Knirpsenland
Knirpsenland
Knirpsenland
Nossow
Nimmerklug
im Knirpsenland
Die Knirpse aus Blumenstadt
In einer Stadt des Märchenlandes wohnten die Knirpse. Sie hießen so, weil sie
nicht größer als Einmachgurken waren. Ihre Stadt sah wunderhübsch aus. Vor
jedem Hause wuchsen Blumen: Margeriten, Kamillen und Löwenzahn. Die
Straßen trugen Blumenamen: Glockenblumenstraße, Kamillenallee,
Kornblumen-Boulevard, und die Stadt selbst hieß Blumenstadt. Sie lag am Ufer
eines Baches. Diesen Bach hatten die Knirpse Gurkenfluß genannt, weil an
seinen Ufern die Gurken gut gediehen.
Jenseits des Flusses begann der Wald. Die Knirpse hatten sich aus
Birkenrinde kleine Boote gebaut, ruderten damit über den Fluß und gingen in
den Wald, um Beeren, Pilze und Nüsse zu suchen. Beeren pflücken war schon
schwierig, weil die Knirpse doch so winzig waren, aber wenn sie erst Nüsse
ernten wollten, mußten sie auf die hohen Sträucher klettern und dabei noch eine
Säge mitschleppen. Kein Knirps brachte es fertig, die Nüsse mit bloßen Händen
abzureißen. Mit den Pilzen ging es ihnen ähnlich: Knapp über der Wurzel
wurden sie gefällt, dann zersägt, und erst die einzelnen Stücke konnten die
Knirpse nach Hause transportieren.
Es gab Knirpseriebe und Knirpselinen. Die einen trugen lange oder kurze
Trägerhosen, die anderen Kleider aus buntem Stoff. Die Knirpseriebe hatten
keine Lust, sich lange mit ihren Frisuren abzugeben, und deshalb waren ihre
Haare immer kurz geschnitten oder abrasiert. Die Knirpselinen dagegen ließen
ihr Haar wachsen. Sie probierten mit Vorliebe schöne Frisuren aus, flochten
Zöpfe, wanden Bänder hinein und trugen Haarschleifen auf dem Kopf. Viele
Knirpseriebe waren sehr stolz auf die Tatsache, daß sie Knirpseriebe waren, und
verspürten nur selten Lust, sich mit den Knirpselinen anzufreunden. Die
wiederum bildeten sich etwas darauf ein, Knirpselinen zu sein, und wollten von
den Knirpserichen nichts wissen. Wenn eine Knirpseline einen Knirpserich von
weitem erblickte, ging sie sogleich auf die andere Straßenseite. Und sie tat gut
daran, denn es gab unter den Knirpserichen viele, die an einer Knirpseline nicht
friedlich vorübergehen konnten, nein, sie mußten ihr unbedingt etwas
Beleidigendes zurufen, sie schubsen oder, was vielleicht noch schlimmer war, sie
am Zopf ziehen. Natürlich waren nicht alle Knirpseriche so, aber das stand ihnen
ja nicht auf der Stirn geschrieben. Viele Knirpseriche nannten die Knirpselinen
Bangbüxen, weil sie immer vor ihnen ausrissen, während viele Knirpselinen
meinten, die Knirpseriche seien Streithammel.
Manche Leser werden jetzt sagen, dies alles wäre Phantasie, solche Knirpse
gäbe es in Wirklichkeit gar nicht. Aber niemand behauptet ja, daß es sie gibt!
Eine Märchenstadt ist etwas ganz anderes als die Wirklichkeit. In einer
Märchenstadt gibt es alles.
In einem kleinen Haus an der Glockenblumenstraße wohnten sechzehn
Knirpseriche. Ihr Anführer war der Knirps Immerklug. Er hieß so, weil er sehr
viel wußte. Und er wußte viel, weil er alle möglichen Bücher gelesen hatte. Die
Bücher lagen bei ihm auf dem Tisch und unter dem Tisch, auf dem Bett und
unter dem Bett. Vom Bücherlesen war Immerklug sehr klug geworden. Darum
hörten alle auf ihn. Gewöhnlich trug er einen schwarzen Anzug. Wenn er sich an
den Tisch setzte, eine Brille auf die Nase schob und sich in ein Buch vertiefte,
sah er wie ein Professor aus.
In dem gleichen Häuschen wohnte der bekannte Doktor Rizinus, der die
Knirpse von jeder Krankheit heilte. Er pflegte einen weißen Kittel zu tragen und
auf dem Kopf eine weiße Kappe mit einer Quaste. Außerdem lebten dort der
berühmte Mechaniker Schraubschnell mit seinem Gehilfen Schraubstift und
Sacharinus Saftschleck, der für Brause mit Saft eine ganz besondere Vorliebe
hatte. In dem Häuschen wohnte auch noch der Jäger Bums, der ein Hündchen
namens Bimmel und ein Gewehr besaß. Das Gewehr wurde mit Pfropfen
geladen. Die übrigen Hausbewohner waren: der Maler Farbenklecks, der
Musiker Geigenstrich und die Knirpseriche Rennefix, Brummer, Schweigestill,
Nudeldick, Schussel sowie die Brüder Schnurz und Pipe. Am bekanntesten war
jedoch der Knips Nimmerklug. Er hieß so, weil er nichts wußte.
Nimmerklug trug einen leuchtendblauen Hut, kanariengelbe Hosen und ein
orangefarbenes Hemd mit grüner Krawatte. Die grellen Farben hatten es ihm
nämlich angetan. Herausgeputzt wie ein Papagei, bummelte er tagelang in der
Stadt herum. Dabei dachte er sich die unwahrscheinlichsten Geschichten aus und
erzählte sie den übrigen Knirpsen. Außerdem ärgerte er die Knirpselinen
unaufhörlich. Sahen die Knirpselinen ihn nur von ferne, machten sie sofort kehrt
und liefen in das nächstbeste Haus. Nimmerklug hatte einen Freund, der hieß
Joppe und wohnte in der Margeritenstraße. Stundenlang konnte Nimmerklug mit
Joppe schwatzen. Zwanzigmal am Tag zankten sie sich, und zwanzigmal
vertrugen sie sich wieder.
Berühmt wurde Nimmerklug nach folgender Geschichte: Eines Tages
spazierte er durch die Stadt und gelangte schließlich aufs freie Feld. Plötzlich
kam ein Maikäfer angeflogen. Er surrte auf Nimmerklug zu und stieß ihn ins
Genick. Nimmerklug purzelte kopfüber ins Gras. Im nächsten Augenblick war
der Maikäfer in der Ferne verschwunden. Nimmerklug sprang auf und hielt
Umschau, wer ihn gestoßen haben könnte. Aber niemand war zu sehen.
Vielleicht ist etwas von oben heruntergefallen? dachte Nimmerklug.
Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in die Höhe, aber dort war
ebenfalls nichts zu bemerken. Nur die Sonne strahlte ihm auf den Scheitel.
Es muß also von der Sonne etwas auf mich heruntergefallen sein, stellte
Nimmerklug fest. Wahrscheinlich ist ein Stück von der Sonne abgebrochen. Auf
dem Heimweg traf er einen Bekannten, der Linse hieß. Linse war ein
hervorragender Astronom. Er verstand es, aus Flaschenscherben
Vergrößerungslinsen herzustellen. Aus mehreren Linsen hatte er ein großes
Fernrohr gemacht, mit dem man Mond und Sterne betrachten konnte. So war er
Astronom geworden.
„Stell dir vor, Linse“, sagte Nimmerklug zu ihm, „was mir passiert ist. Von
der Sonne ist ein Stück abgebrochen und mir auf den Kopf gefallen.“
„Wo denkst du hin, Nimmerklug.“ Linse mußte lachen. „Wäre von der Sonne
ein Stück abgebrochen, hätte es dich so breit gedrückt wie einen Eierkuchen. Die
Sonne ist doch riesengroß – größer als unsere Erde.“
„Unmöglich!“ rief Nimmerklug. „Die Sonne ist höchstens so groß wie ein
Teller.“
„Das kommt dir nur so vor, weil die Sonne sehr weit von uns entfernt ist. Die
Sonne ist eine gewaltige, glühende Kugel. Würde auch nur ein winziges Stück
von ihr abbrechen, so wäre unsere ganze Stadt zerstört.“
„Was du nicht sagst!“ antwortete Nimmerklug. „Daß die Sonne so groß ist,
wußte ich ja gar nicht. Das muß ich gleich den Freunden erzählen – vielleicht
haben sie auch noch nichts davon gehört. Du solltest dir die Sonne aber trotzdem
einmal durch dein Fernrohr angucken, ob nicht doch ein Stück fehlt.“
Nimmerklug ging heim und erzählte allen, die er unterwegs traf: „Freunde,
wißt ihr über die Sonne Bescheid? Sie ist größer als unsere Erde. Tatsache! Nun
hat sich ein Stück von der Sonne losgerissen und fliegt geradewegs auf uns zu.
Bald wird es herunterfallen und uns alle zerquetschen. Ach, so ein Unglück!
Geht und fragt Linse.“
Die Knirpse lachten, denn sie wußten, daß Nimmerklug ein Schwätzer war.
Nimmerklug aber rannte, so schnell seine Beine ihn tragen wollten, nach Hause
und schrie in einem fort: „Freunde, rettet euch! Ein Stück kommt geflogen.“
„Was für ein Stück?“
„Ein Stück, Freunde! Von der Sonne ist ein Stück abgebrochen. Gleich
klatscht es herunter und deckt uns alle zu. Wißt ihr, was die Sonne ist? Sie ist
größer als unsere ganze Erde.“
„Du spinnst wohl?“
„Ich spinne gar nicht! Linse hat das gesagt. Er hat durch sein Fernrohr
gesehen.“
Alle rannten auf den Hof und starrten zur Sonne empor. Sie starrten so lange,
bis ihnen die Tränen in die Augen traten. Und weil sie geblendet waren, kam es
ihnen schließlich auch so vor, als fehlte der Sonne wirklich ein Stück.
Nimmerklug aber schrie: „Rette sich, wer kann!“ Alle griffen nach ihren
Sachen. Farbenklecks holte Farben und Pinsel, Geigenstrich klemmte seine
Musikinstrumente – die Geige, die Balalaika und die Trompete – unter den Arm.
Doktor Rizinus raste durchs Haus und suchte seine Feldapotheke, die
ausgerechnet jetzt nicht zu finden war. Nudeldick preßte Schirm und Galoschen
an sich. Gerade wollte er zum Tor hinausrennen, als er plötzlich Immerklugs
Stimme hörte: „Beruhigt euch, Freunde! Es besteht nicht der geringste Grund zur
Angst. Wißt ihr denn nicht, daß Nimmerklug ein Schwätzer ist? Das hat er sich
alles nur ausgedacht.“
„Ausgedacht?“ schrie Nimmerklug. „Geht doch und fragt Linse!“
Die Knirpse liefen zu Linse, und als der von seiner Begegnung mit
Nimmerklug erzählte, gab es ein Riesengelächter.
„Wir wundern uns nur, daß wir dir so etwas glauben konnten!“ riefen die
Knirpse.
„Ich wundere mich gar nicht“, erwiderte Nimmerklug. „Ich habe es ja selbst
geglaubt.“
So ein komischer Kauz war dieser Nimmerklug!
Wie Nimmerklug Musiker werden wollte
Wenn sich Nimmerklug eine Arbeit vornahm, packte er sie stets am verkehrten
Ende an. Lesen konnte er nur einzelne Silben, und beim Schreiben brachte er
gerade die Druckbuchstaben zustande. Viele Knirpse waren der Meinung,
Nimmerklug sei ein Hohlkopf, aber das stimmte nicht, denn wie hätte er sich
dann Geschichten ausdenken können? Selbstverständlich war es immer nur
dummes Zeug, aber die Stiefel zog er an die Füße und nicht über den Kopf – und
dazu gehört ja schließlich auch ein bißeben Verstand.
Nimmerklug war kein schlechter Kerl. Er hatte durchaus den Wunsch, etwas
zu lernen, aber alle Dinge auf Anhieb, ohne große Mühe, und dabei kann
natürlich auch beim allergescheitesten Knirps nichts Rechtes herauskommen.
Die Knirpseriebe und die Knirpselinen hatten eine Vorliebe für Musik.
Geigenstrich war ein ausgezeichneter Musiker. Er besaß verschiedene
Instrumente und spielte häufig darauf. Die Knirpse lobten ihn über alle Maßen.
Nimmerklug packte der Neid, und deshalb bat er Geigenstrich: „Bring mir das
Spielen bei. Ich möchte auch Musiker werden.“
„Aber natürlich“, stimmte Geigenstrich zu. „Auf welchem Instrument willst
du spielen?“
„Welches ist am leichtesten zu erlernen?“
„Die Balalaika.“
„Gut, dann gib mir deine Balalaika, ich will es versuchen.“
Geigenstrich gab ihm die Balalaika. Nimmerklug klimperte darauf herum,
dann meinte er: „Nein, die Balalaika spielt zu leise. Gib mir etwas, das lauter
spielt.“
Geigenstrich reichte ihm die Geige. Nimmerklug kratzte mit dem Bogen über
die Saiten und fragte schließlich: „Hast du nichts, das noch lauter ist?“ „Ja, die
Trompete“, erwiderte Geigenstrich. „Her damit, das wollen wir versuchen.“
Geigenstrich holte seine große Blechtrompete. Als Nimmerklug hineinpustete,
heulte sie furchtbar auf.
„Das ist ein schönes Instrument!“ freute sich Nimmerklug. „Das spielt laut.“
„Nun, dann lerne Trompete blasen, wenn es dir gefällt.“ Geigenstrich war
einverstanden. Nimmerklug wunderte sich. „Warum lernen? Ich kann es doch
schon.“
„Aber nein, du kannst es noch nicht.“
„Ich kann es. Hör nur zu!“ rief Nimmerklug und blies aus aller Kraft in die
Trompete: Tut-tut-tut! Bö-bö-bö!
„Du bläst nur – spielen kann man das nicht nennen“, erwiderte Geigenstrich.
„Was?“ Nimmerklug war beleidigt. „Ich spiele sogar sehr schön und so laut!“
„Ach du! Auf die Lautstärke kommt es gar nicht an. Gut muß es klingen.“
„Bei mir klingt es doch schön!“
„Nein, durchaus nicht“, beharrte Geigenstrich. „Du hast offenbar keine
Begabung für Musik.“
„Das sagst du nur aus Neid“, brauste Nimmerklug auf. „Du willst der einzige
sein, dem man zuhört und den man lobt.“
„Ganz im Gegenteil“, erwiderte Geigenstrich. „Wenn du glaubst, daß du nicht
zu lernen brauchst, dann nimm nur die Trompete und spiele, soviel du magst.“
„Ja, ich werde spielen“, erklärte Nimmerklug. Wieder blies er aus
Leibeskräften in die Trompete. Aber sie grölte, krächzte, winselte und grunzte
nur. Geigenstrich lauschte, und lauschte … Schließlich verlor er die Geduld. Er
zog seine Samtjacke an, schlang sich ein rosa Band, das er statt einer Krawatte
trug, um den Hals und ging fort, um Freunde zu besuchen.
Abends, als alle Knirpse nach Hause gekommen waren, griff Nimmerklug zu
seiner Trompete und fing an zu blasen: Tut-tut-tut! Bö-bö-bö!
„Was ist das für ein Lärm?“ schrien die Knirpse. „Das ist kein Lärm“,
antwortete Nimmerklug. „Ich blase Trompete.“
„Hör sofort auf!“ rief Immerklug. „Von deiner Musik tun einem die Ohren
weh.“
„Das kommt nur daher, weil du an meine Musik noch nicht gewöhnt bist.
Hast du dich erst daran gewöhnt, dann werden dir die Ohren nicht mehr weh
tun.“ „Ich will mich aber nicht daran gewöhnen. Das hat mir gerade noch
gefehlt.“
Doch Nimmerklug blies weiter: Tut-tut-tut! Kr-r-r!
Wui! Wui!
„Aufhören!“ schrien die Knirpse von allen Seiten.
„Hau ab mit deiner scheußlichen Trompete!“ „Wohin denn?“
„Geh aufs Feld, dort kannst du spielen.“
„Auf dem Feld hört mir doch niemand zu.“ „Muß dir denn unbedingt jemand
zuhören?“ „Ja, unbedingt!“
„Marsch, auf die Straße_, da hören dir die Nachbarn zu.“
Nimmerklug ging auf die Straße und begann vor dem Nachbarhaus zu blasen,
aber die Nachbarn baten ihn, unter dem Fenster keinen Lärm zu machen. Er lief
zum nächsten Haus – auch von dort wurde er verjagt. Vom dritten Haus wollte
man ihn ebenfalls wegjagen. Nun grade, beschloß er. Die Nachbarn wurden
zornig, kamen aus dem Haus und rannten hinter ihm her. Nur mit Müh und Not
gelang es ihm, sich und die Trompete vor ihnen zu retten.
Seit dieser Zeit blies Nimmerklug nie mehr Trompete.
Wie Nimmerklug Maler werden wollte
Farbenklecks war ein sehr begabter Maler. Er trug immer einen langen Kittel,
den er Malgewand nannte. Man mußte Farbenklecks sehen, wenn er vor seiner
Staffelei stand: im Malgewand, das lange Haar zurückgeworfen und die Palette
in der Hand – jeder wußte sofort, daß er einen Künstler vor sich hatte. Nachdem
Nimmerklug mit seiner Musik Schiffbruch erlitten hatte, ging er zu Farbenklecks
und sagte: „Hör einmal, Farbenklecks, ich möchte ebenfalls Maler werden. Gib
mir ein paar Farben und einen Pinsel.“
Farbenklecks war alles andere als geizig. Er schenkte Nimmerklug seine alten
Farben und Pinsel. Joppe, Nimmerklugs Freund, kam gerade dazu, und
Nimmerklug bat ihn: „Nimm Platz, Joppe, ich will dich jetzt malen.“
Joppe freute sich, setzte sich schnell auf einen Stuhl, und Nimmerklug begann
ihn zu malen. Er wollte Joppes Bild so schön wie möglich machen, und deshalb
malte er ihm eine rote Nase, grüne Ohren, blaue Lippen und orangegelbe Augen.
Joppe konnte es nicht erwarten, sein Porträt in Augenschein zu nehmen. Vor
lauter Ungeduld rutschte er dauernd hin und her.
„Zappele nicht so viel herum!“ schalt Nimmerklug. „Sonst wird es nicht
ähnlich.“
„Wird es jetzt ähnlich?“ erkundigte sich Joppe und saß still.
„Ja, sehr“, antwortete Nimmerklug und malte ihm einen violetten
Schnurrbart.
„Zeig mir doch, was daraus geworden ist“, bettelte Joppe, als Nimmerklug
fertig war.
Nimmerklug hielt es ihm hin.
„So sehe ich aus?“ schrie Joppe entsetzt. „Natürlich. Wie denn sonst?“
„Warum hast du mir einen Schnurrbart gemalt? Ich habe doch gar keinen.“
„Na, der wird schon noch wachsen!“
„Und weshalb ist meine Nase rot?“
„Damit es schöner aussieht.“
„Habe ich vielleicht himmelblaue Haare?“ „Freilich“, erwiderte Nimmerklug.
„Aber wenn sie dir nicht gefallen, kann ich sie auch grün machen.“ „Nein, das
ist ein schlechtes Porträt“, sagte Joppe. „Gib her, ich zerreiße es!“
Joppe wollte das Bild wegnehmen, aber Nimmerklug hielt es fest, und so kam
es zu einer Rauferei. Angelockt durch den Lärm, liefen Immerklug, Doktor
Rizinus und die übrigen Hausbewohner herbei.
„Weshalb prügelt ihr euch?“ wollten sie wissen. „Da!“ schrie Joppe. „Sagt
mir, wer das sein soll! Ich doch nicht?“
„Natürlich nicht“, antworteten die Knirpse. „Das ist eine Vogelscheuche.“
Nimmerklug erklärte: „Ihr habt das Bild nicht erkannt, weil die Unterschrift
fehlt.“
Er nahm einen Bleistift und schrieb mit Druckbuchstaben unter das Porträt:
JOPPE. Dann hängte er es an die Wand und meinte: „Da mag es hängenbleiben.
Alle sollen das Bild sehen.“
„Wenn du zu Bett gehst“, schrie Joppe, „Komme ich und zerreiße es.“
„Dann werde ich nachts aufbleiben und es bewachen“, antwortete
Nimmerklug.
Beleidigt trottete Joppe heim. Sobald alle anderen eingeschlafen waren, nahm
Nimmerklug seine Farben und malte ihre Porträts. Nudeldick machte er so dick,
daß er kaum auf der Leinwand Platz hatte. Rennefix versah er mit fadendünnen
Beinehen und einem unsinnigen Hundeschwanz. Den Jäger Bums ließ er auf
dem Hündchen Bimmel reiten. Doktor Rizinus bekam statt der Nase ein
Fieberthermometer. Ausgerechnet an Immerklugs Kopf malte er Eselsohren.
Kurz, er machte alle lächerlich. Am Morgen hängte er sämtliche Bilder an die
Wand, und dann setzte er Unterschriften darunter – eine richtige Ausstellung.
Doktor Rizinus erwachte zuerst. Als er die Bilder erblickte, prustete er los.
Sie gefielen ihm so gut, daß er sich den Zwicker auf die Nase klemmte und sie
der Reihe nach höchst aufmerksam betrachtete. Er ging von einem Bild zum
anderen und hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Großartig, Nimmerklug!“ rief er. „Noch nie habe ich mich so amüsiert.“
Schließlich stand er vor seinem eigenen Porträt. „Und wer soll das sein?“
fragte er streng. „Ich etwa? Das ist ein miserables Porträt. Das beste wäre, du
nimmst es ab.“
„Warum?“ widersprach Nimmerklug. „Laß es doch hängen.“
„Du bist wohl krank, Nimmerklug“, gab Doktor Rizinus beleidigt zurück.
„Deine Augen müssen nicht in Ordnung sein. Wann willst du gesehen haben,
daß mir statt der Nase ein Fieberthermometer im Gesicht sitzt? Es bleibt mir
wohl nichts anderes übrig, als dir heute nacht Rizinus einzugeben.“
Nimmerklug mochte durchaus kein Rizinus. Erschrocken sagte er: „Nein,
nein! Jetzt sehe ich selbst, daß es ein schlechtes Porträt ist.“
Er nahm das Bild von der Wand und zerriß es. Nach Doktor Rizinus erwachte
der Jäger Bums. Auch ihm gefielen die Bilder. Er platzte bald vor Lachen. Sein
eigenes Porträt allerdings verdarb ihm plötzlich die Laune.
„Das ist ein schlechtes Bild“, erklärte er, „und mir überhaupt nicht ähnlich.
Nimm es ab, sonst darfst du nicht mehr mit mir auf die Jagd gehen!“
Nimmerklug mußte auch den Jäger Bums von der Wand nehmen.
Mit den übrigen Porträts erging es ihm genauso. Jeder fand nur die Bilder der
anderen gut.
Schließlich erwachte auch Farbenklecks, der gewöhnlich am längsten schlief.
Als er sein Bild an der Wand hängen sah, wurde er schrecklich wütend und
erklärte, das wäre kein Porträt, sondern ein talentloses, unkünstlerisches
Geschmiere. Er riß es herunter und nahm Nimmerklug Pinsel und Farben weg.
Nur Joppes Bild war an der Wand hängengeblieben. Nimmerklug brachte es
seinem Freund Joppe.
„Soll ich dir dein Porträt schenken, Joppe?“ schlug er vor. „Dafür mußt du
dich aber mit mir versöhnen.“
Joppe griff nach dem Porträt, riß es in kleine Stücke und sagte:
„Einverstanden! Zeichnest du mich aber noch ein einziges Mal, dann sind wir
geschiedene Leute.“
„Ich zeichne nie wieder“, antwortete Nimmerklug. „Da malt man im
Schweiße seines Angesichts. aber keiner denkt daran, auch nur danke zu sagen –
alle schimpfen nur. Ich will kein Maler mehr sein.“
Wie Nimmerklug Dichter werden wollte
Nachdem bei der Malerei nichts herausgekommen war, beschloß Nimmerklug,
Verse zu schreiben. Er kannte einen Dichter, der in der Löwenzahnstraße
wohnte. Er hieß eigentlich Blei, aber die Dichter lieben bekanntlich schöne
Namen, und deshalb legte sich Blei, als er mit dem Verseschmieden begann,
einen anderen Namen zu: er nannte sich Blüte. Nimmerklug ging also zu Blüte
und sprach: Hör einmal, Blüte, lehre mich das Versemachen. Ich möchte auch
ein Dichter sein.“
„Hast du Talent?“ fragte Blüte.
„Selbstverständlich. Ich bin sehr talentiert“, antwortete Nimmerklug.
„Das muß man nachprüfen“, erklärte Blüte. „Weißt du, was ein Reim ist?“
„Ein Reim? Nein, das weiß ich nicht.“
„Ein Reim entsteht, wenn zwei Wörter die gleiche Endung haben“, setzte ihm
Blüte auseinander. „Zum Beispiel: Henne – Tenne, Kuchen – suchen. Hast du
das begriffen?“
„Ja.“
„Nun, dann sag mir einen Reim auf das Wort Rute.“
„Laute“, antwortete Nimmerklug.
„Rute und Laute reimen sich nicht.“
„Warum nicht? Sie haben doch die gleiche Endung.“
„Das genügt nicht“, sagte Blüte. „Die Worte müssen sich ähneln, damit es
harmonisch klingt. Hör zu: Rute – Schnute, Kohle – Sohle, Bücher – Tücher.“
„Kapiert, kapiert!“ schrie Nimmerklug. „Rute – Schnute, Kohle – Sohle, Bücher
– Tücher. Prima, ha-ha-ha!“
„Gut, dann suche jetzt einen Reim auf das Wort Hornisse“, sagte Blüte.
„Burisse!“ antwortete Nimmerklug.
„Gibt es überhaupt so ein Wort?“ fragte Blüte erstaunt.
„Etwa nicht?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Na, dann Gerisse!“
„Was bedeutet denn Gerisse?“ fragte Blüte genauso erstaunt.
„Wenn etwas zerreißt, dann gibt es Gerisse“, erklärte Nimmerklug.
„Das ist Unsinn“, rief Blüte. „So ein Wort existiert überhaupt nicht. Man muß
Wörter auswählen, die es gibt, und keine erfinden.“
„Aber wenn ich auf kein anderes Wort komme?“ „Dann besitzt du keine
dichterische Begabung.“ „Denke dir.doch selbst einen Reim zu diesem Wort
aus“, gab Nimmerklug zurück.
„Gleich“, sagte Blüte zustimmend.
Er stellte sich mitten ins Zimmer, die Arme über der Brust verschränkt, den
Kopf zur Seite geneigt, und dachte nach. Dann legte er den Kopf in den Nacken,
starrte zur Decke empor und dachte weiter. Darauf griff er sich grübelnd ans
Kinn und schaute zu Boden. Schließlich ging er im Zimmer auf und ab und
murmelte dabei vor sich hin: „Hornisse – Sornisse, Wornisse, Kornisse, Pornisse
…“ Lange dauerte dieses Gemurmel. Endlich sagte er: „Puh! Das ist ein Wort,
auf das es keinen Reim gibt.“
„Na bitte!“ triumphierte Nimmerklug. „Du gibst mir Wörter auf, zu denen
kein Reim existiert, und dann sagst du, ich sei unbegabt.“
„Von mir aus kannst du so begabt sein, wie du willst, aber laß mich in Ruhe“,
antwortete Blüte. „Ich habe Kopfschmerzen. Du mußt dichten, daß es Sinn und
Reim hat. Dann bekommst du Verse.“
„So einfach ist das?“ fragte Nimmerklug verwundert.
„Selbstverständlich. Hauptsache – man besitzt Talent.“
Nimmerklug ging heim und begann sogleich, Verse zu schmieden. Den
ganzen Tag rannte er im Zimmer auf und ab, starrte zu Boden und dann wieder
zur Decke empor, griff sich ans Kinn und murmelte vor sich hin. Schließlich
waren die Verse fertig, und er sagte:
„Hört, Freunde, was ich für Verse gedichtet habe.“
„Na, wovon handeln sie denn?“ fragten die Knirpse neugierig.
„Ich habe euch angedichtet“, bekannte Nimmmerklug. „Zuerst die Verse über
Immerklug:
Immerklug am Fluß ich traf, er sprang gerade übern Schaf:“
„Was?“ schrie Immerklug. „Wann bin ich über ein Schaf gesprungen?“
„Das sagt man nur so in einem Gedicht – damit es sich reimt“, erklärte
Nimmerklug.
„Damit es sich reimt, denkst du dir alle möglichen Lügen über mich aus?“
Immerklug kochte vor Zorn.
„Natürlich!“ antwortete Nimmerklug. „Warum sollte ich mir die Wahrheit
ausdenken? Die Wahrheit braucht man sich nicht auszudenken, die gibt es
sowieso.“
„Wenn du das noch einmal probierst, kannst du etwas erleben“, drohte
Immerklug. „Und was hast du dir über die anderen ausgedacht?“
„Jetzt kommt das Gedicht über Rennefix“, sagte Nimmerklug.
„Als Rennefix mal hungrig war, aß er ein kaltes Bügeleisen gar.“
„Freunde“, schrie Rennefix, „er spinnt ja! Ich habe noch niemals ein kaltes
Bügeleisen gegessen.“ „Schrei doch nicht“, versuchte Nimmerklug ihn zu
beruhigen. „Ich habe doch nur wegen des Reimes gesagt, daß das Bügeleisen
kalt war.“
„Ich habe noch nie ein Bügeleisen gegessen, weder ein kaltes noch ein
heißes“, schrie Rennefix. „Von einem heißen war gar nicht die Rede“, antwortete
Nimmerklug. „Jetzt sollt ihr das Gedicht über Schnurz hören!
Unter Schnurzens weißem Kissen liegt ein süßer Leckerbissen.“
Schnurz lief zu seinem Bett, schaute unter das Kissen und stellte fest: „Hier
liegt gar kein Leckerbissen.“ „Du hast auch keine Ahnung von Poesie“, gab
Nimmerklug zurück. „Es wird doch nur um des Reimes willen gesagt, daß da
etwas liegt. Nun habe ich noch ein Gedicht über Rizinus verfaßt.“ „Freunde“,
protestierte Doktor Rizinus, „wollen wir uns ruhig anhören, was er alles über uns
zusammengelogen hat?“
„Nein, Schluß damit!“ schrien. die Knirpse. „Das sind keine Gedichte,
sondern Beleidigungen.“ Nur Immerklug, Rennefix und Schnurz riefen: „Laßt
ihn doch weiterlesen! Hat er unsere Verse aufgesagt, soll er auch die der anderen
vortragen.“
„Nein, das wollen wir nicht!“ riefen die anderen. „Gut, wenn ihr durchaus
nicht wollt, werde ich sie eben den Nachbarn vorlesen“, meinte Nimmerklug.
„Was? Du willst auch noch zu den Nachbarn gehen und uns mit Schimpf und
Schande bedecken? Wenn du das wagst, dann laß dich nicht mehr blicken.“ „Ich
tu es nicht, Freunde.“ Nimmerklug gab nach. „Ihr dürft mir aber jetzt nicht mehr
böse sein.“ Seit dieser Zeit schrieb Nimmerklug keine Gedichte mehr.
Nimmerklugs Fahrt mit dem Brauseauto
Der Mechaniker Schraubschnell und sein Gehilfe Schraubstift waren tüchtige
Handwerker. Sie sahen einander sehr ähnlich, nur daß Schraubschnell ein wenig
größer und Schraubstift ein wenig kleiner war. Beide trugen Lederjacken; aus
ihren Taschen guckten immer Schraubenschlüssel, Zangen, Feilen und andere
Werkzeuge hervor. Wären die Jacken nicht aus Leder gewesen, so Würden sie
schon längst zerrissen sein. Ihre Mützen waren ebenfalls aus Leder.
Schutzbrillen saßen darauf. Die Brillen benutzten Schraubschnell und
Schraubstift bei der Arbeit, um ihre Augen zu schützen.
Tagelang saßen die beiden in der Werkstatt und reparierten Primuskocher,
Töpfe, Teekessel und Bratpfannen. Wenn nichts mehr zu reparieren war, bauten
sie Dreiräder und Zweiräder für die Knirpse.
Eines Tages schlossen sich Schraubschnell und Schraubstift in ihrer Werkstatt
ein und begannen zu basteln. Einen ganzen Monat sägten, hobelten, nieteten und
löteten sie, und niemand durfte ihnen dabei zusehen. Als der Monat herum war,
stellte sich heraus, daß sie ein Auto konstruiert hatten.
Dieses Auto wurde mit Saftbrause betrieben. Für den Fahrer war ein Sitz
eingebaut: davor stand der Tank mit der Brause. Das Kohlensäuregas stieg durch
ein Rohr in den Kupferzylinder, wo sich ein Eisenkolben befand. Unter dem
Gasdruck bewegte sich der Eisenkolben auf und nieder und drehte dadurch die
Räder. Über dem Fahrersitz war der Saftbehälter angebracht. Der Saft wurde
durch ein Rohr in den Tank geleitet und diente zum Schmieren des Motors. In
Blumenstadt gab es viele Brauseautos. Das Auto aber, das Schraubschnell und
Schraubstift konstruiert hatten, wies eine überaus wichtige Verbesserung auf: An
der einen Seite des Tanks war ein Gummischlauch mit Hahn befestigt, aus dem
man während der Fahrt Brause trinken konnte, ohne das Auto anzuhalten.
Rennefix lernte Auto fahren, und wenn jemand Lust zu einer Autotour hatte,
fuhr Rennefix ihn spazieren. Es gab keinen, dem er es abschlug.
Von allen Knirpsen liebte Saftschleck das Autofahren am meisten, weil er
dabei so viel Saftbrause trinken konnte, wie sein Herz begehrte. Nimmerklug
war ebenfalls für Autotouren, und Rennefix nahm ihn häufig mit. Aber
Nimmerklug wollte selbst lernen, das Auto zu steuern, und deshalb bat er
Rennefix: „Bring mir das Autofahren bei.“
„Ausgeschlossen“, antwortete Rennefix. „Dazu muß man was vom Motor
verstehen.“
„Was gibt es da zu verstehen“, widersprach Nimmerklug. „Ich habe dir beim
Fahren zugesehen. Du faßt an einen Hebel und drehst das Steuer. Das ist doch
ganz einfach.“
„Es sieht nur so einfach aus, in Wirklichkeit ist es schwierig. Du kannst dabei
ums Leben kommen und das Auto entzweimachen.“
„Na schön, Rennefix“, erklärte Nimmerklug beleidigt. „Wenn du mich eines
Tages um etwas bitten solltest, werde ich es dir auch verweigern.“
Als Rennefix einmal nicht daheim war, kletterte Nimmerklug in das Auto, das
gerade auf dem Hof stand. Er riß an den Hebeln und drückte auf die Pedale.
Zuerst passierte nichts, aber dann fauchte der Motor plötzlich auf, und das Auto
setzte sich in Bewegung. Erst jetzt sahen die Knirpse, was los war, und rannten
aus dem Haus.
„Was machst du da?“ schrien sie. „Du wirst dich umbringen!“
„Ich bringe mich nicht um“, gab Nimmerklug zurück und fuhr auch schon
gegen die Hundehütte, die mitten auf dem Hof stand.
Krach! Die Hundehütte zersplitterte. Nur gut, daß Bimmel noch rechtzeitig
herausgesprungen war, Nimmerklug hätte ihn totgequetscht.
„Da siehst du, was du angerichtet hast“, rief Immerklug. „Halte sofort das
Auto an!“
Nimmerklug erschrak und zog einen Hebel, um das Auto anzuhalten. Doch
das Auto fuhr noch schneller. Eine Laube kam ihm in den Weg. Bums! Krach!
Nimmerklug wurde über und über mit Splittern bedeckt. Ein Brett traf ihn in den
Rücken, ein anderes stieß ihn ins Genick. Nimmerklug packte das Steuer und
drehte. Das Auto raste im Hof herum, und Nimmerklug schrie, so laut er konnte:
„Freunde, öffnet das Tor! Sonst mache ich alles auf dem Hof kaputt.“
Die Knirpse rissen das Tor auf; Nimmerklug fuhr vom Hof und raste die
Straße hinunter. Als die Blumenstädter den Lärm hörten, kamen sie von allen
Seiten herbeigelaufen.
„Vorsicht!“ schrie Nimmerklug und sauste weiter. Immerklug, Schnurz,
Schraubschnell, Doktor Rizinus und andere Knirpse rannten hinterher. Umsonst!
Sie konnten ihn nicht einholen.
Schließlich fuhr das Auto zum Fluß, kippte vom Abhang, überschlug sich und
stürzte in die Tiefe. Nimmerklug fiel heraus und blieb am Ufer liegen; das
Brauseauto versank im Wasser.
Immerklug, Schnurz, Schraubschnell und Doktor Rizinus hoben Nimmerklug
auf und trugen ihn heim. Alle glaubten, er sei tot.
Zu Hause legten sie ihn ins Bett; aber da schlug er die Augen auf und fragte:
„Freunde, lebe ich noch?“
„Freilich lebst du noch“, antwortete Doktor Rizinus. „Bleib bitte ruhig liegen,
ich muß dich untersuchen.“
Er zog Nimmerklug aus und untersuchte ihn: Dann sagte er: „Erstaunlich!
Alle Knochen sind heil; du hast eine Prellung und mehrere Splitter.“
„Das kommt von dem Brett, das mich in den Rücken getroffen hat“, meinte
Nimmerklug.
„Die Splitter müssen herausgezogen werden“, erklärte Rizinus und schüttelte
den Kopf.
„Tut das weh?“ fragte Nimmerklug erschrocken. „Nein, überhaupt nicht.
Komm, ich ziehe dir gleich den größten heraus.“
„Auuu!“ schrie Nimmerklug.
„Was hast du denn? Tat das vielleicht weh?“ Rizinus schien verwundert.
„Natürlich tat es weh.“
„Das bildest du dir nur ein.“
„Nein, das bilde ich mir nicht ein. Auaa! Auaa!“ „Was schreist du, als ob ich
dich schneide? Ich schneide dich doch nicht.“
„Es tut so weh! Erst sagst du, es tut nicht weh, und nun tut es doch weh.“
„Still, still! Ich muß dir nur noch einen einzigen Splitter herausziehen.“
„Au! Das brauchst du nicht! Das brauchst du nicht! Ich will den Splitter lieber
drinbehalten.“
„Das ist unmöglich. Er würde eitern.“
„Ui-ui-uii!“
„Schon fertig. Jetzt müssen wir nur noch Jod darüberstreichen.“
„Tut das weh?“
„Nein, Jod tut nicht weh. Bleib ruhig liegen.“ „Auaaa!“
„Brülle nicht! Mit dem Auto fährst du gern, aber Schmerzen aushalten willst
du nicht.“
„Au, das brennt so!“
„Das hört schon wieder auf. Jetzt bekommst du ein Fieberthermometer.“
„Nein, ich brauche kein Fieberthermometer! Das tut weh!“
„Ein Fieberthermometer tut doch nicht weh.“ „Immer sagst du, es täte nicht
weh, und hinterher tut es doch weh.“
„Dummkopf! Hast du denn noch niemals ein Fieberthermometer
bekommen?“
„Nein, noch nie.“
„Nun, gleich wirst du sehen, daß es nicht weh tut“, sagte Doktor Rizinus und
ging ins Nebenzimmer, um das Thermometer zu holen.
Nimmerklug hüpfte aus dem Bett, sprang durch das offene Fenster in den
Garten und rannte zu seinem Freund Joppe. Als Doktor Rizinus mit dem
Thermpmeter zurückkam, war Nimmerklug verschwunden.
Wie Immerklug einen Luftballon erfand
Immerklug war eine richtige Leseratte. In seinen Büchern hatte er von fernen
Ländern und vielen Reisen gelesen. Nach Feierabend erzählte er seinen
Freunden häufig, was in den Büchern stand. Die Knirpse mochten diese
Erzählungen gern. Von fernen, unbekannten Ländern konnten sie nicht genug
hören, doch am meisten interessierten sie sich für Geschichten über Reisende,
weil die viele Abenteuer erleben.
Nach solchen Geschichten träumten die Knirpse von einer eigenen Reise.
Einige meinten, am besten wäre ein Fußmarsch, andere wollten in Booten
fahren, aber Immerklug sagte: „Wißt ihr was, wir bauen einen Luftballon und
fliegen mit ihm weit fort.“
Dieser Vorschlag gefiel allen sehr. Natürlich wußte keiner, wie man
Luftballons macht, aber Jmmerklug sagte, er würde sich das gründlich überlegen
und es ihnen dann erklären.
Und Immerklug zerbrach sich drei Tage und drei Nächte lang den Kopf, bis er
darauf kam, den Luftballon aus Gummi anzufertigen. Die Knirpse verstanden es
Gummi zu gewinnen. In ihrer Stadt wuchsen Blumen, die Gummibäumen
ähnelten. Machte man am Stenge! dieser Blumen einen Einschnitt, dann quoll
Saft heraus. Der Saft wurde allmählich hart und verwandelte sich in Gummi, aus
dem man in Blumenstadt Fußbälle und Galoschen herstellte.
Die Knirpse mußten nun Gummisaft sammeln, für den Immerklug ein großes
Faß bereitstellte. Auch Nimmerklug half mit. Auf der Straße traf er seinen
Freund Joppe, der mit zwei Knirpselinen Tauspringen spielte.
„Hör doch, Joppe, was wir uns ausgedacht haben“, sagte Nimmerklug. „Du
wirst vor Neid platzen, wenn du es erfährst.“
„Ich platze nicht“, antwortete Joppe. „Ich habe nicht den geringsten Grund zu
platzen.“
„Doch du platzt bestimmt“, versicherte Nimmerklug. „Eine tolle Sache,
Mann!“
„Was für eine Sache denn?“ Joppe wurde nun doch neugierig.
„Wir machen einen Luftballon und fliegen damit auf die Reise.“
Joppe packte der Neid. Er wollte ebenfalls mit etwas prahlen, und deshalb
meinte er: „Ist ja bloß eine Luftblase. Aber ich! Ich habe mich mit zwei
Knirpselinen angefreundet.“
„Was für Knirpselinen?“
„Die da!“ Joppe zeigte auf die Knirpselinen. „Die eine heißt Sommersprosse
und die andere Pünktchen.“
Sommersprosse und Pünktchen waren in etniger Entfernung stehengeblieben
und beobachteten Nimmerklug mißtrauisch.
Nimmerklug sah sie von der Seite an und brummte: „Ach so! Ich denke, du
bist mit mir befreundet.“ „Das eine stört das andere nicht.“
„Ich glaube doch“, gab Nimmerklug zurück. „Wer sich mit Knirpselinen
anfreundet, ist selbst eine Knirpseline. Du mußt dich auf der Stelle mit ihnen
zanken.“
„Weshalb soll ich mich denn zanken?“
„Sonst zanke ich mich mit dir.“
„Das kannst du machen, wie du willst.“
„Jetzt bin ich mit dir böse, und deine Sommersprosse und dein Pünktchen
kriegen eine Wucht.“ Nimmerklug ballte die Fäuste und stürzte sich auf die
Knirpselinen. Joppe verstellte ihm den Weg und schlug ihn mit der Faust auf die
Stirn. Sommersprosse und Pünktchen liefen erschreckt davon. „Was haust du
mich wegen dieser Knirpselinen mit der Faust auf die Stirn?“ schrie
Nimmerklug und versuchte Joppe auf die Nase zu treffen .
„Und weshalb beleidigst du sie?“ fragte Joppe und fuchtelte mit den Fäusten
in der Luft herum.
„Da hat sich ja vielleicht ein Beschützer gefunden“, antwortete Nimmerklug
und trommelte seinem Freund so gewaltig auf dem Schädel herum, daß Joppe zu
Boden ging, wieder aufsprang und dann das Weite suchte.
„Ich bin böse mit dir“, schrie ihm Nimmerklug nach.
„Bitte sehr!“ rief Joppe. „Du wirst der erste sein, der sich wieder versöhnen
will.“
„Das erlebst du nicht. Wir fliegen jetzt mit dem Ballon auf die Reise.“
„Ihr fliegt höchstens vom Dach zur Erde.“
„Selber vom Dach zur Erde“, gab Nimmerklug zurück und ging weiter, um
Gummisaft zu sammeln. Als das Faß mit Gummisaft gefüllt war, mischte
Immerklug ihn gründlich durch, und Schraubschnell holte die Pumpe, mit der
sonst Autoreifen aufgeblasen wurden. An der Pumpe befestigte Immerklug einen
langen Gummischlauch, übergoß das Ende des Schlauches mit Gummisaft und
trug Schraubschnell auf, vorsichtig Luft hineinzupumpen. Schraubschnell
pumpte, und aus dem Gummisaft wurde eine Blase – genauso, wie aus
Seifenwasser Seifenblasen entstehen. Immerklug bestrich sie von allen Seiten
mit Gummisaft, und Schraubschnell pumpte unaufhörlich weiter. Die Blase
wurde allmählich größer und verwandelte sich in einen Ballon. Immerklug
schaffte es jetzt nicht mehr, ihn von allen Seiten gleichmäßig zu bestreichen. Er
bat, ihm beim Bestreichen zu helfen. Die Knirpse hatten alle Hände voll zu tun,
nur Nimmerklug spazierte umher und pfiff sich eins. Er schlug einen möglichst
großen Bogen um den Luftballon, betrachtete ihn von weitem und sagte immer
wieder: „Der Ballon wird platzen. Jetzt, jetzt platzt er! Uff!“ Doch der Ballon
platzte nicht, sondern wurde von Minute zu Minute größer. Bald war er so groß,
daß die Anstreicher auf den Nußstrauch klettern mußten.
Das Aufblasen dauerte zwei Tage und wurde erst eingestellt, ills der Ballon so
groß geworden war wie ein Haus. Nun band Immerklug das untere Rohr mit
einem Bindfaden ab, damit keine Luft aus dem Ballon entweichen konnte, und
sagte: „Jetzt muß der Luftballon trocknen. Wir nehmen uns inzwischen eine
andere Arbeit vor.“
Er band den Ballon mit einem Strick am Nußbaum fest, damit der Wind ihn
nicht davontreiben konnte, und teilte die Knirpse dann in zwei Gruppen ein. Die
erste Gruppe sammelte Seidenkokons, spulte sie ab und drehte Fäden. Aus
diesen Fäden sollte ein riesengroßes Netz geknüpft werden. Die zweite Gruppe
flocht aus dünner Birkenrinde einen großen Korb.
Während Immerklug und seine Freunde fleißig arbeiteten, kamen die
Einwohner von Blumenstadt herbei und betrachteten den gewaltigen Ballon, der
an den Nußstrauch gebunden war. Jeder wollte den Ballon betasten, und einige
versuchten sogar, ihn hochzuheben.
„Wie leicht er ist“, sagten sie. „Man kann ihn ohne weiteres hochheben.“
„Leicht ist er wohl, aber ich glaube nicht, daß er fliegen wird“, meinte der
Knirps Trampel.
„Weshalb denn nicht?“ fragte Pünktchen.
„Wenn er fliegen könnte, würde er jetzt hochsteigen. Aber er liegt bloß auf
der Erde“, antwortete Trampel.
Die Knirpse wurden nachdenklich.
„Hm, hm“, brummten sie. „Der Ballon ist leicht, aber trotzdem zu schwer.
Wie soll er da fliegen?“ Sie erkundigten sich bei Immerklug, doch Immerklug
sagte nur: „Bald werdet ihr es mit eigenen Augen sehen.“
Weil Immerklug den Knirpsen nichts erklärte, zweifelten sie nur noch mehr.
Trampel ging durch die ganze Stadt und verbreitete unsinnige Gerüchte.
Schließlich glaubte niemand mehr an den Plan. Alle lachten, gingen zu
Immerklugs Häuschen, guckten über den Zaun und spotteten: „Seht nur, seht! Er
fliegt, hahaha!“
Doch Immerklug kümmerte sich nicht um die Spötter. Sobald das Seidennetz
fertig war, befahl er, es über den Ballon zu werfen.
„Seht“, schrien die Knirpse hinter dem Zaun, „der Ballon wird mit einem
Netz eingefangen. Sie haben Angst, er könnte davonfliegen. Hahahaha!“
Jetzt befahl Immerklug, das Netz, in dem der Ballon war, mit einem Strick
zusammenzuhalten und ihn an einem Ast des Nußstrauches hochzuziehen.
Rennefix und Schraubschnell kletterten auf den Strauch und zogen den Ballon
hoch. Das amüsierte die Zuschauer außerordentlich.
Nachdem der Ballon hochgezogen war, hingen vier Zipfel vom Netz herunter,
und Immerklug befahl, den Korb aus Birkenrinde daran zu befestigen. Es war
ein viereckiger Korb. An jeder Seite hatten die Knirpse eine Bank angebracht,
auf der viere von ihnen sitzen konnten.
Dann erklärte Immerklug, daß der Luftballon fertig wäre. Rennefix glaubte,
sie könnten schon einsteigen, aber Immerklug sagte, daß vorher noch
Fallschirme angefertigt werden müßten.
„Weshalb denn?“ fragte Nimmerklug.
„Wenn der Luftballon platzt, müssen wir mit dem Fallschirm abspringen.“
Am nächsten Tag zeigte Immerklug seinen Freunden, wie man aus den
Pusteflöckchen des Löwenzahns Fallschirme macht.
Als die Stadtbewohner den Ballori regungslos am Ast hängen sahen, fingen
sie wieder an zu tuscheln. „Der bleibt hängen, bis er platzt. Zum Fliegen kommt
er sowieso nicht.“
„Na, warum fliegt ihr denn nicht?“ schrie einer hinter dem Zaun hervor.
„Nur keine Sorge“, entgegnete Immerklug. „Morgen früh um acht Uhr starten
wir.“
Viele lachten, aber einige Spötter wurden doch unsicher.
„Vielleicht fliegen sie wirklich“, sagten sie. „Morgen früh kommen wir
unbedingt her und sehen es uns an.“
Reisevorbereitungen
Am hächsten Morgen weckte Immerklug seine Freunde in aller Frühe. Sie
wurden auch sogleich munter und rüsteten sich für die Reise. Schraubschnell
und Schraubstift zogen ihre Lederjacken an. Der Jäger Bums fuhr in seine
geliebten Stiefel. Die Schäfte gingen ihm bis übers Knie und wurden oben mit
Schnallen festgehalten; sie waren zum Reisen sehr bequem. Rennefix legte sein
„Blitzkostüm“ an. Was das ist? Nun, Rennefix war stets in Eile, er haßte jede
Zeitverschwendung und hatte sich deshalb einen Spezialanzug konstruiert, an
dem es keinen einzigen Knopf gab. Bekanntlich verliert man beim An- und
Ausziehen die meiste Zeit mit dem Zu- und Aufknöpfen. Bei Rennefixens
Anzug waren Jacke und Hose nicht getrennt, sondern ein Ganzes- so ähnlich wie
bei einer Kombination. Über dem Kopf wurde er mit einem Druckknopf
geschlossen. Knipste man den Druckknopf auf, so rutschte der Anzug von den
Schultern und fiel blitzschnell nieder.
Nach seinem besten Anzug griff auch Nudeldick. Er schätzte vor allem die
Taschen. Je mehr Taschen in einem Anzug waren, für um so besser hielt
Nudeldick ihn. Sein bester Anzug wies siebzehn Taschen auf. Die Jacke hatte
zehn Taschen: zwei Brusttaschen, zwei schräge Taschen auf dem Bauch, zwei
Seitentaschen, drei Innentaschen und eine Geheimtasche auf dem Rücken. In den
Hosen waren zwei Vordertaschen, zwei Rückentaschen, zwei Seitentaschen und
eine Tasche auf dem Knie.
Saftschleck zog einen karierten Anzug an. Er trug immer karierte Anzüge.
Seine Hose war kariert, seine Jacke war kariert, und seine Mütze war kariert.
Wenn die Knirpse ihn von weitem erblickten, sagten sie: „Guckt mal, da kommt
das Schachbrett!“
Schnurz zog seinen Schianzug an, denn er glaubte, das wäre zum Reisen sehr
bequem. Pipe wählte eine gestreifte Strickjacke und gestreifte Gamaschen. Um
den Hals wickelte er einen gestreiften Schal. Von weitem sah er aus wie eine
gestreifte Matratze. Überhaupt putzten sich alle so schön heraus wie möglich,
nur Schussel, der seine Sachen nie aufräumte, konnte beim besten Willen seine
Jacke nicht finden. Ebensowenig war die Mütze aufzutreiben, sosehr er auch
suchte. Schließlich fand er unter dem Bett wenigstens seine Winterkappe mit den
Ohrenschützern.
Farbenklecks hatte beschlossen, alles zu malen, was er auf der Reise sehen
würde. Vorsorglich packte er Farben und Pinsel in den Korb des Luftballons.
Geigenstrich wollte die Flöte mitnehmen. Doktor Rizinus schleppte seine
Feldapotheke herbei und verstaute sie unter einer Bank. Das war sehr wichtig,
denn während der Reise konnte doch jemand erkranken.
Schon lange vor sechs hatte sich fast ganz Blumenstadt um den Luftballon
versammelt. Viele Zuschauer waren auf Zäune und Hausdächer gestiegen.
Als erster kletterte Rennefix in den Korb und suchte sich den bequemsten
Platz aus. Ihm folgte Nimmerklug .
„Seht doch“, riefen die Zuschauer, „sie steigen schon ein.“
„Wozu klettert ihr in den Korb?“ fragte Immerklug. „Kommt nur wieder
heraus, es ist noch zu früh. Der Ballon muß doch vorher mit warmer Luft gefüllt
werden.“
„Wieso denn mit warmer Luft?“ fragte Rennefix. „Weil warme Luft leichter
ist als kalte und immer nach oben steigt. Wenn wir den Ballon mit warmer Luft
füllen, wird sie ihn nach oben ziehen“, erklärte Immerklug.
„Oh, dann brauchen wir die warme Luft wirklich.“ Enttäuscht kletterten
Nimmerklug und Rennefix aus dem Korb.
„Seht“, rief jemand vom Dach des Nachbarhauses, „sie steigen wieder aus.
Sie haben sich’s wohl überlegt.“
„Natürlich fliegen sie nicht“, kam es von einem anderen Dach zurück. „Sie
machen uns ja nur blauen Dunst vor.“
Inzwischen hatte Immerklug den Knirpsen befohlen, Säcke mit Sand zu füllen
und sie im Korb unterzubringen. Sogleich schaufelten Rennefix, Schweigestill
und Schnurz Sand in Säcke und schleppten sie zum Korb.
„He, wozu braucht ihr die Sandsäcke?“ rief Trampel, der rittlings auf dem
Zaun saß.
„Um euch den Sand auf den Kopf zu schütten, wenn wir aufsteigen“,
erwiderte Nimmerklug. Er wußte natürlich auch nicht, wozu die Säcke dienen
sollten.
„Steigt erst mal auf!“ schrie Trampel.
Der Knirps Murkel, der neben Trampel auf dem Zaun saß, meinte:
„Wahrscheinlich haben sie Angst, selbst zu fliegen, und wollen nur die
Sandsäcke aufsteigen lassen.“
Ringsum wurde gelacht.
„Der Ballon wird sowieso nicht fliegen.“
„Vielleicht fliegt er doch“, sagte eine der Knirpselinen, die durch die
Zaunritzen spähten.
Während die Zuschauer sich stritten, ließ Immerklug im Hof ein Feuer
anzünden, und alle sahen, daß Schraubschnell und Schraubstift einen großen
Kupferkessel aus ihrer Werkstatt holten und über das Feuer hängten. Sie hatten
ihn schon vor längerer Zeit angefertigt, um darin Luft zu wärmen. Auf dem
Kessel war ein festschließender Deckel mit einer Öffnung. Seitlich war eine
Pumpe angebracht, die Luft in den Kessel pumpte. Dort wurde sie erwärmt und
entwich, wenn sie heiß war, durch die Öffnung im Deckel.
„Wahrscheinlich wollen sie Suppe kochen und vor der Reise noch gründlich
frühstücken“, meinte eine Knirpseline, die Kamilla hieß.
„Was denn sonst“, erwiderte Murkel. „Du würdest dich wahrscheinlich dick
und dumm essen, wenn du auf eine so weite Reise gehen wolltest.“ „Vielleicht
ist es das letzte Mal …“
„Wieso?“
„Nun, sie essen, fliegen davon, der Ballon platzt, und sie stürzen ab.“
„Hab nur keine Bange“, rief Trampel dazwischen.
„Wenn er platzen soll, muß er erst mal fliegen. Er aber liegt hier schon eine
ganze Woche lang herum.“
„Aber jetzt wird er fliegen“, widersprach Sommersprosse, die zusammen mit
Pünktchen gekommen war.
Es dauerte nicht lange, da brach unter den Zuschauern ein hitziger Streit aus.
Sagte der eine, der Ballon würde fliegen, widersprach ihm sofort ein anderer und
meinte, er würde nicht fliegen. Zwei Knirpseriebe prügelten sich auf einem
Dach. Nur mit Müh und Not konnten sie durch Wassergüsse getrennt werden.
Inzwischen war die Luft im Kessel warm genug, und Immerklug stellte fest,
daß es Zeit war, den Ballon mit heißer Luft zu füllen. Erst mußte aber die kalte
Luft aus dem Ballon herausgelassen werden. Immerklug löste den Bindfaden,
der den Gummischlauch zusammenpreßte. Laut zischend entwich die kalte Luft
aus dem Ballon, der sehr schnell kleiner wurde. Er bekam Runzeln wie eine
getrocknete Birne und verschwand im Korb. Dort, wo der fiesengroße Ballon
gewesen war, stand jetzt nur noch der Korb, den das Netz bedeckte.
Als das Zischen verstummte, erscholl einstimmiges Gelächter. Joppe,
Nimmerklugs Freund, lachte so sehr, daß er vom Dach fiel und sich eine Beule
schlug. Sofort erschien Doktor Rizinus und rieb ihm die Beule mit Jod ein.
„So sieht der Flug aus“, schrien die Zuschauer. „Das ist also Immerklugs
Ballon!“
Aber Immerklug kümmerte sich nicht um den Spott. Er verband Kessel und
Ballon durch einen langen Schlauch und befahl, die Pumpe in Gang zu setzen,
die am Kessef angebracht war. In den Kessel drang frische Luft ein, und die
erwärmte Luft strömte durch das Rohr in den Ballon. Der Ballon unter dem Netz
wurde immer größer – nun füllte er schon den Korb.
Die Zuschauer_ amüsierten sich köstlich. „Seht doch, seht! Sie blasen ihn
wieder auf, die Dummköpfe!“ Niemand glaubte mehr, daß der Ballon fliegen
würde. Inzwischen wurde er aber noch größer, glitt aus dem Korb und blieb
darauf liegen wie eine riesengroße Melone auf einer Schüssel. Plötzlich merkten
alle, daß sich der Ballon aus eigener Kraft langsam in die Höhe hob und das
Netz spannte, das am Korb befestigt war. Die Knirpse sperrten vor Erstaunen
Mund und Nase auf.
„Hurra!“ rief Kamilla und klatschte in die Hände. „Brüll nicht“, fuhr Trampel
sie an.
„Er fliegt doch!“
„Siehst du denn nicht, daß er am Korb festgebunden ist? Wie soll er den Korb
heben, wenn erst noch die Knirpse drin sitzen.“
Da merkte Trampel, daß der Ballon, der inzwischen noch größer geworden
war, immer höher stieg und den Korb von der Erde hob. Trampel schrie, so laut
er konnte: „Haltet ihn, haltet ihn! Er fliegt doch weg. Was macht ihr denn da?“
Aber der Ballon flog nicht davon, denn der Korb war am Nußstrauch
befestigt.
„Hurra!“ klang es jetzt von allen Seiten. „Hurra, es lebe Immerklugs
Luftballon! Womit sie ihn wohl aufgeblasen haben? Wahrscheinlich mit Dampf.“
Jetzt waren alle überzeugt, daß der Ballon fliegen würde.
Der Abflug
Endlich war genug warme Luft im Ballon. Der Kessel wurde wieder abgebaut,
und Immerklug band den Gummischlauch eigenhändig mit einem Bindfaden zu,
damit die warme Luft nicht mehr aus dem Ballon entweichen konnte. Danach
forderte er die Passagiere auf, in den Korb zu steigen. Zuerst kletterte Rennefix
hinein, ihm folgte Nudeldick, der den anderen beinahe auf den Kopf geplumpst
wäre. Er war kugelrund, sämtliche Taschen hatte er sich mit Zuckerstücken und
Backwerk vollgestopft Außerdem wollte er für alle Fälle Galoschen und einen
Regenschirm mitnehmen. Dann kletterten die übrigen Knirpse hinein.
Sacharinus Saftschleck rannte geschäftig um den Korb herum und half beim
Einsteigen.
„Setzt euch nur immer hin“, sagte er, „macht es euch bequem.“
„Steig doch auch ein“, riefen die Knirpse.
„Ich komme noch zurecht“, antwortete Saftschleck. Er war äußerst hilfsbereit
und schob jedesmal von unten nach, wenn einer in den Korb kletterte.
Schließlich saßen alle im Korb. Nur Saftschleck stand noch draußen.
„Weshalb steigst du nicht ein?“ wurde er gefragt. „Vielleicht ist es besser,
wenn ich hierbleibe“, meinte Saftschleck. „Ich bin so dick. Ihr sitzt auch ohne
mich schon zu eng. Ich werde euch hier erwarten.“
„Es ist Platz genug“, antwortete Immerklug. „Steig ein. Wir haben den Flug
nun einmal beschlossen, also fliegen wir auch gemeinsam.“
Widerstrebend kletterte Saftschleck in den Korb. Aber kaum war er drin, da
sank der Ballon zu Boden. Saftschleck, der Angst vor dem Flug hatte, freute
sich.
„Na bitte, ich habe es doch gleich gesagt, daß ich eine Überlastung
verursache. Ich will lieber wieder aussteigen.“
Mit einem Bein war er schon draußen, da warf Immerklug einen Sandsack
aus dem Korb. Sofort stieg der Luftballon wieder hoch. Jetzt begriffen alle, wozu
Immerklug die Sandsäcke in den Korb hatte bringen lassen. Sie klatschten
Beifall. Immerklug aber hob die Hand und hielt eine Rede. „Auf Wiedersehn,
Freunde!“ rief er. „Wir fliegen in ferne Länder. Nächste Woche kehren wir
zurück. Auf Wiedersehn!“
Er holte ein Federmesser aus der Tasche und durchschnitt den Strick, mit dem
der Korb an den Strauch gebunden war. Der Ballon schwang sich leicht in die
Luft, blieb an einem Ast des Nußstrauches hängen, machte sich aber sogleich
wieder los und stieg dann schnell empor.
„Hurra!“ riefen die Knirpse. „Hoch Immerklug und seine Kameraden,
hurraaa!“
Alle klatschten und warfen ihre Hüte in die Luft. Die Knirpselinen umarmten
einander vor Freude. Sommersprosse und Pünktchen küßten sich sogar, aber
Margarita brach in Tränen aus.
Indessen stieg der Luftballon immer höher. Der Wind trug ihn davon. Bald
hatte er sich in einen winzigen Fleck verwandelt, der am blauen Himmel kaum
noch zu erkennen war. Linse kletterte auf das Dach und beobachtete den Fleck
durch sein Fernrohr. Neben ihm, am äußersten Rand des Daches, stand der
Dichter Blüte. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt, sah auf den
allgemeinen Jubel hinabund dachte offenbar über etwas nach. Plötzlich breitete
er die Arme weit aus und rief, so laut er konnte: „Ein Gedicht! Hört mein
Gedicht!“
Ringsum wurde es sogleich. still. Alle blickten zu Blüte empor.
Blüte wartete, bis vollständige Ruhe eingetreten war. Dann wies er auf den
entschwindenden Ballon, räusperte sich und wiederholte: „Ein Cicdicht.“ Und er
trug die Verse vor, die er eben erst verfaßt hatte:
„Der Luftballon, mit Dampf gefüllt, er steigt empor ins Luftgefild!
Gleicht unser Knirps auch nicht den Vögeln, so fliegt er doch auf
Windessegeln.
Und alles ist erreichbar, seht!
für unseres Geistes Majestät!“
Da gab es vielleicht einen Lärm! Alle klatschten Beifall. Ein paar
Knirpseriche zogen Blüte vom Dach und trugen ihn auf ihren Schultern nach
Hause, während die Knirpselinen Blumenblätter abrissen und sie über Blüte
warfen. Blüte wurde an diesem Tag so gefeiert, als hätte er den Luftballon
erfunden. Die Knirpse lernten seine Verse auswendig und sangen sie auf den
Straßen.
Lange noch schallte es an diesem Tag durch Blumenstadt:
„… Und alles ist erreichbar, seht! für unseres Geistes Majestät!“
Über den Wolken
Unsere kühnen Reisenden merkten gar nicht, daß der Luftballon aufgestiegen
war; so leicht hatte er sich von der Erde gelöst. Erst nach einer Minute schauten
sie aus dem Korb und erblickten in der Tiefe ihre Freunde, die ihnen zum
Abschied zuwinkten und die Hüte hochwarfen. Hurrarufe klangen herauf.
„Auf Wiedersehn!“ riefen Immerklug und seine Gefährten. Sie begannen
ebenfalls mit den Hüten zu winken. Auch Schussel wollte die Mütze abnehmen;
da merkte er, daß er gar keine aufhatte.
„Freunde!“ rief er. „Haltet den Luftballon an. Ich habe meine Mütze
vergessen.“
„Immer mußt du etwas vergessen“, brummte Brummer.
„Jetzt können wir den Ballon nicht mehr anhalten“, erklärte Immerklug. „Er
wird fliegen, bis die Luft in ihm abgekühlt ist, dann landen wir.“
„Was denn – soll ich ohne Mütze fliegen!“ Schussel war gekränkt.
„Du hattest deine Mütze doch unter dem Bett gefunden“, sagte Nudeldick.
„Gefunden wohl, aber ich habe sie auf den Tisch gelegt, weil mir zu warm
war, und dann im letzten Augenblick vergessen, sie aufzusetzen.“
„Immer vergißt du etwas im letzten Augenblick“, schalt Brummer.
„Seht doch, Freunde“, rief Nimmerklug plötzlich, „unser Haus ist unten
zurückgeblieben.“
Alle lachten, und Brummer fragte: „Du glaubtest wohl, das Haus würde mit
uns fliegen?“
„Das habe ich überhaupt nicht geglaubt“, gab Nimmerklug beleidigt zurück.
„Wenn ich sehe, daß unser Haus da unten steht, dann kann ich das auch sagen.
Früher haben wir in dem Haus gewohnt, und jetzt fliegen wir mit dem Luftballon
davon.“ „Fliegen wir eben“, brummte Brummer. „Wir werden schon irgendwo
landen.“
„Brumme nicht immer, Brummer“, entgegnete Nimmerklug. „Nicht einmal
im Luftballon hat man Ruhe vor dir.“
„Steig doch aus, wenn es dir nicht gefällt.“
„Wie denn?“
„Schluß jetzt!“ schrie Immerklug die Streithähne an. „Was soll der Zank!“
Der Luftballon stieg immer höher; wie auf einem Präsentierteller lag
Blumenstadt jetzt unter ihnen. Die Häuser sahen ganz winzig aus, und die
winkenden Knirpse waren überhaupt nicht mehr zu erkennen. Der Ballon wurde
vom Wind davongetragen, und bald war die Stadt ihren Blicken entschwunden.
Immerklug holte einen Kompaß aus der Tasche und stellte die Richtung fest,
in die der Luftballon trieb. Ein Kompaß ist eine kleine Metalldose mit einer
Magnetnadel, die ständig nach Norden zeigt. Wenn man sie beobachtet, kann
man immer den Rückweg finden. Deshalb hatte Immerklug den Kompaß auch
mitgenommen.
„Der Wind treibt uns genau nach Norden“, erklärte Immerklug. „Wir müssen
also nach Süden zurückkehren.“
Der Luftballon war bereits sehr hoch gestiegen. Tief unten lagen Wiesen, der
Wald und Felder, durch die sich der Gurkenfluß wie ein schmales Band
schlängelte. Die Bäume sahen wie zerzauste Sträucher aus.
Plötzlich bemerkte Nudeldick einen dunklen Fleck. Er glitt so schnell über
die Erde, als liefe er dem Luftballon nach.
„Seht, Freunde, da läuft uns jemand nach“, rief Nudeldick.
Alle betrachteten den Fleck.
„Guckt, jetzt ist er über den Bach gesprungen“, schrie Schussel.
„Wer kann das sein?“ fragte Rennefix. „Schaut, nun hüpft er über die
Bäume.“
Der• Luftballon flog gerade über einen Wald. Der Fleck glitt über die
BaumwipfeL Doktor Rizinus klemmte sich den Zwicker auf die Nase, aber er
konnte trotzdem nicht feststellen, wer das war. „Ich weiß“, rief Nimmerklug
plötzlich. „Ich habe es zuerst erkannt. Das ist Bimmel. Wir haben vergessen,
Bimmel mitzunehmen, und nun läuft er hinter uns her.“
„Ach wo“, widersprach Bums. „Bimmel ist doch hier. Da sitzt er bei mir
unter der Bank.“ Immerklug steckte den Kompaß weg und blickte in die Tiefe.
„Das ist unser Schatten“, sagte er und mußte lachen.
„Unser Schatten?“ die Knirpse staunten sehr. „Ganz einfach. Wir fliegen
durch die Luft, und der Schatten des Ballons gleitet über die Erde.“
Lange beobachteten sie den Schatten, der allmählich immer kleiner wurde.
Schließlich war er verschwunden.
„Wo ist der Schatten hingeraten?“ fragten die Knirpse besorgt.
„Wir sind zu hoch gestiegen“, erklärte Immerklug. „Jetzt können wir den
Schatten nicht mehr erkennen.“
„So eine Unordnung“, brummte Brummer vor sich hin. „Da sitzt man nun
und kann seinen eigenen Schatten nicht sehen.“
Inzwischen war der Luftballon in eine Art Rauch oder Nebel getrieben
worden. Die Erde in der Tiefe war verschwunden. Weiße Vorhänge schienen
ringsum zu hängen.
„Woher kommt der Rauch?“ riefen die Knirpse. „Das ist kein Rauch“,
erklärte Immerklug. „Das ist eine Wolke. Wir sind bis zu den Wolken
emporgestiegen und fliegen jetzt hindurch.“
„Du spinnst wohl“, widersprach Nimmerklug. „Wolken sind etwas Flüssiges
– so wie Haferbrei; dies hier ist Nebel.
„Eine Wolke besteht doch aus Nebel“, erklärte Immerklug. „Es sieht nur von
weitem so aus, als sei sie ein fester Körper.“
Doch Nimmerklug ließ sich davon nicht überzeugen. „Hört nicht auf ihn,
Freunde! Das hat er sich nur ausgedacht, um mit seinen Kenntnissen zu prahlen.
Ich soll ihm glauben, eine Wolke bestünde aus Nebel! Wolk.en sind Brei. Als ob
ich noch niemals Brei gegessen hätte!“
Der Luftballon stieg noch höher. Er tauchte aus den Wolken auf und schwebte
nun über ihnen. Nimmerklug blickte aus dem Korb und sah, daß die Wolken
unter ihm waren. Sie bildeten eine dichte Decke und verbargen die Erde.
„So etwas!“ schrie Nimmerklug. „Unter uns ist der Himmel. Wir fliegen
verkehrt herum.“ .
„Wieso denn verkehrt herum?“ fragten die anderen erstaunt.
„Seht doch: zu unseren Füßen ist der Himmel. Das heißt, wir stehen kopf.“
„Wir schweben über den Wolken“, erklärte Immerklug, „deshalb sind die
Wolken unter uns.“ Aber Nimmerklug ließ sich auch jetzt nicht überzeugen. Er
hielt mit beiden Händen krampfhaft seine Mütze fest, er glaubte, sie würde ihm
vom Kopf fallen, weil er doch verkehrt herum – mit dem Kopf nach unten –
flog.
In schneller Fahrt wurde der Ballon vom Wind über die Wolken getrieben.
Bald aber merkten die Knirpse, daß der Ballon zu sinken begann.
„Warum sinken wir?“ fragten sie beunruhigt.
„Die Luft im Ballon kühlt sich ab“, erklärte Immerklug.
„Wir werden also jetzt landen?“ wollte Rennefix wissen.
„Wozu haben wir denn die Sandsäcke mitgenommen? Wenn wir sie aus dem
Korb werfen, steigen wir wieder.“
Mit schnellem Griff packte Schnurz einen Sandsack und warf ihn hinaus.
„Was machst du da?“ schrie Immerklug. „Du darfst doch keinen ganzen Sack
hinauswerfen! Er kann jemandem auf den Kopf fallen.“
„Ist doch schnurz“, antwortete Schnurz.
„Ist gar nicht schnurz“, schalt Immerklug. „Wir müssen den Sack aufbinden
und den Sand ausschütten.“
„Das will ich gleich machen“, sagte Pipe.
Er band den nächsten Sack auf und schüttete den Sand in den Korb.
„Einer klüger als der andere.“ Immerklug schüttelte den Kopf. „Was hat das
Ganze für einen Sinn, wenn der Sand im Korb bleibt? Dadurch wird der Ballon
nicht leichter.“
„Ist ja pipe, dann schippe ich den Sand eben raus“, erwiderte Pipe und begann
den Sand mit den Händen aus dem Korb zu werfen.
„Paß doch auf!“ rief Schussel. „Sonst triffst du mich ins Auge.“
„Ist ja pipe“, meinte Pipe, und im gleichen Augenblick hatte er Schussel auch
schon ins Auge getroffen.
Die anderen Knirpse schalten Pipe aus, Schnurz aber zog ein Messer hervor
und schnitt in den Boden des Korbes ein großes Loch, durch das der Sand
ablaufen sollte. Als Immerklug das sah, rief er: „Halt, was tust du da? Du wirst
es noch so weit bringen, daß der Korb auseinanderbricht und wir alle
hinausfallen.“
„Ist doch schnurz“, gab Schnurz zurück.
„Ihr beide kennt nichts als schnurz und pipe“, schimpfte Immerklug und
nahm Schnurz das Messer weg.
Durch das Loch rann der Sand aus dem Korb; die Belastung des Luftballons
verringerte sich, und er stieg wieder. Zufrieden blickten die Knirpse in die Tiefe.
Sie freuten sich, daß der Korb aufwärts schwebte. Nur Brummer, der immer mit
irgend etwas unzufrieden war, brummte: „Was ist das für eine Sache – mal
abwärts und mal aufwärts? Ein richtiger Luftballon fliegt doch nicht so.“
Da fiel sein Blick auf Nudeldick, der Schweigend an einem Zuckerstück
knabberte.
„Was lutschst du da?“
„Ich hatte mir Zucker in die Taschen gesteckt; nun esse ich ihn auf.“
„Du hast dir ja gerade den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um Zucker zu
lutschen. Wir sinken, und du frißt!“
„Wozu soll ich überflüssige Lasten mit mir herumschleppen?“ meinte
Nudeldick … Ich esse allen Zucker auf – dadurch wird der Luftballon leichter
und kann wieder steigen.“
„Dann iß nur weiter! Wir werden schon sehen, was bei deiner Lutscherei
herauskommt“. brummte Brummer.
Der Absturz
Manche Leute glauben, je höher man steigt, um so wärmer würde die Luft; das
stimmt aber nicht. Je höher, desto kälter. Warum wohl? Weil die Sonne mit ihren
Strahlen die Luft nur wenig erwärmen kann, denn die Luft wird oben immer
dünner. Am Boden ist die Luft dicker und wird leichter warm. Dazu kommt, daß
die Sonne mit ihren Strahlen die Erde erwärmt, und die wiederum erwärmt die
Luft – wie ein heißer Ofen. Warme Luft ist aber leichter als kalte und steigt
deshalb empor. Je höher sie steigt, um so mehr kühlt sie sich ab. Darum ist es in
großer Höhe immer sehr kalt.
Das merkten auch die Knirpse, als sie mit ihrem Luftballon höher stiegen.
Ihnen wurde so kalt, daß sich ihre Nasen und Wangen röteten. Sie trampelten mit
den Füßen und schlugen weit ausholend die Arme über der Brust zusammen, um
sich zu erwärmen. Schussel, der seine Mütze zu Hause vergessen hatte, fror am
meisten. Die Kälte war so schrecklich, daß ihm ein langer Eiszapfen an der Nase
wuchs. Er zitterte wie Espenlaub und klapperte unaufhörlich mit den Zähnen.
Brummer verließ seinen Platz und knurrte: „Ich kann es nicht ertragen, wenn
jemand genau an meinem Ohr mit den Zähnen klappert. Dann muß ich auch
klappern.“
Er setzte sich neben Farbenklecks, aber der klapperte ebenfalls. Brummer
warf ihm einen mißtrauischen Blick zu.
„Was soll das? Klapperst du vielleicht absichtlich, um mich zu ärgern?“
„Aber nein, mir ist so kalt!“
Brummer stand schimpfend auf und setzte sich auf einen neuen Platz.
Der Frost überzog den Luftballon mit Reif, und nun funkelte er über den
Köpfen der Knirpse, als wäre er ganz aus Silber. Allmählich kühlte s,ich die Luft
in der Gummihülle noch mehr ab; der Ballon begann zu sinken. Nach wenigen
Minuten glitt er bereits mit schneller Fahrt in die Tiefe. Sandsäcke waren keine
mehr da, und es gab nichts mehr, um den Fall aufzuhalten.
„Wir stürzen ab!“ kreischte Saftschleck.
„Wir sterben!“ brüllte Nimmerklug und versteckte sich unter der Bank.
„Komm hervor!“ schrie Immerklug ihn an. „Warum?“ piepste Nimmerklug
unter der Bank. „Wir wollen mit dem Fallschirm springen.“
„Nein, danke, mir geht es hier sehr gut“, protestierte Nimmerklug.
Ohne langes Federlesen packte Immerklug ihn am Kragen und zerrte ihn
unter der Bank hervor. „Dazu hast du kein Recht“, jammerte Nimmerklug. „Ich
werde mich über dich beschweren.“
„Heul nicht!“ befahl Immerklug ruhig. „Nur keine Panik. Paß jetzt genau auf,
wie ich mit dem Fallschirm springe, und mache es mir dann nach.“ Nimmerklug
beruhigte sich einigermaßen. Immerklug kletterte auf den Korbrand.
„Achtung, Kameraden!“ rief er. „Jetzt müßt ihr nacheinander hinter mir
herspringen. Wer nicht springt, den wird der Ballon wieder aufwärts ziehen.
Macht die Fallschirme bereit … Fertig … Los!“
Und damit sprang Immerklug als erster in die Tiefe. Rennefix wollte
hinterherspringen. da geschah etwas Furchtbares: Anstatt zuerst zu springen und
danach den Fallschirm zu öffnen, machte es Rennefix umgekehrt. Der Schirm
blieb am Korbrand hängen, Rennefix verhedderte sich in den Stricken und hing
nun mit dem Kopf nach unten. Er strampelte und wand sich hin und her wie ein
Wurm am Angelhaken, aber der Fallschirm kam nicht frei.
„Freunde!“ schrie Doktor Rizinus. „Wenn der Fallschirm so hängenbleibt,
stürzt Rennefix ab.“ Die Knirpse packten den Fallschirm und zogen Rennefix in
den Korb zurück.
Da merkte Nimmerklug, daß der Ballon höher stieg, und rief: „Halt, Freunde!
Es braucht keiner mehr zu springen. Wir steigen wieder.“
„Nanu, wie kommt denn das?“ Schnurz staunte. „Ach du“, antwortete
Brummer … Immerklug ist doch abgesprungen, und der Ballon ist dadurch
leichter geworden.“ – „Was wird Immerklug ohne uns anfangen?“ fragte
Nudeldick.
„Schnurz zuckte die Achseln. „Der wird schon wieder nach Hause finden.“
„Und was wollen wir ohne Immerklug anfangen?“ „Komische Frage!“
antwortete Nimmerklug. „Als ob wir ohne Immerklug überhaupt nicht fertig
würden.“
„Einem muß man gehorchen“, sagte Nudeldick. „Mir werdet ihr gehorchen“,
erklärte Nimmerklug. „Jetzt bin ich der Anführer.“
„Du?“ staunte Brummer. „Mit deinem Kopf kannst du kein Anführer sein.“
„Ach so, mit meinem Kopf geht das nicht?“ brauste Nimmerklug auf. „Bitte
sehr, spring doch ab und suche deinen Immerklug, wenn dir mein Kopf nicht
gefällt.“
Brummer sah in die Tiefe und meinte: „Wo soll ich ihn jetzt suchen? Wir sind
schon zu weit weggeflogen. Alle hätten sofort nachspringen müssen.“
„Spring doch!“
Brummer und Nimmerklug fingen wieder einen Streit an, der fast bis zum
Abend dauerte. Immerklug war, ja abgesprungen, und jetzt vermochte ihnen
niemand mehr Einhalt zu gebieten. Die Sonne wollte untergehen. Der Wind
nahm zu. Die Luft im Ballon hatte sich noch mehr abgekühlt, und sie begannen
wieder zu sinken; aber Brummer und Nimmerklug stritten unaufhörlich.
„Schluß mit der Streiterei“, sagte Saftschleck endlich zu Nimmerklug. „Wenn
du dich schon entschlossen hast, der Anführer zu sein, so mußt du dir nun etwas
ausdenken. Siehst du denn nicht, wir sinken schon wieder.“
„Gleich werde ich mir etwas ausdenken“, versprach Nimmerklug. Er setzte
sich auf die Bank, bohrte den Finger in die Stirn und dachte nach. Der Ballon
sank immer tiefer.
„Was ist da lange zu grübeln?“ fragte Schraubschnell. „Wenn wir Sandsäcke
besäßen, könnten wir einen hinunterwerfen.“
„Richtig“, bestätigte Nimmerklug. „Da wir aber keine Sandsäcke mehr
besitzen, muß einer von uns mit dem Fallschirm abspringen. Dann wird der
Ballon leichter und steigt.“
„Wer aber?“
„Wer?“ Nimmerklug überlegte. „Der Brummigste muß abspringen.“
„Damit bin ich nicht einverstanden“, widersprach Brummer. „Der Schwerste
muß abspringen.“ „Na schön“, stimmte Nimmerklug zu. „Lassen wir Nudeldick
abspringen. Er ist der Dickste.“ „Richtig.“ Saftschleck nickte.
„Was?“ schrie Nudeldick. „Ich soll der Dickste sein? Saftschleck ist viel
dicker als ich.“
„Seht ihn euch doch an!“ kreischte Saftschleck und zeigte auf Nudeldick.
„Ich soll dicker sein als er? Hihihi! Wir können ja nachmessen.“
„Meinetwegen“, krähte Nudeldick und stolzierte wie ein Kampfhahn auf
Saftschleck los.
Alle umringten Nudeldick und Saftschleck. Nimmerklug holte einen
Bindfaden aus der Tasche und schlang ihn um Nudeldick. Dann maß er
Saftschleck, und es stellte sich heraus, daß Saftschleck anderhalbmal so dick war
wie Nudeldick.
„Das stimmt nicht“, schrie Saftschleck. „Nudeldick hat den Bauch
eingezogen. Ich habe es genau gesehen.“
„Nichts habe ich eingezogen“, verteidigte sich Nudeldick.
„Doch! Miß noch einmal nach“, überschrie ihn Saftschleck.
Nimmerklug maß Nudeldick noch einmal, während Saftschleck um ihn
herumzappelte und kreischte:
„He, he! Was tust du da? Du sollst dich aufblasen.“
„Wieso denn?“ gab Nudeldick zurück. „Wenn ich mich aufblase, bin ich
natürlich dicker als du.“ „Schön, dann bläst du dich eben nicht auf. Aber du hast
auch kein Recht, den Bauch einzuziehen. Guckt doch, Freunde, was er da macht.
Wo bleibt die Gerechtigkeit? Das ist Betrug!“
Nachdem Nimmerklug Nudeldick abgemessen hatte, maß er mit der gleichen
Sorgfalt Saftschleck nach, und diesmal ergab es sich, daß beide gleich dick
waren.
„Beide müssen abspringen“, entschied Nimmerklug.
„Wozu denn beide,wenn einer genügt“, widersprach Saftschleck.
Der Jäger Bums blickte aus dem Korb und sah, daß sie sich der Erde mit
bedrohlicher Geschwindigkeit näherten.
„Hör einmal, Nimmerklug“, sagte er. „Du mußt schnell einen Entschluß
fassen. Gleich knallen wir auf.“
„Wir wollen abzählen, wer mit dem Fallschirm abspringen muß“, schlug
Schnurz vor.
„Richtig“, pflichtete ihm Saftschleck bei. ,.Aber es müssen alle – die Dicken
wie die Dünnen – abgezählt werden, damit sich niemand gekränkt fühlt.“
Nimmerklug war einverstanden. Sie bildeten einen Kreis, und Nimmerklug
zählte ab, wobei er jeden der Reihe nach mit dem Finger antippte:
„Ene bene res!
Kwinter finter sches!
Ene bene Kröte,
Kwinter finter Flöte …“
Dann sagte er: „Nein, dieser Abzählreim gefällt mir nicht.“ Und er begann
einen anderen:
„Ikete pikete zokote me!
Abel fabel domane!
Ik pik Grammatik …“
In diesem Augenblick schlug der Korb krachend auf und kippte um. Schnurz
umklammerte Pipe, Pipe krallte sich an Schnurz fest, und sie fielen zusammen
aus dem Korb. Wie eine Handvoll Erbsen rollten die übrigen Knirpse hinterher.
Nur Nimmerklug, der den Korbrand festgehalten, und Bimmel, der sich in
Nimmerklugs Hosen verbissen hatte, blieben noch im Korb. Als der Ballon die
Erde berührte, sprang er wie ein Ball hoch, beschrieb in der Luft einen
riesengroßen Bogen und sank dann wieder auf die Erde zurück. Der Korb wurde
mitgezerrt und ebenfalls zu Boden geschleudert. Der Ballon prallte auf etwas
Hartes und zerplatzte mit ohrenbetäubendem Knall. Vor Schreck überschlug sich
Bimmel in der Luft und rannte winselnd davon. Nimmerklug fiel aus dem Korb
und blieb besinnungslos liegen.
Die Luftreise war zu Ende.
In einer fremden Stadt
Als Nimmerklug wieder zu sich kam, lag er in einem Bett, in dessen
schwellenden Federkissen er fast versank. Die Kissen waren so weich, als hätte
man sie mit Pusteflöckchen gefüllt. Nimmerklug härte Stimmen. Er öffnete die
Augen und sah, daß er in einem fremden Zimmer war. Überall standen kleine
Sessel. An den Wänden hingen Teppiche und Blumenbilder. Vor dem Fenster
stand ein runder, einbeiniger Tisch; darauf lag buntes Stickgarn und ein kleines,
mit Steck- und Nähnadeln gespicktes Kissen – wie ein Igel sah es aus. Daneben
befand sich ein Tisch mit Schreibutensilien. Vor dem Spiegel standen zwei
Knirpselinen und unterhielten sich. Die eine trug ein blaues Kleid aus
glänzendem Seidenstoff mit einem gleichfarbigen SeidengürteL der auf dem
Rücken zu einer Schleife gebunden war. Sie hatte blaue Augen, und ihr dunkles
Haar war zu einem langen Zopf geflochten. Die andere trug ein buntes, rosa und
violett geblümtes Kleid. Sie hatte hellblondes, beinahe weißes Haar, das in
Wellen über ihre Schultern fiel. Die Knirpseline probierte vor dem Spiegel einen
Hut auf und schwatzte dabei unaufhörlich wie eine Elster.
„So ein scheußlicher Hut! Ich wollte mir einen Hut mit breitem Rand machen,
aber das Material hat nicht gereicht. Nun ist es ein schmaler Rand geworden. Bei
einem schmalen Rand wirkt aber das Gesicht rund, und deshalb sieht es häßlich
aus.“
„Jetzt hast du lange genug in den Spiegel geguckt. Ich kann das nicht leiden“,
sagte die blauäugige Knirpseline.
„Was glaubst du denn, wozu Spiegel erfunden sind?“ fragte die Blonde
schnippisch. Sie schob den Hut tief in den Nacken, warf den Kopf zurück und
betrachtete sich wohlgefällig im Spiegel.
Nimmerklug fand das komisch. Er prustete los. Die Hellblonde sprang vom
Spiegel weg und sah misstrauisch zu Nimmerklug herüber. Schnell kniff er die
Augen zu und stellte sich schlafend. Er hörte, wie die beiden Knirpselinen auf
den Zehenspitzen an sein Bett kamen und davor stehenblieben.
„Mir schien, als hätte er etwas gesagt“, flüsterte die Blonde. „Aber vielleicht
habe ich mich geirrt … Wann er wohl wieder zu sich kommt! Seit gestern liegt
er besinnungslos da.“
Die andere antwortete: „Piefferminza hat verboten, ihn zu wecken. Ich soll sie
rufen, wenn er von selbst aufwacht.“
Was mag das für eine sein, diese Pfefferminza? überlegte Nimmerklug, aber
er tat weiter so, als hörte er nichts.
„Ein tapferer Knirps!“ wurde wieder geflüstert. „Kaum zu glauben, daß er mit
einem Luftballon geflogen ist.“
Als Nimmerklug hörte, er sei tapfer, hätte sich sein Mund vor Vergnügen fast
bis zu den Ohren auseinandergezogen. Aber er unterdrückte sein Lächeln gerade
noch rechtzeitig.
„Ich komme wieder, wenn er aufgewacht ist“, sagte die Blonde. „Ich möchte
ihn so gern über den Luftballon ausfragen. Wenn er nur keine
Gehirnerschütterung hat!“
Blödsinn! dachte Nimmer klug. Ich habe nicht die Spur von
Gehirnerschütterung.
Die blonde Knirpseline verabschiedete sich und ging fort. Es wurde still im
Zimmer. „Ich bin überhaupt nicht krank.“
Lange Zeit lag Nimmerklug mit geschlossenen Augen da und spitzte die
Ohren. Schließlich schlug er blinzelnd ein Auge auf und erblickte den Kopf der
blauäugigen Knirpseline, die sich über ihn neigte. Sie lächelte freundlich,
runzelte dann aber die Stirn und fragte: „Wachen Sie immer auf diese Art auf?
Zuerst ein Auge und dann das andere?“
Nimmerklug nickte und öffnete das zweite Auge. „Sie schlafen also gar
nicht?“
„Nein, ich bin gerade eben aufgewacht.“ Nimmerklug wollte noch etwas
hinzufügen, aber die Knirpseline hielt ihm den Mund zu.
„Still, ganz still! Sie dürfen nicht sprechen. Sie sind sehr krank.“
„Ich bin überhaupt nicht krank.“
„Woher wissen Sie das? Sind Sie vielleicht Arzt?“ „Nein.“
„Na also. Bleiben Sie ruhig liegen, bis ich den Arzt geholt habe. Wie ist Ihr
Name?“
„Nimmerklug. Und der Ihre?“
„Ich heiße Blauäuglein.“
„Ein hübscher Name“, meinte Nimmerklug beifällig.
„Ich freue mich sehr, daß er Ihnen gefällt. Sie sind offenbar ein
wohlerzogener Knirps.“
Nimmerklug grinste über das ganze Gesicht. Es behagte ihm maßlos, daß er
gelobt wurde, denn bisher hatte ihn fast nie jemand gelobt – er war nur immer
ausgescholten worden. Da keine Knirpseriche in der Nähe waren, brauchte
Nimmerklug nicht zu befürchten, daß er wegen seines Gesprächs mit einer,
Knirpseline gehänselt wurde. Deshalb unterhielt er sich mit Blauäuglein ganz
unbefangen und höflich. „Und wie heißt die andere?“
„Welche andere?“
„Die, mit der Sie gesprochen haben. Die Hübsche mit den weißblonden
Haaren.“
„Oh!“ rief Blauäuglein. „Sie sind also schon lange wach?“
„Nein, nur einen Augenblick, dann bin ich gleich wieder eingeschlafen.“
„Das ist nicht wahr.“ Blauäuglein runzelte die Stirn. „Sie finden also, daß ich
nicht besonders hübsch bin?“
„Aber nein, wo denken Sie hin“, widersprach Nimmerklug erschrocken. „Sie“
sind ebenfalls hübsch.“
„Wer von uns beiden ist denn hübscher – ich oder sie?“
„Sie … und die andere. Sie sind beide sehr hübsch.“
„Sie sind ein jämmerlicher Lügenbold, aber ich verzeihe Ihnen.“ Blauäuglein
mußte lachen. „Ihre Flamme heißt Schneeglöckchen. Sie werden sie bald
wiedersehen. Nun will ich Pfefferminza rufen.“
„Wer ist Pfefferminza?“
„Unsere Ärztin.“
Kaum war Blauäuglein fortgegangen, da sprang Nimmerklug aus dem Bett
und suchte seine Kleider. Er wollte so schnell wie möglich verschwinden, denn
er wußte, daß Ärzte eine Vorliebe dafür haben, ihre Patienten mit Rizinus und
scheußlich brennendem Jod zu quälen. Die Kleider waren nirgends zu finden,
dafür entdeckte er eine Puppe, die auf einem Bänkchen saß, den Rücken an die
Wand gelehnt.
Nimmerklug bekam große Lust, die Puppe gleich einmal
auseinanderzunehmen und nachzusehen, was drinnen war – Watte oder
Sägespäne. Er vergaß seine Kleider und suchte ein Messer. Da erblickte er sich
im Spiegel. Er warf die Puppe auf den Fußboden und begann vor dem Spiegel
Grimassen zu schneiden. Schließlich meinte er: „Ich bin ebenfalls hübsch, und
mein Gesicht ist nicht allzu rund.“
In diesem Augenblick hörte er Schritte hinter der Tür. Er sprang ins Bett
zurück und deckte sich zu. Blauäuglein und eine andere Knirpseline in weißem
Kittel und weißer Kappe betraten das Zimmer. Sie trug einen kleinen braunen
Koffer und hatte runde, rosige Wangen. Streng blickten ihre grauen Augen!)inter
einer Hornbrille hervor. Nimmerklug begriff: Das war Pfefferminza, von der ihm
Blauäuglein erzählt hatte.
Pfefferminza schob einen Stuhl an Nimmerklugs Bett, stellte ihr Köfferchen
darauf und sagte kopfschüttelnd: „Ach, diese Knirpseriche! Dauernd denken sie
sich alle möglichen dummen Streiche aus. Sagen Sie mir bitte, weshalb Sie mit
diesem Luftballon fliegen mußten? Schweigen Sie, schweigen Sie! Ich weiß,
was sie antworten wollen: Ich tue es niemals wieder. Alle Knirpseriche sagen
das, und gleich stellen sie etwas Neues an.“ Pfefferminza öffnete den Koffer, und
sofort roch das ganze Zimmer nach Jod und anderen Medikamenten.
Nimmerklug kroch unwillkürlich tiefer unter die Bettdecke. Pfefferminza befahl:
„Erheben Sie sich, Patient!“
Nimmerklug wollte schnell aus dem Bett steigen. „Sie brauchen nicht
aufzustehen, Patient“, sagte Pfefferminza streng. „Ich meinte, Sie sollten sich
aufsetzen.“
Nimmerklug zuckte die Schultern und richtete sich im Bett auf.
„Sie brauchen nicht mit den Schultern zu zucken, Patient“, bemerkte
Pfefferminza. „Zeigen Sie die Zunge.“
„Wozu?“
„Das ist notwendig.“
Nimmerklug streckte die Zunge heraus.
„Sagen Sie: Aaa.“
„Aaaaaa.“
Pfefferminza holte ein hölzernes Hörrohr aus dem Koffer und setzte es
Nimmerklug auf die Brust. „Tief atmen.“
Nimmerklug schnaufte wie ein Walroß.
„Jetzt nicht mehr atmen.“
„Hihihihi!“ Nimmerklug schüttelte sich vor Lachen.
„Weshalb lachen Sie, Patient? Ich habe wirklich nichts Komisches gesagt.“
„Wie soll ich es denn fertigbringen, überhaupt nicht zu atmen?“ fragte
Nimmerklug kichernd. „Selbstverständlich können Sie nicht dauernd den Atem
anhalten, aber für einen Augenblick geht das schon.“
„Das geht“, stimmte Nimmerklug zu und hielt den Atem an.
Nach der Untersuchung setzte sich Pfefferminza an den Tisch und schrieb ein
Rezept.
„Der Patient hat einen blauen Fleck auf der Schulter“, sagte sie zu
Blauäuglein. „Gehen Sie in die Apotheke und holen Sie ein Honigpflaster. Sie
müssen ein Stück von dem Pflaster abschneiden und es dem Patienten auf die
Schulter legen. Erlauben Sie ihm ja nicht, das Bett zu verlassen. Wenn er
aufsteht, wird er Ihnen das ganze Geschirr zerschlagen und jemandem ein Loch
in den Kopf hauen. Mit Knirpserieben muß man vorsichtig umgehen.“
Blauäuglein nahm das Rezept vom Tisch und sagte: „Haben Sie gehört? Sie
müssen liegenbleiben.“ Nimmerklug machte ein niedergeschlagenes Gesicht.
„Sie brauchen gar keine Fratzen zu ziehen. Und kommen Sie nicht etwa auf
den Gedanken, Ihre Kleider zu suchen – ich habe sie gut versteckt“, sagte
Blauäuglein und verließ das Zimmer.
Neue Bekannte
Nachdem Blauäuglein fortgegangen war, blieb Nimmerklug noch eine Weile
liegen. Dann fiel ihm ein, daß er ja untersuchen wollte, aus was für einem
Material die Puppe gemacht sei. Er war drauf und dran, aufzustehen, als er
Schritte hinter der Tür hörte. Jemand flüsterte: „Was macht er?“
„Er liegt im Bett.“
„Tot?“
„Nein, er lebt wohl.“
„Laß mich einmal sehen.“
Nimmerklug schaute zur Tür und bemerkte, daß jemand durch das
Schlüsselloch guckte.
„Na, laß mich jetzt sehen, du Stielauge! Ich möchte doch auch gucken.“
„Du hast mich Stielauge genannt, deshalb lasse ich dich gerade nicht.“
Hinter der Tür polterte es.
„Schubse mich nicht“, zischte jemand ärgerlich. „Sonst ziehe ich dich an den
Haaren.“
„Und ich dich an den Zöpfen!“
Nimmerklug wollte zu gern wissen, was dort los war. Er sprang aus dem Bett
und stieß schnell die Tür auf. Es knallte dumpf. Vor ihm standen zwei
Knirpselinen. Sie starrten Nimmerklug entsetzt an. Die eine hatte sich ein grünes
Häschen auf die Schürze gestickt und die andere ein rotes Eichhörnchen. Wie
auf Befehl zwinkerten beide mit den Augen und brachen in Tränen aus. Dann
machten sie kehrt und rannten die schmale Holztreppe hinauf.
„Aaa!“ brüllte die Knirpseline mit den zwei kurzen, abstehenden Zöpfchen.
„Uuu!“ stimmte die zweite mit der großen himmelblauen Schleife ein.
Nimmerklug kratzte sich den Nacken und brummte: „So eine Geschichte! Da
habe ich ihnen die Tür vor den Kopf geknallt.“
Aus Angst, in dem fremden Hause noch mehr anzustellen, kroch Nimmerklug
wieder ins Bett und beschloß, ein wenig zu schlafen. Aber bald hörte er wieder
Schritte im Korridor. Die Tür ging auf, und eine neue Knirpseline schaute ins
Zimmer. Sie hatte einen Lockenkopf, unternehmungslustige Augen – überhaupt
ein verschmitztes Gesicht mit einem spitzen Näschen.
„Knirpserich“, schrie sie. „Streithammel!“
Vor Verblüffung sprang Nimmerklug im Bett hoch. Die Tür klappte schnell
wieder zu, und eilige Schritte entfernten sich.
Nimmerklug zuckte die Schultern und brummte verächtlich: „Bangbüx!“
Er wollte gerade einschlafen, als die Tür wieder aufsprang und die gleiche
Knirpseline mit dem Lockenkopf ins Zimmer lugte. „Streithammel!“ schrie sie.
„Hahaha!“
Geschwind schlug die Tür wieder zu. Nimmerklug sprang aus dem Bett und
rannte auf den Korridor, aber dort war niemand mehr.
„Na schön“, knurrte Nimmerklug drohend.
Er nahm ein Holzlineal vom Schreibtisch und versteckte sich hinter der Tür.
Er brauchte nicht lange zu warten. Bald erklangen Schritte auf dem Korridor.
Nimmerklug schwang das Lineal. Die Tür ging auf. Blauäuglein trat ins Zimmer
und bekam mit dem Lineal einen Schlag auf den Kopf. „Au!“ Blauäuglein faßte
sich an die Stirn. „Weshalb schlagen Sie mich?“ schrie sie. „Jetzt bekomme ich
eine Beule.“
„Vielleicht auch nicht“, antwortete Nimmerklug und drehte das Lineal
verlegen in den Händen hin und her.
„Doch, bestimmt! Wissen Sie, wie empfindlich ich bin? Ich bekomme schon
eine Beule, wenn Sie mich mit einem Korken werfen.“
„Man könnte das Pflaster drauflegen“, schlug Nimmerklug vor. „Sie haben
doch eins aus der Apotheke mitgebracht.“
„Ja, aber für Sie!“
„Das reicht für alle“, meinte Nimmerklug.
Er nahm das Pflaster und zerschnitt es mit der Schere in vier Teile.
„Kleben Sie es mir schnell an die Stirn“, stieß Blauäuglein aufgeregt hervor.
„Hierhin, hierhin …“
Sie zeigte, wohin Nimmerklug das Pflaster drücken sollte.
„Jetzt sitzt es gut“, meinte Nimmerklug, als er endlieh fertig war.
Blauäuglein lief zum Spiegel. „Das schon. Aber wenn mich jemand sieht?
Na, zeigen Sie mir jetzt Ihre Schulter.“
Und Blauäuglein klebte Nimmerklug ein Stück Pflaster auf die Schulter.
„Ich wollte Sie wirklich nicht schlagen“, sagte Nimmerklug.
„Wen sonst?“
Nimmerklug war drauf und dran, zu erzählen, daß ihn eine unbekannte
Knirpseline gehänselt hatte, da fiel ihm ein: So etwas ist Petzerei. „Niemanden“,
antwortete er. „Ich wollte nur probieren, ob man mit diesem Lineal jemanden
treffen kann.“
„Ihr Knirpseriebe denkt immer nur daran, wie ihr jemanden treffen könnt.
Bekommt ihr aber was ab, dann gefällt euch das auch nicht besonders …
„Worüber lachen Sie?“ Sie ging wieder zum Spiegel. „Wirklich, es sieht sehr
komisch aus, so ein Viereck auf der Stirn.“
„Schneiden Sie es doch rund“, schlug Nimmerklug vor.
Blauäuglein nahm das Pflaster ab, schnitt es rund und klebte es wieder auf.
„Finden Sie auch, daß es so besser aussieht?“ fragte sie.
Nimmerklug nickte. „Ich finde, es steht Ihnen sogar.“
Mit zusammengekniffenen Augen blickte Blauäuglein in den Spiegel.
„Und jetzt geben Sie mir meine Hose und mein Hemd“, bat Nimmerklug.
„Zuerst müssen Sie sich waschen.“
Blauäuglein führte Nimmerklug in die Küche. Dort war eine Wasserleitung.
Daneben hing ein Handtuch, und auf einem Regal lagen Seife und Zahnkrem.
„Hier haben Sie eine Zahnbürste“, sagte Blauäugkin.
Widerwillig begann Nimmerklug sich die Zähne zu putzen. Als er mit der
Bürste zweimal über die Zähne gefahren war, schnitt er eine Grimasse und
spuckte aus. Dann gurgelte er, wusch sich die Hände und legte die Seife rasch
auf das Regal zurück. Das Gesicht benetzte er nur flüchtig mit Was1ier.
„Auch das Gesicht muß mit Seife gewaschen werden“, meinte Blauäuglein.
„Puh!“ seufzte Nimmerklug. „Die Seife kommt einem immer in die Augen.“
„Nein, waschen Sie sich, bitte.“ Blauäuglein ließ nicht locker. „Dann
bekommen Sie auch Ihre Kleider.“
Da war nichts zu machen. Nimmerklug seifte das Gesicht ein und spülte den
Schaum so schnell wie möglich wieder ab.
„Brr!“ Er schüttelte sich. „Das Wasser ist aber kalt.“
Schon reckte er die Arme und tastete mit geschlossenen Augen an der Wand
herum.
Blauäuglein sah ihm zu und platzte bald vor Lachen.
„Was suchen Sie?“
„Da-das Hahandtuch“, stieß Nimmerklug zähneklappernd hervor.
„Weshalb suchen Sie es mit geschlossenen Augen? Machen Sie doch die
Augen auf!“
„Ich kann sie aber nicht aufmachen, we-wenn die ve-verflixte Seife so
brennt.“
„Sie müssen Ihr Gesicht gründlich abspülen.“ Blauäuglein nahm das
Handtuch von der Wand und reichte es Nimmerklug. Rasch trocknete er sich ab.
Erst dann öffnete er die Augen.
„Na bitte, jetzt sind Sie viel sauberer und hübscher“, stellte Blauäuglein fest.
Als sie aber die Schmutzspuren im Handtuch bemerkte, fuhr sie fort: „Nächstens
müssen Sie sich gründlicher waschen. Ich lasse es nur diesmal noch
durchgehen.“ Sie brachte Nimmerklug seine Kleider und sagte: „Ziehen Sie sich
an und kommen Sie dann nach oben zum Tee. Sie werden wohl schon Hunger
haben.“
„0 ja, einen Bärenhunger“, gestand Nimmerklug. „Ich könnte einen ganzen
Elefanten aufessen.“ „Ach, Sie Ärmster! Na, kommen Sie schnell, wir warten
auf Sie.“
Bei Tisch
Schnell fuhr Nimmerklug in seine Kleid,er und stieg die knarrende Holztreppe
empor. Er kam in ein Zimmer, das kleiner war als das untere, aber viel
gemütlicher. Die beiden halbrunden Fenster mit den schönen Vorhängen gingen
auf die Straße. Zwischen den Fenstern war eine Balkontür. Mitten im Zimmer
stand ein Tisch, beladen mit Vasen, Schüsseln und Tellern, auf denen kandiertes
Obst, Backwerk, Pasteten, Brezeln, Mohnkuchen, Hörnchen und andere
Leckerbissen lagen. Offenbar hatten die Knirpselinen beschlossen, für
Nimmerklug ein Festmahl zu veranstalten. Nimmerklug wollte seinen Augen
nicht trauen, als er all die Herrlichkeiten sah.
Die Knirpseline mit der Haarschleife und die mit den Zöpfchen waren gerade
dabei, Tee einzugießen. Eine Knirpseline mit Lockenkopf holte eine
Apfelpastete vom Büfett.
Blauäuglein stellte Nimmerklug ihren Freundinnen vor. Die Knirpseline mit
den Zöpfchen hieß Eichhörnchen, die mit der Haarschleife-Häslein und das
Lockenköpfchen – Libella. Nimmerklug wollte sich möglichst schnell zu Tisch
setzen, aber da ging die Tür auf, und vier weitere Knirpselinen traten ins
Zimmer. Blauäuglein machte bekannt: „Das sind unsere Nachbarinnen
Plaudertasche, Tanna, Margerita und Tönnchen.“
Die Knirpselinen umringten Nimmerklug.
„Sie sind mit einem Luftballon zu uns geflogen?“ fragte die schwarzhaarige
Plaudertasche. „Allerdings“, versetzte Nimmerklug würdevoll und starrte dabei
auf den Tisch.
„Es muß doch schrecklich sein, mit einem Luftballon zu fliegen?“ erkundigte
sich das dicke Tönnchen. „Entsetzlich! Wir hatten nicht die Spur zu essen“,
steuerte Nimmerklug auf sein Ziel los.
„Wie tapfer Sie sind! Ich würde um keinen Preis der Welt mit einem
Luftballon fliegen“, meinte Tanna. „Und woher kommen Sie?“ wollte Margerita
wissen.
„Aus Blumenstadt.“
„Wo ist das?“
„Dahinten.“ Nimmerklug machte eine unbestimmte Handbewegung. „Am
Gurkenfluß.“
„Ich habe noch niemals von so einem Fluß gehört“, bekannte Plaudertasche.
„Das muß sehr weit entfernt sein.“
„Freilich.“
„Kommen Sie zu Tisch, sonst wird der Tee kalt“, forderte Blauäuglein die
Gäste auf.
Nimmerklug ließ sich nicht lange bitten. Augenblicklich hatte er Platz
genommen und stopfte Pasteten, Kringel, Obstkuchen und kandierte Früchte in
seinen Mund, soviel nur hineingehen wollte. Die Knirpselinen aßen fast nichts,
weil sie Nimmerklug doch so gern über den Luftballon ausfragen wollten.
Schließlich hielt es Libella nicht länger aus.
„Sagen Sie, bitte, wer hat sich das mit dem Ballonflug ausgedacht?“
„Ich“, erwiderte Nimmerklug mit vollem Mund und mahlenden Kiefern. Er
war eifrig bemüht, ein Stück Pastete hinunterzuschlingen.
„Was Sie nicht sagen! Tatsächlich?“ wurde von allen Seiten gerufen.
„Ehrenwort, ich war es. Die Erde soll mich auf der Stelle verschlucken!“
schwor Nimmerklug und wäre dabei fast an der Pastete erstickt.
„Wie interessant! Erzählen Sie doch, bitte“, rief Tönnchen.
„Nun, was gibt es da zu erzählen …“ Nimmerklug hob abwehrend die Hände.
„Unsere Knirpse hatten mich schon längst gebeten, etwas zu erfinden. Ich
erklärte: ‚Diese Erfindungen stehen mir schon bis zum Hals, Freunde. Erfindet
doch selbst etwas.‘ Aber sie ließen mir keine Ruhe. ‚Was sollen wir schon
erfinden. Wir sind doch dumm.‘ ‚Na schön‘, gab ich endlich nach. ‚Ich werde
etwas erfinden.‘ Und ich begann zu überlegen.“
Nachdenklich kaute Nimmerklug an seiner Pastete. Die Knirpselinen platzten
bald vor Ungeduld. Schließlich entschloß sich Eichhörnchen, das drückende
Schweigen zu brechen. Als sie sah, daß Nimmerklug nach einer neuen Pastete
griff, erinnerte sie: „Sie dachten also nach. Und dann?“
„Ja“, rief Nimmerklug und haute mit der Pastete auf den Tisch. „Drei Tage
und drei Nächte lang dachte ich nach, und was glauben Sie! Ich erfand in der Tat
etwas. ‚Also, Freunde‘, sagte ich, ‚ihr bekommt eine Luftballon.‘ Und so
konstruierten wir einen Luftballon. Der Dichter Blüte – bei uns wohnt ein
Dichter dieses Namens – hat sogar ein Gedicht über mich verfaßt: ‚Unser
Nimmerklug erfand ’nen Luftballon.‘ Ach nein, ich glaube, es hieß so: ‚Unsern
Luftballon erfand der Nimmerklug‘ … Nein, ich habe es vergessen. Es werden
so viele Gedichte über mich gemacht, daß ich unmöglich alle behalten kann.“
Und Nimmerklug machte sich wieder über die Pastete her.
„Wie haben Sie den Luftballon denn konstruiert?“ erkundigte sich
Blauäuglein.
Oh, das war eine schwierige Sache! Tag und Nacht haben alle unsere
Knirpseriebe daran gearbeitet. Der eine mischte Gummi, der andere bediente die
Pumpe, und ich ging nur umher und pfiff, das heißt, nein, ich 1eigte jedem, was
er machen mußte. Ohne mich hätten sie ja nicht aus noch ein gewußt. Es war
sehr gefährlich, weil der Ballon doch jeden Augenblick platzen konnte. Ich habe
zwei Gehilfen – Schraub“chnell und Schraubstift. Sie können alles ausführen,
nur im Kopf sind sie schwach. Alles muß man ihnen erklären und vormachen.
Nach meinen Anweisungen bauten sie auch einen Kessel. Und die Arbeit
flutschte nur so: Im Kessel brodelte das Wasser, der Dampf zischte – eine tolle
Sache!
Die Knirpselinen lauschten mit angehaltenem Atem.
„Und weiter? Was geschah dann“ fragten sie, kaum daß Nimmerklug
innehielt.
„Schließlich kam der Tag des Abfluges“, fuhr Nimmerklug fort. „Die ganze
Stadt lief zusammen! Vinige sagten, der Ballon wurde fliegen, die anderen
meinten, er würde nicht fliegen! Es gab eine Keilerei. Diejenigen, die glaubten,
der Ballon würde fliegen, verprügelten diejenigen, die sagten, er würde nicht
fliegen … Oder umgekehrt … Kurz, es war nicht festzustellen, wer wen
verprügelte. Alles ging drunter und drüber.“
„Schon gut“, meinte Blauäuglein. „Aber erzählen Sie doch nicht von der
Prügelei, sondern vom Luftballon.“
Nimmerklug nickte. „Meinetwegen. Während sie sich also prügelten,
kletterten wir in den Korb. Ich hielt eine Rede und sagte: ‚Wir fliegen davon,
lebt wohl, Freunde!‘ Und dann stiegen wir auf. Als wir hoch genug waren,
blickten wir in die Tiefe und sahen, daß die Erde unter uns nicht größer war als
die Pastete hier.“
„Unmöglich“, staunten die Knirpselinen.
„Die Erde soll mich verschlucken, wenn ich lüge“, schwor Nimmerklug.
„Unterbrecht ihn nicht immer“, schalt Blauäuglein. „Stört ihn nicht. Er wird
schon nicht lügen.“ „Wirklich, stören Sie mich nicht beim Lügen … das heißt,
ahem … stören Sie mich nicht bei meinem wahren Bericht“, verbesserte sich
Nimmerklug rasch.
„Erzählen Sie, erzählen Sie“, riefen alle wie aus einem Munde.
„Wir stiegen also immer höher. Plötzlich – bum! Wir standen still. Ich schaute
nach: Wir waren an eine Wolke gestoßen. Was tun? Ich nahm eine Axt und
hackte ein Loch in die Wolke. Dann flogen wir wieder höher. Auf einmal
merkten wir, daß wir mit dem Kopf nach unten hingen: Der Himmel war unter
uns und die Erde über uns.“
„Wieso denn das?“ fragten die Knirpselinen verwundert.
„Ein Naturgesetz“, erklärte Nimmerklug. „Über den Wolken fliegt man
immer mit dem Kopf nach unten. Als wir die höchsten Höhen erreicht hatten,
waren dort tausend Grad Kälte. Alle erstarrten. Auch der Ballon kühlte ab und
begann zu sinken. Doch ich war schlau und hatte schon vorher befohlen,
Sandsäcke in den Korb zu legen. Nach und nach warfen wir alle Sandsäcke aus
dem Korb, bis keine mehr drin waren. Was nun? Unter uns war ein Knirps, der
hieß Immerklug. Ein richtiger Hasenfuß! Als er sah, daß der Ballon sank, fing er
an zu heulen, sprang mit dem Fallschirm ab und rannte nach Hause. Dadurch
wurde der Ballon leichter und stieg. Später sank er wieder, und dann knallte er
auf die Erde, und dann sprang er in die Höhe, und dann knallte er wieder auf …
Und ich rollte aus dem Korb – krach! Da bumste ich mit dem Kopf auf die
Erde!“
Nimmerklug hieb mit der Faust auf den Tisch – genau in eine Pastete, deren
Füllung nach allen Seiten spritzte. Die Knirpselinen schraken zusammen und
wären vor Entsetzen fast vom Stuhl gefallen.
„Und weiter?“ fragten sie, als sie wieder zu sich kamen.
„Weiter kann ich mich an nichts erinnern.“
Es wurde still im Raum. Voller Staunen blickten die Knirpselinen
Nimmerklug an. In ihren Augen war er ein wirklicher Held. Endlich sagte
Blauäuglein: „Sie haben uns mit Ihrem Luftballon sehr erschreckt. Wir tranken
gestern abend gerade auf dem Balkon Tee, als wir sahen, wie sich ein
riesengroßer, runder Ballon unserem Haus näherte. Er stieß an den Zaun …
plötzlich ein Knall! Der Ballon platzte, und als wir hinkamen, erblickten wir nur
noch einen Korb aus Birkenrinde.“
„Sie lagen wie tot da“, fiel Häslein ein. „So ein Schreck!“
„Einen Stiefel hatten Sie am Fuß, der andere steckte auf dem Zaun, und der
Hut hing am Baum“, fügte Eichhörnchen hinzu.
„Von Ihrer Jacke war ein Ärmel abgerissen, den wir erst heute morgen
gefunden haben“, erzählte Libella. „Wir mußten den Ärmel ganz schnell wieder
annähen.“
„Wie bin ich denn in dieses Haus gekommen?“ wollte Nimmerklug wissen.
;,Wir haben Sie hergebracht. Wir konnten Sie doch nicht über Nacht auf dem
Hof liegenlassen“, antwortete Blauäuglein.
„Sie waren fast mausetot“, fiel ihr Häschen ins Wort. „Doch Pfefferminza
sagte, Sie würden schon wieder zu sich kommen, weil Sie einen harten … wie
heißt das gleich … Or-ga-nis-mus besäßen.“
„Ja, ich besitze einen harten Organismus und einen noch härteren Schädel“,
prahlte Nimmerklug. „Ein anderer an meiner Stelle hätte eine GehirnschütteJung
bekommen.“
„Sie meinen wahrscheinlich – eine Gehirnerschütterung?“ bemerkte
Blauäuglein.
„Ganz richtig, Gehirnerschütterung“, verbesserte sich Nimmerklug.
„Aber Sie sagten doch, Sie wären nicht allein mit dem Luftballon geflogen?“
fragte Blauäuglein. „Natürlich nicht allein. Wir waren sechzehn. Dieser Feigling,
der Immerklug, ist allerdings mit dem Fallschirm abgesprungen, und da waren
wir nur noch fünfzehn.
„Wo sind denn die anderen?“ fragte Plaudertasche.
„Das weiß ich nicht.“ Nimmerklug zuckte die Schultern. „War außer mir
niemand im Korb?“ „Wir haben nur Farben und eine Feldapotheke gefunden.“
„Das sind die Farben von Farbenklecks und die Apotheke von Doktor
Rizinus“, erklärte Nimmerklug.
Plötzlich ging die Tür auf, und Schneeglöckchen rannte spornstreichs ins
Zimmer.
„Habt ihr schon das Neueste gehört?“ rief sie. „Das Allerneueste? Es ist noch
ein Luftballon abgestürzt.
Vierzehn Knirpseriebe waren drin. Gestern abend … vor der Stadt … Unsere
Knirpselinen haben sie erst heute morgen gefunden und ins Krankenhaus
gebracht.“
„Sie sind also verunglückt?“ fragte Eichhörnchen zitternd.
„Halb so schlimm.“ Schneeglöckchen winkte ab. „Pfefferminza hat gesagt,
sie werden alle wieder gesund.“
„Das sind wahrscheinlich meine Kameraden“, meinte Nimmerklug. Ich will
gleich ins Krankenhaus gehen und mich nach ihnen erkundigen.“ Blauäuglein
erbot sich, ihn zu begleiten.
„Ich komme auch mit“, erklärte Schneeglöckchen. In diesem Augenblick
bemerkte sie das runde Pflaster auf Blauäugleins Stirn und rief: „Ach, Liebste,
was hast du für ein bezauberndes Kreislein auf der Stirn! Es steht dir
ausgezeichnet. Ist das jetzt modern? Dann werde ich mir wohl auch eins
machen.“
„Nein“ antwortete Blauäuglein, „das ist ein Pflaster. Ich habe mir
versehentlich die Stirn an der Tür aufgeschlagen.“
„Ach sooo.“ Schneeglöckchen war enttäuscht; sie lief zum Spiegel und setzte
ihren Hut auf.
Im Umsehen war das Zimmer leer geworden. Die Knirpselinen rannten
davon, um den Nachbarn die Neuigkeit zu erzählen.
Quer durch Grünstadt
Schneeglöckchen und Blauäuglein gingen mit Nimmerklug auf die Straße, die zu
beiden Seiten von Flechtzäunen und Weidenruten begrenzt war. Hinter den
Zäunen standen hübsche Häuschen mit roten oder grünen Dächern. Über den
Häusern hingen riesengroße Äpfel, Birnen und Pflaumen. Die Bäume wuchsen
in den Höfen und auf der Straße. Die ganze Stadt schien in grünes Laub gebettet
zu sein; deshalb hieß sie auch Grünstadt.
Neugierig sah sich Nimmerklug um. Überall herrschte ungewöhnliche
Sauberkeit. In allen Höfen arbeiteten Knirpselinen. Ein paar schnitten mit einer
Schere das Gras ab, damit es nicht höher wuchs, als es sollte, andere waren mit
Besen bewaffnet und fegte!) die Wege, und noch eine Gruppe klopfte eifrig den
Staub aus langen Matten. In Grünstadt waren nicht nur die Fußböden in den
Häusern mit Matten belegt, sondern sogar die Gehsteige auf der Straße.
Allerdings waren einige Hausbesitzer sehr in Sorge, die Passanten könnten ihre
Matten beschmutzen. Deshalb baten sie jeden, der vorüberkam, sich doch die
Schuhe abzustreichen, bevor er die Matten betrat. Auch in den Höfen lagen
Matten, und viele Hauswände waren sogar von außen mit hübschen bunten
Teppichen behängt.
In Grünstadt gab es eine Wasserleitung, die aus Schilfrohrstengeln bestand.
Schilfrohr ist bekanntlich innen hohl, und das Wasser kann hindurchfließen. Die
Röhren waren längs der Straßen angebracht, doch lagen sie nicht an der Erde,
wie man hätte annehmen können, sondern waren in einiger Höhe auf Holzpfähle
montiert. Dadurch faulten sie nicht. Natürlich mußten sie ständig kontrolliert und
repariert werden, um Rohrbrüche zu vermeiden. Vom Hauptrohr auf der Straße
führten Nebenrohre in jedes Haus. Deshalb gab es überall fließendes Wasser.
Außerdem war vor jedem Hause ein Springbrunnen angelegt – eine schöne und
zugleich nützliche Sache, denn das daraus abfließende Wasser konnte gleich zur
Bewässerung der Gemüsegärten benutzt werden. Jedes Haus hatte einen
Gemüsegarten, in dem Runkelrüben, Radieschen, rote Bete, Mohrrüben und
andere Gemüsesorten wuchsen.
Nimmerklug beobachtete ein paar Knirpselinen, die gerade bei der
Gemüseernte waren. Wollten sie eine Runkelrübe oder eine Mohrrübe ernten, so
schaufelten sie die zunächst von allen Seiten frei; dann schlangen sie einen
Strick um den Schopf der Rübe und zogen mit aller Kraft .daran. Die Rübe
rutschte mit der Wurzel aus der Erde, und die Knirpselinen zerrten sie
quietschend und lachend ins Haus. „Wohnen in Grünstadt nur Knirpselinen?
Gibt es hier keinen einzigen Knirpserich?“ fragte Nimmerklug verwundert.
„Ja, bei uns gibt es nur noch Knirpselinen, die Knirpseriebe sind mit Sack und
Pack an das Flußufer gezogen. Sie haben dort ihre eigene Stadt – Drachenstadt.“
„Weshalb wollten sie denn unbedingt an den Fluß?“ fragte Nimmerklug.
„Weil sie finden, daß es dort schöner ist. Man kann sich tagelang sonnen und
im Fluß baden. Im Winter, wenh der Fluß zugefroren ist, laufen sie Schlittschuh.
Außerdem tritt der Fluß im Frühjahr über seine Ufer und überschwemmt die
Stadt.“
„Was ist daran schön?“ Nimmerklug war verblüfft.
„Auch ich finde das nicht schön“, meinte Schneeglöckchen, „aber unsere
Knirpseriche mögen gerade das besonders gern. Sie rudern dann in der
überschwemmten Stadt umher und retten sich gegenseitig. Sie lieben eben
Abenteuer über alles.“
„Das finde ich ganz in Ordnung“, sagte Nimmerklug. „Kann ich eure
Knirpseriche nicht einmal kennenlernen?“
„Das ist unmöglich“, versetzte Schneeglöckchen. „Erstens muß man nach
Drachenstadt eine ganze Stunde laufen, zweitens würden Sie
vondenKnirpserichen doch nur schlechte Dinge lernen, und drittens sind wir mit
ihnen böse.“
„Weshalb haben Sie sich denn mit ihnen verzankt?“ wollte Nimmerklug
wissen.
„Wissen Sie, was die Knirpseriebe gemacht haben?“ gab Blauäuglein zurück.
„Im letzten Winter luden sie uns zu Silvester ein. Sie sagten, es gäbe ein Fest mit
Musik und Tanz. Aber als wir hinkamen, bewarfen sie uns mit Schneebällen.“
„Na und?“ fragte Nimmerklug.
„Seitdem geht keine Knirpseline mehr nach Drachenstadt.“
„Und die Knirpseriebe lassen sich in Grünstadt auch nicht mehr blicken?“
„Nein. In der ersten Zeit kamen noch welche, aber niemand wollte mit ihnen
spielen. Aus lauter Langeweile haben sie nichts als dumme Streiche gemacht:
Fenster eingeworfen und Zäune zerbrochen“, erzählte Schneeglöckchen.
„Und später schickten sie uns den Knirpserieb Nagelpieck“, fuhr Blauäuglein
fort. „Da war vielleicht was los.“
„Ja“, bestätigte Schneeglöckchen. „Nagelpiek sagte, er wolle unser Freund
sein, er möge die anderen Knirpser_iche nicht, denn sie seien so frech. Wir
erlaubten ihm, in unserer Stadt zu wohnen, aber nachts schlich er aus dem Haus
und stellte alle möglichen Flegeleien an. Die Tür des einen Hauses verrammelte
er von außen mit einem Balken, so daß am nächsten Morgen niemand heraus
konnte; über der Tür des zweiten Hauses befestigte er einen Holzklotz, der
jedem, der hinaustrat, auf den Kopf fiel; vor die Tür des dritten Hauses spannte
er einen Strick, alle stolperten und fielen hin; von einem anderen Haus brach er
den Schornstein ab und warf die Fensterscheiben ein …“
Nimmerklug platzte bald vor Lachen, als er das hörte.
„Sie haben gut lachen“, sagte Blauäuglein vorwurfsvoll. „Aber wie viele
Knirpselinen kamen dadurch in Lebensgefahr! Die Knirpseline, die auf das Dach
klettern mußte, um den Schornstein zu reparieren, fiel herunter und hätte sich
fast das Bein gebrochen.“
„Ich lache doch nicht über die Knirpselinen, sondern über Nagelpiek“,
rechtfertigte sich Nimmerklug. „Er ist alles andere als lächerlich – er muß streng
bestraft werden, damit er so etwas nicht wieder tut“, erklärte Schneeglöckchen.
In diesem Augenblick kamen sie an einem Apfelbaum vorbei, der mitten auf
der Straße wuchs. Er hing voll reifer roter Äpfel. An dem Baum lehnte eine
Holzleiter, die aber nur bis zur Hälfte seines hohen Stammes reichte. Darauf
folgte eine Strickleiter, die am untersten Ast des Baumes befestigt war. Auf dem
Ast saßen zwei Knirpselinen. Die eine sägte eifrig den Stiel eines Apfels durch,
und die andere hielt sie fest, damit sie nicht herunterfiel.
„Vorsicht!“ warnte Blauäuglein. „Wie leicht kann ein Apfel vom Baum fallen
und Sie töten.“
„Mich nicht!“ prahlte Nimmerklug. „Ich habe einen harten Schädel.“
„Die Knirpseriche bilden sich ein, nur sie seien tapfer, aber die Knirpselinen
sind kein bißchen feiger als sie. Sehen Sie doch, wie hoch die beiden
hinaufgeklettert sind“, sagte Schneeglöckchen.
„Dafür fliegen die Knirpseriche mit Luftballons und fahren Auto.“
„Denkste!“ rief Schneeglöckchen und lacht. „Auto fahren wir auch.“
„Haben Sie denn ein Auto?“
„Freilich. Es ist nur entzwei. Wir haben immer wieder versucht, es zu
reparieren, aber wir schaffen es nicht. Vielleicht können Sie uns dabei helfen?“
„Selbstverständlich kann ich das“, erwiderte Nimmerklug. „Ich verstehe etwas
davon. Wenn Schraubschnell und Schraubstift aus dem Krankenhaus entlassen
sind, werde ich ihnen die Sache erklären, und dann reparieren sie das Auto.“
„Das wäre herrlich!“ Schneeglöckchen klatschte in die Hände.
Plötzlich erblickte Nimmerklug ein Naturwunder: Mitten auf der Straße lagen
riesengroße grüne Kugeln. Sie waren so hoch wie ein zweistöckiges Haus,
vielleicht sogar noch höher.
„Was sind das für Luftballons?“ fragte Nimmerklug erstaunt.
Schneeglöckchen und Blauäuglein fingen an zu lachen.
„Das sind Melonen“, erklärten sie. „Haben Sie noch niemals eine Melone
gesehen?“.
„Nein, noch nie“, gestand Nimmerklug. „Bei uns gibt es keine. Wozu dienen
sie?“
Schneeglöckchen prustete vor Vergnügen.
„Ein Knirpserich, der nicht weiß, wozu man Melonen braucht! Vielleicht
fragen Sie noch, was man mit Äpfeln und Birnen macht.“
„Kann man sie essen?“ fragte Nimmerklug erstaunt. „So ein Riesending
bekommt man doch in einem ganzen Jahr nicht auf!“
„Wir essen sie nicht!“, sagte Blauäuglein. „Wir gewinnen aus ihnen süßen
Saft. Bohrt man die Melone unten an, so fließt süßer Saft heraus. Eine einzige
Melone liefert mehrere Fässer Saft.“ „Wer ist denn auf den Gedanken
gekommen, Melonen zu pflanzen?“ forschte Nimmerklug.
„In unserer Stadt wohnt eine sehr kluge Knirpseline.
Sie heißt Strohblonda“, erzählte Blauäuglein. „Ihr Steckenpferd ist
Pflanzenzucht. Früher gab es bei uns gar keine Melonen. Da sagte jemand zu
Strohblonda, er habe im Wald wilde Melonen gesehen. Im folgenden Herbst
unternahm Strohblonda eine Waldexpedition und entdeckte auf einer Waldwiese
wilde Melonen. Die Expedition kehrte mit Kernen zurück, und im nächsten Jahr
säte Strohblonda sie aus. Die Melonen gediehen prächtig, aber sie waren sauer.
Strohblonda untersuchte ihren Saft. Schließlich fand sie eine, deren Saft nicht
ganz so sauer war. Ihre Kerne säte sie aus. Von den neuen Melonen schmeckten
einige schon fast süß. Strohblonda wählte die süßeste aus und nahm im
folgenden Frühjahr ihre Kerne zum Auspflanzen. So machte sie es mehrere Jahre
hindurch, bis sie erreicht hatte, daß die Melonen so süß wie Honig waren.“
„Jetzt sind alle begeistert, aber wie haben sie Strohblonda vorher
ausgeschimpft!“ fügte Schneeglöckchen hinzu.
„Warum denn?“ fragte Nimmerklug verwundert. „Weil niemand glaubte, daß
aus dem sauren Zeug etwas Vernünftiges werden könnte. Außerdem wuchsen die
Melonen kreuz und quer durch die ganze Stadt und störten den Verkehr. Häufig
rankten sie sich an den Häuserwänden empor. Solange die Frucht klein war,
mochte es ja noch angehen, aber allmählich wurde sie dicker, lastete auf der
Mauer und drückte sie ein. Einmal wurde so ein ganzes Haus zum Einsturz
gebracht. Einige Knirpselinen wollten Strohblonda schließlich verbieten,
Melonen zu pflanzen, doch andere traten für sie ein und halfen ihr.“ Inzwischen
waren die Wanderer zum Ufer des Flusses gekommen. „Das ist der
Melonenfluß“, erklärte Schneeglöckchen. „Sehen Sie nur, wie viele Melonen
hier wachsen.“
Über den Fluß führte eine schmale Brücke aus dickem, stabilem Material .
„Diese Brücke haben unsere Knirpselinen gebaut“, sagte Blauäuglein. „Einen
ganzen Monat brauchten wir, um sie aus Flachsstengeln zu flechten, und dann
halfen uns die Knirpseriche, sie über das Wasser zu spannen.“
„Ach, das war eine Aufregung!“ fiel Schneeglöckchen ein, „Ein Knirps fiel in
den Fluß und wäre fast ertrunken.“
Blauäuglein betrat die Brücke und ging zum anderen Ufer. Nimmerklug
folgte ihr kühn, blieb aber sogleich stehen, weil er merkte, daß die Brücke unter
seinen Füßen schwankte.
„Kommen Sie nur!“ rief Schneeglöckchen. „Oder haben Sie Angst?“
„Durchaus nicht. Ich finde die Brücke bloß so komisch.“
Nimmerklug bückte sich und hielt sich mit den Händen an der Brücke fest.
Dabei kicherte er; die Knirpselinen sollten denken, er hätte keine Angst.
Schneeglöckchen ergriff Nimmerklugs eine Hand, Blauäuglein nahm die andere,
und so führten sie ihn über die Brücke. Die Knirpselinen sahen, daß er sich
fürchtete, aber sie lachten ihn nicht aus, denn sie wußten, daß Knirpseriche das
nicht vertragen können. Am anderen Ufer gingen sie die Straße hinab, und bald
standen die drei vor einem kleinen weißen Haus mit grünem Dach.
„Das ist unser Krankenhaus“, sagte Blauäuglein.
Im Krankenhaus
Schneeglöckchen blieb vor der Tür stehen und zog an der Klingel. „Kiingling“,
ertönte es drinnen. Die Tür ging auf, und eine Schwester in weißem Kittel und
weißem Häubchen, unter dem goldblonde Locken hervorquollen, stand auf der
Schwelle.
„Ach, du meine Güte“, rief sie und schlug die Hände zusammen. „Noch ein
Kranker? Wir haben keinen Platz mehr, Ehrenwort! Wo die nur alle herkommen?
Das ganze Jahr über hat das Krankenhaus leer gestanden – niemand wollte sich
kurieren lassen, und heute ist es bereits der fünfzehnte Patient!“
„Der Knirpserich ist gar nicht krank“, erwiderte Schneeglöckchen. „Er will
nur seine Freunde besuchen.“
„Nun, dann treten Sie ein.“
Die Knirpselinen und Nimmerklug gingen ins Sprechzimmer des Arztes.
Pfefferminza saß am Schreibtisch. Als sie Schneeglöckchen und Blauäuglein
erblickte, sagte sie: „Sie wollen wahrscheinlich die Patienten sehen. Das ist ganz
ausgeschlossen. Sie vergessen wohl, daß ein Kranker Ruhe braucht. Sie haben
bereits ein Pflaster auf der Stirn, Blauäuglein? Herzlichen Glückwunsch! Das
habe ich Ihnen prophezeit. Ich weiß ja, wenn nur ein einziger Knirpserich im
Hause ist, lassen Beulen und blaue Flecke nicht auf sich warten.“
„Wir wollen die Patienten gar nicht sehen“, entgegnete Schneeglöckchen.
„Dieser Knirpserich möchte die Patienten besuchen. Es ist ihr Freund.“ „Diesem
Knirpserich habe ich befohlen, im Bett zu bleiben. Er ist ohne ärztliche
Erlaubnis aufgestanden und hat, wie ich sehe, bereits Streit angefangen. Ein
Krankenhaus ist nicht der richtige Ort für Prügeleien.“
Pfefferminza hielt das Gespräch mit Nimmerklug für beendet und wandte sich
an Blauäuglein. „Zeigen Sie mir Ihre Stirn, meine Liebe.“
Sie nahm das Pflaster ab und untersuchte Blauäugleins Stirn.
„Das Pflaster brauchen Sie nicht mehr“, erklärte sie, als die Untersuchung zu
Ende war. „Kommen Sie mit, wir geben Ihnen eine Blaulichtbestrahlung, dann
verschwindet der blaue Fleck.“
Sie verließ mit Blauäuglein das Zimmer. Nimmerklug sah einen weißen Kittel
und eine Kappe am Garderobenhaken hängen. Ohne lange zu überlegen, zog er
den Kittel an, stülpte sich die Kappe auf den Kopf, setzte sich die Brille, die
Pfefferminza liegengelassen hatte, auf die Nase, nahm das hölzerne Hörrohr vom
Tisch und verließ das Zimmer. Schneeglöckchen bewunderte ihn maßlos wegen
seiner Kühnheit und Findigkeit.
Nimmerklug ging über den Korridor, öffnete eine Tür und stand im
Krankensaal, wo seine Freunde lagen. Er trat an das erste Bett und erblickte
darin Brummer. Sein Gesicht war brummig und unzufrieden.
„Wie fühlen Sie sich?“ fragte Nimmerklug mit verstellter Stimme.
„Ausgezeichnet“, erwiderte Brummer und zog dabei eine Grimasse, als wollte
er in fünf Minuten sterben.
„Stehen Sie auf, Patient“, befahl Nimmerklug. Widerwillig richtete sich
Brummer auf und starrte stumpfsinnig vor sich hin. Nimmerklug legte ihm das
hölzerne Hörrohr an die Brust und sagte: „Atmen Sie!“
„Was soll das heißen“, brummte Brummer. „Aufstehen, hinlegen, atmen,
nicht atmen …“
Nimmerklug knallte ihm das Hörrohr auf den Kopf und meinte: „Du hast dich
gar nicht verändert, Brummer. Du brummst wie immer.“
Verblüfft starrte Brummer ihn an.
„Nimmerklug!“
„Still“, zischte Nimmerklug.
„Höre, Nimmerklug, hilf mir hier heraus“, flüsterte Brummer. „Ich bin
vollkommen gesund, Ehrenwort. Ich hatte mir das Knie gestoßen, es tut fast gar
nicht mehr weh, aber ich muß trotzdem im Bett bleiben, weil ich meine Kleider
nicht bekomme. Ich kann das nicht mehr aushalten. Ich will spazierengehen.
Begreifst du das?“ Brummer klammerte sich an Nimmerklugs Ärmel fest.
„Schön“, antwortete Nimmerklug. „Halte noch ein wenig aus, ich werde
schon einen Ausweg finden. Du mußt mir aber versprechen, daß du mir von jetzt
ab gehorchen wirst, und wenn die Knirpselinen fragen, wer den Luftballon
erfunden hat, sagst du, ich sei es gewesen.“
„Gut, gut.“ Brummer nickte. „Gib dir aber Mühe.“
„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, ermutigte ihn Nimmerklug.
Dann ging er zum nächsten Bett, in dem Doktor Rizinus lag.
„Bester, hilf mir“, flüsterte er. „Begreife doch, was ich hier ertragen muß.
Mein Leben lang habe ich andere Leute kuriert, und nun werde ich kuriert.“
„Bist du etwa auch gesund?“
„Vollkommen! Ich habe an der Schulter eine Schramme und unter der Nase
einen Kratzer. Deswegen braucht man doch nicht im Bett zu liegen.“ „Warum
wirst du denn hier festgehalten?“
„Ihr Krankenhaus steht sonst leer, und sie wollen doch so gern einen Kranken
betreuen, dafür sind es Knirpselinen. Und Heilmethoden haben sie! Es ist zum
Davonlaufen! Bei der äußerlichen Behandlung legen sie Honigpflaster auf, und
für die innerliche geben sie Honig ein. Das ist doch verkehrt: Äußerlich nimmt
man Jod und innerlich Rizinusöl. Ich bin mit dieser Behandlung nicht
einverstanden.“
„Ich auch nicht“, erklärte Schnurz vom Nachbarbett. „Man darf weder
Haschen noch Drittabschlagen spielen. Sogar das Singen hat man uns verboten.
Die Kleider wurden allen weggenommen, nur unsere Taschentücher bekamen
wir zurück. Stilliegen und sich ausschnauben – das ist unsere ganze
Unterhaltung.“
„Weshalb seid ihr denn ins Krankenhaus gegangen?“
„Als wir gestern abend vor der Stadt aus dem Korb fielen, haben wir uns
schlafen gelegt. Bei Tagesanbruch weckten uns Knirpselinen und sagten: ‚Woher
kommt ihr, Knirpseriche?‘ ‚Wir sind mit einem Luftballon hergeflogen‘,
antworteten wir, ‚und abgestürzt.‘ ‚Ach, ihr seid abgestürzt? Ach, ihr müßt in
ärztliche Behandlung! Wir bringen euch ins Krankenhaus!‘ Und dann sind wir
hingegangen.“
„Es ist also niemand krank?“ fragte Nimmerklug. „Nein, außer Bums keiner.“
Nimmerklug ging zu Bums. „Was fehlt dir denn?“
„Ich habe mir den Fuß verstaucht. Aber das macht mir keinen Kummer.
Bimmel ist weg, verstehst du? Du bist doch mein Freund, suche Bimmel!
Wahrscheinlich ist er hier irgendwo in der Nähe. Ich kann mich doch nicht von
der Stelle rühren.“
„Ich werde deinen Bimmel suchen, aber du mußt allen sagen, daß ich den
Ballon erfunden habe.“ Nimmerklug schärfte auch den übrigen Knirpserieben
ein, sie sollten sagen, daß er den Luftballon erfunden hätte. Schließlich kehrte er
ins Sprechzimmer zurück. Schneeglöckchen erwartete ihn schon ungeduldig.
„Nun, wie geht es den Kranken?“ fragte sie.
Nimmerklug winkte verächtlich ab. „Die sind gar nicht krank! Nur Bums hat
sich den Fuß verstaucht.“
„Sie werden also bald entlassen?“ Schneeglöckchen freute sich. „Wenn sie
herauskommen, veranstalten wir einen Ball. Das wird ein Spaß!“
Da kamen Pfefferminza und Blauäuglein zurück. „Weshalb haben Sie den
Kittel angezogen? Was ist das für eine Eigenmächtigkeit!“ fuhr Pfefferminza auf
Nimmerklug los.
„Ich habe nur eine Untersuchung durchgeführt“, erwiderte Nimmerklug.
„Und was hat Ihre Untersuchung ergeben?“ erkundigte sich Pfefferminza
spöttisch.
„Daß sämtliche Patienten, bis auf einen, gesund sind und entlassen werden
können.“
„Nein, nein!“ rief Pfefferminza erschrocken. „Wenn wir vierzehn
Knirpseriebe auf einen Schlag entlassen, würden sie in der ganzen Stadt das
Unterste zuoberst kehren. Keine einzige Fensterscheibe bliebe heil, und alle
Leute bekämen blaue Flecke und Beulen. Das muß auf jeden Fall vermieden
werden.“
„Vielleicht kann man die Knirpseriebe allmählich entlassen?“ meinte
Blauäuglein. „Jeden Tag einen.“
„Es müssen mindestens zwei sein“, erklärte Schneeglöckchen. „Wir wollen
doch so schnell wie möglich den Wiedergenesungsball veranstalten.“
Schneeglöckchen klatschte in die Hände und fiel Pfefferminza um den Hals.
„Nein, zwei, liebe Pfefferminza, jeden Tag zwei! Sie wollen doch sicher auch
zum Ball. Sie tanzen so hervorragend.“
Pfefferminza ließ sich erweichen. „Einverstanden: jeden Tag zwei, die
Friedfertigen zuerst. Welcher ist der friedfertigste?“ wandte sie sich an
Nimmerklug.
„Aber sie sind alle friedfertig“, rief Nimmerklug.
„Das ist unwahrscheinlich. Friedfertige Knirpseriebe gibt es überhaupt nicht.
Wir müssen uns eine Arbeit für sie ausdenken, damit sie ihre dummen Streiche
vergessen.“
„Dann wollen wir zuerst die beiden Handwerker – Schraubschnell und
Schraubstift – entlassen. Sie können sofort mit der Reparatur des Autos
beginnen“, riet Blauäuglein .
„Ein guter Gedanke“, stimmte Pfefferminza zu. „Mit Schraubschnell und
Schraubstift werden wir beginnen.“
Und sie setzte die Namen der beiden auf die Liste. „Danach möchte ich
Brummer entlassen“, meinte Pfefferminza. „Es ist nicht auszuhalten mit ihm.
Dauernd brummt er.“
„Nein, ich bin dagegen“, widersprach Nimmerklug. „Behalten Sie Brummer
lieber so lange hier, bis er sich das Brummen abgewöhnt hat.“
„Dann könnte man den Doktor Rizinus entlassen. Er kritisiert unaufhörlich
unsere Behandlungsmethoden. Ein äußerst schwieriger Patient! Ich bin froh,
wenn ich ihn loswerde.“
„Nein, Rizinus noch nicht“, protestierte Nimmerklug. „Sein Leben lang
kuriert er an anderen Leuten herum, nun mag auch er einmal kuriert werden. Wir
sollten lieber Farbenklecks entlassen. Das ist ein guter Maler, für ihn wird sich
sogleich Arbeit finden. Übrigens mein Schüler. Ich habe ihn malen gelehrt.“
„Richtig, liebe Pfefferminza!“ flehte Schneeglöckchen. „Kann Farbenklecks
nicht heute schon entlassen werden? Ich möchte ihn bitten, mein Bild zu malen.“
„Und Geigenstrich“, fügte Nimmerklug hinzu. „Er ist ebenfalls mein Schüler.
Ich habe ihm das Flötenspiel beigebracht.“
Schneeglöckchen fiel pfefferminza wieder um den Hals.
„Entlassen wir doch Farbenklecks und Geigenstrich. Ach, bitte!“
„Gut, in diesem Fall will ich eine Ausnahme machen.“ Pfefferminza nickte
gnädig. „Aber alle anderen werden in der festgesetzten Reihenfolge entlassen.“
Endlich war die Liste fertig. Pfefferminza ließ die Sachen von Farbenklecks
und Geigenstrich aus der Kleiderkammer holen. Wenige Minuten später
erschienen beide freudestrahlend im Sprechzimmer. „Wir entlassen Sie“, sagte
Pfefferminza zu ihnen. „Aber benehmen Sie sich bitte anständig, sonst kommen
Sie wieder ins Krankenhaus.“
Das Konzert
Die Nachricht von dem berühmten Reisenden Nimmerklug und seinen Freunden,
die im Krankenhaus lagen, verbreitete sich mit Windeseile in der ganzen Stadt.
Unermüdlich rannten Plaudertasche und Tönnchen von Haus zu Haus, um ihren
Freundinnen die Neuigkeit zu erzählen. Die wiederum liefen zu ihren
Bekannten, und so ging es weiter, bis jeder wußte, was geschehen war. Die
Bevölkerung zog in Scharen zum Krankenhaus. Jede Knirpseline wollte den
armen Knirpserichen, die so viel durchgemacht hatten, in irgendeiner Form
helfen. Sie brachten alles mögliche mit: leckere Pasteten, kandierte Früchte,
Obstkuchen oder Kompott.
Eine halbe Stunde später war die ganze Krankcohausstraße von Knirpselinen
überflutet. Es war unmöglich, so viele Besucherinnen ins Krankenhaus zu
lassen. Pfefferminza trat auf die Vortreppe und verkündete, daß die Patienten mit
Lebensmitteln ausreichend versorgt seien. Die Besucherinnen sollten ruhig nach
Hause gehen und keinen Lärm unter den Fenstern machen. Doch die
Knirpselinen dachten nicht ans Fortgehen. Ihnen war nämlich zu Ohren
gekommen, daß Nimmerklug mit seinen Freunden Farbenklecks und
Geigenstrich das Krankenhaus verlassen würde.
Pfefferminza blieb nichts anderes übrig, als noch einmal hinauszutreten und
zu erklären, daß Nimmerklug erst dann auf der Straße erscheinen würde, wenn
alle fortgegangen seien. Anstatt aber nun endlich heimzugehen, begaben sich die
Knirpselinen zu ihren Freundinnen, die in der Krankenhausstraße wohnten. Als
Nimmerklug, Farbenklecks und Geigenstrich in Begleitung von Blauäuglein und
Schneeglöckchen auf die Straße traten, sahen sie in federn Fenster mindestens
ein Dutzend Knirpselinen. So viel Aufmerksamkeit schmeichelte Nimmerklug
sehr. An sein Ohr drangen Rufe, wie: „Sagen Sie, bitte – welcher von den dreien
ist denn der berühmte Nimmerklug?“
„Nimmerklug ist der mit den gelben Hosen.“
„Der mit den langen Ohren? Nie im Leben wäre ich draufgekommen! Er sieht
doch reichlich dumm aus.“
„Nein, er ist es wirklich. Er hat zwar ein dummes Gesicht, aber dafür sehr
kluge Augen.“
Eine Knirpseline, die aus der zweiten Etage eines Eckhauses sah, winkte
Nimmerklug zu und rief mit dünner Piepsstimme: „Nimmerklug, Nimmerklug!
Hurra!“
Sie beugte sich so weit aus dem Fenster, daß sie beinahe hinausgestürzt wäre.
Glücklicherweise bekamen die übrigen Knirpselinen ihre Beine zu fassen und
konnten sie noch rechtzeitig zurückziehen.
„Puh, was für eine Schande! Dieser Nimmerklug wird sich ja allerhand
einbilden“, sagte eine Knirpseline mit strengem, magerem Gesichtehen und
spitzem Kinn.
„Sie haben recht, Schwalba“, erwiderte eine andere, unter deren etwas
vorstehender Oberlippe weiße Zähne hervorblitzten. „Man braucht den
Knirpserieben durchaus nicht zu zeigen, daß man sie beachtet. Wenn sie sehen,
daß sich niemand um ihre dummen Streiche kümmert, hören sie von allein auf.“
Schwalba und Sauertöpfchen zischelten und tuschelten so lange, bis sie in alle
Ohren gezischelt hatten, daß man den herbeigeflogenen Knirpserieben mit
Verachtung begegnen müsse. Sämtliche Knirpselinen beschlossen nun, von den
Knirpserieben keine Notiz mehr zu nehmen.
Aus dieser Verabredung wurde aber nicht viel. Dafür verbreitete sich überall
die Kunde, daß Farbenklecks ein guter Maler und Geigenstrich ein
ausgezeichneter Musiker sei, der auf der Flöte spielen konnte. Alle wollten
natürlich das Flötenspiel so schnell wie möglich hören, denn in Grünstadt konnte
man nur Harfe spielen – eine Flöte hatte noch niemand gehört. Viele wußten
nicht einmal, daß es überhaupt so ein Instrument gibt.
Bald wurde bekannt, daß Farbenklecks und Geigenstrich am Apfelplatz
wohnten. Sie waren in das Haus gezogen, in dem die Knirpseline Stupsnäschen
mit ihren Freundinnen wohnte. Im zweiten Stock dieses Hauses, genau unter
dem Dach, befand sich ein großes Zimmer mit einem breiten Fenster, das die
ganze Wand einnahm. Dieses Zimmer gefiel Farbenklecks, weil es hell war, und
deshalb beschlossen er und Geigenstrich, dort einzuziehen.
Das Fenster ging auf den Apfelplatz. Und siehe da, am Abend füllte sich der
Apfelplatz, auf dem sonst nie großer Verkehr herrschte, mit lustwandelnden
Knirpselinen. Immer wieder schauten sie verstohlen zu dem beleuchteten Fenster
im zweiten Stock empor.
Von Zeit zu Zeit sahen sie entweder den glattgekämmten Kopf von
Geigenstrich oder die gesträubte Mähne von Farbenklecks am offenen Fenster
vorüberhuschen. Dann hörte die Huscherei auf, und die Knirselinen erblickten
Farbenklecks, der sich auf das Fensterbrett stützte und träumerisch in die Ferne
schaute. Jetzt tauchte neben ihm Geigenstrich am Fenster auf. Plötzlich spuckten
sie gleichzeitig auf die Straße hinab und verschwanden.
Es sah aus, als würde nichts Interessantes mehr geschehen, aber die
Knirpselinen wollten immer noch nicht nach Hause gehen. Und wirklich, kurz
darauf drangen aus dem Fenster zärtliche Flötentöne – es klang wie das Rieseln
eines Baches. Bald strömten sie gleichmäßig dahin, bald wogten sie wie Wellen,
die hochspringen und sich in der Luft überschlagen, sich jagen und
aufeinanderprallen. Den Knirpselinen wurde fröhlich ums Herz. Die Musik fuhr
ihnen in Hände und Füße, sie bekamen Lust zu tanzen. Lautlos öffneten sich die
Fenster der Häuser. Auf dem Platz wurde es still. Die Menge lauschte.
Schließlich verstummte die Flöte. Im gleichen Augenblick erklangen aus dem
Fenster des gegenüberliegenden Hauses die Töne einer Harfe. Die Harfe
versuchte die neue Melodie zu wiederholen. Unsichere Finger griffen in die
Saiten. Die Melodie hatte ziemlich klar begonnen, aber allmählich verwirrte sie
sich, um ganz abzubrechen. Da kam ihr die Flöte zu Hilfe und nahm die Melodie
auf. Die Harfe erwachte zu neuem Leben und klang wieder sicherer. Aus dem
Nachbarhaus fiel eine zweite ein, dann eine dritte.
Die Musik wurde immer lauter und fröhlicher. Nimmerklug, der Farbenklecks
Pinsel und Farben bringen wollte, erblickte vor dem Haus ein ungewöhnliches
Schauspiel. Der ganze Apfelplatz war überflutet von Knirpselinen, die dem
wundersamen Konzert lauschten. Nimmerklug lauschte ebenfalls ein wenig und
begann sogar auf einem Bein zu hüpfen. Als er aber merkte, daß ihn niemand
beachtete, winkte er verächtlich ab und verschwand in der Haustür.
Schraubschnell und Schraubstift wandern
nach Drachenstadt
„Tretet an in Reih und Glied,
die Morgensonne mit uns zieht!
Wenn der Tag mit Sport beginnt, alle Müdigkeit verrinnt.“
Dieses Lied vom Frühsport hatte der Dichter Blüte verfaßt.
Es war früh am Morgen, in Grünstadt schliefen noch alle. Schraubschnell und
Schraubstift aber marschierten durch die Straßen, sangen aus voller Kehle und
machten dabei Freiübungen. Schon gestern hatten sie erfahren, daß sie heute aus
dem Krankenhaus entlassen werden sollten, um das Auto zu reparieren. In aller
Herrgottsfrühe hatten sie verlangt, unverzüglich entlassen zu werden.
Viele Knirpselinen, die das Lied schon von weitem hörten, erwachten und
schauten aus den Fenstern, einige liefen sogar auf die Straße.
„He, Knirpselinen, wo ist denn eure Garage?“ rief Schraubschnell.
„Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen“, erwiderte eine Knirpseline im
blauen Mantel mit roter Kapuze und einem Kragen aus dem Pelz einer
schwarzbraunen Raupe .
„Na, wohin – rechts oder links?“ erkundigte sich Schraubschnell .
„Nach rechts“, erwiderte die Knirpseline und betrachtete neugierig ihre
Lederjacken .
„Rechts schwenkt ein. Marsch!“ kommandierte Schraubschnell, machte eine
Rechtswendung und marschierte davon. „Eins – zwei. Eins – zwei.“ Vor lauter
Schwung liefen Schraubschnell und Schraubstift am richtigen Tor vorbei.
„Halt, halt!“ schrie die Knirpseline. „Ihr geht zu weit.“
„Abteilung kehrt“, kommandierte Schraubschnell. Beide kehrten um und
marschierten zum Tor zurück. Die Knirpseline öffnete das Pförtchen, und alle
drei gingen in den Hof, wo ein ziegelgedeckter Schuppen stand.
„Das ist ein Schuppen, aber keine Garage“, brummte Schraubstift, während er
die breiten Türflügel öffnete.
Schraubschnell lugte in den Schuppen und erblickte das Auto. Inzwischen
waren noch einige andere Knirpselinen vor der Garage angelangt.
„Drin ist es zu dunkel“, sagte Schraubschnell. „Los, wir rollen die Maschine
ins Freie.“
„Das Auto ist ja kaputt“, meinten die Knirpselinen. „Macht nichts, wir
schieben es. Na los, hau-ruck! Hauu-ruck!“
Das Auto ächzte. Quietschend und knarrend rollte es aus der Garage.
Im nächsten Augenblick waren Schraubschnell und Schraubstift unter dem
Auto verschwunden. Die Knirpselinen standen im Kreise herum und guckten
sich verwirrt an.
„Uuu“, klang es von Zeit zu Zeit unter dem Wagen hervor. „Der Tank ist leck.
Uff! Das Zuleitungsrohr für den Saft ist entzwei.“
Schließlich kamen sie wieder zum Vorschein.
„Jetzt bringt einen Schraubenschlüssel, eine Flachzange, einen kleinen
Hammer und einen Lötkolben“, sagte Schraubschnell zu den Knirpsefinen.
„So etwas besitzen wir nicht.“
„Was für Werkzeuge habt ihr denn?“
„Sägen und Äxte.“
„Mit Äxten kann man kein Auto reparieren. Wohneil in der Nähe irgendwo
Knirsperiche?“
„In Drachenstadt, eine Stunde zu Fuß.“
„Für euch vielleicht; wir werden schneller hinkommen. Beschreibt uns bitte
den Weg.“
„Die Straße rechts hinunter und dann geradeaus. Der Weg führt über Felder,
und wenn ihr ihn immer weiter verfolgt, kommt ihr direkt nach Drachenstadt.“
„Alles klar“, erwiderte SchraubschnelL „Abteilung marsch!“ Plötzlich fiel
ihm etwa,s ein. „Abteilung halt!“ kommandierte er. „Knirpselinen, holt ein paar
Lappen und säubert inzwischen gründlich das Auto.
So ein Motor muß gut gepflegt werden.“
„Wird gemacht.“
„Na, denn – Abteilung marsch!“
Die beiden Knirpseriche marschierten auf die Straße;
nachdem sie rechts abgebogen waren, rief Schraubschnell: „Singen!“
Aus voller Kraft stimmten sie an:
„Mit dem Freund durch Wald und Heide zog ich kühn und voller Freude.
Auf den Maulwurfshügeln stehend, nach den bunten Blumen spähend, sahn
wir plötzlich eine Kröte …
rannten heim wie um die Wette und verkrochen uns im Heu, keuchten bloß
noch: Oi!“
Als dieses Lied zu Ende war, stimmten sie ein neues an.
Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und zogen auf der Landstraße
weiter. Da bemerkten sie ein Auto, das mitten auf der Straße stand. Ein
Knirpserich lag darunter. Sein Kopf und sein Oberkörper waren unter der
Karosserie verschwunden; nur die Beine, die in schwarzen, verschmierten Hosen
steckten, ragten heraus.
„He, sitzt du fest?“ rief Schraubstift.
Der Knirps steckte den schwarzen Krauskopf unter dem Auto hervor.
„Das verflixte Ding fährt nicht! Entweder ist die Saftleitung defekt, oder der
Fehler steckt in der Brausedosierung.“
Der Knirps stand auf und versetzte dem Auto einen Fußtritt.
Er trug eine schwarze Jacke, die genauso ölverschmiert war wie seine Hose –
es sah aus, als wäre sie aus Leder. Offenbar verbrachte dieser Unglücksfahrer
mehr Zeit unter dem Auto als am Steuer. Schraubschnell besah sich den Motor
und kroch schließlich unter den Wagen. Nachdem er eine Zeitlang dort
herumgewirtschaftet hatte, tauchte er wieder auf und kratzte sich nachdenklich
den Nacken. Jetzt krabbelte Schraubstift unter den Wagen und dann wieder der
Autofahrer. So tauchten sie der Reihe nach in die Tiefe, aber sosehr sie sich auch
den Nacken kratzten, es kam nichts dabei heraus.
Schließlich gelang es Schraubschnell aber doch, die Ursache für die Panne zu
finden. Der Autofahrer drückte Schraubschnell und Schraubstift dankbar die
Hand.
„Tausend Dank, Freunde! Ohne euch hätte ich bis zum Abend hier gesessen.
Wohin wollt ihr? Steigt ein, ich fahre euch hin.“
Schraubschnell und Schraubstift erzählten ihm nun, warum sie nach
Drachenstadt wollten.
„Einen Schraubenschlüssel, eine Flachzange und einen kleinen Hammer habe
ich mit, nur keinen Lötkolben“, sagte der Fahrer. „Aber den bekommen wir
schon in Drachenstadt. Unser Mechaniker Druckknopf besitzt einen.“
Alle drei setzten sich ins Auto, und nach wenigen Minuten waren sie in der
Hauptstraße von Drachenstadt.
In Drachenstadt
Drachenstadt lag am Ufer des Melonenflusses. Hier gab es keine Bäume, dafür
wuchsen überall viele Blumen … genau wie in Blumenstadt. Die Häuser waren
wunderhübsch anzusehen. Jedes Dach lief in eine Spitze aus. Holzhähne drehten
sich darauf im Winde, oder Spielzeugwindmühlen wirbelten pausenlos herum.
Viele Mühlen waren mit Holzklappern versehen, die unaufhörlich rasselten.
Über die Stadt schwebten unzählige Papierdrachen. Drachensteigen war die
Lieblingsbeschäftigung der Einwohner, und daher hatte die Stadt auch ihren
Namen erhalten. Die Drachenstädter Knirpseriebe hatten ihre Drachen mit
besonderen Sirenen ausgestattet. Solche Sirenen kann man aus einem
gewöhnlichen Stück Papier machen, das auf eine Schnur gespannt wird. Das
Papier schwankt im Wind und gibt dabei einen durchdringenden Ton von sich.
Das vielstimmige Heulen der Drachen vereinigte sich mit dem Geklapper der
Windmühlen – über der Stadt hing ein unaufhörliches Dröhnen.
Die Fenster waren mit gegitterten Läden versehen.
Wenn nun in den Straßen ein Fußballkampf ausgetragen wurde, schloß man
einfach die Fensterläden. Sie ließen genügend Licht ins Zimmer und schützten
gleichzeitig die Fensterscheiben vor dem Fußball, der aus unerklärlichen
Gründen niemals dahin flog, wohin er fliegen sollte, sondern unweigerlich in ein
Fenster.
Von der Hauptstraße bog das Auto in eine Seitengasse ein und hielt vor einem
Brettertor mit einer Pforte. Auf dem Tor saß eine Holzspitze, die von einer
glänzenden Glaskugel gekrönt war. In der Kugel spiegelte sich die ganze Stadt
mit Häusern, Zäunen und dem Auto vor dem Tor – nur, daß alles auf dem Kopf
stand.
Der Fahrer – er hieß übrigens Kringel – stieg aus, ging zur Pforte und drückte
auf einen Knopf, der in der Mauer verborgen war. Lautlos öffnete sich die Pforte.
„Tretet ein“, sagte Kringel. „Ich will euch mit Druckknopf bekannt machen –
einer interessanten Persönlichkeit. Ihr werdet ja sehen.“
Die drei Freunde gingen zum Haus hinüber. Nachdem Kringel die kleine
Steintreppe erstiegen hatte, suchte er in der Mauer einen Knopf und drückte
darauf. Auch diese Tür öffnete sich lautlos, und unsere Freunde standen in einem
Zimmer.
Das Zimmer war leer – nur an der einen Wand war eine Hängematte befestigt.
In der Matte lag ein Knirps. Er trug einen himmelblauen Overall, hatte die Beine
übereinandergeschlagen und die Hände tief in den Taschen vergraben.
„Schläfst du noch, Druckknopf?“ fragte Kringel. „Es ist doch längst Tag.“
„Ich schlafe nicht, ich denke nach“, erwiderte Druckknopf und wandte sich
seinen Gästen zu. „Darf ich vorstellen – das sind die Mechaniker Schraubschnell
und Schraubstift. Sie brauchen einen Lötkolben.“
„Guten Tag. Nehmen Sie bitte Platz“, erwiderte Druckknopf.
Schraubschnell und Schraubstift sahen sich verlegen um, denn sie fanden im
ganzen Zimmer keine Sitzmöglichkeit. Aber Druckknopf streckte die Hand aus
und drückte auf einen Knopf neben der Hängematte an der Wand. Im gleichen
Augenblick klappten von der gegenüberliegenden Wand drei Klappsessel
herunter, die genauso konstruiert waren wie die Klappsessel im Theater.
Schraubschnell und Schraubstift setzten sich. „Haben Sie bemerkt, daß bei
mir alles nach Knöpfen funktioniert?“ fragte Durckknopf. „Wünschen Sie
vielleicht einen Tisch? Bitte sehr …“
Eine Tischplatte klappte von der Wand und hätte Schraubschnell beinahe eine
Beule geschlagen. „Nicht wahr, das ist sehr bequem?“ erkundigte sich
Druckknopf.
„Erstaunlich“, bestätigte Schraubschnell, sah sich aber mißtrauisch um, ob
ihm nicht vielleicht noch etwas auf den Kopf zu fallen drohte.
„Die Technik an der Grenze des Phantastischen!“ rief Druckknopf
überschwenglich.
„Unbequem ist nur, daß man an der Wand sitzen muß“, warf Kringel ein.
„Ja, ich habe gerade darüber nachgedacht, wie man die Stühle beweglich
machen kann“, erklärte der Erfinder.
„Vielleicht wäre es einfacher, gewöhnliche Stühle zu konstruieren“, meinte
Schraubstift.
„Das ist ein guter Einfall“, sagte Druckknopf erfreut. „Das Geniale ist immer
das Einfachste. Du bist wohl auch Mechaniker, mein Lieber?“
„Ja, freilich“, bestätigte Schraubstift. „Wir sind beide Mechaniker.“
„Ihr braucht also einen Lötkolben?“
Wieder drückte Druckknopf auf einen Knopf, und zur Verblüffung der
Zuschauer begann die Hängematte langsam herabzusinken. Sie sank so lange,
bis Druckknopf auf dem Boden lag.
„Wenn man einer gewöhnlichen Hängematte entsteigt, kann man leicht mit
dem Fuß an einem Strick hängenbleiben und fallen“, sprach Druckknopf,
während er sich vom Fußboden erhob. „Bei meiner mechanisierten Hängematte
ist diese Gefahr, wie ihr seht, vollständig beseitigt. Man läßt sich ruhig auf den
Fußboden nieder und steht von dort wieder auf. Will man schlafen gehen, macht
man es genau umgekehrt.“
Druckknopf schlenderte durch das Zimmer und berührte dabei verschiedene
Knöpfe. Neue Tische, Stühle und Regale klappten herab, und es öffneten sich die
Türen zu verschiedenen Schränken und Truhen. Schließlich drückte er auf den
letzten Knopf und versank im Keller.
„Kommen Sie hierher“, rief er eine Minute später vom Hof herein.
Die Freunde rannten auf den Hof.
„Das ist meine Garage“, sagte Druckknopf und führte Schraubschnell und
Schraubstift zu einem Steinschuppen mit breiter Eisentür.
Er berührte einen Knopf, und die Tür rollte sich hoch – wie der Vorhang im
Theater. Dahinter stand eine sonderbare Maschine mit einer Unzahl von Rädern.
„Dies ist ein achträdriges Dampfauto mit Pistazienkühlung“, erklärte
Druckknopf. „Vier Räder sind unten und vier oben. Für gewöhnlich fährt der
Wagen auf den unteren Rädern; die oberen sind für den Fall angebracht, daß der
Wagen umkippt. Sämtliche acht Räder sind gewinkelt, das heißt schräg
anmontiert, damit das Auto nicht nur in normaler Lage fahren kann, sondern
auch auf der Seite und verkehrt herum. Damit ist jede Unfallmöglichkeit
ausgeschaltet.“
Druckknopf kroch in den Wagen und führte die Fahrt in allen vier Lagen vor.
Danach setzte er seine Erklärungen fort.
„Statt eines gewöhnlichen Tanks besitzt das Auto einen Kessel, in dem die
Brause erhitzt wird. Dabei entsteht Dampf, und der verstärkt den Kolbendruck.
Die Folge ist, daß sich die Räder schneller drehen. Hinter dem Kessel befindet
sich ein Gefäß zur Bereitung von Pistazieneis, mit dem der Zylinder gekühlt
wird. Wenn das Eis geschmolzen ist, fließt es durch ein Rohr in den Kessel und
dient zur Schmierung des Motors. Das Auto hat vier Gänge, außerdem einen
Rückwärtsgang und einen Seitengang. Im rückwärtigen Teil des Wagens ist eine
Vorrichtung zum Wäschewaschen eingebaut. Die Wäsche kann während der
Fahrt bei beliebiger Geschwindigkeit gesäubert werden. Im Zustand der Ruhe,
das heißt an den Haltestellen, kann das Auto Holz hacken, Lehm mischen,
Ziegel pressen und sogar Kartoffeln schälen.“
Tief beeindruckt folgten die Freunde Druckknopf in seine Werkstatt, wo alles
mögliche Gerümpel lag. Da gab es alte, zerbrochene Fahrräder und Fahrradteile,
Roller und eine Unmasse von hölzernen Kreiseln und Bauklötzen. Als
Druckknopf in seinem Gerümpel das Unterste zuoberst gekehrt hatte, schlug er
sich plötzlich an die Stirn und sagte: „Ach, bin ich eine Schlafmütze! Den
Lötkolben habe ich ja bei Heilergeist vergessen. Ihr müßt zu Hellergeist fahren.“
„Werist denn das?“ fragte Schraubschnell, nachdem sich unsere Freunde von
Druckknopf verabschiedet hatten und aus dem Tor getreten waren.
„Hellergeist ist ein Schriftsteller“, sagte Kringel.
„Ach, wirklich?“ rief Schraubstift „Es interessiert mich sehr, ihn
kennenzulernen. Ich habe noch niemals mit einem lebendigen Schriftsteller
gesprochen.“
„Gleich sollt ihr ihn sehen. Es ist auch eine in ihrer Art interessante
Persönlichkeit“, antwortete Kringel und setzte sich ans Steuer.
Bei einem Schriftsteller zu Besuch
Hellergeist stand am offenen Fenster seines Arbeitszimmers. Er hatte die Arme
über der Brust verschränkt und blickte verträumt in die Ferne. Sein Haar war
glatt zurückgekämmt; seine dichten schwarzen, über der Nasenwurzel
zusammengewachsenen Augenbrauen waren gerunzelt und verliehen seinem
Gesicht einen gedankenvollen Ausdruck. Kringel begrüßte ihn mit lauter
Stimme, stellte ihm Schraubschnell und Schraubstift vor und sagte. daß sie
gekommen seien, um den Lötkolben zu holen. Doch Hellergeist blickte weiter
aus dem Fenster und machte dabei ein so konzentriertes Gesicht, als wollte er
einen überaus witzigen, klugen Gedanken, der ihm im Kopf herumging und sich
nicht fassen ließ, beim Schwanz packen. Kringel zuckte die Schultern und warf
Schraubschnell und Schraubstift einen spöttischen Blick zu, der ausdrücken
sollte: Bitte, ich habe es euch gleich gesagt.
Endlich schien Hellergeist wieder zu sich zu kommen. Er wandte sich den
Eingetretenen zu und sprach, die Worte gewichtig dehnend, mit weicher,
angenehmer Stimme: „Seid mir gegrüßt! Ich bitte um Vergebung. meine
Freunde. Ich befand mich vorhin sozusagen im Zustand geistiger Abwesenheit,
ich weilte in anderen Sphären“ Dann stellte er sich vor: „Hellergeist“, und hielt
Schraubschnell die Hand hin.
Schraubschnell drückte die dargebotene Hand, die so weich war wie ein rohes
Kotelett, und nannte seinen Namen.
„Hellergeist“, wiederholte Hellergeist und reichte Schraubstift mit
schwungvoller, weitausholender Bewegung die Hand.
„Schraubstift“, erwiderte Schraubstift und drückte das Kotelett ebenfalls.
„Hellergeist“, sprach Hellergeist zum dritten Male und wollte Kringel die
Hand geben.
„Wir kennen uns doch schon“, antwortete Kringel. „Ach, das ist ja Kringel“,
rief Hellergeist und machte ein erstauntes Gesicht. „Guten Tag, guten Tag! Ich
bitte Platz zu nehmen, meine Freunde … Sie haben diesen Druckknopf also
bereits kennengelernt?“ fragte Hellergeist und bewies damit, daß er trotz seines
geistigen Aufenthaltes in anderen Sphären sämtliche Worte Kringels vernommen
hatte. „Er hat Ihnen wohl seine Klapptische und Klappstühle gezeigt?“
Schraubschnell nickte. Hellergeist machte ein spöttisches Gesicht und meinte:
„Hehe! Diese Erfinder sind allesamt merkwürdige Käuze. Sagen Sie mir bitte,
was haben all diese Klapptische und versenkbaren Hängematten für einen Sinn?
Ich für meinen Teil sitze viel lieber in einem gewöhnlichen, bequemen Stuhl, der
nicht verschwindet, sobald ich mich erhoben habe, und schlafe angenehmer in
einem Bett, das nicht unter mir hinauf- und hinabrutscht. Wer kann mich
zwingen, in einer Hängematte zu schlafen?“
„Das wird natürlich niemand von Ihnen verlangen“, beruhigte ihn Kringel.
„Druckknopf ist ein Erfinder und bemüht sich, alles zu vervollkommnen. Das
braucht nicht immer von Erfolg gekrönt zu sein, aber er hat trotzdem viele
nützliche Erfindungen gemacht. Er ist ein tüchtiger Meister in seinem Fach.“
„Ich habe niemals das Gegenteil behauptet“, widersprach Hellergeist. „Er ist,
wenn Sie es genau wissen wollen, ein sehr tüchtiger, ein ganz ausgezeichneter
Meister seines Faches. Er hat mir einen großartigen Phonographen konstruiert.“
„Phonograph – was ist denn das?“ fragte Schraubschnell.
„Eine Sprechmaschine. Sehen Sie hier.“
Hellergeist führte seine Gäste zu einem Tisch, auf dem ein kleines Gerät
stand.
„Dieses Kistchen oder Köfferchen – nennen Sie es, wie Sie wollen – hat an
der Seite eine kleine Öffnung. Sie brauchen nur ein paar Worte hineinzusprechen
und dann auf einen Knopf zu drücken, so wird der Phonograph Ihre Worte genau
wiederholen. Versuchen Sie es einmal.“ Hellergeist sah Schraubschnell
aufmunternd an.
Schraubschnell beugte sich zur Öffnung des Gerätes hinab und sagte:
„Schraubschnell, SchraubschnelL Schraubstift, Schraubstift.“
„Und Kringel“, fügte Kringel hinzu.
Hellergeist drückte auf einen Knopf, und zur allgemeinen Verwunderung
lispelte der Apparat mit näselnder Stimme: „Schraubschnell, Schraubschnell.
Schraubstift, Schraubstift. Und Kringel.“
„Wozu brauchen Sie diese Sprechmaschine?“ erkundigte sich Schraubschnell.
„Aber ich bitte Sie!“ rief Hellergeist. „Ein Schriftsteller ohne so eine
Maschine ist wie ein Mensch ohne Hände. Ich kann den Phonographen in jeder
x-beliebigen Wohnung aufstellen – er wird alles festhalten, was man dort spricht.
Ich brauche es dann nur noch aufzuschreiben, und schon ist der Roman oder die
Novelle fertig.“
„So einfach ist das?“ Schraubstift war ganz verblüfft. „Aber ich habe doch
irgendwo gelesen, daß der Schriftsteller eine Idee haben muß …“
„Äh, Ideen!“ unterbrach Hellergeist ihn ungeduldig. „Ihr könnt ja versuchen,
euch eine einfallen zu lassen, wenn andere Leute schon vorher sämtliche
verfügbaren Ideen gehabt haben. Übernimmt man aber etwas direkt, sozusagen
von der Natur, dann bekommt man, was kein Schriftsteller zuvor gehabt hat.“
„Es wird aber nicht jeder damit einverstanden sein, daß Sie in seiner Stube
eine Sprechmaschine aufstellen“, meinte Schraubschnell.
„Ich mache es ja auch insgeheim“, erwiderte Hellergeist. „Ich besuche
jemanden mit dem Phonographen, der, wie Sie sich überzeugen konnten, die
Form eines kleinen Koffers besitzt. Beim Weggehen vergesse ich das Köfferchen
unter dem Tisch, und später habe ich das Vergnügen zu hören, worüber sich die
Gastgeber in meiner Abwesenheit unterhalten haben.“
„Worüber unterhalten sie sich denn?“ fragte Schraubstift neugierig. „Das ist
sehr interessant.“ „Alle meine Erwartungen wurden übertroffen“, bestätigte
Hellergeist. „Es stellte sich heraus, daß sie über gar nichts sprechen, sondern in
schallendes Gelächter ausbrechen, krähen, bellen, grunzen, miauen.“
„Erstaunlich“, rief Schraubschnell.
„Das ist auch meine Meinung“, pflichtete Hellergeist ihm bei. „Wenn man mit
ihnen zusammen ist, reden sie vernünftig. Kaum geht man fort, so bricht der
Irrsinn aus. Hören Sie sich meine gestrige Aufzeichnung einmal an.“
Hellergeist drehte eine Platte um, die sich unter dem Deckel des Köfferchens
befunden hatte, und drückte auf den Knopf. Zuerst zischte etwas, dann knallte
es, als schlüge eine Tür zu. Einen Augenblick herrschte Ruhe, danach brach
ohrenbetäubendes Gelächter aus. Einer krähte, ein anderer miaute, ein dritter
bellte. Darauf blökte jemand wie ein Schaf. Eine Stimme sagte: „Laßt mich mal,
ich mache einen Esel.“ Und er schrie: „I-aa! I-aa.“ Und jetzt wie ein Füllen. I-
hü-hü-hü!“ Neues Gelächter.
„Sehen Sie – das heißt, hören Sie?“ Hellergeist zuckte die Schultern.
„Ja, davon kann man kaum etwas für einen Roman verwenden“, meinte
Schraubschnell nachdenklich. „Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?“ sagte
Kringel zu Hellergeist. „In der Stadt wissen alle schon von dem Phonographen,
und wenn Sie fortgegangen sind, schreien sie absichtlich allen möglichen Unsinn
hinein.“
„Weshalb schreien sie denn Unsinn?“
„Nun, Sie wollten die anderen überlisten, und jetzt hat man Sie überlistet.
Man macht sich lustig über Sie.“
Hellergeist wurde wütend.
„Meinen Sie! Ich werde den Phonographen unter dem Fenster verstecken.
Jetzt sehen Sie sich bitte dies hier an: Was ist das wohl?“ Hellergeist zeigte
seinen Gästen ein ungefüges Gerät, das einem zusammengefalteten Zelt,
vielleicht auch einem riesengroßen Regenschirm ähnelte. „Wahrscheinlich ein
Regenschirm“, vermutete Schraubstift.
„Nein, kein Regenschirm, sondern ein zusammenklappbarer
Schriftstellertisch mit Stuhl“, gab Heilergeist zurück. „Wir wollen einmal
annehmen, Sie brauchen eine Waldbeschreibung. Dann gehen Sie in den Wald,
klappen den Tisch auf, setzen sich bequem hin und schreiben alles auf, was Sie
ringsum erblikken. Nehmen Sie doch zur Probe Platz“, bat er Schraubstift.
Er drückte auf einen Knopf. Das Ding klappte auseinander und verwandelte
sich in ein Tischehen mit Stuhl. Als Schraubstift daran Platz nahm, war er
gezwungen, die Beine in der allerunnatürlichsten Weise zu verschränken. „Sie
empfinden Behagen“, fuhr Hellergeist fort, „und verspüren sogar eine gewisse
Begeisterung. Sie werden zugeben, daß diese Art zu schreiben bequemer ist, als
wenn man im Gras oder auf dem nackten Boden sitzen muß.“
Schraubstift empfand weder Behagen noch Begeisterung. Eher das Gegenteil:
Die Beine schliefen ihm ein. Er kroch hinter dem Tisch hervor und fragte:
„Sagen Sie, bitte, was für ein Buch haben Sie geschrieben?“
„Bisher noch kein einziges“, bekannte Hellergeist. „Die Schriftstellerei ist ein
komplizierter Beruf. Bevor man Schriftsteller wird, muß man sich das nötige
Rüstzeug beschaffen, und das ist, wie Sie sehen, nicht so einfach. Erst mußte ich
warten, bis der tragbare Tisch fertig war. Das dauerte Jahre. Dann wartete ich auf
die Konstruktion des Phonographen. Sie wissen ja, daß die Handwerker gern
alles vertagen. Besonders schlimm ist es mit Druckknopf_ Stellen Sie sich vor:
Zweieinhalb Jahre brauchte er für die Erfindung dieses Gerätes. Ihm war es ja
gleichgültig, ob ich so lange warten konnte oder nicht. Der Phonograph ist
selbstverständlich ein kompliziertes Gerät, aber wozu soll man eine Sache noch
komplizierter machen, als sie ist?“
„Hat er das getan?“ fragte Schraubschnell.
„Allerdings. Er hat nicht nur einen einfachen Phonographen konstruiert,
sondern ihn mit einem Staubsauger kombiniert. Sagen Sie mir bitte, was ich mit
einem Staubsauger anfangen soll! Darüber vergingen weitere anderthalb Jahre.
Na, macht nichts.“ Heilergeist winkte ab. „Jetzt habe ich ihn ja.“
„Man müßte eine Maschine erfinden, die für den Schriftsteller denkt“, meinte
Schraubstift.
„Da haben Sie recht.“ Hellergeist seufzte.
Die Freunde blickten aus dem Fenster und sahen, daß die Sonne bereits
unterging. Sie baten um den Lötkolben und verabschiedeten sich.
Farbenklecks bei der Arbeit
Während Schraubschnell und Schraubstift nach Drachenstadt gingen, um einen
Lötkolben aufzutreiben, war auch in Grünstadt allerhand passiert. Der Tag hatte
damit begonnen, daß Farbenklecks Schneeglöckchens Porträt malte. Er brauchte
beinahe zwei Stunden dazu, aber dafür sah das Bild auch aus, als lebte es. Die
Ähnlichkeit war verblüffend.
Das Porträt wurde in einem Parterrezimmer an die Wand gehängt, damit alle
es betrachten konnten. Die Knirpselinen strömten in Scharen herbei. Jede, die
das Porträt sah, wollte ebenfalls von Farbenklecks gemalt werden, aber
Schneeglöckchen ließ niemanden in das Atelier, weil Farbenklecks gerade
Blauäugleins Porträt malte undauf keinen Fall gestört werden durfte.
Nimmerklug hatte oben herumgestanden und Farbenklecks alle möglichen
überflüssigen Ratschläge gegeben, um den Eindruck zu erwecken, als verstünde
auch er eine ganze Menge von der Malerei. Da hörte er den Lärm im Flur. „Was
ist das für ein Krach?“ schrie er und rannte die Treppe hinunter. „Verduften Sie
gefälligst!“
Die armen Knirpselinen vergaßen, sogar, sich über diese Grobheit zu
empören – so groß war ihr Wunsch, den Künstler zu sehen. Im Gegenteil, sie
umringten Nimmerklug, nannten ihn „liebes Nimmerklügchen“ und flehten ihn
an, sie nicht fortzujagen.
„Dann stellen Sie sich der Reihe nach auf“, schrie Nimmerklug. Er drängte
die Knirpselinen auseinander und drückte sie gegen die Wand. „Sonst werden
alle weggejagt.“
„Hu, wie grob Sie sind, Nimmerklug!“ rief Schneeglöckchen. „Ich muß mich
ja für Sie schämen.“
„Keine Ursache“, gab Nimmerklug zurück.
Inzwischen hatte sich eine Knirpseline das allgemeine Durcheinander zunutze
gemacht und war zur Treppe vorgedrungen, die in den Oberstock führte.
Nimmerklug wollte sie am Arm packen. Sie aber blieb stehen, blickte ihn
hochmütig an und sagte kühl: „Na, na, man sachte. Ich komme außer der Reihe
dranich bin Dichterin.“ Nimmerklug riß vor Verblüffung den Mund auf. Die
Dichterio beachtete seine Verwirrung nicht weiter, sondern drehte ihm den
Rücken und erstieg gemächlich die Treppe.
„Wer ist das?“
„Eine Dichterin“, sagten die Knirpselinen.
„Aha!“ schnaufte Nimmerklug verächtlich. „Das ist doch nichts Besonderes.
Wir haben zu Hause auch einen Dichter – einen Schüler von mir. Ich habe ihm
früher einmal beigebracht, Gedichte zu schreiben, jetzt kann er es alleine.“
„Ach, wie interessant. Sie sind also ebenfalls Dichter?“
„Ich war es.“
„Ach, wie begabt Sie sind. Maler waren Sie und nun auch noch Dichter …“
„Und Musiker“, ergänzte Nimmerklug würdevoll. „Sagen Sie uns doch eins
Ihrer Gedichte auf.“ „Später, später“, entgegnete Nimmerklug und tat, als hätte
er keine Zeit.
„Und wie heißt Ihr Schüler?“
„Blüte heißt er.“
„Oh, wie hübsch!“ Die Knirpselinen klatschten in die Hände. „Unsere
Dichterio heißt Diamantenblüte. Wie ähnlich, nicht wahr?“
„Ja, recht ähnlich“, stirtmte Nimmerklug zu. „Und Verse schreibt sie!“
zwitscherten die Knirpselinen. „Gehen Sie nur nach oben, wahrscheinlich wird
sie Gedichte rezitieren. Es wäre interessant, Ihre Meinung darüber zu erfahren.“
„Ja, .dann werde ich wohl gehen.“ Nimmerklug nickte den Knirpselinen zu
und verschwand. Farbenklecks machte gerade die letzten Pinselstriche an
Blauäugleins Porträt. Diamantenblüte saß auf dem Sofa neben Geigenstrich und
plauderte mit ihm über Musik. Nimmerklug legte die Hände auf den Rücken,
spazierte im Zimmer auf und ab und schielte nach dem Sofa, wo die Dichterio
saß.
„Was pendeln Sie dauernd hier herum?“ sagte Diamantenblüte ärgerlich zu
Nimmerklug. „Setzen Sie sich doch bitte, Sie flimmern einem ja vor den
Augen.“
„Sie haben hier gar nichts zu befehlen“, gab Nimmerklug grob zurück. „Sonst
verbiete ich Farbenklecks, Ihr Porträt zu malen.“
„Ach nein!“ Diamantenblüte wandte sich an Farbenklecks: „Kann er Ihnen
wirklich etwas verbieten?“ „Natürlich, er kann alles“, antwortete Farbenklecks;
er war in die Arbeit verteift und hatte daher gar nicht gehört, was Nimmerklug
sagte.
„Jawohl, das kann ich“, wiederholte Nimmerklug nachdrücklich, „denn ich
bin der Anführer.“
Diamantenblüte merkte nun, daß Nimmerklug große Macht über die Knirpse
haben mußte, und sie beschloß, ihn für sich zu gewinnen.
„Sagen Sie, bitte – Sie haben den Luftballon erfunden?“
„Wer denn sonst!“
„Ich werde ein Gedicht über Sie verfassen.“
„Das hat mir gerade noch gefehlt“, schnaubte Nimmerklug.
„Sagen Sie das nicht“, säuselte Diamantenblüte.
„Sie wissen doch gar nicht, was für Gedichte ich mache. Dürfte ich Ihnen
vielleicht eins aufsagen?“
„Bitte, wenn Sie wollen“, stimmte Nimmerklug gnädig zu.
„Hören Sie nur:
Eine Mücke fing ich mir,
tiri, tiri, tirilir.
Denn ich liebe alle Mücken,
trala – lischka – trala – Iücken.
Doch das Mückchen weinte sehr,
armes Mückenkindchen! Nein, da hol ich lieber her einen kleinen Ameisbär.
Auch der Ameisbär war traurig,
und er weinte – oh, wie schaurig!
Deshalb will ich ihn nicht quälen
und mir jetzt ein Büchlein wählen.
„Bravo, bravissimo!“ rief Farbenklecks und klatschte in die Hände.
„Ausgezeichnete Verse“, pflichtete ihm Geigenstrich bei. „In ihnen wird nicht
nur von einer Mücke gesprochen, sondern auch davon, daß man Bücher lesen
soll … ein nützliches Gedicht.“
Farbenklecks hatte inzwischen Blauäugleins Porträt beendet. Die
Knirpselinen und die Knirpseriebe umringten es und schrien begeistert
durcheinander: „Wundervoll! Bezaubernd!“
„Lieber, können Sie mich nicht auch mit einem blauen Kleid malen?“ flehte
Diamantenblüte Farbenklecks an.
„Warum denn mit einem blauen, wenn Sie ein grünes tragen?“ meinte
Farbenklecks verwundert.
„Ach, Bester, Ihnen kann das doch gleichgültig sein. Ich hätte ja ein blaues
Gewand angelegt, wenn ich geahnt hätte, daß Blauäuglein in Blau so vorteilhaft
aussieht.“
„Na ja, das geht.“ Farbenklecks nickte.
„Und machen Sie mir bitte himmelblaue Augen.“ „Aber Sie haben doch
braune Augen“, widersprach Fabenklecks.
„Oh, Verehrtester, Ihnen macht das doch keine Mühe! Das Kleid ist grün, und
Sie malen mir ein blaues. Warum können Sie mir dann nicht statt meiner
braunen Augen himmelblaue machen?“ „Das ist ein Unterschied“, erklärte
Farbenklecks. „Sie können sich ein blaues Kleid anziehen, wenn Sie das
wünschen, aber Ihre Augen werden sich nicht blau färben – und wenn Sie es
noch so gern wollen.“
„Ach so. Ja, dann machen Sir mir braune Augen, aber so groß wie möglich.“
„Sie haben doch sehr große Augen.“
„Na, einigermaßen. Ich möchte sie aber gern noch größer haben. Und malen
Sie mir recht lange Wimpern.“
„Einverstanden.“
„Und mein Haar müssen Sie goldfarbig machen. Ich besitze beinahe goldenes
Haar“, flehte Diamantenblüte.
Farbenklecks war einverstanden.
Er begann die Dichterin zu porträtieren. Immer wieder sprang sie von ihrem
Sessel auf, rannte zur Staffelei und rief: „Die Augen noch ein wenig größer.
Noch ein wenig! Und geben Sie bei deii Wimpern noch etwas zu. Und den Mund
bitte etwas kleiner.“ Schließlich bekam Diamantenblütes Porträt so riesengroße
Augen, wie es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt, einen Mund, so winzig wie ein
Stecknadelkopf, und Haare, die aus purem Golde zu bestehen schienen. Das
ganze Bild wies nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit der Dichterin auf.
Schraubschnell und Schraubstift kehren
zurück
Das Porträt behutsam festhaltend, stieg Diamantenblüte die Treppe hinab und
war im Nu von den Knirpselinen umringt. Alle erklärten, ihr Porträt wäre viel
schöner als die Bilder von Schneeglöckchen und Blauäuglein, aber sehr viel
weniger ähnlich.
„Ihr seid ja dumm“, gab Diamantenblüte zurück. „Was haltet ihr für
wichtiger: die Schönheit oder die Ähnlichkeit?“
„Selbstverständlich die Schönheit“, meinten die Knirpselinen.
Da stürzten Schwalba und Sauertöpfchen atemlos ins Zimmer.
„So ein Unglück!“ schrien sie. „Ach, wir fallen in Ohnmacht.“
„Ist was passiert?“ riefen die Knirpselinen erschrocken.
„Wir gingen heute ins Krankenhaus …“, begann Schwalba.
„… um die Knirpseriche, die entlassen werden sollten, abzuholen“, fiel
Sauertöpfchen ein.
aber Pfefferminza sagte, daß die Knirpseriebe schon entlassen wären“,
unterbrach Schwalba.
„… und da baten wir, uns andere Knirpseriebe zu geben“, rief Sauertöpfchen
dazwischen und redete schnell weiter, damit Schwalba sie nicht unterbrechen
konnte.“ Und deshalb entließ Pfefferminza außerdem noch Schnurz und
Rennefix. Als wir auf die Straße traten, rannten sie weg und kletterten auf einen
Baum.“
„Sie hatten Angst, wir würden sie erziehen“, rief Schwalba lachend
dazwischen.
„Das fehlte uns gerade noch – Knirpseriebe erziehen!“ Sauertöpfchen verzog
das Gesicht.
„Wo sind sie jetzt?“ fragte Blauäuglein.
„Immer noch auf dem Baum“, erwiderte Schwalba. „Sie versuchen Äpfel
abzureißen.“
„Kommen Sie, wir wollen mal nachsehen“, schlug Schneeglöckchen vor.
Wirklich saßen Schnurz und Rennefix im Apfelbaum und bemühten sich,
einen Apfel zu pflücken. Sie drehten ihn hin und her, um den Stiel abzubrechen.
Plötzlich erblickten sie unten auf der Straße mehrere Knirpselinen, die ihnen
neugierig zusahen. Schnurz und Rennefix verdoppelten ihre Anstrengungen.
Schnurz versuchte sogar, den Stiel mit den Zähnen durchzunagen.
„Och, sie haben noch keinen einzigen Apfel losgekriegt“, klang eine Stimme
von unten.
Schnurz und Rennefix schauten hinab. „Sei du nur ganz stille, du Blauauge“,
brummte Schnurz. „Glaupst du etwa, das Abpflücken ginge so leicht?“
„Geht es leichter, wenn ich euch eine Säge bringe?“
„Red nicht so viel! Bring lieber eine her“, antwortete Rennefix.
Blauäuglein lief ins nächste Haus und holte eine Säge. Eine Minute später
war der Stiel durchgesägt. der Apfel fiel zu Boden.
„Los, Knirpselinen, bringt die Äpfel in den Keller!“ rief Blauäuglein. „Die
Knirpseriebe helfen uns.“ Die Knirpselinen liefen zu dem Apfel, der an der Erde
lag, und rollten ihn vor sich her bis zum nächsten Hof.
In Grünstadt besaß jedes Haus einen Keller für Obst und Gemüse, Die
Knirpselinen rollten den Apfel bis zum Haus, öffneten eine Tür zu ebener Erde
und schoben den Apfel hindurch. Hinter der Tür befand sich eine Holzrutsche,
über die der Apfel von allein in den Keller rollte. Als sie zurückliefen, rollten
ihnen andere Knirpselinen bereits einen neuen Apfel entgegen.
Die Arbeit lief auf Hochtouren. Libella rannte herbei. Sie hatte irgendwo eine
zweite Säge aufgetrieben und Trainingshosen angezogen. Jetzt stieg sie ebenfalls
auf den Baum. Aber Schnurz sagte: „He, du! Gib mal die Säge her. Du kannst
das doch nicht.“
„Ach, du kannst das wohl alleine?“ Libella lachte übermütig. Sie setzte sich
auf einen Ast, preßte die Lippen aufeinander und begann den Stiel eines Apfels
durchzusägen. Schnurz sah ihr eine Weile zu, dann meinte er: „Laß uns
zusammen arbeiten. Zuerst sägst du, und ich verschnaufe, dann säge ich, und du
verschnaufst.“
„Einverstanden“, antwortete Libella.
Da kamen einige Knirpselinen aus dem Haus neben der Garage und erzählten,
daß Schraubschnell und Schraubstift spurlos verschwunden wären. Die anderen
Knirpselinen sagten ihnen, die beiden seien früh am Morgen nach Drachenstadt
gegangen und noch nicht zurückgekommen.
„Da seht ihr es“, zeterte Schwalba. „Ich habe es ja gleich gesagt. Bald werden
alle Knirpseriebe nach Drachenstadt rennen. Sie wollen nicht in unserer Stadt
leben.“
„Laß sie doch laufen“, erwiderte Blauäuglein. „Mit Gewalt halten wir
niemanden.“
Das Verschwinden der beiden Techniker erregte die Gemüter noch bis zum
Abend. Als schon niemand mehr glaubte, daß Schraubschnell und Schraubstift
jemals wieder nach Grünstadt zurückkommen würden, tauchte ein Auto auf.
Fauchend und knatternd kam es immer näher. Die Knirpselinen ließen die Arbeit
liegen und rannten ihm entgegen. Sauertöpfchen und Schwalba liefen vornweg
und riefen: „Schraubschnell und Schraubstift sind wieder da!“ Als die
Knirpselinen zur Garage kamen, sahen sie, daß auch Kringel mitgekommen war.
„Das ist doch Kringel aus Drachenstadt“, schrie Sauertöpfchen empört. „Wir
haben Sie doch gar nicht eingeladen.“
„Denkste“, antwortete Kringel. „Eure Einladung brauche ich nicht.“
„Was heißt hier: Denkste!“ mischte sich Schwalba ein. „Wir gehen nicht zu
euch, und ihr kommt nicht zu uns.“
„Sie können ruhig kommen. Wir jagen Sie doch nicht weg.“
„Sie haben uns zu Silvester mit Schneebällen beworfen.“
„Na und? Eine kleine Schneeballschlacht. Sie hätten uns ebenfalls mit
Schneebällen bewerfen sollen.“ „Sie müßten doch wissen, daß Knirpselinen
nicht gern in den Schnee fassen.“
„Ein Irrtum!“ Kringel zuckte die Schultern. „Aber wir haben doch nicht
gedacht, daß Sie deshalb ein langes Gesicht ziehen und für immer beleidigt sein
würden.“
„Nein, Sie waren beleidigt. Warum hätten Sie sonst Nagelpiek zu uns
geschickt? Wissen Sie denn, was er hier alles angerichtet hat?“
„Für Nagelpiek können wir nicht“, verteidigte sich Kringel. „Auch bei uns hat
er alles mögliche angestellt. Wir haben ihn sogar verprügelt, aber wir brachten es
trotzdem nicht fertig, ihn umzuerziehen. Und wir haben ihn nicht zu Ihnen
geschickt. Er hat aus eigener Initiative bei Ihnen gearbeitet.“
„Gearbeitet“, fauchte Sauertöpfchen. „Arbeit nennt er das! Nein, wir wollen
nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Wir brauchen Sie nicht, wir haben jetzt
unsere eigenen Knirpseriebe.“
„Und ich will auch nichts mit Ihnen zu tun hahen. Sie können mir den Buckel
runterrutschen. Ich hahc nur Schraubschnell und Schraubstift hergchracht, nun
setze ich mich in mein Auto und fahre wicdc=r zurück!“
Wütend ging Kringel weg. Aber er fuhr trotzdem no:h nicht nach
Drachenstadt, sondern half Schrauhschnell und Schraubstift bei der Reparatur
des Autos. Kein Chauffeur wird seine Kameraden im Stich lassen. Wenn er einen
anderen am Auto montieren sieht, stellt er sich sofort dazu, stochert am Motor
herum, dreht an einem Bolzen oder einer Schraube, oder gibt einfach Ratschläge.
Zu dritt arbeiteten sie bis tief in die Nacht, aber es gelang ihnen nicht, das
Auto in Gang zu bringen; dazu war eine sehr umfangreiche Reparatur
erforderlich.
Wunder der Mechanisierung
Am nächsten Morgen ging Blauäuglein ins Krankenhaus und erzählte
Pfefferminza, daß sich die entlassenen Knirpseriebe nicht auf der Straße
herumprügelten, sondern im Gegenteil: Sie hätten den Knirpselinen sogar bei der
Apfelernte geholfen. Pfefferminza sagte: „Wie schön, daß Sie eine passende
Beschäftigung für die Knirpseriche gefunden haben. Ich möchte Sie bitten, auch
Pipe und Schussel in die Arbeit einzuschalten. Sie werden heute entlassen.“
„Könnte nicht noch jemand entlassen werden?“ bat Blauäuglein. „Es ist
schade, die Knirpseriche hier festzuhalten, wenn eine so wichtige Arbeit auf sie
wartet.“
„Gestern habe ich doch Schnurz und Rennefix außer der Reihe entlassen“,
antwortete Pfefferminza. „Aber man könnte noch Schweigestill entlassen. Er ist
sehr friedfertig.“
„Und wen noch?“
Pfefferminza setzte sich die Brille auf und blickte in die Liste.
„Nudeldick und Saftschleck könnte man entlassen. Sie sind ebenfalls
friedfertig. Eigentlich dürfte Nudeldick noch nicht entlassen werden; er ißt
nämlich zuviel Süßigkeiten. Aber vielleicht verringert sich sein Appetit, wenn er
an die frische Luft kommt. Saftschleck müßte man ebenfalls noch länger
hierbehalten, weil er zuviel Brause mit Saft trinkt. Aber wir wollen sie trotzdem
entlassen, weil sie höflich zu mir waren.“
Pfefferminza sah noch einmal die Liste durch. „Für Bums ist es zu früh“,
sagte sie. „Sein Fuß ist noch nicht geheilt. Bums ist ein richtiger Patient.“ „Und
Brummer?“ fragte Blauäuglein.
„Auf keinen Fall“, rief Pfefferminza. „Dieser Brummer ist ein scheußlicher
Kerl! Dauernd brummt er, dauernd ist er unzufrieden. Lassen Sie ihn nur hier
sitzen – dafür, daß er so ungezogen ist. Obgleich ich, offen gesagt, ihn mit
Vergnügen loswürde. Und auch diesen unerträglichen Rizinus, der
seltsamerweise behauptet, er sei Arzt, und mir dauernd zu beweisen versucht,
daß meine Heilmethoden falsch sind.“
„Entlassen Sie doch beide, damit sie Ihnen nicht länger auf die Nerven
fallen“, schlug Blauäuglein vor.
„Um keinen Preis! Wissen Sie, meine Liebe, was mir dieser ekelhafte Rizinus
neulich sagte? Er sagte, daß ich die Kranken nicht gesund, sondern im Gegenteil
die Gesunden krank mache. Was für eine Flegelei! Nein, ich werde ihn genau bis
zur vereinbarten Frist hierbehalten. Vorher kommt er nicht heraus. Und
Brummer ebenfalls nicht.“
Auf diese Weise erreichte Blauäuglein, daß außer Pipe und Schussel auch
Schweigestill, Nudeldick und Saftschleck entlassen wurden. Nur Bums,
Brummer und Rizinus mußten im Bett bleiben. Bums nahm diese
Ungerechtigkeit schweigend hin, denn sein Fuß schmerzte immer noch, aber
Brummer und Rizinus hätten sich vor Wut fast die Haare ausgerissen.
Schraubschnell, Schraubstift und Kringel waren bei Morgengrauen
aufgestanden und hatten sich aufs neue an die Autoreparatur gemacht. Doch die
Sonne stand schon hoch am Himmel, als das Auto endlich losfauchte und der
Motor ansprang. Nach einer Runde ums Haus, bei der sie mächtige Staubwolken
aufwirbelten, fuhren sie aus dem Tor und rasten die Straße hinab. Bald erblickten
sie Knirpselinen, die 6ei der Obsternte waren. Rennefix, Schussel, Schnurz und
Pipe saßen auf dem Apfelbaum. Geigenstrich, Schweigestill und Libella
arbeiteten daneben auf einem Birnbaum. Die Knirpselinen rollten die Äpfel nach
allen Richtungen davon.
Nimmerklug lief zwischen den Arbeitenden umher und kommandierte
dauernd: „Fünf Mann hierher. fünf Mann dorthin! Zurück, sonst werdet ihr
zerquetscht: Gleich fällt eine Birne herunter. Auseinander, andernfalls stehe ich
für nichts ein.“
All das hätte auch ohne Lärm vor sich gehen können, aber Nimmerklug
glaubte, daß die Arbeit stocken würde, wenn er aufhörte zu kommandieren.
Saftschleck und Nudeldick halfen auch bei der Ernte. Sie versuchten eine
Birne wegzurollen, aber die Birne wollte durchaus nicht, wohin sie sollte,
sondern ganz woandershin. Jeder weiß, daß eine Birne ganz anders geformt ist
als ein Apfel, wenn man sie anstößt, rollt sie im Kreise herum. Als die Birne
vom Baum fiel, bekam sie eine Druckstelle, und durch das Anschieben
zerquetschten Saftschleck und Nudeldick sie vollständig. Von Kopf bis Fuß
waren sie mit süßem Saft eingeschmiert und leckten sich nun dauernd die Finger
ab.
Schraubschnell und Schraubstift kamen gerade dazu. „He, Nimmerklug!“ rief
SchraubschnelL „Warum gibt es bei euch keine Mechanisierung?“ „Das hat mir
noch gefehlt“, wehrte Nimmerklug ab. „Wir wissen vor Äpfeln nicht wohin und
sollen uns auch noch die Mechanisierung auf den Hals laden. Wo soll ich denn
eine Mechanisierung hernehmen?“
„Wir werden die Äpfel und Birnen mit dem Auto wegtransportieren.“
„Eine gute Idee!“ rief Nimmerklug. „Fahrt unter den Baum – wir werden den
ersten Apfel gleich ins Auto fallen lassen.“
„Halt, so geht es nicht“, widersprach Schraubschnell. „Wenn die Äpfel vom
Baum direkt ins Auto fallen, dann gehen die Äpfel entzwei und das Auto dazu.
Wir werden sie an einem Strick herunterlassen.“
„Richtig“, schrie Nimmerklug. „Knirpselinen, bringt einen Strick!“
Schnell holten die Knirpselinen einen Strick herbei. Nimmerklug nahm ihn in
die Hand, wußte aber nicht, was er damit anfangen sollte. Dann tat er so, als
wäre ihm etwas eingefallen, gab Schraubschnell den Strick und sagte: „Na, dann
mach mal.“
Schraubschnell warf den Strick über einen Ast des Apfelbaumes und befahl
Rennefix, das obere Ende an den Stiel eines Apfels zu binden. Das andere Ende
gab Schraubschnell den Knirpselinen zu halten. „Jetzt mußt du sägen“, rief er
Rennefix zu.
Wenige Minuten später war der Stiel durchgesägt, und der Apfel hing am
Strick. Schraubschnell bat Kringel, das Auto genau unter den hängenden Apfel
zu fahren. Die Knirpselinen ließen den Apfel allmählich herunter. Er sank in den
Laderaum des Autos. Der Strick wurde losgebunden, und das Auto brachte den
Apfel ins Haus.
„Jetzt wollen wir das zweite Auto holen“, sagte Kringel.
Sie fuhren in die Garage, wo Kringels Wagen stand. Wenige Minuten später
kamen sie mit zwei Autos zurück. Eins fuhr Äpfel ab und das andere Birnen.
„Ja, das sind die Wunder der Mechanisierung!“ prahlte Nimmerklug.
„Wahrscheinlich habt ihr Knirpselinen davon noch nicht einmal geträumt.“
Die Flucht
Die Mechanisierung erleichterte die Arbeit beträchtlich. Beide Autos
transportierten das Obst zu den Kellern. Äpfel und Birnen wurden einzeln
geladen, die Pflaumen dagegen zu je fünfen auf einmal. Dank der
Mechanisierung hatten viele Knirpselinen nichts zu tun, aber statt die Hände in
den Schoß zu legen, errichteten sie auf der Straße zwei Zelte. In das eine
brachten sie Brause mit Saft und in das andere Pasteten, alle möglichen Kekse
und Bonbons. Nudeldick ließ sich sogleich im Zelt mit den Pasteten und
Bonbons häuslich nieder, während Saftschleck über die Brause mit Saft herfiel.
Beide waren nicht mehr aus den Zelten herauszubekommen.
Plötzlich hörten die Knirpse gellendes Geschrei und sahen Doktor Rizinus
über die Straße rennen. Das gesamte Dienstpersonal des Krankenhauses mit
P{efferminza an der Spitze raste hinter ihm her. Rizinus war fast nackt, das
heißt, er trug nur seinen Zwicker und Turnhosen. Er floh zu einem Baum und
kletterte geschwind am Stamm empor.
„Warum sind Sie fortgelaufen, Patient?“ schrie Pfefferminza, als sie vor dem
Baum angekommen war. – „Ich bin kein Patient mehr“, gab Rizinus zurück und
kletterte noch ein Stückehen höher. „Wir haben Sie noch nicht entlassen.“
P{efferminza war ganz außer Atem.
„Ich habe mich selbst entlassen“, spottete Rizinus und streckte Pfefferminza
die Zunge heraus.
„Ach, Sie frecher Kerl! Auf Ihre Kleider können Sie lange warten.“
„Hab ich gar nicht nötig“, erwiderte Rizinus lachend. Pfefferminza machte
kehrt und entfernte sich hocherhobenen Hauptes. Das gesamte Dienstpersonal
folgte ihr. Rizinus erkannte, daß die Gefahr vorüber war, und kletterte vom
Baum.
Die Knirpselinen umringten ihn und fragten teilnahmsvoll: „Ist Ihnen kalt?
Sollen wir Ihnen etwas zum Anziehen bringen?“
Rizinus nickte. ja, bitte, tun Sie das.“
FlöckcheQ. holte ein grüngestreiftes Kleid.
„Ich kann doch kein Kleid anziehen“, staunte Rizinus. „Alle Leute würden
mich für eine Knirpseline halten.“
„Na und? Ist es etwa schlecht, eine Knirpseline zu sein?“
„Ja, freilich.“
„Sie halten uns für schlecht?“
„Nein, Sie sind gut …“, suchte Rizinus sich herauszuwinden. „Aber
Knirpseriebe sind besser.“ „Wieso denn?“
„Wir haben Geigenstrich. Wissen Sie, was er für ein Musiker ist? Sie haben
niemals gehört, wie er Flöte spielen kann!“
„Doch! Aber unter uns gibt es viele Knirpselinen, die Harfe spielen.“
„Wir haben Farbenklecks. Sie sollten einmal sehen, was er für Porträts malt.“
„Das haben wir gesehen. Aber bei Ihnen gibt es nur den einen Farbenklecks;
bei uns kann jede Knirpseline malen und sogar mit bunten Fäden sticken.
Könnten Sie so ein schönes Eichhörnchen sticken, wie ich es auf der Schürze
habe?“ fragte Eichhörnchen.
Rizinus winkte ab und griff nach dem Kleid. Schnell zog er es an, dann aber
hob er die Arme, spreizte die Beine und beschaute sich von allen Seiten. Als
Nimmerklug Rizinus in einem so ungewöhnlichen Aufzug sah, prustete er los.
Die übrigen Knirpseriebe stimmten in sein Gelächter ein. „Daß ihr euch nicht
schämt!“ rief Sauertöpfchen empört. „Hier gibt es überhaupt nichts zu lachen.“
Doch das Gelächter wollte nicht verstummen. „Ich will das Kleid nicht!“ erklärte
Rizinus energisch und zog es aus. „Ich bekomme bald meine eigenen Sachen.“
„Pfefferminza wird sie nicht herausgeben. Sie ist sehr streng.“
Rizinus grinste nur geheimnisvoll.
Als Pfefferminza und die Schwestern ins Krankenhaus zurückkehrten, stellten
sie fest, daß auch Brummer verschwunden war. Sie rannten in die
Kleiderkammer: Zwei Kleiderbündel fehlten.
Jetzt wurde allen der Fluchtplan klar, den sich Brummer und Doktor Rizinus
ausgedacht hatten. Rizinus sollte unbekleidet aus dem Fenster springen. Die
beiden Bösewichte rechneten damit, daß ihm das gesamte Krankenhauspersonal
nachlaufen würde. Inzwischen drang Brummer ungehindert in die
Kleiderkammer ein und holte seine und Doktor Rizinus’ Sachen.
Pfefferminza suchte die ganze Umgebung des Krankenhauses nach Brummer
ab, doch sie konnte ihn nicht entdecken, weil er in einem Löwenzahngebüsch
hockte.
Brummer war außer sich vor Freude, daß er seine Freiheit erlangt hatte. Froh
und zufrieden betrachtete er den klaren, blauen Himmel und das frische, grüne
Gras. Nie im Leben brumme ich wieder, schwor er sich im stillen, wenn ich nur
nicht mehr ins Krankenhaus brauche.
Schließlich sah Brummer, daß Pfefferminza im Krankenhaus verschwand.
Rasch kroch er aus seinem Versteck hervor und suchte den Doktor, um ihm die
Kleider zu geben.
„Nimm deine Sachen, Leidensgenosse“, sagte Brummer und streckte Rizinus
das Bündel entgegen. Rizinus fiel seinem Kameraden um den Hals. Sie waren
während ihres Krankenhausaufenthaltes dicke Freunde geworden. Schnell zog er
sich an.
Schussel, Schnurz, Schraubschnell und die übrigen Knirpseriebe umringten
Brummer und beglückwünschten ihn. Alle wunderten sich üher sein vergnügtes
Gesicht.
„Ich sehe Brummer zum ersten Male lächeln“, meinte Nudeldick.
Auch die Knirpselinen kamen hinzu und schauten Brummer neugierig an.
„Wie heißen Sie?“ fragte Flöckchen.
„Brummer.“
„Sie scherzen wohl.“
„Der Blitz soll mich erschlagen! Warum glauben Sie das?“
„Sie haben ein so gutmütiges, freundliches Gesicht.
Dieser Name paßt nicht zu Ihnen.“
Vor Vergnügen grinste Brummer von einem Ohr zum anderen.
„Ich bin es, der nicht mehr zu seinem Namen paßt“, sagte er schlagfertig.
„Wollen Sie auf einen Baum klettern?“ schlug ihm Sauertöpfchen vor.
„Darf ich das denn?“
„Warum nicht? Wir werden Ihnen eine Säge bringen, und dann arbeiten Sie
mit den anderen zusammen.“ „Ich möchte auch eine Säge haben“, bat Doktor
Rizinus.
„Sie haben es zwar nicht verdient, weil Sie die Knirpselinen verachten, aber
wir verzeihen Ihnen“, erklärte Sauertöpfchen.
Die Knirpselinen brachten zwei Sägen, und die beiden machten sich ebenfalls
an die Arbeit. Ach, das war viel schöner als in Pfefferminzas Krankenhaus!
Farbenklecks rationalisiert seine Arbeit
Am nächsten Tag ging die Apfel- und Birnenernte weiter. In den Straßen von
Grünstadt erschien noch ein drittes Auto- Druckknopfs achträdrigcs
Dampfautomobil.
Als nämlich in Drachenstadt bekannt wurde, daß Kringel verschwunden war,
besann man sich, daß er Schraubschnell und Schraubstift mit dem Auto nach
Grünstadt gebracht hatte. Druckknopf wurde gebeten, hinzufahren und
festzustellen, ob ein Unglück passiert sei. So fuhr Druckknopf nach Grünstadt,
und als er sah, daß Kringel bei der Obsternte half, machte er einfach mit.
Die Drachenstädter warteten bis zum Abend, aber auch am folgenden Tage
kam er nicht zurück. Alle möglichen Gerüchte liefen durch die Stadt. Einige
sagten, auf der Straße nach Grünstadt habe sie eine Knochenhexe
niedergelassen, die alles fräße, was sie erblickte. Andere meinten, es sei keine
Hexe, sondern ein Gespenst. Wieder andere bestritten, daß es Gespenster gäbe;
sicher sei es ein dreiköpfiges Ungeheuer, das nicht an der Landstraße, sondern
direkt in Grünstadt wohne. Jeden Tag verzehre es eine Knirpseline, aber wenn
ein Knirpserich in der Stadt auftauchte, so fräße es lieber den, weil Knirpseriche
besser schmeckten als Knirpselinen.
Kein Drachenstädter fand mehr den Mut, nach Grünstadt zu gehen und
festzustellen, was los war. Trotzdem meldete sich schon nach kurzer Zeit ein
Wagehals, der sagte, er würde die Lage klären. Es war der berüchtigte
Nagelpiek. Die Drachenstädter wußten, daß Nagelpiek ein Heißsporn und
imstande war, dem unersättlichen Ungeheuer geradewegs in den Rachen zu
rennen. Alle versuchten ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber Nagelpiek
blieb fest. Er erklärte, er habe ein schlechtes Gewissen, und das quäle ihn jetzt.
Seine Streiche in Grünstadt verlangten eine Sühne, er wolle hingehen und dem
Ungeheuer auf den Schwanz spucken. Dann würde es fraglos seinen Geist
aushauchen, und seine Missetaten hätten ein Ende. Woher Nagelpiek wußte, daß
Ungeheuer an Spucke sterben, konnte niemand ergründen.
Nagelpiek machte sich auf den Weg. Manchen Drachenstädtern tat er leid.
Andere sagten wieder, ohne ihn gäbe es einen Raufbold weniger, und dann
wurde es in Drachenstadt friedlicher werden.
„Aber das ist doch unsere Schuld, wir hätten ihn umerziehen müssen“,
meinten seine Fürsprecher. „So einen kann man gar nicht umerziehen“, sagten
seine Gegner.
Wahrscheinlich hatte Nagelpick denen, die jetzt für ihn eintraten, noch keinen
saftigen Streich gespielt; seine Gegner hatten ihn wohl schon kennengelernt. Wir
zu erwarten war, kehrte auch Nagelpiek nicht zurück, und nun glaubten die
Drachenstädter ohne Ausnahme an das Gerücht von dem Ungeheuer. Man
erzählte sich die haarsträubendsten Dinge. Jeder dichtete dem Ungeheuer einen
Kopf hinzu; bald hieß es, das Vieh habe hundert Köpfe.
Das waren selbstverständlich nichts als Hirngespinste. Besonders kluge Leser
haben wahrscheinlich von allein erraten, weshalb Nagelpiek nicht zurückkehrte,
aber denen, die noch nicht daraufgekommen sind, wollen wir verraten, daß
Nagelpiek keineswegs verschlungen worden war, weil es gar kein Ungeheuer in
Grünstadt gab.
Nagelpiek war ganz einfach vom Arbeitseifer der anderen angesteckt worden.
Er hatte ebenfalls Lust bekommen, Äpfel abzusägen. Das war ebenso interessant
wie gefährlich. Und welcher Knirpserich geht wohl einer Gefahr aus dem Wege?
In diesen Tagen saß nur Farbenklecks zu Hause. Er malte Porträts. Jede
Knirpseline wünschte eins, und sie richteten ihn mit ihren Forderungen fast
zugrunde. Jede wollte unbedingt die Allerschönste sein. Und Farbenklecks wies
vergebens darauf hin, daß jede auf ihre Art schön war und daß selbst kleine
Augen hübsch aussehen können. Nein! Sämtliche Knirpselinen verlangten große
Augen, lange Wimpern, geschwungene Augenbrauen und einen kleinen Mund.
Schließlich hörte Farbenklecks auf zu streiten und malte, wie es von ihm
verlangt wurde. Das war auch viel einfacher, denn dadurch konnte Farbenklecks
die Porträtarbeit rationalisieren. Da alle das gleiche von ihm verlangten,
beschloß er, eine sogenannte Schablone anzufertigen. Er nahm ein Stück festes
Papier und schnitt hinein: zwei große Augen, gewölbte Augenbrauen, ein höchst
elegantes Näschen, winzige Lippen, ein kleines Kinn mit einem Grübchen und
an den Seiten zwei wohlgeformte Öhrchen. Oben schnitt er eine üppige Frisur
aus, unten einen schlanken Hals und zwei kleine Hände mit schmalen
Fingerchen. Mit Hilfe der Schablone machte er nun Schablonenbilder: Er legte
die Schablone auf ein Stück Papier und fuhr mit einem Pinsel über die Stelle, wo
die Lippen ausgeschnitten waren. Dadurch entstand auf dem Papier die
Zeichnung zweier Lippen. Hierauf malte er in der gleichen Art mit einem
fleischfarbenen Pinsel Nase, Ohren und Hände. Es folgten dunkle oder helle
Haare, braune oder blaue Augen. Auf diese Weise entstand ein Schablonenbild.
Farbenklecks fertigte viele Schablonenbilder an. Hatte die betreffende
Knirpseline blaue Augen und blondes Haar, so nahm er eins mit blauen Augen
und blonden Haaren, machte es noch ein wenig ähnlicher, und das Porträt war
fertig. Hatte eine Knirpseline dunkles Haar und dunkle Augen, so nahm er das
dazu passende Schablonenbild.
Diese Vervollkommnung beschleunigte die Arbeit außerordentlich. Außerdem
erkannte Farbenklecks, daß jeder Knirpserieb nach der Schablone Bilder
anzufertigen vermochte. Deshalb zog er Schnurz hinzu. Schnurz wurde ein
erfolgreicher Schablonenmaler; seine Bilder waren nicht schlechter als die von
Farbenklecks. Eine solche Arbeitsteilung beschleunigte die Arbeit noch mehr,
was auch vonnöten war, denn die Anzahl der Porträtbestellerinnen vergrößerte
sich von Tag zu Tag.
Schnurz war auf sein neues Amt außerordentlich stolz. Wenn er von sich und
Farbenklecks sprach, pflegte er würdevoll zu sagen: „Wir Künstler“. Doch
Farbenklecks war mit seiner Arbeit nicht zufrieden. Er sagte, daß man von allen
Porträts, die er in Grünstadt gemalt hatte, nur die Bilder von Schneeglöckchen
und Blauäuglein als wirkliche Kunstwerke bezeichnen könne; die übrigen
taugten höchstens als Topfdeckel.
Bums wird geheilt
Nach der Flucht von Brummer und Doktor Rizinus konzentrierte sich die
Aufmerksamkeit des gesamten Krankenhauspersonals auf seinen einzigen
Patienten: Bums.
Als Bums das erkannte, geriet er außer Rand und Band. Zum Mittagessen
verlangte er Bonbonsuppe und Marmeladengrütze. Oder er bestellte
Erdheerkoteletts .JOit Pilzsoße; jeder weiß, daß es so etwas gar nicht gibt. Dann
befahl er wieder, ihm Apfelmus zu bringen, und als er es bekam, erklärte er, daß
er Birnen-Kaltschale bestellt hätte. Stand die Kaltschale vor ihm, behauptete er,
sie röche nach Zwiebeln. Jeden Morgen schickte Bums eine Schwester in die
Stadt, um Bimmel, seinen Hund, zu suchen. Wenn die Schwester erschöpft in
das Krankenhaus zurückkehrte und hoffte, Bums würde seinen Hund inzwischen
vergessen haben, fragte er unweigerlich: „Na, hast du ihn gefunden?“
„Er .ist nirgends zu sehen.“
„Du hast ihn wahrscheinlich gar nicht gesucht.“
„Doch, Ehrenwort! Ich bin alle Straßen abgelaufen.“
„Wieso habe ich dich dann nicht rufen gehört? Geh und suche. ihn noch
einmal.“
Die arme Schwester wußte nicht mehr, wohin sie sich wenden sollte, und rief
von Zeit zu Zeit: „Bimmel, Bimmel! Daß dich der Teufel hole!“
Ihr war klar, daß alles Rufen keinen Sinn hatte, aber sie erfüllte Bums’
Verlangen, um den Kranken nicht aufzuregen.
Eine andere Schwester mußte beobachten, was die übrigen Knirpseriche
taten. Dreimal am Tage hatte sie Bericht zu erstatten: morgens, mittags und
abends. Eine dritte Schwester zwang er, ihm von früh bis spät Märchen zu
erzählen. Waren die Märchen langweilig, so warf er die Schwester hinaus und
verlangte, daß ihm eine andere geschickt wurde, die bessere Märchen erzählen
konnte. Er ärgerte sich schrecklich, weil seine Freunde ihn nicht besuchten. Kam
aber einer, so jagte er ihn weg und erklärte, er störe ihn beim Zuhören.
Pfefferminza sah, daß sich Bums’ Charakter von Tag zu Tag verschlechterte.
Dem Patienten konnte nur die Entlassung aus dem Krankenhaus helfen; aber
sein Fuß tat immer noch weh.
Außerdem schadete Bums sich selbst. Als er eines Morgens erwachte, merkte
er, daß sein Fuß nicht mehr schmerzte. Er sprang aus dem Bett und lief durch das
Zimmer. Aber kaum hatte er zehn Schritte getan, als der Fuß sich wieder
ausrenkte. Bums fiel zu Boden. Der arme Kerl mußte ins Bett zurückgetragen
werden. Der Fuß schwoll an, und abends bekam Bums Fieber. Pfefferminza saß
die ganze Nacht an seinem Bett. Dank ihrer Bemühungen ging die Schwellung
zurück, doch die Heilung des Fußes verzögerte sich.
Endlich bekam der Patient die Erlaubnis, für kurze Zeit das Bett zu verlassen.
Auf eine Krücke gestützt und sich mit der anderen Hand an der Wand
festhaltend, stelzte Bums vorsichtig durch das Zimmer. Später durfte er ein
Stündchen auf den Hof gehen und in Begleitung einer Schwester um das
Krankenhaus herumspazieren. Durch die Spaziergänge besserte sich der
Charakter des Patienten. Bums war nicht mehr so gereizt.
Doch sobald er ins Krankenhaus zurückkehren sollte, schrie er: „Ich will
nicht!“ und drohte der Schwester mit der Krücke. Es blieb nichts anderes übrig,
als den Patienten am Schlafittchen zu nehmen und ihn mit Gewalt ins Bett zu
befördern.
Infolge dieser energischen Maßnahmen machte die Genesung erhebliche
Fortschritte, und kurz darauf wurde Bums erklärt, daß er am nächsten Tag
entlassen würde. Die Knirpseriche und Knirpselinen nahmen die Nachricht mit
großer Freude auf.
Ganz Grünstadt lief zum Tor des Krankenhauses. Bums meinte: „Jetzt sind
wir wieder alle beisammen. Nur Immerklug fehlte noch und mein Bimmel.“
„Das macht nichts“, trösteten ihn die Knirpseriche, „vielleicht findet uns
Immerklug, und Bimmel wird schon auch noch irgendwo auftauchen.“
„Von allein bestimmt nicht“, gab Bums zurück. „Wir müssen sie suchen.“
„Ja“, sagte Nimmerklug. „Man muß diesen dummen Immerklug suchen, ohne
uns geht er sonst zugrunde.“
„Wieso ist er denn dumm?“ staunte Doktor Rizinus.
„Natürlich ist er dumm und ein Feigling dazu“, erwiderte Nimmerklug.
„Er ist gar kein Feigling …“, begann Brummer. Aber Nimmerklug unterbrach
ihn.
„Halt den Mund! Wer ist hier der Anführer, du oder ich? Oder willst du
vielleicht wieder ins Krankenhaus zurück?“
Brummer war sofort still.
Schneeglöckchen sagte: „Am Sonntag veranstalten wir einen Ball, weil nun
alle Kranken wieder gesund sind, und dann könnt ihr euren dummen Immerklug
suchen. Wenn ihr ihn gefunden habt, veranstalten wir noch einen Ball. Das wird
großartig.“
Di!! Obsternte war beendet. Alle Keller hatten sich bis an den Rand gefüllt,
aber an den Bäumen hingen noch immer unzählige Äpfel. Es wurde beschlossen,
sie den Drachenstädter Knirpserieben zu schenken. Ganz Grünstadt begann mit
den Ballvorbereitungen. Ein Teil der Bevölkerung säuberte den verunkrauteten
Tanzplatz und stellte Bänke auf. Schweigestill und Nagelpiek bewaffneten sich
mit Äxten und bauten neben dem Tanzplatz einen zweistöckigen
Orchesterpavillon. Die übrigen Knirpseriebe errichteten Zelte für Brause,
Speiseeis und sonstige Leckereien. Inzwischen probte schon das Orchester, für
das Geigen strich die zehn besten Harfenistinnen ausgewählt hatte.
Am erstaunlichsten war, daß Nagelpiek so eifrig mitmachte. Er war wie
umgewandelt.
„Wie nett von Ihnen, uns zu helfen“, sagte Sauertöpfchen.
„Warum auch nicht?“ gab Nagelpiek zurück. „Und wenn ich mir die Birne
einrennen sollte – die Arbeit führe ich aus.“
„Sie tun alles mit so viel Schwung, es ist eine reine Freude, Ihnen
zuzuschauen“, meinte Schwalba. „Man sieht Ihnen an, daß Sie mit Lust und
Liebe bei der Sache sind.“
„Freilich“, bekannte Nagelpiek. „Wenn es nichts für mich zu tun gibt, weiß
ich nicht, was ich machen soll, und tue dann immer das, was ich durchaus nicht
tun darf, und dann setzt es Keile.“
Nagelpiek schnupfte geräuschvoll und drohte mit der Faust. Wem, war nicht
ersichtlich.
„Was sind Keile?“ erkundigte sich Sauertöpfchen. „Na, ganz einfach Prügel“
„Ach, Sie Ärmster!“ rief Sauertöpfchen. „Tun Sie doch lieber nichts, was Sie
nicht dürfen. Kommen Sie zu uns. Bei uns wird sich immer Arbeit für Sie
finden: Zäune reparieren, zerbrochene Fenster verglasen …“
„Gut.“ Nagelpiek nickte.
„Kommen Sie auch zu unserem Ball?“
„Darf ich denn?“
„Warum nicht? Waschen Sie sich nur gründlich, und kämmen Sie sich hübsch
die Haare. Wir laden Sie ein.“
„Gut, ich komme. Danke!“
Sauertöpfchen gefiel es sehr, daß Nagelpiek so höflich mit ihr sprach und daß
er sogar danke sagte. Sie errötete vor Vergnügen, zog Schwalba beiseite und
flüsterte: „Es ist gar nicht schwierig, ihn zu erziehen.“
„Man muß ihn mehr loben“, meinte Schwalba. „Immer wenn er Unfug treibt,
muß man ihn ausschelten, und wenn er etwas gut macht, muß er gelobt werden.
Außerdem muß man ihm gute Manieren beibringen, er schnupft so häßlich durch
die Nase.“ „Dazu kommt seine ungepflegte Redeweise“, ergänzte Sauertöpfchen.
„Was sind das für Wörter: Birne, Keile! Wir müssen ihm die häßlichen
Ausdrücke allmählich abgewöhnen.“
Nagelpiek freute sich sehr, daß Sauertöpfchen ihn gelobt hatte, und arbeitete
nun noch eifriger.
Nagelpieks Heimkehr
Weil auch Nagelpiek ausgeblieben war, wagte kein Drachenstädter mehr, nach
Grünstadt zu gehen. Es verbreitete sich das Gerücht, das hundertköpfige
Ungeheuer würde bald alle Knirpselinen verschlungen haben und dann in
Drachenstadt erscheinen, um die Knirpseriche aufzufressen. Die Zeit verging,
aber das Ungeheuer zeigte sich nicht; dafür tauchte ein ganz unbekannter
Knirpserich in Drachenstadt auf.
Er erzählte, er sei mit Kameraden in einem Luftballon geflogen und
abgesprungen, als der Ballon zu sinken begann. Tief im Urwald sei er gelandet,
und seit dieser Zeit streife er durch Wald und Feld, um seine Kameraden zu
suchen, die mit dem Luftballon weitergeflogen seien.
Besonders aufmerksame Leser werden sicherlich schon erraten haben, daß
dieser Knirpserich niemand anders war als Immerklug. Statt sorglos nach Hause
zurückzukehren, hatte sich Immerklug entschlossen, seine Freunde zu suchen.
Die Drachenstädter berichteten Immerklug von den Knirpserichcn, die üher
Grünstadt abgestürzt waren. Zwei von ihnen seien nach Drachenstadt
gekommen, um einen Lötkolben zu holen, und dann mit dem Chauffeur Kringel
wieder nach Grünstadt zurückgefahren. Immerklug erkundigte sich näher nach
diesen beiden Knirpserichen. Als man ihm sagte, sie hätten beide Lederjacken
getragen, erriet er sogleich, daß es Schraubschnell und Schraubstift gewesen
waren. Der Schriftsteller Hellergeist bestätigte, daß die Knirpseriche tatsächlich
so geheißen hatten.
Immerklug wollte sich sofort nach Grünstadt begeben und bat, ihm den Weg
zu zeigen. Als die Drachenstädter das hörten, wurden sie sehr traurig und sagten,
es wäre unmöglich, nach Grünstadt zu gehen, weil es dort ein hundertköpfiges
Ungeheuer gebe, das alle Knirpselinen fräße, von den Knirpseriebengar nicht zu
reden.
„Mir ist noch nie ein hundertköpfiges Ungeheuer begegnet“, meinte
Immerklug mit ungläubigem Lächeln.
„Und wer hat unseren Kringel gefressen?“ riefen die Drachenstädter
durcheinander. „Wie viele Tage sind schon vergangen, seit er Schraubschnell
und Schraubstift nach Grünstadt brachte!“
„Und wer hat Druckknopf verschlungen?“ fragte einer. „Er ist nach Grünstadt
gefahren, um Kringel zu holen, und ebenfalls nicht zurückgekehrt. Was war er
für ein tüchtiger Mechaniker!“
„Und wer hat Nagelpiek zerrissen?“ rief ein anderer. „Nun, um ihn ist es nicht
schade, weil er, offen gesagt, unserer Stadt Schande machte, aber jemand muß
ihn doch gefressen haben.“
Immerklug dachte nach. Dann sagte er: „Der Wissenschaft ist von
hundertköpfigen Ungeheuern nichts bekannt. Folglich gibt es keine.“
Hellergeist widersprach: „Wissenschaftlich steht aber auch nicht fest, daß es
keine Ungeheuer gibt. Sie können also existieren. Wenn man von einer Sache
spricht, muß sie doch vorhanden sein.“
„Von Hexen spricht man auch“, erwiderte Immerklug.
„Gibt es denn Ihrer Meinung nach keine Hexen?“ „Natürlich nicht! Lassen
Sie doch die Ammenmärchen.“
Immerklug blieb bei seinem Entschluß, nach Grünstadt zu gehen, wie sehr
ihm die Drachenstädter auch abraten mochten. So gaben sie ihm zu essen und
zeigten ihm den Weg dorthin. Alle glaubten, er ginge in den sicheren Tod.
Da tauchte in weiter Ferne eine Staubwolke auf. Sie näherte sich geschwind
und wurde immer größer. Die Knirpseriebe rannten in wilder Flucht davon,
brachten sich in den Häusern in Sicherheit und lugten aus den Fenstern. Sie
glaubten, das hundertköpfige Ungeheuer nähere sich Drachenstadt. Nur
Immerklug blieb ruhig mitten auf der Straße stehen.
Bald sahen alle, daß drei Autos auf die Stadt zu fuhren. Sie hatten die
Staubwolke auf der Straße aufgewirbelt. Im ersten lag ein großer, rotbäckiger
Apfel, im zweiten eine reife Birne, und das dritte hatte ein halbes Dutzend
Pflaumen geladen. Die Autos hielten, und Kringel, Druckknopf und Nagelpiek
stiegen aus. Als die Knirpseriebe das sahen, rannten sie aus den Häusern und
fielen Kringel, Druckknopf und sogar Nagelpiek um den Hals. Sie fragten die
drei nach dem Ungeheuer, und als sie erfuhren, daß überhaupt keins existiere
und auch niemals existiert hätte, freuten sie sich schrecklich. „Warum seid ihr
denn so lange ausgeblieben?“ fragten sie.
„Wir haben bei der Obsternte geholfen“, erwiderte Nagelpiek. Weil
ausgerechnet Nagelpiek diese Antwort gab, mußten alle lachen.
„Vielleicht haben die beiden anderen gearbeitet, aber du qist sicher nur über
Zäune geklettert und hast Fensterscheiben eingeschlagen“, meinte Hellergeist
spöttisch.
„Aber woher denn!“ Nagelpiek war gekränkt. „Ich habe ebenfalls gearbeitet.
Ich bin … äh … sozusagen … umerzogen worden, jawohl!“
Druckknopf und Kringel bestätigten das. Die Knirpselinen seien mit seiner
Arbeit sehr zufrieden und hätten den Drachenstädtern deshalb einen Haufen
Äpfel, Birnen und Pflaumen geschenkt. Alle Knirpseriebe freuten sich, denn sie
aßen Obst sehr gern.
Als Kringel erfuhr, daß Immerklug nach Grünstadt wollte, erbot er sich, ihn
mit dem Auto hinzubringen.
Die Drachenstädter schlenderten mit fröhlichen Gesichtern durch die Straßen.
Sie freuten sich, weil es kein Ungeheuer gab, weil sich Kringel und Druckknopf
wieder eingefunden hatten und besonders, weil Nagelpiek umerzogen worden
war. Einige wollten allerdings noch nicht recht daran glauben und beobachteten
ihn mißtrauisch, weil sie fürchteten, er könnte wieder anfangen Fensterscheiben
einzuwerfen. Nach geraumer Zeit fanden sie Nagelpiek am Fluß. Er wusch seine
Kleider.
„Wozu mußt du dir plötzlich deine Sachen waschen?“ fragten sie ihn.
„Morgen gehe jch zum Ball“, erklärte Nagelpiek. „Dazu muß ich mich sauber
anziehen und mir das Haar kämmen.“
„In Grünstadt ist Ball?“
„Allerdings. Kringel und Druckknopf fahren auch hin.“
„Willst du damit sagen, daß du eingeladen bist?“ fragten die Knirpseriche
ungläubig.
„Was denn sonst.“
„Na so etwas!“ Die Knirpseriche waren platt.
Unerwartetes Wiedersehen
Die Ballvorbereitungen waren in vollem Gange. Der Orchesterpavillon und die
Zelte standen schon fertig da. Farbenklecks verzierte den Pavillon mit
schwungvollen Arabesken, und die übrigen Knirpseriche schmückten die
Tanzfläche mit Blumen, bunten Laternen und Fähnchen. Nimmerklug rannte von
einem zum anderen und gab mit schallender Stimme seine Befehle. Die Arbeit
ging ihm viel zu langsam voran. Zum Glück wußte jeder auch ohne
Nimmerklugs Anordnungen, was er zu tun hatte. Jemand kam auf den
Gedanken, um die Tanzfläche Bänke aufzustellen, aber es waren keine Bretter
vorhanden. Vor Ärger wollte sich Nimmerklug die Haare ausraufen.
„Ach“, schrie er, „hätten sie nicht mehr Bretter anfahren können! Jetzt sind
alle Autos in Drachenstadt. Na los, brecht ein Zelt ab! Daraus machen wir
Bänke.“
„Richtig“, schrie Schnurz und rannte schon mit der Axt in der Hand zum
nächsten Zelt.
„Bist du toll?“ sagte Farbenklecks. „Wir haben die Zelte mit so großer Mühe
erbaut und angestrichen, und jetzt sollen sie abgerissen werden?“
„Das geht dich nichts an“, schrie Schnurz. „Wir brauchen Bänke.“
„Man kann aber doch nicht das eine abbrechen, um das andere zu bauen.“
„Was kommandierst du hier herum“, mischte sich Nimmerklug ins Gespräch.
„Wer ist hier der Anführer, du oder ich? Wenn ich sage: Abreißen, dann wird
abgerissen.“
Wer weiß, wie dieser Streit ausgegangen wäre, wenn sich nicht plötzlich ein
Auto genähert hätte. „Kringel ist wieder da!“ riefen alle erfreut. „Jetzt können
wir die Bretter anfahren und brauchen das Zelt nicht abzureißen.“
Das Auto hielt, und Kringel kletterte heraus. Hinter seinem Rücken tauchte
ein zweiter Knirpserieb auf. Alle starrten ihn verwundert an.
„Das ist ja unser Immerklug!“ rief Doktor Rizinus. „Immerklug ist wieder
da!“ jauchzte Schussel. Flugs hatten die Knirpseriebe Immerklug umringt. Sie
fielen ihm um den Hals und küßten ihn ab.
„Endlich haben wir dich gefunden“, riefen sie. „Wieso habt ihr mich
gefunden?“ fragte Immerklug erstaunt. „Meiner Ansicht nach habe ich euch
gefunden.“
„Ja, richtig! Du hast uns gefunden, aber wir dachten, du hättest uns ganz
verlassen.“
„Ich euch verlassen?“ Immerklug wunderte sich wieder. „Ihr habt mich
verlassen.“
„Du bist doch mit dem Fallschirm abgesprungen, und wir sind
zurückgeblieben“, erinnerte sich Nudeldick.
„Weshalb seid ihr denn nicht abgesprungen? Ihr hättet mir nachspringen
müssen, denn der Ballon wäre sowieso nicht mehr lange geflogen. Aber
wahrscheinlich ist euch das Herz in die Hosen gerutscht.“
„Ja, ja, wir hatten Angst …“
„Natürlich!“ meinte Nimmerklug. „Es wäre interessant, festzustellen, wer als
erster Angst hatte.“ „Wer?“ wiederholte Pipe. „Du warst doch der este, dem das
Herz in die Hosen fiel.“
„Ich?“
„Natürlich du“, riefen alle. „Wer hat gesagt, daß man nicht zu springen
brauche?“
„Na gut, ich war es“, gestand Nimmerklug. ,;Aber weshalb .,habt ihr auf mich
gehört?“
Immerklug lächelte spöttisch. „Da habt ihr gerade den richtigen Befehlshaber
gefunden. Hattet ihr vergessen, daß Nimmerklug ein Esel ist?“
„Na bitte.“ Nimmerklug zuckte die Schultern. „Jetzt bin ich also der Esel.“
„Und ein Feigling“, fügte Saftschleck hinzu. „Und ein Lügner“, ergänzte
Nudeldick.
„Wann habe ich gelogen?“
„Wer behauptete denn, den Luftballon erfunden zu haben?“ fragte Nudeldick.
„Unsinn:“ Abwehrend hob Nimmerklug die Hände. „Ich habe den Luftballon
doch gar nicht erfunden. Immerklug war das.“
„Und wer hat erklärt, er sei unser Anführer?“ schrie Saftschleck.
„Ich? Ich bin doch bloß … doch bloß ein Garnichts.“ Nimmerklug wurde
ganz kleinlaut.
„Jetzt spucken wir auf dich! Jetzt ist Immerklug unser Anführer“, schrie
Saftschleck weiter.
Die Knirpselinen, die das ganze Gespräch mit angehört hatten, brachen in
lautes Gelächter aus. Sie sahen nun, daß Nimmerklug ein ganz gewöhnlicher
Prahlhans war.
Schwalba und Tönnchen rannten davon, um dies allen anderen zu berichten.
Blauäuglein trat vor Nimmerklug hin und sagte verächtlich: „Weshalb haben
Sie uns getäuscht? Wir glaubten Ihnen und meinten, Sie wären tatsächlich klug,
ehrlich und kühn. Nun kommt es heraus, daß Sie ein jämmerlicher Betrüger und
verachtungswürdiger Feigling sind.“
Sie drehte Nimmerklug den Rücken und ging zu Immerklug, der bereits von
vielen Knirpselinen umringt war. Alle wollten gern hören, was er erzählte.
„Sagen Sie, ist es wahr, daß die Erde nur so groß wie ein Pfannkuchen
aussieht, wenn man mit dem Luftballon fliegt?“ erkundigte sich Eichhörnchen
bei Immerklug.
„Nein, das ist nicht richtig“, erwiderte er. „Die Erde ist sehr groß und scheint
immer größer zu werden, je höher man mit dem Luftballon aufsteigt, weil man
ih der Höhe einen viel weiteren Ausblick hat.“
„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß die Wolken sehr fest sind und von Ihnen
mit einer Axt durchgehackt werden mußten?“ fragte Blauäuglein.
„Das ist ebenfalls unrichtig“, antwortete Immerklug.
„Die Wolken sind wie Luft, weil sie aus Nebel bestehen.“
Nun wollten die Knirpselinen wissen, ob es stimmte, daß Luftballons mit
Dampf aufgeblasen würden, ob es stimmte, daß der Luftballon mit der Gondel
nach oben fliegen könne, ob es stimmte, daß sie beim FI:ug eine Kälte von
tausend Grad erlebt hätten. Immerklug antwortete, das sei alles falsch, und
fragte: „Wer hat Ihnen solchen Unsinn eingeredet?“
„Das war Nimmerklug.“ Häslein kicherte.
Alle drehten sich zu Nimmerklug um und brachen in schallendes Gelächter
aus. Nimmerklug wurde knallrot vor Scham und wäre am liebsten in die Erde
versunken. Er rannte davon und versteckte sich in einem Löwenzahngebüsch.
Hier werde ich sitzen bleiben, bis sie diese dumme Geschichte vergessen
haben. Dann krieche ich wieder heraus, beschloß er.
Immerklug hatte große Lust, Grünstadt zu besichtigen. Blauäuglein,
Schneeglöckchen und die übrigen Knirpselinen begleiteten ihn, um ihm alle
Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Aufmerksam betrachtete Immerklug die Brücke,
die über den Fluß geschlagen war, und dann nahm er die Wasserleitung aus
Schilfrohr in Augenschein. Es gefiel ihm, daß bei den Knirpselinen überall
Ordnung und Sauberkeit herrschten. Die Knirpselinen freuten sich darüber und
luden Immerklug ein, die Inneneinrichtung ihrer Häuser zu besichtigen. In einer
Wohnung erblickte Immerklug einen Bücherschrank und sagte, daß er sich
gleich nach seiner Heimkehr einen bauen würde.
„Besitzen Sie denn keinen Bücherschrank?“ fragten die Knirpselinen.
„Nein“, bekannte Immerklug.
„Wo bewahren Sie dann Ihre Bücher auf?“
Immerklug machte eine abwehrende Handbewegung. Er schämte sich zu
gestehen, daß seine Bücher einfach auf oder unter dem Tisch und sogar unter
dem Bett herumlagen.
Selbstverständlich interessierte sich Immerklug auch für die Melonen. Die
Knirpselinen erzählten ihm von Strohblonda, und er äußerte den Wunsch sie
kennenzulernen. So machten die Knirpselinen Strohblonda ausfindig und stellten
sie Immerklug vor. Er fragte sie nach allem aus, und Strohblonda berichtete ihm
von ihren Versuchen mit zahlreichen Obst- und Gemüsesorten.
„Das ist ein gescheiter Knirpserich“, meinten die Knirpselinen. „Man sieht
ihm gleich an, daß er etwas lernen will.“
Nimmerklug hielt es in dem Löwenzahngebüsch natürlich nicht lange aus.
Von Zeit zu Zeit kroch er hervor, aber das bekam ihm schlecht. Die Knirpselinen
beachteten ihn zwar überhaupt nicht, dafür ließen ihm die Knirpseriebe keine
Ruhe.
„Nin1merklug ist ein Lügner“, schrien sie, sobald er auftauchte. „Ein
Prahlhans! Ein Feigling!“
Nein, sie haben es offenbar noch nicht vergessen, dachte er und rannte in das
Löwenzahngebüsch zurück.
„Ich krieche erst hervor, wenn der Ball beginnt.“
Die Versöhnung
Am nächsten Tag fand der Ball statt, den alle schon so ungeduldig erwartet
hatten. Rund um die Tanzfläche standen prächtige Zelte. prangten in leuchtenden
Farben – wie Pfeffcrkuchenhäuser. Über der Tanzfläche waren Seile gespannt, an
denen bunte Laternen und Fähnchen hingen. Auch an den Bäumen waren
Fähnchen und Laternen befestigt. Jeder Baum glich einer buntgeputzten
Weihnachtstanne.
Im zweiten Stock des blumengeschmückten Pavillons war das Orchester
untergebracht, das aus zehn Knirpselinen bestand. Jede Knirpseline spielte
Harfe. Winzige Harfen waren darunter, die man in der Hand halten mußte;
größere, die man .auf den Knien hielt; große, die auf dem Fußboden standen,
und eine riesengroße, die man nur spielen konnte, wenn man zuvor auf eine
Leiter geklettert war.
Der Tanz hatte noch nicht begonnen, aber alle hatten sich bereits um die
Tanzfläche versammelt und warteten auf die Gäste aus Drachenstadt. Als erster
erschien Nagelpiek. Er trug ein sauberes Hemd, war rein gewaschen und glatt
gekämmt. Allerdings stand sein Haarwirbel wieein Hahnenkamm vom
Hinterkopf ab; trotzdem war klar zu erkennen, daß Nagelpiek sein Haar
gründlich bearbeitet hatte.
„Jetzt sind Sie ein hübscher Knirpserich“, sagte Sauertöpfchen zu ihm. „So
sauber und geputzt fühlen Sie sich doch sicherlich viel wohler in Ihrer Haut.“
„Natürlich“, bekannte Nagelpiek und zupfte sein Hemd zurecht.
Nach Nagelpiek kamen Kringel und Druckknopf, und ihnen folgten
allmählich auch die übrigen Drachenstädter, obgleich sie niemand eingeladen
hatte. Jeder sagte einfach, er sei gekommen, um den Knirpselinen für das Obst
zu danken.
Nimmerklug saß tatsächlich bis zum Ballbeginn im Löwenzahngebüsch. Das
heißt, er hatte mehr gelegen als gesessen, kurz, er hatte geschlafen. Als er aber
sah, daß die Knirpseriche sich versammelten, kroch er hervor und lenkte seine
Schritte geradewegs zum Tanzplatz.
Kaum erblickten ihn die Knirpseriche, da schrien sie:
„Na, du Lügenbold, willst du etwa auch tanzen? Erzähle uns lieber, wie du
mit dem Kopf nach unten geflogen bist!“
„Wie hat denn die Wolke aus Haferbrei geschmeckt?“ rief Nudeldick.
Nimmerklug war schrecklich gekränkt. Die Knirpseriche riefen ihm noch
etwas nach, aber er hörte es nicht mehr.
Ohne auf den Weg zu achten, rannte er bis zum Stadtrand; dort stieß er gegen
einen Zaun, und sofort schwoll ihm eine Beule an der Stirn. Er blieb stehen, hob
den Kopf und las, was an den Zaun gekritzelt war: Nimmerklug ist dumm.
„Da haben wir’s“, sagte er. „Nun schreiben sie schon alles mögliche über
mich an den Zaun.“ Er tat sich so leid, so leid, es ist gar nicht zu beschreiben! Er
preßte die Stirn gegen den Zaun, und die Tränen purzelten ihm nur so aus den
Augen. „Ach, wie unglücklich ich bin!“ schluchzte er. „Alle werden jetzt über
mich lachen. Alle verachten mich. Und niemand, niemand auf der ganzen Welt
hat mich lieb.“
Lange stand er so da, den Kopf an den Zaun gedrückt, und weinte bitterlich.
Plötzlich fühlte er, wie jemand die Hand auf seine Schulter legte, und hörte eine
freundliche Stimme sagen: „Weinen Sie nicht, Nimmerklug.“
Er wandte sich um. Blauäuglein stand vor ihm. „Sie müssen nicht weinen“,
wiederholte sie.
Nimmerklug drehte ihr den Rücken, klammerte sich mit den Fäusten an den
Zaun und heulte noch lauter. Schweigend streichelte Blauäuglein seine Schulter.
Er ruckte mit der Schulter hin und her und versuchte ihre Hand abzuschütteln.
Schließlich stampfte er sogar mit dem Fuß auf.
„Nein, nein, Sie dürfen nicht böse sein“, redete ihm Blauäuglein zu. „Sie sind
doch ein lieber, guter Knirpserich. Sie wollten nur noch besser scheinen, deshalb
haben Sie geprahlt und uns getäuscht. Aber jetzt tun Sie das nicht mehr, gelt?“
Nimmerklug gab keine Antwort.
„Sagen Sie, daß Sie es nie wieder tun wollen. Sie sind , doch gut.“
„Nein, ich bin schlecht!“
„Aber es gibt noch schlechtere.“
„Nein, ich bin der Allerschlechteste!“
„Das ist nicht wahr. Nagelpiek war schlechter als Sie. Sie haben niemals
solche Gemeinheiten begangen wie Nagelpiek, und sogar der hat siCh gebessert.
Sagen Sie, daß Sie es nie wieder tun wollen, und beginnen Sie ein neues Leben!
Dann wollen wir das alte vergessen.“
„Na schön, ich will es nicht mehr tun“, brummte Nimmerklug mürrisch.
„Sehen Sie, das freut mich aber!“ Blauäuglein atmete auf. „Jetzt werden Sie
sich bemühen, ehrlich, kühn und klug zu sein. Dann brauchen Sie nicht mehr
besser scheinen zu wollen, als Sie sind. Habe ich recht?“
„Ja“, antwortete Nimmerklug.
Er warf Blauäuglein einen kummervollen Blick zu und lächelte unter Tränen.
Sie ergriff seine Hand. „Kommen Sie mit – dorthin, wo die anderen sind.“
Bald standen sie auf dem Tanzplatz. Als Nudeldick sah, daß Nimmerklug
zurückgekehrt war, brüllte er, so laut er konnte: „Nimmerklug ist ein Betrüger!
Nimmerklug ist ein Esel!“
„Erzähl doch, wie du die Wolke verschluckt hast“, schrie Saftschleck.
„Schämt euch, ihr Knirpseriche“, rief ßlauäuglein. „Weshalb hänselt ihr ihn?“
„Warum hat er gelogen?“
„Hat er euch etwa belogen?“ fragte Blauäuglein. „Uns hat er belogen, und ihr
habt dazu geschwiegen – ihr habt ebensoviel Schuld wie er.“
„Ihr seid um keinen Deut besser als er“, rief Schneeglöckchen.
„Wir sagen ja gar nicht, daß wir besser sind.“ Nudeldick zuckte die Schultern.
„Dann verspottet ihn auch nicht, wenn ihr selbst keine reine Weste habt“,
mischte sich Sauertöpfchen ins Gespräch.
Nudeldick und Saftschleck schämten sich. Sie hörten auf, Nimmerklug zu
necken. Schwalba ging zu ihm hin. „Sie Ärmster! Haben Sie geweint?
Knirpseriche sind eben töricht, aber wir werden es nicht zulassen, daß man Sie
kränkt.“ Dann lief sie zu ihren Freundinnen und flüsterte: „Man muß nett zu ihm
sein. Er hat einen Fehler gemacht und ist dafür bestraft worden. Jetzt sieht er
alles ein und wird sich bestimmt bessern.“
Sie umringten Nimmerklug und redeten ihm gut zu. Nimmerklug erklärte:
„Früher wollte ich mit den Knirpselinen nichts zu tun haben. Ich glaubte,
Knirsperiche wären besser, aber jetzt sehe ich, daß ich mich geirrt habe. Meine
eigenen Leute hänseln mich nur, während die Knirpselinen für mich eintreten.
Von nun an will ich immer ein guter Freund der Knirpselinen sein.“
Auf dem Ball
In diesem Augenblick setzte die Musik ein, und alle stürzten zur Tanzfläche.
Rennefix drehte sich mit der schwarzhaarigen Plaudertasche im Kreise, Häslein
tanzte mit Schneeglöckchen und Brummer mit Schwalba. Und wer hätte das
gedacht! Doktor Rizinus hatte Pfefferminza aufgefordert. Ja, ja! Pfefferminza
war ebenfalls auf den Ball gekommen. Den weißen Kittel, in dem man sie sonst
zu sehen gewohnt war, hatte sie mit einem schönen geblümten Kleid vertauscht.
Nichts erinnerte mehr an die strenge Pfefferminza, die in ihrem Krankenhause
eine so unumschränkte Herrschaft ausübte. Die Hand auf Rizinus’ Schulter,
drehte sie sich im Tanz und lächelte ihm zu.
„Trotzdem müssen Sie zugeben, daß unsere Heilmethode weit besser ist als
die Ihre. Hautabschürfungen, Schrammen, Wunden, blaue Flecke, Furunkel und
sogar Geschwüre müssen mit Honig eingerieben werden. Honig ist ein
ausgezeichnetes Desinfektionsmittel und verhütet auch die Eiterbildung.“
„Aber Sie werden zugeben müssen, daß Ihr Jod die Haut verbrennt, während
die Behandlung mit Honig vollständig schmerzlos ist.“
„Ich kann mir vorstellen, daß die Honigbehandlung für Knirpselinen geeignet
sein mag, für uns Knirpseriche taugt sie auf keinen Fall.“
„Weshalb denn nicht?“ fragte Pfefferminza erstaunt.
„Sie haben doch selbst gesagt, daß die Behandlung mit Honig vollkommen
schmerzlos ist.“
„Halten Sie es für unbedingt erforderlich, daß der Patient Schmerzen hat?“
„Unbedingt“, erwiderte Doktor Rizinus. „Wenn ein Knirpserich über den
Zaun klettert und sich das Bein schrammt, so muß die Schramme mit Jod
ausgebrannt werden, damit der Knirps von nun ab weiß, daß Zal}nklettern
gefährlich ist. Dann tut er es ein nächstes Mal nicht wieder.“
„Beim nächsten Mal klettert er nicht über den Zaun, sondern aufs Dach, fällt
herunter und schlägt sich den Kopf auf“, meinte Pfefferminza.
„Dann werden wir ihm den Kopf mit Jod bestreichen, damit er sich ein für
allemal merkt: Dachkletterei ist ebenfalls gefährlich. Jod ist ein hervorragendes
Erziehungsmittel.“
„Ein Arzt sollte nicht an die Erziehung denken, sondern daran, wie er dem
Kranken die Schmerzen lindert“, versetzte Pfefferminza. „Mit Ihrem Jod machen
Sie die Schmerzen nur noch größer.“
„Ein Arzt muß an alles denken“, erklärte Rizinus. „Wenn Sie Knirpselinen
behandeln, brauchen Sie selbstverständlich an gar nichts zu denken, aber bei den
Knirpserichen …“
„Reden wir lieber von etwas anderem“, unterbrach ihn Pfefferminza. „Es ist
ja einfach unmöglich, mit Ihnen zu tanzen.“
„Nein, Sie sind es, mit der man nicht tanzen kann.“
„Sie sind nicht sehr höflich.“
„Ja, ich bin unhöflich, wenn man so unmögliche Behauptungen aufstellt.“
„Sie sind es doch, der unmögliche Behauptungen aufstellt. Sie sind kein Arzt,
sondern ein unglückseliger Kurpfuscher!“
„Sie … Sie!“ Doktor Rizinus war sprachlos. Er blieb mitten auf der
Tanzfläche stehen und japste nach Luft – wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die
tanzenden Paare prallten gegen ihn. Pfefferminza wurde hin und her gestoßen.
Sie zog ihn am Ärmel. „Tanzen Sie doch weiter. Warum bleiben Sie stehen? Wir
sind den anderen im Wege.“ Rizinus winkte resigniert ab, und sie setzten sich
wieder in Bewegung. Anfangs tanzten sie schweigend, aber dann fingen sie
wieder an zu streiten.
Nudeldick tanzte mit Tönnchen. Ihr Gespräch drehte sich um ganz andere
Dinge.
„Mögen Sie Bonbons?“ fragte Nudeldick.
„O ja“, antwortete Tönnchen. „Und Sie?“
„Ich auch. Aber am liebsten esse ich Kuchen.“ „Ich esse am allerliebsten
Speiseeis.“ Schraubschnell tanzte mit Eichhörnchen.
„Ich träume immer davon, Auto fahren zu lernen“, erzählte Eichhörnchen.
„Bei uns gibt es viele Knirpselinen, die das können – dann werde ich es wohl
auch schaffen.“
„Das ist ganz einfach“, versicherte SchraubschnelL „Man drückt auf die
Kupplung, gibt Gas …“ Nimmerklug tanzte mit Blauäuglein, das heißt,
eigentlich tanzte nur Blauäuglein, Nimmerklug hüpfte herum wie ein
Ziegenbock, trat seiner Partnerin auf die Füße und stieß fortwährend die anderen
Paare an. Schließlich sagte Blauäuglein: „Wir wollen uns lieber ein wenig
setzen.“
Sie nahmen auf einer kleinen Bank Platz.
„Wissen Sie“, sagte Nimmerklug, „ich kann ja gar nicht tanzen.“
„Wie nett, daß Sie es eingestehen“, erwiderte Blauäuglein. „Ein anderer an
Ihrer Stelle hätte mir die Hucke voll gelogen, hätte gesagt, ihm täten Füße und
Arme weh. Ich sehe, daß man mit Ihnen gut Freund sein kann.“
„Natürlich“, pflichtete Nimmerklug ihr bei.
„Ich bin gern mit Knirpserichen befreundet“, meinte Blauäuglein. „Ich mag
die Knirpselinen nicht, weil sie sich zuviel auf ihre Schönheit einbilden und
immer vor dem Spiegel herumscharwenzeln …
„Unter den Knirpserichen gibt es auch welche, die gerne in den Spiegel
sehen“, antwortete Nimmerklug.
„Aber Sie doch nicht, Nimmerklug“
„Nein, so einer bin ich nicht.“
Das war gelogen. In Wirklichkeit scharwenzelte er, in den Anblick seiner
Schönheit versunken, häufig vor dem Spiegel herum, wenn niemand zusah.
Übrigens genauso wie jeder andere Knirpserich.
„Ich bin sehr froh, daß Sie nicht so einer sind“, antwortete Blauäuglein. „Wir
wollen Freunde sein. Ich schlage vor, daß wir uns Briefe schreiben. Immer
abwechselnd. Zuerst Sie, dann ich.“.
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Nimmerklug. Ich kann doch nur
Druckbuchstaben.
„Wozu denn einen Brief?“ stotterte er verlegen. „Wir wohnen doch nicht weit
voneinander. Wir können uns ja mündlich unterhalten.“
„Ach, Nimmerklug, Sie wollen auch gar nichts für , mich tun. Es ist doch so
interessant, einen Brief zu bekommen.“
„Na schön“, willigte Nimmerklug ein. „Ich werde einen Brief schreiben.“
Bald dunkelte es. Viele hundert Laternen leuchteten auf. Sie schimmerten
zwischen Bäumen und Zelten. Einige waren unter den Bäumen im Gras
versteckt, und es sah aus, als glühte das Gras in zauberischen Farben. Den
unteren Teil des Pavillons – oben spielte das Orchester – hatte bisher ein
schöner, himmelblauer Vorhang verdeckt. Plötzlich ging er auf, und eine Bühne
wurde sichtbar.
Darauf erschien die Dichterio Diamantenblüte und rief: „Achtung! Achtung!
Es beginnt unsere Festveranstaltung.“ Die Festteilnehmer ließen sich auf die
Bänke nieder, jede Unterhaltung verstummte.
„Achtung“ rief Diamantenblüte wieder. „Zuerst trete ich auf. Ich lese Ihnen
mein neues Gedicht über die Freundschaft.“
Knirpseriebe und Knirpselinen klatschten laut in die Hände. Als der Beifall
verstummt war, hob Geigenstrich seinen Dirigentenstab, das Orchester setzte ein,
und Diamantenblüte sagte unter Musikbegleitung ihr neues Gedicht auf. Es war
genauso gut wie alles andere, was Diamantenblüte verfaßt hatte, und endete mit
den Worten: „Laßt uns alle Freundschaft schließen, laßt die Freundschaft
dauernd sein!“ Nach dem Gedicht, das allen sehr gefiel, trat ein Tanzensemble
auf. Zwölf Knirpselinen in schönen bunten, bebänderten Kleidern tanzten
verschiedene Tänze, darunter den „Rübentanz“, der am besten gefiel. Er mußte
zweimal wiederholt werden. Danach trat der Chor der Drachenstädter
Knirpseriche auf. Als der Chor abgetreten war, verließ Geigenstrich sein
Orchester, rutschte an einem Stamm vom zweiten Stock ins Erdgeschoß,
kletterte auf die Bühne und rief: „Zu mir, Landsleute! Zu mir!“
Immerklug, Rennefix, Doktor Rizinus und die anderen Knirpse kletterten auf
die Bühne.
„Achtung!“ rief Geigenstrich. „Jetzt singt der Knirpserichenchor aus
Blumenstadt.“
Er spielte die Melodie auf seiner Flöte vor, dann stimmten alle Knirpseriche
das Lied vom Grashüpfer an, das der Dichter Blüte verfaßt hatte.
„Was sitzt denn da im Grase,
hüpft wie ein kleiner Hase?
Sieht grün wie Gürkchen aus,
sieht grün wie Gürkchen aus.
Grashüpfer, Gras nur ißt er,
nicht Wurm noch Käfer frißt er, tut keiner Fliege was, tut keiner Fliege was.
Da kommt ein Frosch gesprungen und hat ihn schon verschlungen, frißt ihn
mit Haut und Haar, frißt ihn mit Haut und Haar.
Grashüpfer, so zu sterben,
so elend zu verderben,
das hast du nicht gedacht,
das hast du nicht gedacht!“
Das Liedehen war so traurig, daß am Ende sogar die Sänger in Tränen
ausbrachen. Alle empfanden Mitleid mit dem armen Grashüpfer, den der
gefräßige Frosch verschlungen hatte.
„Es war ein so lieber Grashüpfer“, schluchzte Schussel.
„Niemandem hat er ein Haar gekrümmt, keiner Fliege hat er was getan“,
jammerte Rennefix. „Und doch hat ihn der Frosch verschlungen“, ergänzte
SchraubschnelL Nur Immerklugs Augen waren trocken geblieben. Er tröstete
seine Freunde: „Weint nicht, Kameraden. Der Frosch hat den Grashüpfer gar
nicht gefressen. So etwas gibt es ja gar nicht. Frösche fressen Fliegen.
Ehrenwort! Nur Fliegen.“
„Trotzdem“, schluchzte Schraubschnell. „Mir tun auch die Fliegen leid.“
„Warum denn? Fliegen sind ein lästiges Ungeziefer, und außerdem verbreiten
sie Krankheiten. Komischer Einfall – wegen einer Fliege zu weinen.“
„Ich weine doch nicht wegen der Fliege“, schnaufte Brummer. „Mir fällt nur
ein, als wir dieses Lied zum letzten Mal sangen, waren wir noch zu Hause.“ Da
heulte Nimmerklug so laut auf, daß den übrigen vor Verblüffung die Tränen
versiegten. Sie versuchten ihn zu trösten. Als sie ihn fragten, weshalb er denn so
bitterlich weinen müßte, vermochte Nimmerklug vor lauter Schluchzen kein
einziges Wort hervorzubringen. Endlich faßte er sich so weit daß er zwischen
einzelnen Schluchzern hervorstoßen konnte: „Ich hab … ich hab … ich hab
solche Sehnsucht nach Joppe!“
„Wieso denn?“ fragten die übrigen erstaunt. „Bisher hattest du noch niemals
Sehnsucht, und jetzt packt sie dich plötzlich?“
„Ja!“ Nimmerklug stampfte mit dem Fuß auf. „Ich bin hier, und Joppe ist
daheim geblieben.“
„Na, dein Joppe geht ohne dich schon nicht zugrunde“, meinte Rennefix.
„Doch! Er sehnt sich auch nach mir! Joppe ist mein allerbester Freund, und.
ich habe mich nicht einmal von ihm verabschiedet, als wir davonflogen.“
„Weshalb denn nicht?“
„Ich war mit ihm böse. Als wir wegflogen, hat er mich dauernd angeschaut
und mir zugewinkt, ich aber habe ihm den Rücken gekehrt. Ich war stolz, daß
wir mit einem Luftballon flogen, und jetzt quält mich das … Wie heißt es
gleich?“
„Das Gewissen“, half ihm Doktor Rizinus.
„Ja, Kameraden, das Gewissen. Laßt uns heimkehren – dann versöhne ich
mich mit Joppe und verabschiede mich von ihm.“
„Wenn wir heimkehren, müßt ihr euch begrüßen“, meinte Immerklug.
„Nein, zuerst verabschiede ich mich, dann begrüße ich ihn, und damit wird
alles in bester Ordnung sein.“
„Wir müssen uns auf den Heimweg machen, Freunde“, sagte Geigenstrich.
„Nimmerklug will nach Hause.“
„Ja, Kameraden, ich muß ebenfalls heim“, sagte jetzt auch Doktor Rizinus.
„Vielleicht ist jemand krank in Blumenstadt und hat niemanden, der ihn
behandelt.“
„Schluß also mit der Wanderfahrt“, entschied Immerklug. „Einmal muß man
ja nach Hause zurückkehren. Morgen brechen wir auf.“ — Der Ball war zu
Ende. Blauäuglein ging zu Nimmerklug .
„Nun müssen wir uns trennen“, sagte sie traurig. „Ja“, erwiderte Nimmerklug
leise. „Für uns ist es Zeit zur Rückkehr.“
Beide standen ein Weilchen schweigend da. Nimmerklug wollte etwas sagen,
doch die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er brachte kein Wort hervor. Er senkte
den Blick, bohrte mit dem Absatz in der Erde herum und konnte sich nicht
entschließen, Blauäuglein anzusehen. SchUeßlich hoben beide den Kopf. „Soll
ich Ihnen eine Reisetasche sticken?“ fragte sie.
„Ja.“
Am nächsten Tag brachen Immerklug und seine Freunde auf. Sie hatten
beschlossen, zu Fuß zu reisen. Der Luftballon war geplatzt, es würde schwierig
sein, ihn zu reparieren, und außerdem hatten sie keinen Fahrtwind. Vorneweg
marschierte Immerklug mit dem Kompaß in der Hand, ihm folgte Doktor
Rizinus, dann kamen Schraubschnell, Schraubstift und die übrigen Knirpseriche.
Nimmerklug ging ganz am Schluß.
Jedem hing eine Tasche auf dem Rücken. Diese Taschen hatten ihnen die
Knirpselinen gestickt. Darin befanden sich der Reiseproviant und Samen von
Früchten, Gemüsesorten und Blumen, die es in Blumenstadt nicht gab.
Saftschleck hatte sich in jede Tasche einen Melonenkern gesteckt.
Ganz Grünstadt war auf den Beinen, um die Knirpseriche zu begleiten. Viele
Knirpselinen weinten.
„Weinen Sie nicht“, versuchte Immerklug sie zu trösten. „Eines Tages
machen wir uns einen neuen Luftballon und fliegen wieder zu Ihnen.“
„Kommen Sie im Frühling, wenn die Apfelbäume blühen“, riefen die
Knirpselinen. „Im Frühling ist es bei uns wunderschön.“
Am Stadtrand blieben die Knirpselinen stehen. Die Reisenden schlugen einen
Pfad ein, der sich zwischen Grasbüschen und Feldblumen dahinschlängelte.
„Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn“, riefen die Knirpselinen und winkten.
„Auf Wiedersehn“, riefen die Knirpseriche zurück.
Blauäuglein winkte schweigend.
Bald waren die Reisenden hinter einer Wegbiegung verschwunden. Die
Knirpselinen kehrten in ihre Häuser zurück. Allen war schwer ums Herz.
Wieder daheim!
Viele Tage wanderten Immerklug und seine Freunde durch Wald und Feld.
Endlich waren sie in der Heimat angekommen. Auf einem steilen Hügel machten
sie halt, und da lag Blumenstadt in all seiner Schönheit vor ihnen. Der Sommer
neigte sich gerade dem Ende zu, und auf den Straßen blühten herrliche Blumen:
weiße Chrysanthemen, rote Georginen und bunte Astern. Wie Schmetterlinge
leuchteten die lustigen Stiefmütterchen auf allen Höfen. An Zäunen und
Hauswänden war feuerrote Kapuzinerkresse emporgeklettert; sie blühte sogar
auf den Dächern. Ein sanfter Wind trug den süßen Duft der Reseden und
Kamillen heran.
Immerklug und seine Freunde umarmten sich vor Freude.
Kurz darauf marschierten sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt. Aus allen
Häusern liefen Knirpse herbei, um unsere Reisenden zu betrachten. Von der
langen Wanderung waren Immerklug und seine Freunde so sonnverbrannt, daß
sie zuerst niemand erkannte.
Plötzlich rief einer: „Kinder, das ist ja Immerklug!“
Nun klangen die Rufe von allen Seiten: „Und da ist auch Doktor Rizinus!
Und der Jäger Bums! Und Schussel und Nudeldick!“
„Hurra!“
Als Immerklug und seine Freunde aber in die Glockenblumenstraße
einbogen, gab es vielleicht ein Gedränge! Hier wohnten doch all ihre Nachbarn
und guten Freunde. Die Knirpsefiche fielen den mutigen Reisenden um den Hals
und küßten sie ab. Die Knirpselinen bestreuten die Straße mit
Margeritenblütenblättern. Auf einmal rannte ein Hündchen herbei. Es jaulte auf,
sprang um den Jäger Bums herum und leckte ihm die Hände.
„Freunde, das ist ja mein Bimmel!“ rief der Jäger Bums.
Die Nachbarn berichteten, daß Bimmel wenige Tage nach der Abreise wieder
in Blumenstadt aufgetaucht wäre. Deshalb hätten alle geglaubt, Bums und seine
Freunde wären ums Leben gekommen. Niemand hatte gehofft, sie heil und
gesund wiederzusehen. Bums nahm Bimmel auf den Arm und küßte ihn ab. Da
tauchte eine neue Gruppe von Knirpserieben auf. Vornweg rannte der Dichter
Blüte.
Die Knirpselinen klatschten in die Hände, ein leeres Faß wurde herbeigerollt
und mitten auf der Straße verkehrt herum aufgestellt.
„Stell dich auf das Faß, Blüte, und sag dein Gedicht auf“, rief einer.
Man griff Blüte unter die Arme und half ihm, das Faß zu erklimmen. Er
dachte einen Augenblick nach, räusperte sich ein wenig, wies dann mit
ausgestrecktem Arm auf Immerklug und seine Freunde und deklamierte
gefühlvoll die Verse, die er eben erst verfaßt hatte.
„Wir grüßen unsre wackren Luftpiloten, die im Ballon den Stürmen Trotz
geboten.
Geplatzt ist der Ballon, doch sie sind da, hipp-hipp-hurra! Hipp-hipp-hurra!“
„Hurra!“ schrien die Knirpse.
Blüte wurde flugs vom Faß gezogen. Die Knirpseriebe nahmen ihn auf die
Schultern und trugen ihn nach Hause; die Knirpselinen liefen hinterdrein und
überschütteten ihn mit Margeritenblütenblättern. Blüte wurde so berühmt, als
hätte er die großartige Reise gemacht.
Unsere mutigen Reisenden öffneten die Pforte und gingen zu ihrem
Häuschen, das so viele Tage leergestanden hatte. Nur Nimmerklug blieb auf der
Straße zurück. Traurig schaute er der sich entfernenden Menge nach. Alle waren
verschwunden – wie vom Winde verweht. Nimmerklugs Augen wurden noch
trauriger. Da erblickte er auf der anderen Straßenseiten im Schatten des Zaunes
eine kleine Gestalt, die mit aufgesperrtem Mund dastand und ihn anstarrte.
„Joppe!“ rief Nimmerklug, der seinen Freund erkannt hatte.
Joppe schrie vor Freude laut auf und stürzte auf Nimmerklug zu, der ihm
ebenfalls entgegenrannte. Fast wären die beiden mit den Köpfen
zusammengestoßen. Voller Stolz betrachtete Joppe seinen Freund, der ein
berühmter Weltreisender geworden war; Nimmerklug sah Joppe mit
schuldbewußtem Lächeln an. So standen sie lange da und konnten vor
Aufregung kein einziges Wort hervorbringen. Dann umarmten sie sich mit aller
Kraft. Tränen stiegen ihnen in die Augen.
Das war ein Wiedersehen!
So endete die berühmte Reise von Immerklug und seinen Freunden. In
Blumenstadt ging das Leben wieder seinen alten Gang … das heißt, eigentlich
kann man nicht sagen, daß es genau der gleiche alte Gang war.
Seit der Heimkehr unserer mutigen Reisenden wurde in der Stadt nur noch
von ihnen gesprochen. Sämtliche Einwohner – Knirpseriebe wie Knirpselinen –
kamen abends zu Immerklugs Häuschen, um zu hören, was die Reisenden über
ihren Aufenthalt in Grünstadt erzählten.
Nudeldick verbreitete sich am liebsten über die schmackhaften Kuchen, mit
denen die Knirpselinen ihn bewirtet hatten, während Saftschleck mit der Menge
von Saftbrause prahlte, die er getrunken hatte. Immerklug erzählte von der
Schilfrohrwasserleitung, von den Springbrunnen und der wundervollen Brücke,
die die Knirpselinen über den Fluß gespannt hatten, und auch von den
riesengroßen Melonen, die sie züchteten. Meist holte dann Saftschleck einen
Melonenkern aus der Tasche und sagte: „Wer hätte gedacht, daß man aus diesem
Kern mehrere Fässer Saft gewinnen kann.“
Schnurz und Rennefix berichteten am liebsten von der Ernte, die sie
zusammen mit den Knirpselinen eingebracht hatten. Schraubschnell und
Schraubstift erzählten von der Mechanisierung, von ihrem Freund, dem
Chauffeur Kringel, und von Druckknopf, dem technischen Erfinder, bei dem
alles nach Knöpfen funktionierte. Bums konnte das Grünstädter Krankenhaus
und die ausgezeichnete Ärztin Pfefferminza nicht genug rühmen. Zum Beweise,
wie gut man ihm den verrenkten Fuß geheilt hatte, hüpfte Bums auf diesem Fuß
umher.
Alle erzählten von ihrer Freundschaft mit den Knirpselinen. Selbst
Schweigestill, von dem man früher kaum ein Wort vernommen hatte, meinte:
„Ehrenwort, Leute, ich wäre früher nicht einmal auf den Gedanken gekommen,
daß man mit Knirpselinen ebenso gut Freund sein kann wie mit Knirpserichen.“
„Du solltest lieber schweigen“, entgegnete Nimmerklug. „Ich habe nicht
bemerkt, daß du dich mit jemandem angefreundet hast.“
„Hast du das denn getan?“ erkundigten sich die Knirpselinen.
„Ich bin mit Blauäuglein befreundet“, erwiderte Nimmerklug stolz.
„Das glauben wir dir ja nun gerade“, sagte Pünktchen. „Du hast dich doch
sogar mit deinem Freund Joppe verzankt, weil er mit Knirpselinen geredet hat.“
„Mit Joppe habe ich mich längst wieder versöhnt. Von nun an will ich immer
ein guter Freund der Knirpselinen sein.“
„Weshalb warst du das denn früher nicht?“ fragte Kamilla.
„Früher war ich sehr dumm. Ich hatte Angst, man würde mich verspotten,
wenn ich mich mit Knirpselinen abgebe.“
„Jetzt wirst du nicht weniger Angst haben“, antwortete Sommersprosse.
„Nein. Jetzt bin ich klüger geworden. Soll ich dein Freund sein? Wer darüber
lacht, kriegt eins auf den Schädel.“
„Das hat mir gerade noch gefehlt, daß du dich meinetwegen prügelst.“
Sommersprosse lachte. „Dann werde ich mich eben nicht prügeln. Ich werde
mich einfach nicht um den Spott kümmern.“ Nimmerklug freundete sich mit
Sommersprosse an. Wenn er merkte, daß ein Knirpserieb die Knirpselineo
kränkte, ging er zu ihm hin und sagte: „Laß mich das nicht noch ein zweites Mal
sehen!“
Dadurch stieg er in der Achtung der Knirpselinen. Sie sagten, Nimmerklug
sei gar kein schlechter Kerl. Die übrigen Knirpseriche beneideten Nimmerklug
natürlich um dieses Lob und begannen ebenfalls, die Knirpselinen zu
verteidigen. Es wurde in BlumeJlstadt einfach ungebräuchlich, Knirpselinen zu
beleidigen. Kam es doch einmal vor, daß ein Knirpserich mit den Fäusten auf
eine Knirpseline losging oder ihr eine Beleidigung nachschrie, so wurde er von
allen ausgelacht. Man sagte, er sei ein Flegel und ein Tölpel, der nicht einmal die
einfachsten Regeln eines guten Benehmens kenne.
Jetzt jagte niemand mehr die Knirpselinen weg, wenn sie mit den
Knirpserichen spielen wollten – im Gegenteil!
Immerklug hatte bald einen Plan erdacht, wie man in Blumenstadt eine
Schilfrohrwasserleitung anlegen und mehrere Springbrunnen bauen konnte – für
den Anfang wenigstens in jeder Straße einen. Außerdem schlug er vor, eine
Brücke über den Gurkenfluß zu spannen, damit man zu Fuß in den Wald gehen
konnte. Die Knirpselineh arbeiteten genauso eifrig wie die Knirpseriche. Vom
frühen Morgen bis zum Mittag bauten alle an der Brücke, der Wasserleitung und
den Springbrunnen. Nach dem Mittagessen gingen sie spielen – Haschen,
Verstecken, Fußball oder Volleyball.
Nur Nimmerklug nahm selten an den Spielen teil. Er sagte: „Ich habe jetzt
keine Zeit zum Spielen. Lesen kann ich mit Müh und Not, aber schreiben nur
Druckbuchstaben. Ich muß aber unbedingt schön schreiben lernen. Ich weiß
schon selbst, warum.“
Anstatt mit den übrigen Schlagball oder Fußball zu spielen, bockte
Nimmerklug am Tisch und übte lesen. Jeden Tag las er eine Seite, aber schon
davon hatte er großen Nutzen. Zuweilen las er sogar zwei Seiten: für heute und
für morgen. War er damit fertig, holte er sein Heft und begann zu schreiben. Er
schrieb nicht mehr Druck-, sondern Schriftbuchstaben, aber zuerst gerieten sie
ihm nicht sehr hübsch. Anfangs standen in seinem Heft nur unförmige Krakel
und Kringel, doch er gab sich große Mühe. Allmählich lernte er, schöne
Buchstaben zu schreiben – große, das heißt Anfangsbuchstaben und auch kleine.
Sehr viel schlechter stand es mit den Klecksen.
Nimmerklugs Heft war mit Klecksen übersät. Und wenn er einen Klecks
gemacht hatte, leckte er ihn jedesmal mit der Zunge auf. Dadurch bekamen seine
Kleckse lange Schwänze. Diese geschwänzten Kleckse hatte Nimmerklug
Kometen getauft. Fast auf jeder Seite gab es welche. Aber Nimmerklug warf die
Flinte nicht ins Korn, denn er wußte: Geduld und Eifer würden ihm helfen, auch
die Kometen loszuwerden.
Inhaltsverzeichnis
Titelblatt
Die Knirpse aus Blumenstadt
Wie Nimmerklug Musiker werden wollte
Wie Nimmerklug Maler werden wollte
Wie Nimmerklug Dichter werden wollte
Nimmerklugs Fahrt mit dem Brauseauto
Wie Immerklug einen Luftballon erfand
Reisevorbereitungen
Der Abflug
Über den Wolken
Der Absturz
In einer fremden Stadt
Neue Bekannte
Bei Tisch
Quer durch Grünstadt
Im Krankenhaus
Das Konzert
Schraubschnell und Schraubstift wandern nach Drachenstadt
In Drachenstadt
Bei einem Schriftsteller zu Besuch
Farbenklecks bei der Arbeit
Schraubschnell und Schraubstift kehren zurück
Wunder der Mechanisierung
Die Flucht
Farbenklecks rationalisiert seine Arbeit
Bums wird geheilt
Nagelpieks Heimkehr
Unerwartetes Wiedersehen
Die Versöhnung
Auf dem Ball
Wieder daheim!