR und weitere Materialien erweitert, die im Zusammenhang mit den
Stasi-Vorwürfen (»Stasi« steht für den Apparat der Staatssicherheit der DDR, eigentlich
Ministerium für Staatssicherheit, kurz MfS) gegen Heiner Müller stehen und in eine gänzlich
neue Dimension der »Brechungen mit der Staatsmacht« Einblick gewähren. Die im
Dokumentenanhang der Erstauflage abgedruckten Materialien gehen zurück auf eine
Auswahl, die Müller nach Angaben Renate Ziemers aus einem Konvolut traf, die sie in seiner
Berliner Wohnung zusammengestellt und mit nach Lanzarote gebracht hatte, wo Müller an
der Redaktion der autobiografischen Interviews arbeitete. Sie beziehen sich inhaltlich
weitgehend auf Aussagen der vorangegangenen Kapitel. Ihnen eignet insofern vornehmlich
illustrative Funktion.
Das erste Dokument zeigt Müllers Nachdichtung eines Korea-Liedes aus dem Liederbuch
»Wir singen mit Freunden«, das die FDJ zu den Jugendweltfestspielen in Berlin 1951
herausgegeben hatte. 945 Zu diesem Anlass hatte Müller auch eine Reihe Stalin-Oden und
andere sozialistische Pathos-Lyrik übersetzt. Das zweite Dokument enthält einen
handschriftlichen Lebenslauf von 1956. Zwei ähnliche handschriftliche Dokumente – ein
undatierter Lebenslauf bis 1955 sowie ein weiterer von 1957 – befinden sich, ausgewiesen als
Arbeitsmaterial für KRIEG OHNE SCHLACHT, in Müllers Nachlass. In beiden rechtfertigt
Müller seinen Austritt aus der SED 946 , der ihm später im Zusammenhang mit der
UMSIEDLERIN-Affäre ein Parteiverfahren ersparte (wie es etwa B. K. Tragelehn über sich
ergehen lassen musste). Es folgen eine Buchrezension (NICHT FÜR »EISENBAHNER«,
eine »Kritische Bemerkung zu einem Heimatbuch« von Käthe Miethe) sowie der
GESPRÄCHE ÜBER LITERATUR überschriebene Bericht über eine Podiumsdiskussion in
der Berliner Akademie der Künste von 1954. Beide Texte erschienen in der vom »Kulturbund
zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« im Aufbau-Verlag herausgegebenen
»Wochenzeitung für Kultur, Politik und Unterhaltung«, dem »Sonntag«. Im Erstdruck von
943
Zur inhaltlichen Relevanz der einzelnen Dokumente s. a. meine Ausführungen zu den einzelnen Kapiteln.
944
Wolf Scheller: Von Ideologie und Politik unberührt. In: Handelsblatt vom 10./11.7.1992
945
s. a. W 1 136–153. Im gleichen Kontext entstanden weitere Übertragungen, die im Sammelband »Von dir
singt die Erde. Gedichte über Stalin« (Berlin 1952) erschienen.
946
»Mitglied der SED seit Gründung, gestrichen wegen mangelnder Parteiverbundenheit 195 einige Monate
nach der Überprüfung, 1951, da ich von Frkbg. [Frankenberg] nach Berlin umgezogen, zwar zur
Überprüfung in Frkbg. gewesen war + mein Dokument abgegeben hatte, aber versäumte, die Passbilder von
Berlin aus nachzuschicken […] + mit der Parteigruppe keine Verbindung mehr aufnahm.« (HMA 4470)
»Zur Überprüfung 1951 kam ich aus Berlin, wo ich arbeitete (freier Mitarbeiter der Zentralen
Kulturkommission beim Zentralrat der FDJ), aber ohne Aufenthaltsgenehmigung wohnte, nach
Frankenberg, wo ich polizeilich gemeldet war, aber, durch die Republikflucht meiner Eltern, keine
Wohnung hatte. / Nach der Überprüfung gab ich mein Dokument ab, versäumte aber, die 2 Passbilder
nachzureichen und meldete mich nach meinem endgültigen Umzug nach Berlin nicht bei der zuständigen
Parteigruppe.« (HMA 4471)
450
1992 finden sich anstelle zweier Texte aus der Zeit Müllers redaktioneller Mitarbeit beim
»Sonntag« in den frühen fünfziger Jahren drei Beispiele. In einem (nicht als solchen
ausgewiesenen) Nachdruck von 1992 fehlt der in der Erstauflage unter »Dokument 5«
abgedruckte Text DAS VOLK IST IN BEWEGUNG (s. a. W 8 14–18). Stattdessen wird der
Anhang um die als Typoskript in Müllers Nachlass erhaltenen »Anmerkungen« B. K.
Tragelehns zum UMSIEDLERIN-Kapitel ergänzt. 947 Die Buchbesprechung vom 7. März
1954 lässt kein gutes Haar an der Autorin, der Müller »›Lokalpatriotismus‹« (KOS 376),
»naive[n] Romantizismus« und »›bodenständige‹ Naivität« (KOS 379) vorwirft. »Überdies ist
das Buch schlecht geschrieben, mit einer Häufung von Banalitäten und faden Lyrismen«
(ebd.), (ver-)urteilt der Rezensent. Der schwerste Vorwurf jedoch bezieht sich auf das Erbe,
das Müller der »exklusiven ›Heimatliebe‹« (KOS 377) der Autorin unterstellt: die »Blut- und
Boden-Literatur« (KOS 99) des deutschen Chauvinismus. Im Text der Autobiografie räumt
Müller ein, dass er sich, ohne es zu wissen, von der Redaktion des »Sonntag« bis zu einem
gewissen Grad habe instrumentalisieren lassen: »Der Verriss für Käthe Miethe war also ein
Auftrag von Becher …« (KOS 100)
Der Text über die Diskussionsveranstaltung des Schriftstellerverbandes in Zusammenarbeit
mit der »Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« vom 22. Oktober 1954 im Plenarsaal der
Akademie der Künste der DDR mit Roman Samarin, Konstantin Fedin und Alfred Kurella
erschien am 31. Oktober 1954. In dem Artikel polemisiert der junge Autor gegen eine
Literaturtheorie, die »vor der Literatur da war« (KOS 381) und betont: »Die Art, in der sie
[Fedin und Samarin] Fragen beantworteten und selbst Fragen aufwarfen, zeigte, dass sie an
der Entwicklung unserer Literatur ernsthafter und tiefer interessiert sind als viele unserer
Kulturfunktionäre und Theoretiker. Sie servierten nicht Dogmen und Lehrsätze, was einige
Teilnehmer zu erwarten schienen. Sie gaben Anregungen auf der Grundlage ihrer
persönlichen Erfahrung mit Theorie und Praxis der Literatur, die in der Sowjetunion schon ist,
was sie bei uns erst werden muss: ein Ensemble.« (ebd.) Der Vorwurf an die
Kulturfunktionäre und Literaturwissenschaftler, die künstlerische Praxis aus der Theorie
gewinnen zu wollen, die darüber hinaus auf den Grundlagen einer fremden, nämlichen der
sowjetischen Realität beruhe – ein Vorwurf der sich ohne weiteres auf alle Kunstgattungen
und über die Grenzen der Kulturpolitik auf andere Politikbereiche hätte ausweiten lassen –,
traf ins Schwarze einer politischen Realität, die gesellschaftlichen Fortschritt aus
ideologischen Hohlformen beziehen zu können glaubte. Dass auch die sowjetische Literatur
bereits seit den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts unter der dogmatischen
Vereinheitlichung im Namen eines vermeintlichen ›sozialen Auftrags‹ litt, verschweigt
Müllers Text.
Mehr als die Hälfte des Anhangs – die Dokumente 5 bis 14 sowie die »Anmerkungen« B. K.
Traglehns im »Dokument 21« – beziehen sich unmittelbar auf den Komplex der
UMSIEDLERIN-Affäre im neunten Buchkapitel. 948 Das fünfte Dokument gibt zum ersten
Mal im Rahmen des Anhangs der Autobiografie einen Text wieder, der nicht von Heiner
Müller stammt. Es ist ein »Drohbrief« (KOS 161) vom Ministerium für Kultur, Sektor
947
Daraus ergeben sich Druckfehler. So wird unter Endnote 31 der Neuauflage auf das »Dokument 6«
verwiesen, obwohl »Dokument 5« gemeint ist, die Endnote 33 verweist auf »Dokument 8« statt auf
»Dokument 7« etc. (KOS 370f.).
948
s. a. die Ausführungen unter Punkt »2.9. 1961, Die Misthaufen wachsen« im dritten Teil der vorliegenden
Arbeit
451
Theater, der die erste Rate eines im Zusammenhang mit der UMSIEDLERIN an Müller
gezahlten Stipendiums zurück fordert, weil dieser vorgeblich »nichts geliefert hatte« (ebd.).
Laut Begründung des Hauptreferenten der zuständigen Abteilung im Ministerium fühlte sich
die Dienststelle »nicht befugt, Staatsgelder auf so lange Zeit, ohne Aussicht auf die
›Gegenleistung‹, zu blockieren« (KOS 385). Müller kommentiert: »Termine habe ich nie
gehalten. Die einzige Möglichkeit, mich zu Terminen zu verhalten, war für mich immer, dass
ich sie überschritt. Das Geld wurde zurückgefordert, der Gerichtsvollzieher kam, aber es war
dann meine Sache. Ich konnte nicht anders damit umgehen.« (KOS 161) »Dokument 6«
versammelt die Stellungnahmen der an der Aufführung des Stücks beteiligten Studenten. Die
›selbstkritischen‹ Stellungnahmen denen ein Verhör stalinistischer Provenienz vorangegangen
war, tragen wenig zur Erhellung der tatsächlichen Haltung der Darsteller bei. In der
stereotypen Terminologie spiegelt sich vor allen Dingen die Vorgabe des Zentralrats der FDJ,
Stück und Regie als »antikommunistisch, konterrevolutionär und antihumanistisch« (KOS
387) und »Provokation gegen unseren Staat« (KOS 386) zu denunzieren, weil es »den
Feinden unserer Republik in die Hände gearbeitet« (KOS 387) hätte. Das folgende, siebente
Dokument gibt einen Brief von Mitarbeitern des Berliner Ensembles an das Ministerium für
Kultur wieder, in denen Müllers Stück als nihilistisch und »antihumanistisch«, die Regie
Tragelehns sogar als »verbrecherisch« (KOS 390) gebrandmarkt wurde. Durch die Wortwahl,
mit der man Staatsfeinde zu diskreditieren pflegte, wurden die jungen Künstler für vogelfrei
erklärt und der Willkür der staatlichen Behörden überlassen – bis hin zu
Verhaftungsszenarien. Das darauf folgende Dokument enthält die Selbstbezichtigung des
Sekretariats des Schriftstellerverbandes, in der sich die zuständige Kontrollinstanz mangelnde
Wachsamkeit vorwirft. Das Schreiben ist ein Beispiel für die Absurdität der Affäre um das
Stück. So kam es in der Folge des Skandals nach der Aufführung der UMSIEDLERIN nicht
nur zu flächenbrandartigem Aktivismus auf Seiten der Behörden und einer Vielzahl
kultureller Institutionen, sondern auch zu Ergebenheitsadressen und »selbstkritischen«
Stellungnahmen auf allen Ebenen des kulturellen Betriebs. Es wird deutlich, dass das Verbot
der UMSIEDLERIN mit allen personellen und institutionellen Folgen unter politischen
Gesichtspunkten lediglich einen weiteren Vorwand zur Etablierung einer stärkeren staatlichen
Kontrollstruktur nach dem 13. August 1961 darstellte, der weit über den kulturellen Bereich
hinaus wirksam werden sollte. »Dokument 9« enthält eine Gesprächsnotiz, die eine Äußerung
des Schriftstellers und ZK-Mitglieds Kuba (d. i. Kurt Barthel) zu Müllers Stück festhält und
den totalitären Tonfall im Jahr des Mauerbaus authentisch wiedergibt: »Vollkommen
undiskutabel, von Anfang bis Ende feindlich.« (KOS 395) Die beiden folgenden Texte
dokumentieren Müllers Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR im Zuge der
Affäre. Dem Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Vorstandes des DSV vom 30.
Oktober 1961, auf dem die innerinstitutionelle Verfahrensweise mit dem Verfasser der
UMSIEDLERIN abgestimmt wurde (wiederum wird der antihumanistische Charakter des
Stücks hervorgehoben), folgt die Mitteilung des Ausschlusses an Heiner Müller durch den 1.
Sekretär des Verbandes, Otto Braun, der dem amtlichen Schreiben eine handschriftliche Notiz
anfügt, in der er dem Ausgestoßenen ein Gespräch über dessen »Zukunft« (KOS 399) als
Autor anbietet. »Dokument 12« enthält die SELBSTKRITIK Müllers an die Abteilung Kultur
beim ZK der SED. Der legendären Versammlung des Schriftstellerverbandes, die den
Grundstein für den Ausschluss Müllers aus dem DSV legte, ging eine Sitzung der Sektion
Literatur der Akademie der Künste voran, in der sich die Mitglieder (unter ihnen Arnold
Zweig , Ludwig Renn und Wieland Herzfelde) auf ein von Franz Fühmann vorgelegtes
452
Thesenpapier zur UMSIEDLERIN einigten. Der Wortlaut dieses »negativen Gutachten[s]«
(KOS 172), das als »Dokument 14« im Materialanhang der Autobiografie abgedruckt ist, gibt
paradigmatisch die offizielle Haltung vieler Künstlerkollegen wieder, die das Stück als
»misslungen« (KOS 406) und wirklichkeitsfremd bezeichnen, ihm eine »negative Aussage«
(KOS 407) attestieren, zugleich aber dem Autor eine überdurchschnittliche Begabung
bescheinigen. Das zuvor abgedruckte dreizehnte Dokument bringt eine Grundsätzlich
divergierende Position gegenüber Müllers künstlerischer Arbeit zum Ausdruck. Im Gegensatz
zu den öffentlichen und also offiziellen Stellungnahmen unterschiedlicher kultureller
Institutionen der DDR und deren Vertretern handelt es sich hierbei um ein privates Schreiben
des Leipziger Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, der Müller als »einen der begabtesten
Schriftsteller hierzulande« würdigt, dem er »die Weiterentwicklung der Brechtschen
Dialektik« (KOS 404) bescheinigt, und ihm zum Ausschluss aus den »elitehaften Reihen«
(ebd.) des Schriftstellerverbandes gratuliert. Die in Müllers Autobiografie abgedruckten
Dokumente zum Skandal um die Umsiedlerin bilden einen relativ kleinen Ausschnitt aus der
Staatsaffäre, die die Aufführung des Stückes auslöste. Im Zusammenhang mit der Schilderung
der Vorgänge im neunten Buchkapitel Kapitel Müllers Autobiografie erschließt sich dennoch
ein verhältnismäßig kohärentes Bild des »Dramas um eine Komödie« 949 .
Das fünfzehnte Dokument illustriert die Diskrepanz zwischen Entstehungs- und
Rezeptionsgeschichte Müllers Texte in der DDR. Nach dem Abdruck von DER BAU in »Sinn
und Form« im Frühjahr 1965 und der Kritik an dem Stück durch Erich Honecker auf dem 11.
Plenum des ZK der SED im Dezember des gleichen Jahres galt das Stück als unspielbar. Die
Bemühungen des Intendanten des Deutschen Theaters, das die Uraufführung vorbereitete
(Regie: Benno Besson) schlugen fehl. Nach der offenen Kritik fordert Intendant Wolfgang
Heinz den Autor des Stückes in dem abgedruckten Brief auf, »1. in keiner Weise das
vorliegende Material der Öffentlichkeit bekannt zu machen […] 2. nicht nachzulassen, mit
uns immer weiter an der Verbesserung Ihres Stückes zu arbeiten.« (KOS 408) Heinz
versichert gegenüber Müller: »Wenn wir trotzdem noch einige Wünsche haben, bedeutet das
nicht, dass wir nicht überzeugt sind, Ihr Stück in nächster Zeit herausbringen zu können.«
(ebd.) Die kulturpolitische Realität sollte Heinz’ Optimismus widerlegen. Erst 1980 erfuhr
DER BAU in der Regie von Fritz Marquardt an der Berliner Volksbühne seine Uraufführung
– verdammt zur Wirkungslosigkeit: »Die Kritik war langweilig. Es gab nur noch
Zustimmung.« (KOS 202)
Den Wortlaut der sogenannten »Biermann-Resolution« gibt das »Dokument 16« wieder. Am
17. November 1976 wurde dem Dichter und Liedermacher Wolf Biermann nach der Live-
Ausstrahlung seines Kölner Konzertes vom 13. November im WDR die DDR-
Staatsbürgerschaft aberkannt. Noch am gleichen Tag verfassten auf Betreiben Stephan
Hermlins zwölf renommierte DDR-Autoren (und nicht, wie es in der Einleitung zum
Dokument 16 heißt, zehn) und der Bildhauer Fritz Cremer eine offene Petition an die SED-
Führung, in deren Schlusssatz sie die Aufhebung der »Maßnahme« gegen Biermann
einklagten: »Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene
Maßnahme zu überdenken.« (KOS 409) Ihnen schlossen sich im Laufe weniger Tage mehrere
Dutzend Kulturschaffende an. Mit der Ausbürgerung Biermanns wollte die SED-Führung ein
Exempel gegen die vorsichtige Öffnung für mehr künstlerische Gestaltungsfreiheit seit dem
949
Titel der Publikation Matthias Brauns (Braun 1996)
453
VIII. Parteitag 1971 (Wahl Erich Honeckers zum Partei- und Staatschef) statuieren. Auf dem
IX. Parteitag der SED im Mai 1976 hatte Kurt Hager die Vertiefung der »sozialistischen
Integration« gerade auch im künstlerischen Bereich eingefordert. »Der Spielraum für eine
literarische Arbeit, die als ihre Voraussetzung begreift, Realität mit ästhetischen Mitteln
offen, vielfältig und kontrovers darstellen zu können, war mit einem Mal auf Null
reduziert.« 950 Auf das Aufbegehren der Künstler waren die Behörden gut vorbereitet. Die
zuständigen Parteigremien und Staatsorgane reagierten mit einem gestaffelten, genau
kalkulierten Instrumentarium von Sanktionen, das von Verhaftung und Hausarrest über
Organisationsausschluss, Parteistrafen und Publikationsverbot bis hin zur »Empfehlung« der
Ausreise reichte. Die forcierte Abwanderung der Schriftsteller führte zu einem irreversiblen
Substanzverlust der DDR-Literatur. Am Ende fehlten der DDR nicht nur etablierte Autoren
wie Becker, Biermann, Kirsch, Kunert, Kunze, Loest, Schädlich oder Schlesinger, sondern
auch aufstrebende wie Brasch, Hilbig, Kolbe, Lange-Müller oder Maron. In KRIEG OHNE
SCHLACHT schreibt Müller: »Die vielen unbekannten Unterzeichner wurden reihenweise
unter Druck gesetzt – zum Teil verhaftet. Deswegen kamen wir auf die Idee, es wäre gut,
wenn man jetzt einen Brief der Erstunterzeichner schreiben würde, in dem die sich von dem
Gebrauch distanzieren, den jetzt der Westen von diesem Protest machte. […] Dann habe ich
mit Hermlin gesprochen, und Hermlin sagte: ›Ich bin am Dienstag bei Honecker, und da
werde ich das klären.‹ Die ›Klärung‹ erfolgte durch die Ausschlüsse aus dem
Schriftstellerverband.« (KOS 273f.) Müller selbst, der bereits im Zuge der UMSIEDLERIN-
Affäre fünfzehn Jahre zuvor aus dem DSV ausgeschlossen worden war, drohte indes die
Entlassung als Mitarbeiter des Berliner Ensembles: »Dann hat Ruth Berghaus als Intendantin
des Berliner Ensembles mich bearbeitet, dass ich selbst etwas machen sollte, um den Protest
zu relativieren, und ich habe das dann als Einzelperson formuliert, die Abgrenzung von dem
westlichen Gebrauch. Das haben sie in der Bezirksleitung der Partei wohl als Zurücknahme
interpretiert, und die Berghaus brauchte mich nicht zu entlassen.« (KOS 274)
Im Rahmen des »Internationalen Gesprächs der Schriftsteller«, das Anfang Mai 1987 in Ost-
Berlin stattfand, hielt Müller eine Rede, die im Materialanhang von KRIEG OHNE
SCHLACHT als »Dokument 18« ausgewiesen ist. Müller spricht in dem Text mit Blick auf
die politische Erwärmung im Kreml von der »Renaissance einer Hoffnung, die mit den
Namen Lenin und Trotzki verbunden war und von Stalin auf Eis gelegt wurde.« (KOS 412) In
seiner Argumentationsstruktur erscheint das Tauwetter als unmittelbarer Anschluss an »die
Hoffnung des Oktobers« (gemeint ist die Revolution von 1917), die in der »Einheit von
Gleichheit und Freiheit« (ebd.) bestünde. Er warnt davor, das Programm Gorbatschows als
Annäherung an den Westen zu (miss)verstehen. Es ginge »im Gegenteil um die
Herausbildung des anderen, um die wirkliche Alternative zum Kapitalismus, nicht um das
Aufgeben von Positionen, sondern um die Eroberung der einzigen Position, die Zukunft
möglich macht.« (KOS 413) Müller greift hier noch einmal jenen Gedanken auf, den er
bereits Mitte Dezember 1981 während der »Berliner Begegnung« (s. a. KOS 348) formuliert
hatte (abgedruckt als »Dokument 17«): »Hinter der Frage Krieg oder Frieden steht mit der
nuklearen Drohung die schrecklichere Frage, ob noch ein andrer Frieden denkbar ist als der
Frieden der Ausbeutung und der Korruption. Der Alptraum, dass die Alternative Sozialismus
oder Barbarei abgelöst wird durch die Alternative Untergang oder Barbarei. Das Ende der
950
Werner Irro: Hier drüben – Literatur ehemaliger DDR-Autoren. In: Briegleb/Weigel 1992, 231
454
Menschheit als Preis für das Überleben des Planeten. Eine negative Friedensutopie.« (KOS
411) Müllers emphatische Totenbeschwörung von 1987 macht deutlich, dass er die wenige
Jahre zuvor projizierte Negativutopie zum Zeitpunkt der Äußerung unmittelbar vor ihrer
Realisierung sah.
Am 4. November 1989, dem Tag der Einlösung Müllers negativer Utopie, las Müller auf dem
Berliner Alexanderplatz in Ermangelung eines eigenen Redemanuskripts einen »Aufruf« zur
Gründung unabhängiger Gewerkschaften (»Dokument 19«) vor, den ihm Demonstranten in
die Hand gedrückt hatten. Auf die zahlreichen Anfeindungen infolge dieser Rede in den
Medien reagierte Müller mit dem im Dezember des gleichen Jahres verfassten PLÄDOYER
FÜR DEN WIDERSPRUCH (»Dokument 20«), der am 14. Dezember 1989 im »Neuen
Deutschland« und am 24. Januar des Folgejahres in der »taz« erschien. Dem Vorwurf eines
Theaterkritikers des »NEUEN DEUTSCHLAND«, als Volksredner versagt zu haben,
begegnet Müller in seinem streckenweise polemischen Text: »Ich kann ihn beruhigen: das
war nie mein Berufswunsch.« (KOS 415f.) Die eigentliche Qualität seiner Rede hebt er
rhetorisch als »Fehler« (KOS 416) hervor: »Ich hatte den strapazierten Begriff DIALOG so
verstanden, dass er niemanden ausschließen sollte. Als mir am Fuß der improvisierten
Tribüne eine Welle von Hass entgegenschlug, wusste ich, dass ich an Blaubarts verbotene Tür
geklopft hatte, die Tür zu dem Zimmer, in dem er seine Opfer aufbewahrt.« 951 Die Aussage
bezieht sich auf den Terminus des ›universalen Diskurses‹ (s. a. W 8 212), der das Ende der
Repräsentation ankündigt. Im Rekurs auf die INTERNATIONALE (»UNS AUS DEM
ELEND ZU ERLÖSEN / DAS KÖNNEN WIR NUR SELBER TUN«, KOS 417)
konkretisiert Müller im weiteren Textverlauf seine Aussage: »Ich bin kein Wortführer einer
Bewegung. Entscheidend ist, dass endlich die Sprachlosen sprechen und die Steine reden. Der
Widerstand von Intellektuellen und Künstlern, die seit Jahrzehnten privilegiert sind, gegen
den drohenden Ausverkauf wird wenig ausrichten, wenn ein Dialog mit der lange
schweigenden oder Fremdsprachen redenden Mehrheit der jahrzehntelang Unterprivilegierten
und im Namen des Sozialismus Entrechteten nicht zustande kommt.« (KOS 419) In dem Text
schwingt eine Anzahl anderer Themen mit, die nach Gründen für den Untergang des
Ostblocks im Allgemeinen und jenen der DDR im Besonderen fragen und Müllers
essayistisches Schreiben der nächsten Jahre kennzeichnen sollten: So die »Kolonisierung der
eigenen Bevölkerung in den osteuropäischen Ländern« (KOS 416), das »Prinzip der
negativen Auslese« (KOS 417), die »Überschussproduktion […] von Staatsfeinden« (ebd.)
oder die Frage inwiefern es sich bei der politischen »Wende« in der DDR um eine Revolution
gehandelt habe. Ein Leitgedanke des Plädoyers besteht in der von Müller geäußerten
Befürchtung, »dass die Massen, die aus dem Schatten Stalins mit einem Jahrhundertschritt
herausgetreten sind, im Rausch der Freiheit diese Mauer, die durch die Welt geht, aus den
Augen verlieren.« (KOS 418) An diese Sorge wird die Hoffnung geknüpft, dass »die DDR als
basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie der
BRD« (KOS 418) erhalten bleibt, ohne die »Europa eine Filiale der USA sein« (KOS 419)
werde. Bedingung dafür sei »nicht Einheit, sondern die Ausformulierung der vorhandnen
Differenzen, nicht Disziplin, sondern Widerspruch, nicht Schulterschluss, sondern Offenheit
für die Bewegung der Widersprüche nicht nur in unserm Land« (KOS 418). Trotz oder gerade
951
KOS 416. in einem Entwurf zu dem Text heißt es noch: »Meine Unlust offne Türen einzurennen, hat mich
vor eine fest verschlossne Tür geführt.« (HMA 4401). Das Blaubart-Motiv kehrt in SELBSTKRITIK 2
ZERBROCHNER SCHLÜSSEL (s. a. W 1 235) wieder.
455
wegen der betonten Differenzen ist der Text als ein erstes Statement Müllers zur
bevorstehenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu lesen, als bedrückend
hellsichtige Analyse der Grundlagen einer ebenso unerwünschten wie unvermeidlichen
politischen Entwicklung aus der Perspektive des sinkenden Schiffs DDR. Müllers Aufruf,
»Wir sollten keine Anstrengung und kein Risiko scheun für das Überleben unsrer Utopie von
einer Gesellschaft, die den wirklichen Bedürfnissen ihrer Bevölkerung gerecht wird ohne den
weltweit üblichen Verzicht auf Solidarität mit andern Völkern« (KOS 419), klingt in diesem
Zusammenhang nicht – wie der Germanist Domdey will 952 – wie die eiserne Durchhalteparole
in der Atempause des SED-Sonderparteitags 953 , sondern wie ein weiterer Nachruf, der
nunmehr nicht mehr dem Staat gilt, sondern all jenen Vorstellungen einer besseren Welt, die
vom Sog des realen Untergangs unweigerlich mit in die Tiefe gerissen werden.
In der Erstausgabe endet der Materialanhang Müllers Autobiografie mit dem PLÄDOYER
FÜR DEN WIDERSPRUCH. Erst in einem Nachdruck von 1992 und allen weiteren
Ausgaben schließen sich als »Dokument 21« die »Anmerkungen zu KRIEG OHNE
SCHLACHT von B. K. Tragelehn« an. Diese Anmerkungen beziehen sich ausschließlich auf
Müllers Darstellung der UMSIEDLERIN-Affäre im Jahr 1961 im neunten Buchkapitel.
Tragelehn war als Regisseur direkt am Geschehen beteiligt und wurde für seine
›verbrecherische Regie‹ zu einer Parteistrafe in der »Produktion« (Braunkohletagebau bei
Klettwitz) verurteilt. Das vier Blatt umfassende Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen
Tragelehns im Nachlass Müllers »endet auf der letzten Seite – die vermutlich bei
Drucklegung übersehen wurde – mit der folgenden Passage, die sich auf Seite [187] der
Autobiografie bezieht« 954 : »Der Deputatschnaps war nicht ganz umsonst, aber er kostete nur
1,60 M den Liter. Ich hatte auch Deputatkohlen, und als es bei Heiner zu kalt wurde, haben
wir in den Kofferraum eines Wartburg (die Mutter von einem der wenigen Freunde, die wir
damals hatten, besaß einen) ein paar Zentner reingepackt. Es kam auch vor, dass Brotlaibe
und Margarinewürfel geteilt wurden.« (HMA 4491) Insgesamt stimmen Tragelehns
Anmerkungen mit der Wahrnehmung Müllers überein. Im Detail werden Differenzen
sichtbar. Auf diese Art und Weise verdeutlicht das Dokument, wie unterschiedliche
Erinnerungsbilder auf ein und denselben Anlass projiziert werden können. Darin besteht
letztlich die genuine Qualität des Materialanhanges von KRIEG OHNE SCHLACHT: Er
zeigt, dass das Gedächtnis eine alles andere als homogene Struktur besitzt und sich der
unterschiedlichsten Quellen und Medien bedienen kann, um Erinnerungsbilder zu generieren,
die als Produkte hochkomplexer Konstruktionsleistungen zu verstehen sind.
952
s. a. Domdey 1998, 232
953
Auf dem SED-Sonderparteitag ging es vor allen Dingen um die existenzielle Frage der Einheit der Partei.
Am 8. Dezember 1989 beschört Modrow die 2300 Delegierten, die Partei nicht zerbrechen zu lassen. Am 9.
Dezember wird Gysi mit großer Mehrheit zum Parteivorsitzenden gewählt. Die Selbstauflösung der Partei
ist vom Tisch. Nach einwöchiger Pause wird der Parteitag am 16. Dezember abgeschlossen. Müllers Text
bezieht zum leninschen Fraktionsverbot – einer heiligen Kuh der sozialistischen Staatsparteien des
Ostblocks – explizit Stellung: »Meine Hoffnung: dass die SED besser ist als ihre Führung (deren
Hauptschuld die Unterdrückung des intellektuellen Potenzials der Basis) und von der Straße lernt, dass
Bewegung von unten ausgeht, Erstarrung von oben und überlebt als eine andre Partei, vielleicht nicht durch
Einheit. Lenins Fraktionsverbot, für Machterhaltung gegen die Fortsetzung der Revolution, die nur ein
Prozess sein kann und kein Besitzstand, ist der Virus, der die kommunistischen Parteien seit siebzig Jahren
schwächt.« (KOS 418)
954
s.a. die »Bibliografische Notiz« des Herausgebers der Werke Heiner Müllers im Suhrkamp-Verlag
Frankfurt/M., Frank Hörnigk (W 9 497)
456
8.2. Dossier
Als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens beiderseits der Mauer und zunehmend gefragter
Interviewpartner westlich von ihr, war Müller zugleich prominentes Objekt des
Staatssicherheitsapparats. In der Druckfassung der Autobiografie wird dieser Tatsache kaum
Beachtung geschenkt. Allerdings belegten die in den Tonbandabschriften erhaltenen
autobiografischen Gespräche und andere der Druckfassung vorangehenden Textstufen von
KRIEG OHNE SCHLACHT die offene Auseinandersetzung mit diesem Thema. Dass Müller
direkte Gespräche mit Mitarbeitern der Staatssicherheit in der Druckfassung unerwähnt ließ –
wie andere Themen von denen aufgrund ihrer relativen Belanglosigkeit in der Autobiografie
keine Rede ist –, ist heute nachvollziehbar. Gespräche der Staatssicherheit mit renommierten
Künstlern und anderen prominenten Personen des öffentlichen Lebens gehörten (nicht nur) in
der DDR zur sozialistischen Tagesordnung. In der giftgeschwängerten Atmosphäre der
Nachwendezeit hatten die Anfang des Jahres 1993 erhobenen Stasi-Vorwürfe eine andere
Sprengkraft als heute, da ein Schauspieler wie Thomas Lawinky mit der Selbstenthüllung
seiner aktiven IM-Tätigkeit (»IM Beckett«) seine Biografie inszenieren kann. 955 Das zeigt
sich insbesondere in jenem Dossier mit Stasi-Dokumenten der erweiterten
Taschenbuchausgabe von KRIEG OHNE SCHLACHT im Jahr 1994, die damit ebenso
unmittelbar wie unbeholfen auf die Stasi-Vorwürfe vom Januar 1993 reagierte. Konnte Müller
die Denunziation samt dadurch ausgelöster Schlammschlacht in den Medien nicht
vorhersehen, muss ihm angesichts des politischen Klimas nach dem Ende der DDR klar
gewesen sein, wie hysterisch die Reaktion auf seine vermeintliche Spitzeltätigkeit ausfallen
würde. Auch Helge Malchow scheint Müllers Haltung zu befürworten, wie eine spätere Notiz
Müllers bestätigt: »Die Reaktion auf d[as] Interview in Sp[iegel] tv, das wie d[as] Geständnis
eines Massenmörders gehandelt wird, macht vielleicht verständlich, warum selbst m[ein]
Lektor gezögert hat [und] es für gut [hielt], [die Stasi-Kontakte] jetzt noch nicht
[einzuräumen] – obwohl es Gespr[ächs]thema war.« (HMA 5319) Im Zusammenhang mit
Entwürfen für eine poetische Reflexion der Stasi-Debatte verleiht Müller dieser Vermutung
Ausdruck: »Ich habe aus meinen Kontakten kein Geheimnis gemacht, das wissen meine
Freunde, auch nicht in den Gesprächen zu meiner Autobiogr[aphie] KoS. Die Entscheidung
kam von mir, nicht v[om] Lektor [und] war, in der Sprache der Wehrmacht, Feigheit v[or]
d[em] Feind« (HMA 5276). In der Fassung einer Dialogpassage des anfänglich geplanten,
später verworfenen Nachwortes hält es der Erzähler für besser zu schweigen. Durch die
ersatzlose Streichung der Passage ist dieses Schweigen im Text der Autobiografie auch
literarisch nicht mehr vermittelt. Auf die Frage »Wie denkst du über die Stasi?« antwortet
Müller in der nicht in den Druck aufgenommenen Passage: »Es ist einfach so: Natürlich habe
ich Gespräche mit denen gehabt. Die haben Gespräche abgehört, die haben Gespräche
angehört, manchmal wusste man, wer es gerade war – und irgendwann hast du darauf keine
Rücksicht mehr genommen. Natürlich hatte ich Gespräche mit denen, da ging es um Fälle – es
ist aber Quatsch, darüber jetzt zu sprechen, im Moment kocht da so ein Sud […] Man muss
vielleicht was dazu sagen, aber ich würde in der augenblicklichen Situation überhaupt nichts
persönliches sagen …« (HMA 3812) Den Stellenwert, den Müller den Stasi-Kontakten
beimisst, ist in der Selbstverständlichkeit, mit der der Erzähler der Autobiografie die Form der
955
Das auf Lawinkys Biografie basierende Stück MALA ZEMENTBAUM von Armin Petras/Thomas Lawinky
feierte im Februar 2007 in der Regie von Milan Peschel am Maxim-Gorki-Theater Berlin Premiere.
457
staatlichen Überwachung beschreibt, noch enthalten. »Ich habe mich nicht bespitzelt gefühlt,
die Präsenz der Staatssicherheit gehörte zum Leben in der DDR. Offene ›Beschattung‹ habe
ich erst 1976 kennen gelernt, nach der Austreibung Biermanns. Man sollte es damals merken.
Am Telefon wusste man, es wird abgehört.« (KOS 217) In der Rohfassung von KRIEG
OHNE SCHLACHT ist diese Aussage als Reaktion auf die Frage nach Einsichtnahme in
eventuell vorhandene Stasiakten gekennzeichnet. »Um Einsicht in meine Akten habe ich mich
jetzt nach 1989 nicht bemüht, nein, aber das könnte man ja vielleicht mal machen. Ich weiß
nicht, ob man jetzt noch rankommt. Ich habe mich nicht bespitzelt gefühlt. Eigentlich habe ich
konkret nur bei der Biermann-Geschichte 1976 was gemerkt. Das war die einzige Zeit, wo es
wirklich deutlich war, wo es gezeigt wurde. Man sollte es damals merken. Da hatte ich zum
Beispiel Besuch von einem Nachbarn, der mit mir über Biermann reden wollte. […] Sobald
mehr als drei Leute zusammen waren, war klar, einer muss dabei sein. Aber das war nichts
Besonderes. Natürlich war klar, dass das Telefon abgehört wurde. Sowieso wusste man an
jedem Theater, wer es war. Man wusste, der und der ist es, und der wusste auch, dass man es
wusste. Man konnte diese Leute auch benutzen. Sie waren ja nicht immer bösartig, nur die
wenigsten.« (HMA 4487, 269f.) Mitte der siebziger Jahre weiteten die für Kultur zuständigen
Stellen des Ministeriums für Staatssicherheit (HA XX/7 und die Referate 7 bei den
Abteilungen XX der fünfzehn Bezirksverwaltungen) ihre operative Tätigkeit auf der »Linie
Schriftsteller« aus. Der Biermann-Eklat konsolidierte die Überwachung der DDR-Literatur
durch die Staatssicherheit vollends und machte die »Linie Schriftsteller« zu einem
Schwerpunktbereich. »Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und den sich daran
anschließend[en] Protesten der DDR-Künstlerszene wurde Heiner Müller, der wie Volker
Braun, Christa Wolf, Manfred Krug, Bettina Wegner, Klaus Schlesinger und andere, die die
Protesterklärung gegen diesen Willkürakt unterzeichnete, wieder zum Objekt staatlicher
Begierde.« (KOS 471) Die Hochphase der Überwachung von DDR-Schriftstellern sollte erst
Anfang der achtziger Jahre von neuen Prioritäten des Geheimdienstes abgelöst werden
(Friedens-, Frauen, Umweltbewegung sowie Ausbreitung von Alternativkulturen unter jungen
und nonkonformistischen Künstlern). 956 Ein Teil der zitierten Passage, die die offene
Beschattung infolge der Biermann-Affäre 957 betrifft sowie die Überwachung von
Telefongesprächen, findet Eingang in die Druckfassung, wird dort jedoch durch die Aussage
der umfassenden Präsenz der Stasi in der DDR relativiert. Auch der zweite Abschnitt schildert
die Omnipräsenz der Staatssicherheit als selbstverständliche Gegebenheit, die keiner weiteren,
schon gar nicht moralischen Kommentierung bedürfe. Dabei karikiert die Darstellung der
Allgegenwart der Staatssicherheit einen Satz aus dem Neuen Testament: »Denn wo zwei oder
drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«958 Das Zitat weist die
staatliche Kontrollinstanz als allgegenwärtige göttliche Liebe zu seinen bevorzugten
Geschöpfen aus.
Die Gleichgültigkeit mit der Müller auf die Frage nach den Stasiakten reagiert, ist in der
Druckfassung ausformuliert und begründet dort zugleich, warum das Thema in der
Autobiografie nicht weiter ausgeführt wird. »Mein Interesse an den mich betreffenden Akten
956
s. a. Gesine von Prittwitz: Das MfS und die Schriftsteller der DDR. In: Horst A. Glaser (Hrsg.): Deutsche
Literatur zwischen 1945 und 1995. Bern/Stuttgart/Wien 1997, 161–173
957
Der Wortlaut der Biermannresolution findet sich als »Dokument 16« im Materialanhang von KRIEG OHNE
SCHLACHT (s. a. KOS 409).
958
Matthäus 18, 19 (zitiert nach Luther)
458
der Staatssicherheit ist gering. Wenn ich über die Person, die sie beschreiben, einen Roman
schreiben will, werden sie ein gutes Material sein. Ich ist ein anderer. Immerhin bin ich mit
andern DDR-Bürgern zum Beispiel Günter Grass gegenüber im Vorteil, der seine BND falls
sie ihn interessieren sollte, erst einsehen kann, wenn die Bundesrepublik Deutschland
untergegangen ist oder aufgegangen in einer andern Struktur. Was wir beide wahrscheinlich
nicht mehr er leben werden.« (KOS 218) Das vom Erzähler behauptete Desinteresse an den
über ihn existierenden Akten der Staatssicherheit wird in der Autobiografie in eine
strukturelle Problematik überführt. Die Akten und ihr Inhalt taugen, in Müllers Augen, nicht
als dramatisches Material. Die Verwendung des Rimbaud-Zitats zeugt von einem generellen
Desinteresse an der eigenen »Person«, die immer nur im Bild des Anderen zu fassen ist, zu
dem das Ich in ein agonales Verhältnis treten kann. Der performative Ansatz zur
Beschreibung von (A-)Identität wird hier zugleich als poetisches Prinzip erkennbar. Rimbaud
forderte in seinen aus dem Jahr 1871 stammenden LETTRES DU VOYANT (BRIEFE DES
SEHENDEN) die Ablösung des cartesianischen cogito (»ich denke«) durch sein »Es denkt
mich« 959 . Die »lange, unermessliche und planmäßige Ausschweifung aller Sinne« 960 sollte
der poetischen Vorstellungskraft neue Wahrnehmungsmöglichkeiten und somit einen bisher
unzugänglichen Wirklichkeitsbereich erschließen. Rimbauds Satz drückt die Differenz aus
zwischen der Instanz, die »Ich« sagt und derjenigen, die sich nachträglich für das Subjekt
dieser Aussage ausgibt. Die Bewegung vom Ich zum Anderen kennzeichnet den Weg, den das
Subjekt zurücklegt, sich selbst verlierend, im Anderen sich selbst fremd werdend, nicht im
Sinne der kantischen Dialektik als Wiederaneignungs- und Erkenntnisprozess, sondern im
Sinn von Deleuze als Metamorphose. Damit rekurriert Müller zugleich auf den alles andere
als starren Konstruktionscharakter, der allen Texten zugrunde liegt – auch denen der Stasi-
Akten und der Geschichtsschreibung, die einst möglicherweise eher die strukturellen
Gemeinsamkeiten der BND-Akten Günter Grass’ und der Stasiakten Heiner Müllers
feststellen wird, als die ideologischen Differenzen, die zu ihrer Hervorbringung geführt
haben.
Die Rimbaud-Passage ist durch die Verwendung des Präsenz und eine für Müllers
essayistische Arbeiten typischen Technik der kalkulierten Auslassung und des
unausgewiesenen Zitats deutlich aus dem Erzählzusammenhang herausgehoben. Auch findet
sie weder in den Tonbandabschriften, noch in der Rohfassung eine textliche Entsprechung.
Vielmehr geht sie zurück auf eine handschriftliche Notiz, die vermutlich dem Bedürfnis des
Autors entsprang, einer potenziellen Stasi-Debatte durch Anhebung des Themas auf ein
anderes Reflexionsniveau vorzugreifen. Sie formuliert damit einen Kerngedanken vor, der in
den späteren Stellungnahmen zu den Vorwürfen immer wieder auftaucht. »Mein Inter[esse]
an d[en] mich betreffenden Akten d[er] St[aatssicherheit] ist gering. Wenn ich über die
Person, die dort beschrieben wird, einen Roman schreiben will, werden sie ein gutes Material
sein. Ich ist ein anderer. Immerhin bin ich wie andere DDR-Bürger z. B. G[ünter] Grass
gegenüber im Vorteil, der seine BND-Akte nicht einsehen kann. Wenn die BR
[Bundesrepublik] Deutschland untergegangen ist oder aufgegangen in einer anderen Struktur,
was wir wahrscheinlich nicht erleben werden« (HMA 4480). Das Rimbaud-Zitat wird hier
zum ersten Mal in diesem Kontext verwendet. Der unvermittelte Textabbruch (die fehlende
959
Rimbaud 1990, 11
960
Rimbaud 1990, 25
459
Interpunktion am Schluss der Notiz) deutet nicht nur auf den Fragmentcharakter der
Gedankenskizze, er ist auch deutbar als Verweis auf die Unabgeschlossenheit des
beschriebenen Prozesses, beziehungsweise als Aufforderung lesbar, den beschriebenen
Standpunkt, der die historische Überwindung der »BR Deutschland« voraussetzt, tatsächlich
einzunehmen. Im Nachlass erscheint dieser Text im Zusammenhang mit Entwürfen für das
Nachwort, in dem die Fremdheit sich selbst gegenüber erneut thematisiert wird. Eine andere
Notiz auf der Rückseite des gleichen Blattes Notiz scheint diesen Genesezusammenhang zu
bestätigen. Sie formuliert Überlegungen die in den späteren Text ERINNERUNG AN EINEN
STAAT einfließen, der mit der Bezeichnung ›eine Art Nachwort‹ allerdings nur unzureichend
gekennzeichnet ist (»So fremd wie möglich / Widerspr[üche] leben / mir selber fremd / Ich ist
/ ein anderer«, HMA 4480).
Spielte die Stasi-Thematik im ursprünglichen Text der Autobiografie eine weitgehend
marginale Rolle, erhält der Komplex der Verwicklungen Müllers mit dem Apparat der DDR-
Staatssicherheit in der Taschenbuchausgabe von KRIEG OHNE SCHLACHT im Frühjahr
1994 eine geradezu überproportionale Dimension. Anlass für die Erweiterung des
Dokumentenanhangs um ein »Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit
der ehemaligen DDR und weitere Materialien« (KOS 427) ist ein Fax der Redaktion von
»Spiegel TV« (RTL) am Abend des 10. Januar 1993, das die Ankündigung enthält, Müller
würde sich in der am Folgetag ausgestrahlten Sendung zu den Stasi-Vorwürfen äußern. Stasi-
Vorwürfe? Wieso hatte Müller in seinen im Vorjahr erschienenen, viel beachteten Memoiren
keine Silbe darüber verloren? Von Hamburg (»Die Zeit«) bis München (»Süddeutsche
Zeitung«) geht ein Aufschrei durch die deutsche Medienlandschaft. Dabei wurde das (zu)
späte Eingeständnis der »Zusammenarbeit« Müllers mit dem DDR-Geheimdienst selbst von
seriösen Journalisten vorbehaltlos als Belastungsmaterial gegen den Delinquenten verwendet.
In dem Interview räumt Müller ausdrücklich ein, keine moralischen Skrupel gehabt zu haben,
mit der Staatssicherheit zu reden: »Ich hatte nie das Gefühl, dass ich was zu verbergen habe.
Ich kann zu allem stehen, was ich gesagt und gemacht habe, ich kann zu nichts stehen, was in
irgendwelchen Akten steht, solange ich es nicht kenne.« (KOS 436) Dass sich Müller
vollkommen nüchtern und ohne jede Demutsgeste zu den Stasi-Kontakten bekennt, darüber
hinaus den Grund für sein Schweigen dem vergifteten gesellschaftlichen Klima der
Nachwendezeit zuschreibt, ruft offene Empörung hervor.
Steht ein erster Beitrag der Journalistin Elke Schmitter in der »taz« angesichts der Meldung,
Müller habe Kontakte zur Stasi gepflegt, noch eher ratlos gegenüber, tun sich die Kollegen
von der renommierten Wochenzeitung »Die Zeit«, was die investigative Energie der
Recherche und den diffamierenden Ton der Darstellung angeht, in einer Art und Weise
hervor, die für gewöhnlich der Boulevard-Presse eignet. Schmitter sieht die vermeintliche
»Enthüllung« Heiner Müllers als »Zuträger und Gesprächspartner der Staatssicherheit der
DDR, mit einem ordentlichen, wenn auch nicht phantasievollen Decknamen versehen, mit
einer ordentlichen Akte« 961 als Ent-Täuschung einer Selbsttäuschung der westdeutschen
Öffentlichkeit, die hinter Heiner Müllers Loyalität zur DDR immer den geheimen
Gewährsmann überstaatlicher Dissidenz vermutete: »… er wurde verehrt – weltweit, vor
allem aber in Westdeutschland – als gleichsam überstaatlicher Dissident, als
Individualanarchist mitten im Sozialismus, als Intellektueller, der mit nichts und niemand
961
Elke Schmitter: Ein Mann für gewisse Stunden. In: Die Tageszeitung vom 12. 1. 1993
460
paktiert und seine Integrität zu retten versteht auf dieses winzige Rückzugsterrain, das im
ausgehenden 20. Jahrhundert dem Intellektuellen geblieben ist: die zynische Persistenz
gegenüber jeder Einflüsterung der Macht.« 962 Die Enttäuschung, die im Westdeutsch
Feuilleton um sich greift, sagt insofern mehr über die bundesrepublikanische Öffentlichkeit
aus als über den Tatbestand der Gespräche, die Müller mit Mitarbeitern des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS) führte. Im Zentrum dieser der Illusion vom starken Individuum
aufsitzenden spätkapitalistischen Medienöffentlichkeit steht nicht der Dichter und sein Werk,
sondern die persona publica Heiner Müller. Besonders ausgeprägt findet sich diese Tendenz
in der Berichterstattung der »Zeit«, die sich in der Stasi-Debatte um Müller zum Präzeptor der
gesellschaftlichen Moral aufschwingt. Thomas Assheuer spricht von der in Hass
umgeschlagenen Liebe der »Zeit«-Redaktion zu Heiner Müller: »Keinen lebendigen
Dramatiker hat die Zeit so liebevoll erdrückt wie Heiner Müller, von keinem war sie so
eingenommen wie von dem Uneinnehmbaren aus dem Osten, und keinen hat sie dann mit der
Wut des getäuschten Liebhabers so verfolgt wie das alte Objekt der Verehrung.« 963 Am 15.
Januar veröffentlicht »Die Zeit« gleich zwei Artikel. Ein erster Beitrag von Robin Detje, Iris
Radisch und Christian Wernicke fasst den Stand der Debatte zusammen, geht dabei jedoch
wenig differenziert mit der Faktenlage um. So behaupten die Autoren, der Verdacht einer
Stasi-Mitarbeit Müllers, der nach dessen Aussagen in »Spiegel TV« aufgekommen sei, habe
sich nun bestätigt. Als Beweis druckt die Zeitung zwei Karteikarten aus den Beständen des
MfS ab und stellt fest: »Heiner Müller war bei der Staatssicherheit der DDR als inoffizieller
Mitarbeiter unter dem Decknamen ›Heiner‹ registriert.« 964 Dass es unter MfS-Mitarbeitern
gängige Praxis war, Wunschkandidaten in IMs umzuwandeln, darüber schweigen die Autoren
ebenso wie die Gauck-Behörde. Drei (kärgliche) Operativgeldabrechnungen auf Müllers
Namen werden darüber hinaus als Beweise angeführt, Müller habe bei der Stasi in Lohn und
Brot gestanden, obwohl Quittungen über solche Zahlungen nicht vorliegen. Die »Zeit«-
Redakteure mutmaßen, Müller hätte möglicherweise »Aufträge angenommen – nicht nur mit
der Krake geredet, sondern sich auch zu ihrem Arm machen lassen« 965 . Darüber hinaus
werden weitere »Indizien« genannt. »Schon als IM-Vorlauf ›Zement‹, in seiner Testphase als
Inoffizieller Mitarbeiter, taucht Heiner Müller in den Akten auf.« Entsprechend stellt Robin
Detje in einem zweiten Beitrag, der mit der Registrierungsnummer Müllers beim MfS
überschrieben ist, fest: »Müller ist in die StolpeKantAndersonmaschine geraten. Und es sieht
nicht so aus, als käme er unten unbeschädigt wieder heraus. Denn was er letzten Sonntag in
›Spiegel TV‹ – spät, aber doch – über seine Stasi-Kontakte erzählt hat, klingt nicht wie die
souveränen Worte eines erklärtermaßen amoralischen Monsterdichters, der jede
Spitzeltätigkeit mit einem Schulterzucken abtun könnte wie de Sade eine besonders delikate
Ausschweifung – es klingt so kleinlich wie die Rechtfertigungen anderer Stasi-Verdächtiger
auch.« 966 Müller schrumpfe im Gegenteil vom »Monsterdichter zum Mickermonster« 967 . Den
hintergründigen Kommentar zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen (»Ich war und bin ein
962
ebd.
963
Thomas Assheuer: Die Helden des Rückzugs. Schluss mit der Stasi-Debatte? In: Frankfurter Rundschau
vom 5. 2. 1993
964
Robin Detje/Iris Radisch/Christian Wernicke: Des Müllers falsche Kleider. Der Dramatiker Heiner Müller
ist in Verdacht geraten, für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben. In: Die Zeit vom 15. 1. 1993
965
ebd.
966
Robin Detje: XV 3470/78. Heiner Müller und die Stasi: Der große Dichter schrumpft. In: Die Zeit vom 15.
1. 1993
967
ebd.
461
Stück DDR-Geschichte«, KOS 435f.) tut Detje mit den Worten ab: »So sprechen Steine,
wenn sie bröckeln.« Der gute Rat an Müller, mit dem der Autor seinen Artikel gegen den
»Deutschlehrer des Geheimdienstes« 968 beschließt, ist so blödsinnig, dass ihm schon wieder
Originalität unterstellt werden muss: »… der Theatermensch hat die Farce seiner Dialoge mit
der Stasi nicht erkannt und aufgeschrieben. Jetzt ist er bloß noch eine Figur im öden, ewig
novembertrüben deutschen Enthüllungsspiel; das ist die Tragödie. Ob er seine Koprophagie
sublimiert oder Kot frisst, ob er ein Spitzel war? Auch Akten können lügen. Was Heiner
Müller uns schuldet, ist Kunst (also wahre Wahrheit): sein mafiotisches Stasi-Drama in
Blankversen.« 969 Inwiefern die Stasi-Vorwürfe das Werk des Dichters Müller diskreditieren,
wie die Überschrift des Pamphlets impliziert, darüber äußert sich Detje nicht.
Frank Schirrmacher und Thomas Assheuer, weisen die Vorwürfe der »Zeit«-Autoren zurück
und revidieren, die eigene Enttäuschung nicht verbergend, deren hartes Urteil. In seinem
Artikel betont der spätere Mitherausgeber der »FAZ«, dass es sich bei der gegebenen
Aktenlage um nichts weiter als um einen Verdacht handle, weshalb bis auf weiteres die
Unschuldsvermutung zu gelten habe. »Die vorliegenden Dokumente sind viel zu schwach, um
über Müller den Stab zu brechen. Was die Stasi von ihm wollte, was er womöglich lieferte,
warum er geführt wurde – all das kann gegenwärtig kein Mensch sagen.« 970 Den Vorwurf,
Müller habe für seine Dienste vom MfS Vergütung erhalten, weist Schirrmacher als absurd
zurück. Zudem habe Müller »auch bei West-Besuchen nie einen Hehl daraus gemacht, dass er
mit der Stasi redet. Die Grundregel der Stasi-IMs, nämlich ›Konspiration einzuhalten‹ hat er
nie befolgt.« 971 Auch Schirrmacher echauffiert sich über die offenbare Lücke in Müllers
Autobiografie, kündigt jedoch zugleich an, die »aus ›politischen‹ Gründen« 972 gestrichenen
Passagen im Manuskript von KRIEG OHNE SCHLACHT in Kürze abdrucken zu wollen.
Wie Elke Schmitter in der »taz« weist Thomas Assheuer in seinem Beitrag für die
»Frankfurter Rundschau« mit Nachdruck darauf hin, dass die Stasi-Debatte weniger auf
Müller, denn auf seine bisherigen Apologeten zurückfalle. »Enttäuschung ist der Wettersturz
einer Erwartung, die sich über ihren Gegenstand falsch ins Bild gesetzt hat. Das
überraschende daran, dass Heiner Müller bei der Staatssicherheit aktenkundig war, ist nur der
Umstand, wie wenig es überraschen konnte. Bislang besteht der Skandal darin, dass die, für
die nun eine Welt zusammenbricht, die Trümmer so lenken, dass auch das Werk erschlagen
wird.« 973 Assheuer wirft Müller vor, er habe zwar stets »mit seiner Tuchfühlung zur
Staatssicherheit kokettiert«, jedoch versäumt, »alle Karten auf den Tisch« 974 zu legen.
Dennoch sieht er im Gegensatz zu den »Zeit«-Autoren keinen Zusammenhang zwischen
persönlicher Integrität und Werk des Dichters. »Wer das moralische Urteil über diese
Kollaboration mit dem Paradox sprechen wollte, hätte es längst tun können. Seine Stücke
samt Beipackzettel, Redefetzen und Interviews, sein Rotwelsch war Klartext von Anfang an.
Wer den Dichter nun schrumpfen sieht, hat ihn vorher nicht gelesen. […] Doch es gibt keine
968
ebd.
969
ebd.
970
Frank Schirrmacher: Verdacht. Gerüchte um Heiner Müller. In Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 1.
1993
971
ebd.
972
ebd.
973
Thomas Assheuer: Zwischen Ich und Ich ist der Zwischenraum riesig. Schlacht (noch) ohne Beweise oder:
Heiner Müller und das Interesse an erledigten Fällen. In: Frankfurter Rundschau vom 16. 1. 1993
974
ebd.
462
apriorische Kontaktschuld zwischen Schrift und Leben, und deshalb kann man, wie bei
Heidegger und Paul de Man, allein dem Werk den Prozess machen: Nur das Standgericht des
Gerüchts verklebt Leben und Werk zur Wirkungsgeschichte.« 975 Indessen schlägt Assheuer
vor, Müllers Werk so zu lesen »als würde die Schuld im Text eines Lebens darauf keine
Schatten werfen.« 976
In den folgenden Wochen scheinen sich die Fronten im Streit um Müllers (verlorene)
Integrität – bevor sie in das bodenlose Fass leerer Bedeutungsproduktion zurückfallen, aus
dem sie hervorgetreten waren – zu verhärten. Zwar räumt Iris Radisch in der Zeit vom 22.
Januar 1993 ein, dass sich angesichts der aktuellen Aktenlage der »Verdacht« gegen Müller
»weder erhärten noch zerstreuen« lasse, macht jedoch nunmehr vom Ausgang der Debatte das
Gelingen der deutschen Einheit abhängig. »Niemand kann in dieser Debatte recht haben,
solange es für dieses Recht keinen Grundlagenvertrag gibt, solange jede Tatsache nur so viel
wiegt wie ihre wechselnde politische Bedeutung, solange Ostmensch und Westmensch keine
gemeinsame Sprache sprechen.« 977 Zugleich warnt Radisch vor einem neuen Revisionismus,
wie ihn Hannah Arendt für die deutsche Nachkriegsgesellschaft konstatierte. »Der Fall Heiner
Müller zeigt, wie tief selbst die klügsten Ostköpfe inzwischen im Sand stecken. Sie träumen
von einer post festum ideologisch gesäuberten DDR und verteidigen ihren Traum, ihre
Wahrheit furios gegen die Wirklichkeit.« 978 Einen letzten Höhepunkt in der auf dem Rücken
von Ost-Autoren ausgetragenen Schlammschlacht um die Selbstverständigung einiger West-
Journalisten bildet ein Artikel des ehemaligen »Zeit«-Feuilletonchefs Fritz J. Raddatz, einer
Ikone westdeutscher Literaturkritik, über die Stasi-Verstrickungen Heiner Müllers und Christa
Wolfs. Auch bei Raddatz steht die Enttäuschung darüber im Zentrum, einen wichtigen
Gewährsmann moralischer Integrität im sozialistischen Osten Deutschlands verloren zu
haben. »Heiner Müllers Arbeit – ob PHILOKTET oder HAMLETMASCHINE – ist bohrende
Parabel von Macht und Verrat, Lüge und Erniedrigung. Wie kann man das ausbreiten – also:
sich häuten – und zugleich dickfellig mit den Häschern plaudern? Mir scheint, beide [Wolf
und Müller] haben nicht nur ihrer Biografie geschadet; sie haben ihrem Werk geschadet.« 979
Raddatz, der geschickt auf der Klaviatur persönlicher Betroffenheit spielt, vergleicht sein
Befremden mit demjenigen Tucholskys angesichts der Kollaboration des norwegischen
Dichters Knut Hamsun mit den Nationalsozialisten und dessen unverhohlener Begeisterung
für Hitler und seine Ideologie. »… seine Bücher kann ich nun für lange Zeit nicht mehr
lesen«, beklagt Raddatz und stellt mit der moralischen Unzurechnungsfähigkeit des Autors
zugleich die poetische Qualität seiner Texte in Frage: »Es geht um das tiefste Wesen von
Literatur. Das ist ja nicht wahr, dass Kunst nichts zu tun habe mit Gesittung. […] ohne
Humanum keine Kunst.« 980 Mit Raddatz’ Beitrag schließt sich der Reigen der Ent-Täuschten.
Das Ergebnis ist die Loslösung Müllers aus seiner einseitigen Funktionalisierung durch einige
westdeutsche Intellektuelle, die in dem Ost-Dichter ein Bollwerk moralischer Integrität sahen,
den lebenden Beweis für die Möglichkeit eines kritischen Individualismus inmitten der
Brandung des ideologischen Dogmatismus der SED.
975
ebd.
976
ebd.
977
Iris Radisch: Krieg der Köpfe. In: Die Zeit vom 22. 1. 1993
978
ebd.
979
Fritz J. Raddatz: Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber. Bemerkungen zu Heiner Müller
und Christa Wolf. In: Die Zeit vom 29. 1. 1993
980
ebd.
463
Verständnis für die streckenweise erschreckend unkritische Wiedergabe der Anschuldigungen
durch einige Autoren des westdeutschen Feuilletons bringen Andreas Schreier und Malte
Daniljuk in einer Hintergrundrecherche über die mit Müller im Zusammenhang stehenden
Stasi-Dokumente auf: »In bester Zusammenarbeit mit der angeborenen Oberflächlichkeit der
marktwirtschaftlichen Journaille tönen sie moralische Entrüstung, um ihre
Minderwertigkeitskomplexe gegenüber DDR-Intellektuellen zu kompensieren.« 981 Dass die
gegenseitigen Demütigungen zur differenzierten Beurteilung der MfS-Kontakte von DDR-
Schriftstellern nur in begrenztem Maße beitragen, weil sie lediglich ideologische Vorzeichen
vertauschen, statt zum strukturellen Kern der Gegebenheiten vorzudringen, liegt auf der
Hand. Jenseits der Rhetorik von Siegern und Verlierern, Ost und West sowie »Stasi und
Gendarm«, plädiert Harro Zimmermann im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«, einen
Monat nach deren Entfachen durch die »Spiegel TV«-Redaktion, »Für einen anderen Schluss
der Debatte« 982 : »Ohne Dämonisierung und weinerliche Exkulpation auf der einen und
scharfmacherische oder trauertriefende Feuilleton-Suada auf der anderen Seite wäre
anzuerkennen, dass die Schriftsteller im beiderseitigen Deutschland niemals entrückte
Sinnproduzenten und moralversessene Hohepriester gewesen sind, sondern in spezifischer
Verantwortung verstrickte Subjekte. […] Die Diskussion freilich wird weitergehen müssen,
allein um der Opfer und des geschichtlichen Lernfalles willen. Aber es müssen gleichsam
Konvergenzfelder dieser Debatte gefunden werden, anstelle jenes fortdauernden
Anklagegebarens.« 983 Stattdessen schlägt Zimmermann vor: »Könnte man diese
Übereinstimmung nicht dort suchen, wo tatsächlich die Nervenpunkte dieser verzerrten
Kommunikation liegen: im Illusionismus der Intellektuellen schlechthin, in ihrer je
unterschiedlichen Enttäuschung- und Erwartungsmentalität gegenüber der Macht, in der
selbstbezüglichen Larmoyanz ihrer politischen Kritik? Die heute von Christa Wolf und Heiner
Müller eingeforderte Moralstärke ist im westlichen Deutschland jedenfalls wenig kultiviert
und selten einmal herausgefordert worden. Hüten wir uns also vor dem Habitus der
idealistischen Rechthaberei.« 984
Aufgrund der Ruf schädigenden Berichterstattung über die vermeintliche Spitzeltätigkeit des
Dichters und der Infragestellung dessen moralischer Integrität erwägt der Herausgeber
Müllers Autobiografie, Helge Malchow, im Taschenbuch-Nachdruck des Jahres 1994 die
Aufnahme eines umfangreichen »Dossiers«, das die Berührungspunkte des Dichters mit der
Staatssicherheit dokumentieren und bewerten soll. Müller willigt in den Vorschlag des
späteren »KiWi«-Verlegers ein. So sorgte »das Geschwätz von Berufsdissidenten über
sogenannte Stasikontakte« 985 des Dichters gerade im Zusammenhang mit Müllers
Autobiografie für nicht unerhebliche Folgen. In seiner »Einleitung zum Dossier-Teil«
beschreibt Helge Malchow Verlauf und Umstände der Stasidebatte um Heiner Müller und
markiert die Eckpunkte der Diskussion, die, wie oben dargestellt, vorwiegend in der Presse
stattfand. Darüber hinaus erläutert Malchow die Zusammenstellung und Anordnung der
Dokumente im Dossier-Teil. Ausgelöst hatte den Eklat um die vermeintliche Spitzeltätigkeit
981
Andreas Schreier/Malte Daniljuk: Das Müller-Phantom. In: KOS 470–476, hier 476
982
Harro Zimmermann: Für einen anderen Schluss der Debatte. Zum Streit um Literatur und Stasi-
Verstrickung. In: Süddeutsche Zeitung vom 9. Februar 1993
983
ebd.
984
ebd.
985
Hans Mayer: Tragische deutsche Literaturgeschichte. In: KALKFELL, 6
464
Müllers für das MfS der DDR der ehemalige DDR-Autor Dieter Schulze, der »zu
verschiedenen öffentlichen Anlässen einen offenen Brief als Flugblatt verteilt« (KOS 431)
hatte, in dem er Heiner Müller vorwarf, gemeinsam mit der Stasi seine Ausweisung aus der
DDR betrieben zu haben. Am 5. Januar 1993 hatte Schulze ein Fax an mehrere
Zeitungsredaktionen gesandt, in dem er der konsternierten Presse Müllers Decknamen und
Registriernummer offenbarte und weiteres den Dichter belastendes Material in Aussicht
stellte. »Der IM-Vorlauf zu oben genannter Person«, zitierte Schulze seine anonyme Quelle,
»soll ›Zement‹ gewesen sein, u. a. mit dem späteren Decknamen ›Heiner‹. IM ›Heiner‹ soll
sich in der ›konspirativen Wohnung‹ Pistoriusplatz 16 (Ostberlin), der IMK ›Kleinfeld‹
(ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Volksbühne, heute Bezirksverordneter der
PDS) mit seinem Führungsoffizier des MfS, Deckname ›Wilhelm‹, regelmäßig getroffen
haben. Die Registriernummer des IM ›Heiner‹ wurde mit 3470/78, nicht zweifelsfrei,
angegeben; das Jahr der Werbung mit 1978. Belegbares Material wurde in Aussicht gestellt.«
(KOS 431) Schulzes Wohnung im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain sei eine Privatdetektei,
eine Recherchezentrale mit Computer, Fax und umfangreichem Zeitungsarchiv, deren
einziges Ziel darin bestanden hätte, Müllers an Schulze begangenes Unrecht ans Licht der
Welt zu bringen. Während Schulze »das ganze Elend der DDR« 986 in sich getragen habe, sei
Müller ein »Kulturdirektor« 987 gewesen, dessen Ruhm sich der Kollaboration mit der Stasi
verdanke. Als erstes reagierte auf Schulzes Fax »Die Zeit«, die nach eigenen Recherchen bei
der Gauck-Behörde Karteikarten veröffentlichte, die zeigten, dass Heiner Müller bei der
Berliner Bezirksverwaltung des MfS als »IM« geführt worden war. Belastendes Material
wurde indes bis heute nicht gefunden.
Malchows Einleitung folgt der Abdruck der Pressemitteilung der »Spiegel TV«-Redaktion
vom 10. Januar 1993, die den Wortlaut Müllers Aussagen in dem Interview der am Folgetag
ausgestrahlten Sendung enthält. 988 Müller bestätigt darin, dass er »direkte Gespräche« (KOS
435) mit Mitarbeitern des MfS geführt hat, dass diese Gespräche freiwillig waren, nicht der
Bespitzelung Dritter gedient und Müller weder materielle noch anderweitig Vorteile einbracht
hätten. Nach Müllers Ausschluss aus dem Schriftstellerverband 1961 sei er »über keine
Organisation kontrollierbar« (KOS 436) gewesen. Die Staatssicherheit musste demzufolge ein
genuines Interesse besitzen, eine im internationalen Fokus stehende Figur wie Heiner Müller
in irgend einer Form zu domestizieren, »… denen war auch klar, dass ich nicht ihr Freund
oder Alliierter war, sondern ich war ein potenzieller Feind, und das war das Interesse, diesen
potenziellen Feind irgendwie unter Kontrolle zu halten.« (ebd.) Das überraschende an der
Darstellung Müllers ist nicht die nüchterne Selbstverständlichkeit mit der er sein dreijähriges
Schweigen über die Stasi-Kontakte bricht, sondern der implizite Verweis auf einen
Geschichtsbegriff, der die Lebensgeschichte als Teil der Geschichte jenes untergegangenen
Staates versteht, der aus Müllers Sicht in erster Linie den Versuch darstellte, die Alternative
»Untergang oder Barbarei« (KOS 411) zu vermeiden. Es handelt sich bei dieser Identifikation
um die Verpflichtung, für eine andere Alternative einzustehen (»Sozialismus oder Barbarei«,
ebd.), die in der Existenz der DDR zur Unkenntlichkeit entstellt war (gerade auch durch die
986
Detje/Radisch/Wernicke: Des Müllers falsche Kleider … a. a. O.
987
ebd.
988
Im dritten Band der GESAMMELTEN IRRTÜMER findet sich dieser Text unter dem Titel ICH WAR
UND BIN EIN STÜCK DDR-GESCHICHTE wieder (GI 3 172–174). s. a. die Ausführungen im
Anmerkungsapparat der Werkausgabe (W 8 687f.)
465
Arbeit jenes MfS), aber gegen die Barbarei des kapitalistischen Marktes unbedingt behauptet
werden musste. Daher stellt Müller das öffentliche Bekenntnis zu Stasi-Kontakten einem
geschichtsphilosophischen Kontext ein, der der zeitlichen Perspektive seiner Äußerungen
grundsätzlich enthoben ist: »Ich war und bin ein Stück DDR-Geschichte, und ich glaube
schon, es geht um die Auslöschung von DDR-Geschichte, und da ist das ein guter Schritt, so
eine Aktion, so eine Denunziation.« (KOS 435) Die Debatte, so gibt Müller zu verstehen,
haucht einem Diskurs Leben ein, der bereits dem Vergessen anheim gestellt wurde. Dabei
geht es aus Müllers Sicht der Dinge nicht um die Schuld (mit einem repressiven Apparat
kollaboriert zu haben), sondern um Teilhabe an einem Prozess, in dem das eigentliche
Unrecht in er individueller Unschuld bestanden haben würde. Deutlicher als gegenüber
»Spiegel TV« äußert sich Müller in einer Reihe von Entwürfen und Notizen im Nachlass.
»Ich bin nicht erpresst worden. Ich hätte / mich heraushalten können mit einem / einfachen
Nein – / Ich hielt mich nicht für berechtigt, / mich herauszuhalten um den Preis / dass (ich)
Leute, an denen mir gelegen war, / vor Maßnahmen nicht schützen konnte.« (HMA 4603) Auf
dem gleichen Blatt heißt es in Anspielung auf Brechts ÄNDERE DIE WELT, SIE
BRAUCHT ES 989 aus der MASSNAHME »Umarme den Schlächter« (ebd.) Nur der
Schlächter selbst schreitet in der weißen Weste seiner Unbescholtenheit einher. »Die
Arroganz der Unschuld«, schreibt Müller in einem anderen Fragment, »auf die Genet, befragt
nach seiner Meinung über Flugzeugentführungen, die Antwort hatte: Unschuldige sitzen nicht
in einem Flugzeug. […] Über die Reinheit der Reinen ist bei Nietzsche [und] Freud
nachzulesen. Meine Hände sind schmutzig, und ich hasse Seifengeruch. Formulieren kann ich
ihn im Gedicht« (es folgt das Gedicht SEIFE IN BAYREUTH, in dem Müller die Geburt von
Auschwitz aus dem Geist der Indifferenz konstatiert). In einer weiteren handschriftlichen
Notiz heißt es: »Ich wusste, dass ich nicht mit der Heilsarmee rede und ich meine heute noch,
dass ich kein Recht hatte, diese Gespr[äche] zu verweigern.« (W 2 208) Der hinter diesen
Aussagen stehende Rechtsbegriff zeugt von einem Bewusstsein historischer Verantwortung,
die in einer subjektzentrierten Gesellschaftsstruktur kaum Sinn macht und von daher bei
einigen westdeutschen Intellektuellen, die sich instinktiv mit den Opfern des MfS
identifizieren, weitgehend auf Unverständnis stoßen muss.
Der Veröffentlichung Müllers Position durch die Redaktion von »Spiegel TV« folgte am 14.
Januar 1993 eine Presseerklärung Müllers Rechtsanwalt Reiner Geulen, der eine weitere
Stellungnahme Müllers enthielt. Nach Sichtung des in der Gauck-Behörde auffindbaren
Materials (»lediglich sieben Blatt Karteikarten und Vorgangshefte«) bekennt Müller darin:
»Ich war naiv genug, nicht zu wissen, dass Gespräche mit Mitarbeitern der Staatssicherheit als
›IM- Tätigkeit‹ registriert wurden. Schon der Begriff ›IM‹ war mir und meinen Freunden in
der DDR-Zeit unbekannt. Was in mir unbekannten Akten steht oder stehen kann, ist
Stasiliteratur.« (KOS 438) Mit dieser Erklärung schließt Müller eine Stasi-Autorschaft
explizit aus. »Nach der Verweigerung des Gorbatschow-Programms durch die Parteiführung
der DDR« sei es in Gesprächen mit der Staatssicherheit »um Schadensbegrenzung gegen die
wachsende Hysterie der Macht« (ebd.) gegangen. 990 Die Bewertung dieser Kontakte aus der
gesamtdeutschen Sicht der Nachwendezeit sei indes geprägt vom vergifteten Klima der
989
s. a. Brecht-BFA 3, 89 u. 116
990
Die Erstveröffentlichung Müllers Stellungnahme im Rahmen des eigenen Werks erfolgt unter dem Titel
DIE HYSTERIE DER MACHT im dritten Band der GESAMMELTEN IRRTÜMER, Frankfurt am Main
1994 (GI 3 175f.).
466
westdeutschen Öffentlichkeit, die die verschwundene DDR vor allen Dingen als besiegten
Unrechtsstaat begreift, dessen ehemalige Bürger entweder Täter oder Opfer gewesen seien. In
einer gestrichenen Passage Müllers poetischer Auseinandersetzung mit den Stasi-Vorwürfen
heißt es: »Die Prämissen der Stasi-Debatte sind, dass die DDR ein Unrechtsstaat war und
sonst nichts, die Staatssicherheit eine verbrecherische Organisation und sonst nichts, also
Kontakte m[it] d[er] St[aatssicherheit] Teufelspakt Beihilfe zum Mord.« (HMA 4605) Durch
den Exorzismus tritt die von einer Majorität vertretene öffentliche Meinung jedoch in
geheime Komplizenschaft zu eben jenem verbrecherischen System, dem sie offen den Prozess
macht. Pointiert formuliert Müller: »Ich beginne zu begreifen, dass es die wirklich geheime
Funktion der Staatssicherheit war, dem Nachfolgestaat Material gegen potenzielle
Staatsfeinde zu überliefern: Der Rechtsstaat als Vollstrecker des Stasi-Auftrags.« (KOS 438f.)
Knapp ein halbes Jahr nach den Vorwürfen beantwortet Müller im Gespräch mit Detlev
Lücke und Stefan Reinicke für den »Freitag« die Frage, ob ihn die Stasi-Vorwürfe belastet
hätten: »Es ist schwer, ehrlich zu antworten, aber eigentlich nicht. Als ich wegen der
Stasigeschichte in den Zeitungen stand, ging ich in Berlin in ein Lebensmittelgeschäft. Die
Verkäuferin sagte: ›Jetz weeß ick endlich, wer Sie sind.‹« (GI 3 201) Nicht den
weltbekannten Dramatiker lernt die Verkäuferin in Müllers Anekdote kennen, sondern –
Ironie der Geschichte und zugleich Alltag in einer von den investigativen Praktiken der
(Boulevard-)Medien geprägten Öffentlichkeit – den enttarnten Stasi-Informanten.
In Entwürfen zu einer umfangreichen literarischen Stellungnahme 991 zu den Spitzel-
Vorwürfen nimmt Müller auf diese Konstellation wiederholt bezug. »Stasi / die westl[lichen]
Geheimdienste haben auch nicht auf der faulen Haut gelegen […] Sieger schreiben
Geschichte« (HMA 4489), heißt es etwa in einer handschriftlichen Notiz aus Müllers
Nachlassnotizen zu KRIEG OHNE SCHLACHT. Und im selben Konvolut: »Prolog zu Telos
Kafka 2. Version / Prometheus // Die DDR der 80er Jahre war / eine komplexe zunehmend
deutlicher sich zersetzende Struktur / mit wesentlich mehr [und] andern / verschobnen
Freiräumen – example // – Warten auf Gorbatschow / Ich selbst habe in den achtziger Jahren /
zahlreiche Gespräche mit / (Beamten) der Staatssicherheit / / Heilsarmee / Ich habe gesagt,
was zu / sagen mir richtig schien / [und] gelogen, wenn ich / das für notwendig hielt // Ich
hatte keinen Glauben / (mehr) zu verlieren = / seit Weigerung Gorbatschowkurs keine future
mehr / der erste souveräne Akt war das Ende / weil d[ie] DDR souverän nie gewesen war
[und] nicht existieren / konnte« (ebd.). »Von Prometheus berichten vier Sagen«, heißt es in
dem kurzen Text PROMETHEUS in Kafkas drittem Oktavheft. »Nach der zweiten drückte
sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis
er mit ihm eins wurde.« 992 Der Kafka-Bezug ist in doppelter Hinsicht evident. Zum einen
steht er für die katastrophalen Ausgangsbedingungen der ruhmlosen Geschichte des
Sozialismus. Auf der anderen Seite markiert er Müllers Position: Von westdeutschen
Pressevertretern verfemt, droht er mit dem einstigen Gegner (Stasi) zu verschmelzen.
991
In einer für die Drucklegung des Textes der Presseerklärung gestrichenen Passage kommt Müller explizit
auf die Absicht, das Stasi-Thema ästhetisch durchdringen zu wollen, zu sprechen: »Im Rausch der
deutschen Vereinigung und im nachfolgenden Kater der Kolonisierung erscheint es mir auch heute noch
nicht möglich, die, wie ich glaube, andre Qualität meiner Kontakte zur Staatssicherheit zu erklären oder zu
behaupten. Die Reaktion meiner Kollegen in der DDR und aus der DDR auf den Mediensturm bestätigt die
Einsamkeit meiner Position. Zu meiner Erfahrung mit dem Zusammenhang von DDR und Staatssicherheit
werde ich mich als Schriftsteller äußern.« (HMA 4581).
992
Franz Kafka: Prometheus. In: Ders.: Das Werk. Ffm. 2004 (Zweitausendeins), 669
467
Zwei weitere Nachlass-Texte größeren Umfangs, die belegen, dass die Stasi-Geschichte nicht
spurlos an Müller vorüber gegangen ist, wurden in die Werkausgabe aufgenommen (s. a. W 8
603–609 u. 610–615) Dem ersten Text – einer hochkomplexen Auseinandersetzung Müllers
mit seinem Verhältnis zum Kunstgebilde Staat/DDR – stellt Müller ein Zitat von Gottfried
Benn voran, das sich unmittelbar auf die Stasi-Vorwürfe bezieht und zugleich eine spezifische
Sichtweise auf die deutsche Geschichte behauptet: »Die deutsche Form der Revolution ist die
Denunziation.« (W 8 603) Im weiteren Textverlauf konkretisiert Müller den Stellenwert der
Stasi-Gespräche für die eigene Arbeit als Theaterautor: »Der Rückzug ins Private war mir,
schon weil ich eine Bühne brauchte, versperrt. Ich konnte mich nicht aus dem Streit der Welt
halten, was mit Recht für weise gilt. Es wäre pathetisch und, wie jedes Pathos ohne
Todesdrohung, halb wahr, wenn ich sagen würde, dass ich nach dem Prinzip aus Brechts
MASSNAHME verfahren bin: UMARME DEN SCHLÄCHTER ABER / ÄNDERE DIE
WELT SIE BRAUCHT ES. Ich hatte wenig Illusionen über meine Macht, die Welt zu ändern.
Es ging höchstens um d[as] kleine Unrecht (Brecht 3 Gr[oschenoper]) und nicht das Recht,
diese Gespräche zu verweigern, weil es immer wieder auch um geplante ›Maßnahmen‹ zur
Kriminalisierung von Unterprivilegierten ging und ich, auch noch in der Bedrohung, zu den
Privilegierten gehörte. Privilegien müssen bezahlt werden.« (W 8 607f.) Die Bezugnahme auf
Brechts MASSNAHME spielt im Umfeld Müllers Äußerungen zu den Stasi-Vorwürfen eine
zentrale Rolle. Es handelt sich dabei um die Inkommensurabilität eines Verhaltensmodells,
das Schuld nicht rechtfertigt, sondern Unschuld aus Gründen gesellschaftlicher Emanzipation
nicht zulässt. Müller kommt in seinem Essay explizit auf dieses Paradox der Unschuld zu
sprechen. Unter dem Stichwort »Berührungsangst« notiert er: »Ich hätte keine Hemmung
gehabt, mit Hitler zu reden, mit Stalin, den erklärten Teufeln des Jahrhunderts. Wer von
Schuld reden will, soll es tun, ich rede nicht von Unschuld, die nicht nur in Deutschland und
nicht nur in diesem Jahrhundert ein Privileg ist, das ich für mich schon aus geografischen
Gründen nicht beanspruchen kann, weder privat noch politisch. Aus meinen
Kontakten/Gesprächen mit der Staatssicherheit der ehemaligen DDR kann ich ein
Schuldbewusstsein nicht beziehn.« (W 8 698) Hinzu komme ein genuines Interesse am
ästhetischen Materialwert des kafkaesken ›Wahnsystems‹ (s. a. GI 3 172) das der monströse
Geheimdienst-Apparat verkörpert. In einer im Typoskript des Textes gestrichenen Passage
heißt es dazu: »Ich wollte wissen, was diesen Staat DDR, wider alle ökonomische Vernunft,
›im Innersten zusammenhält‹, [und ] die Staatssicherheit war sein Herzstück. Ich war
neugierig auf das Funktionieren oder Nichtfunktionieren dieses Apparats, dessen
Maschinenteile auch durchaus gegeneinander zu arbeiten schienen. Mich interessierte die
Paranoia der Befestigung auf Kosten der Substanz.« (HMA 4605) Verarbeit hatte Müller
dieses Material bereits vor dem Verschwinden der DDR von der politischen Landkarte
Europas in seinem Stück WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE IV: KENTAUREN.
In einem zweiten Textfragment, [Ich hab zur Nacht gegessen mit Gespenstern …], verknüpft
Müller die essayistische Reflexion über die Stasi-Vorwürfe mit einmontierten Gedichten und
Zitatfetzen. So enthält der Entwurf ebenfalls Passagen des im stilistischen Erscheinungsbild
geschlosseneren Textes [»Die deutsche Form der Revolution …«], beziehungsweise
derjenigen Texte, die Müller (als Presseerklärung oder Interview) veröffentliche. Eine
Anfängliche Nummerierung der einzelnen Textteile (»1«, »2«) wird nicht fortgeführt.
Wiederholt führt Müller seine Beziehung zu einzelnen Mitarbeitern des MfS und dem
Apparat als solchem auf biografische Beweggründe zurück. »Meine Kindheit im feindlichen
468
Deutschland, mit dem Zwang, mich außen anders zu verhalten und zu äußern als in den vier
Wänden der Familie, hat mich an Konspiration, an Doppelleben (Benn) gewöhnt. Aus der
Angst wächst das Bedürfnis nach Tuchfühlung mit dem Gegner, den man zu fürchten hat.«
(W 8 611) Im Kalten Krieg des von Anbeginn scheiternden Sozialismus, dessen reale
Existenz stets eine ideologisch verbrämte Behauptung blieb (»Programm ohne Realität«, W 8
614), mit der »simulierten Freiheit der Bundesrepublik« (ebd.) als Enklave des Kapitals, wird
dieser Gegner zum Verbündeten. Müller beschreibt die Stasi-Debatte als Jagd sich im
Liebesakt gegenseitig zerfleischender Hyänen, mithin als Scheingefecht, das an den ihr
zugrunde liegenden Problemen vorbeigreift. »Ich kann die Debatte nicht annehmen auf dem
Niveau, auf dem sie angeboten wird, dem Niveau der Denunziation und der Verleumdung, es
ist nicht mein Niveau.« (W 8 611) Schuld daran sei die »moralische Attitüde« der Ankläger,
die auf dem Irrtum »des schon lange nur noch sogenannten repräsentativen Intellektuellen«
beruhe, demzufolge die moralische Integrität des Künstlers seinen »Marktwert« (W 8 612f.)
bestimme. Die »Geschichtsschreibung der Sieger«, dessen Bestandteil das »Theater der
Aufklärung […] wie es von der Gauck-Behörde betrieben wird« (W 8 612) sei, verhindere die
Erfahrung produktiven Scheiterns, die Müller mit Hölderlin formuliert (»VIELES ABER /
WIE EINE LAST VON SCHEITERN IST / ZU BEHALTEN« 993 ). »Der Sieg des
Kapitalismus geht die Banken an, nicht die Literatur« (HMA 4604), heißt es in einer Variante
des Fragments. »Er ist kein Gegenstand [von Literatur]. Wichtig ist die Erfahrung der
Niederlage.« (ebd.) In diesem Zusammenhang kommt Müller explizit auf Kafka zu sprechen,
den er als strukturellen Vorreiter der Geheimdienst-Literatur entdeckt. Demzufolge erinnere
die Prosa der Akten an dessen künstlerisches Verfahren. »Beschreibung von Details ohne
Bezugssystem. Die deutsche Presse hat, in der Berichterstattung über Angelegenheiten der
Staatssicherheit, dieses Verfahren übernommen. Man begreift, dass Kafkas Arbeit für die
Versicherung ihn zum bolschewistischen Schriftsteller qualifiziert hat, die Verwandtschaft der
Strukturen. Die FBI-Agenten, die in Kalifornien an Brecht gearbeitet haben, wussten alles
über ihn, nur nicht, wer er war. Sie hielten ihn für einen Nazi-Agenten.« (W 8 612) Und
weiter konstatiert Müller: »Geheimdienste arbeiten an der Verwandlung von Biografien in
Vorgänge, von Menschen in Akten, von Realität in Papier. Kafka hat ihre Tätigkeit als eine
Art Buchführung für den Jüngsten Tag beschrieben, in Erwartung des Messias, der entweder
als Erlöser oder als Vernichter kommt. Akten leben länger als Menschen, insofern sind sie
Aktien auf die Ewigkeit.« (W 8 614f.) Insgesamt kommt Müller in dem Fragment [Ich hab
zur Nacht gegessen mit Gespenstern …] der poetischen Bewältigung der Spitzel-Vorwürfe am
nächsten. Der Stasi-Diskurs erscheint hier nur als Anlass für eine umfassende Medien- und
Gesellschaftskritik, die den Zeitgenossen eine historische Blindheit bescheinigt, die »in die
Katastrophe führt. […] Die Zukunft steht zum Fortschritt quer.« (W 8 612)
Unter den Punkten »Dossier 4a–l« sind die Akten der Gauck-Behörde abgedruckt, die Müllers
MfS-»Karriere« dokumentieren. In einem anschließenden Kommentar bewerten Andreas
Schreier und Malte Daniljuk das Material, das Müller den Verdacht der Spitzel-Tätigkeit
eintrug und beleuchten die Geschichte hinter Müllers aktenkundiger »IM-Karriere« vom OPK
(Operative Personenkontrolle) »Zement« zum IMV (IM-Vorlauf) »Zement« und schließlich
zum regulären IM (Inoffiziellen Mitarbeiter) »Heiner«. Den Autoren dieser
993
W 8 611. Bei Hölderlin heißt es: »Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu
behalten.« (Hölderlin-KSA 2, 206) Müller zitiert die Zeilen aus der dritten Fassung Hölderlins Gedicht
MNEMOSYNE Ende der siebziger Jahre als Motto für einen Essay über die Perspektive des Sozialismus.
469
Hintergrundrecherche zufolge sei Müller – oder vielmehr seine Akte – ohne sein Wissen zum
Protagonist stasiinterner Planspiele avanciert. Unter dem Vorwand seiner vermeintlichen
Anwerbung als IM sei Müller von ihm aus welchen Gründen auch immer gewogenen Stasi-
Offizieren der drohenden Kriminalisierung wegen Feindarbeit (wie im Fall Stephan Heyms)
entzogen worden. Vermutlich diente das »Phantom-IM ›Heiner‹« (KOS 476) den zuständigen
hauptamtlichen Mitarbeitern im MfS (Holm und Girod) lediglich der eigenen Profilierung,
beziehungsweise als Vorwand zur Erfüllung ihres Anwerbungssolls.
Den Abschluss des Dossier-Teils bildet ein Interview Heiner Müllers mit Thomas Assheuer
für die »Frankfurter Rundschau« vom 22. Mai 1993. In dem Gespräch geht es vorrangig um
Müllers Kontakte zu Mitarbeitern des MfS und das Verschwinden der DDR. Unter der
Überschrift ES GIBT EIN MENSCHENRECHT AUF FEIGHEIT spricht Müller
verhältnismäßig freizügig über seinen Umgang mit der Staatssicherheit und füllt damit die
Lücke, die ihm Kritiker seiner Autobiografie vorgeworfen hatten. Er beruft sich in dem
Gespräch auf das »Menschenrecht der ›Feigheit vor dem Feind‹ […] Und dass das Feindbild
stimmt, hat ja dann die Journaille bewiesen.« (KOS 488) Müller beschreibt seine Kontakte
mit der Staatssicherheit aus pragmatischer Sicht. Konspirativ seinen diese Gespräche nur aus
der Perspektive der Staatssicherheit gewesen (s. a. KOS 484). Müller selbst sei es vor allen
Dingen darum gegangen, künstlerische Arbeit zu ermöglichen, junge Künstler der
Kriminalisierung durch die staatlichen Behörden zu entziehen oder auf kulturpolitische
Entwicklungen Einfluss zu nehmen. »Ich war nicht erpressbar. Ich habe es bewusst getan. Ich
dachte, da kann ich etwas erreichen in konkreten Dingen, wenn es um ein Visum geht oder
die Verhinderung einer Verhaftung. […] Ich rede mit jedem, wenn ich es für notwendig und
für praktisch halte« (KOS 486, 488) Waren Müllers Bemühungen nur bescheidene Erfolge
vorbehalten (etwa die Beschaffung eines Visums für Matthias Langhoff über das Büro
Honecker oder die Abschiebung – statt Inhaftierung – Dieter Schulzes), sind sie doch
Ausdruck eines Handlungspotenzials innerhalb eines repressiven politischen Systems, das
Müller grundsätzlich bejaht. »Ich habe Girod einmal gefragt: Warum reden Sie mit mir? Denn
es war nie ganz klar: Er sprach mit mir über Weltpolitik, die Gefahren des Nationalismus,
über Dritte Welt und alles mögliche. Also, da habe ich ihn einmal direkt gefragt: Warum
reden Sie mit mir. Da hat er nur gesagt: Damit Sie hier bleiben.« (KOS 483) Offenbar hatte
Müller also Glück mit den für ihn zuständigen Mitarbeitern des MfS. Als er im Zuge der
Biermann-Affäre gemeinsam mit vielen anderen Künstlern ins Visier der Staatssicherheit
geriet, bewahrte ihn das Verhalten von Holm und Girod vor drakonischen Strafmaßnahmen.
Durch die Vernichtung der operativen Vorgangsakten über das Stück ZEMENT bei
gleichzeitiger Verwandlung in einen »IM Vorlauf Zement« und schließlich – als der Druck
von übergeordneten Stellen wuchs – die Taufe als »IM Heiner« wurde Müller aus der Sicht
seiner Bearbeiter aus der Schusslinie genommen. Wie bereits in früheren Stellungnahmen
wehrt sich Müller im Gespräch mit Assheuer vehement gegen die Vermutung, er sei im
Auftrag des MfS investigativ tätig geworden. So sei etwa die aktenkundige Ansetzung auf die
Liedermacherin Bettina Wegner und den Schriftsteller Klaus Schlesinger, mit denen Müller
keine Kontakte pflegte, der »Wunschliste« (ebd.) des MfS entsprungen. Die Aktenlage gibt
Müller recht. In den Opferakten der betroffenen Künstler ist von einem »IM Heiner« nirgends
die Rede. Seine eigene Integrität sieht Müller durch die Gespräche mit der Staatssicherheit
infolgedessen nicht angegriffen. Lakonisch bekundet er: »Ich habe ein paar Freunde verloren.
Das spart Zeit.« (KOS 490) Zum Abschluss konstatiert Müller als Rechtfertigung für die
470
Stasi-Gespräche: »Ich habe nicht das Recht rein zu bleiben in einer schmutzigen Welt.« (KOS
497) Das ist die Begründung radikalen Festhaltens am Glauben an die emanzipatorische Kraft
eines auf Dauer minoritären »kommenden Volkes« 994 , die Brecht in der MASSNAHME zur
Bedingung allen Handelns gemacht hat:
994
Deleuze beschreibt dieses kommende Volk wie folgt: »Man schreibt nicht mit seinen Erinnerungen, es sei
denn man macht sie zum kollektiven Ursprung und Ziel eines kommenden Volkes, das noch dort, wo es
verraten und verleugnet wurde, verborgen liegt. […] Allerdings ist dies kein Volk, das zur Weltherrschaft
berufen wäre. Es ist ein kleines, auf ewig minderes Volk, das von einem Revolutionär-Werden erfasst wird.
Vielleicht existiert es nur in den Atomen des Schriftstellers, ein bastardhaftes, niederes, beherrschtes Volk,
stets im Werden begriffen, stets unvollendet. Bastard bezeichnet keinen Familienstand, sondern den Prozess
oder die Drift der Rassen. Ich bin ein Tier, ein Neger minderer Rasse für alle Ewigkeit. Das ist das Werden
des Schriftstellers.« (Deleuze 2000, 14f.)
995
Brecht-BFA 3, 116
471
9. Literaturverzeichnis
472
Primärliteratur
Gespräch mit Heiner Müller. In: Sinn und Form 1/1966, 30–47 (Müller 1966)
»Jetzt sind eher die infernalischen Aspekte bei Benjamin wichtig«. Gespräch mit Heiner Müller vom 22. 11.
1991. In: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu
Walter Benjamin. Leipzig 1992, 348-362 (Müller 1991)
»Heiner Müller oder Leben im Material«. Gespräch mit Hermann Theißen. In: Die Deutsche Bühne 8/1992, 8–
12 (Müller 1992)
»Deutscher sein, heißt Indianer sein«. In: Freitag vom 5. Mai 1995 (Müller 1995)
»Theater ist Krise«. Heiner Müller im Gespräch mit Ute Scharfenberg. In: KALKFELL, 136–143
Ackermann, Fr.: Das Komische in der Anekdote. In: Der Deutschunterricht 3/1966, 10–25
Aragon, Louis: Surrealist durch die Stille. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919–1939. Ein
Lesebuch. Leipzig 1990, 710
Aristoteles: Poetik. Griechisch/deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982
Assheuer, Thomas: Zwischen Ich und Ich ist der Zwischenraum riesig. Schlacht (noch) ohne Beweise oder:
Heiner Müller und das Interesse an erledigten Fällen. In: Frankfurter Rundschau vom 16. 1. 1993
ders.: Die Helden des Rückzugs. Schluss mit der Stasi-Debatte? In: Frankfurter Rundschau vom 5. 2. 1993
Assmann, Aleida u. Jan/Hardmeier, Christoph (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen
Kommunikation. München 1983
Barlach, Ernst: Der tote Tag. In: Expressionismus. Dramen I. Berlin/Weimar 1967, 5–101
Baudelaire, Charles: Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der bildenden Kunst. In:
ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Darmstadt 1971
Becker, Thorsten: Je weniger Staat, desto mehr Komödie. In: Die Weltwoche vom 18. 6. 1992
473
Behl, Carl F. W.: Über das Anekdotische. In: Die Literatur 38, 1935/36, Heft 1, 8–11
Beikirch, David: Zur Genese der poetischen Bedeutungsstruktur des Textes KRIEG OHNE SCHLACHT
LEBEN IN ZWEI DIKTATUREN von Heiner Müller. Magisterarbeit im Fachbereich Neuere deutsche
Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2004, unpubliziert
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften (Benjamin-GS). 7 Bände (14 Halbbände). Frankfurt a. M. 1991
Beschlussprotokoll der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin am 28. November 1961. In: Sinn
und Form 3/1991, 459–463, hier 462
Biermann, Wolf: Die Müller-Maschine. In: Der Spiegel vom 8. 1. 1996, 154
Bloom, Harold. The Breaking of Form. In: Deconstruction & Criticism. London 1979, 1–38
Böhmel, Bernd: Das Geheimnis des Sieges – Duell mit Schlieffen. In: Sinn und Form 3/1992, 434–458
ders.: Die Farbe der Beeren am Rand der Rodung. Albumblatt für Heiner Müller. In: Lettre International
35/1996, 18–22
Bolz, Norbert (Hrsg.): Ruinen des Denkens – Denken in Ruinen. Frankfurt a. M. 1996
Braun, Matthias: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium
für Kultur gegen Heiner Müllers »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« im Oktober 1961
Berlin 1996
ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (Brecht-BFA ). 30 Bde. Berlin/Frankfurt a.
M. 1988ff.
Briegleb, Klaus/Weigel, Sigrid (Hrsg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Hansers Sozialgeschichte der deutschen
Literatur. München/Wien 1992
Brock, Bazon: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978–1986, Köln
1986
Bunge, Hans-Joachim: Brief an den Zentralrat der FDJ. In: Sinn und Form 3/1991, 440
Cicero: Über den Redner / De Oratore. Übersetzt und herausgegeben von W. Merklin. Stuttgart 1976
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Eidesstattliche Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, daß ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne
unerlaubte Hilfe verfaßt und andere als die angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt habe.
Ich erkläre, daß ich die Arbeit erstmalig und nur an der Humboldt-Universität zu Berlin
eingereicht habe.
Levin D. Röder