Butler - Warum Jetzt Hegel Lesen
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Butler - Warum Jetzt Hegel Lesen
[https://www.zeit.de/serie/sinn-und-verstand]
AUS DER SERIE
Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde vor 250 Jahren
geboren. © ddp
"Warum jetzt Hegel lesen?", fragen wir uns. Das Problem des "Jetzt" hat Hegel
in seiner Phänomenologie des Geistes von 1807 behandelt: Das Jetzt ist genau
der Augenblick, in dem "das Jetzt" vergeht und zu einem Gewesenen wird.
Hegels Denken ist nicht so passé, wie man meinen könnte: Viele von uns leben
heute in Sorge oder Angst oder gar schon in Trauer, weil wir glauben, die
Bedingungen der Demokratie würden zu sehr von innen heraus unter Druck
gesetzt, ja zersetzt. Ist die Zeit der Demokratie vorbei, und kann Demokratie
erst im Moment ihres Vergehens zu einem wahren Gedanken werden? Ich will
die ungeheure Herausforderung nicht kleinreden, vor der wir heute stehen.
Doch dieses Gefühl, dass eine Zeit oder Epoche vorbei sei, ist ein
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"Phänomenologie des Geistes": Warum jetzt Hegel lesen? | ZEIT... https://www.zeit.de/2020/08/phaenomenologie-des-geistes-friedric...
Was ich als "Desorientierung" bezeichne, ist zugleich ein Gefühl von Schock,
Verlust, Niederlage und Desillusionierung. Doch es ist auch eine Situation, die
eine Frage aufwirft und sogar einen Forschergeist entfesselt: Welche Zeit haben
wir? Wenn wir es als Fluch wahrnehmen, in diesen Zeiten zu leben, oder
befürchten, dass uns die nächste Generation verfluchen wird, weil wir ihr eine
zerstörte Welt hinterlassen haben, können wir uns vielleicht immerhin zwei
Fragen vor Augen halten: Wie kann uns dieser Sinn für die Zerstörung der Welt
einen Weg nach vorne weisen? Wo und wie kommen wir dahin, dieses
historische Leben, das Leben, das wir in dieser historischen Zeit führen, zu
bejahen?
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Ich schlage vor, den Blick zurück zu Hegel zu wenden, um nach vorne zu
schauen – und widerspreche damit denjenigen, die uns einreden möchten, dass
Hegels Denken per definitionem immer zu spät kommt, um für die Gegenwart
hilfreich zu sein. Denn Hegels Philosophie erlaubt uns, zu verstehen, wie aus
potenziell gewaltsamen Konflikten soziale Bindungen erwachsen, und richtet
sich damit an die Gegenwart und unsere Desorientierung. Wir sind nicht die
Ersten, die sich fragen, was – wenn überhaupt etwas – uns als Gesellschaft
zusammenhält. Gibt es soziale Bindungen, die für uns eine gegenseitige
Verpflichtung darstellen? Diese Frage setzt voraus, dass wir uns nicht nur als
selbstsüchtige Individuen, sondern auch als soziale Wesen begreifen können,
deren wechselseitige Verpflichtungen ihre gemeinschaftlichen Bündnisse
übersteigen. Unser Leben, wie überhaupt unser Status als soziale Wesen, ist
durch Formen gegenseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet, die nicht an
nationalen oder territorialen Grenzen enden. Mit Hegels Hilfe möchte ich
zeigen, wie wir Sozialität und Gewaltlosigkeit als Potenziale der heutigen Zeit
verstehen können, die uns möglicherweise in die Lage versetzen, auch andere
Potenziale zu bejahen, die unsere historische Gegenwart bereithält.
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Wenn ich das Leben eines anderen zerstöre, zerstöre ich, kurz gesagt, mein
eigenes, was nicht heißen soll, ich sei der einzige Akteur des Geschehens. Es
heißt vielmehr, dass ich als Lebewesen keine Möglichkeit habe, mich
vollständig von anderen Lebewesen zu individuieren. Diese Idee eines
lebendigen Gefährten ist ein mögliches Argument für Gewaltfreiheit, das sich
Hegels Text entnehmen lässt, auch wenn Hegel selbst diese
Argumentationslinie nicht verfolgt.
Das Subjekt der Phänomenologie des Geistes weiß nicht von vornherein, dass es
ein soziales Wesen ist, doch diese Erkenntnis stellt sich infolge des Kampfes auf
Leben und Tod ein. Tatsächlich ist es die Abkehr von der Gewalt, durch die das
gesellschaftliche Band zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Gewalt taucht als
konkrete Möglichkeit auf, doch die Erkenntnis, dass Gewalt nicht funktionieren
wird, begründet den Sinn des ethischen Gebotes, einen Weg zu finden, wie ich
mich selbst und den anderen, ungeachtet des Konfliktes zwischen uns, am
Leben lassen kann. In dem Moment, in dem die Zerstörung des anderen als
Möglichkeit ausgeschlossen ist, erkenne ich, dass ich an diesen anderen
gebunden bin und dass mein Leben irgendwie mit seinem Leben verquickt ist.
So wie ich Hegel lese, ist diese Erkenntnis, dass ich an den anderen gebunden
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Die beiden Subjekte, die einander begegnen, verändern einander nicht nur
wechselseitig, sie entstehen auch aus dem jeweils anderen. Mit anderen
Worten: Wenn wir uns fragen, wie ein Subjekt wird, dann sehen wir, dass sich
jedes Subjekt aus einer Abhängigkeit heraus entwickelt, aus einem
anhaltenden Kampf um Differenzierung. Man kann nicht von Anfang an auf
eigenen Beinen stehen; man kann nicht ohne die Hilfe anderer existieren,
sicher auch nicht ohne das soziale und ökonomische Netzwerk, auf das die
Pflegeperson baut. Jedes Subjekt entwickelt sich zu einem eigenständigen
denkenden und sprechenden Wesen kraft einer Formation, die unauflösbar mit
Abhängigkeit verbunden ist. Manchmal besitzt diese Abhängigkeit durchaus
lustvolle Qualität, doch manchmal ist sie psychisch nicht zu ertragen.
Abhängigkeit steckt also voller Ambivalenz.
Mit Axel Honneth und anderen Hegelianern bin ich der Überzeugung, dass wir
die Art von Wesen sind, die Anerkennung begehren und durch sie zu einem
Selbstverständnis finden. Doch was uns über die erste Szene potenziellen und
gegenseitigen Mords hinausgelangen lässt, ist nicht nur die Erkenntnis, dass
der andere mir gleicht und mir gleichgestellt ist, dass ihm auf dieselbe Weise
Achtung gebührt wie mir. Wenn wir uns als soziale Wesen verstehen lernen,
erkennen wir auch, dass wir schon längst auf diejenigen bezogen sind, mit
denen wir die Modalitäten der Anerkennung aushandeln, und dass diese
Bezüglichkeit jeden von uns definiert. Wir gehören schon vor dem Akt der
Anerkennung zueinander – auch wenn es in der von Hegel beschriebenen
Szene so aussieht, als stünden sich hier uneingeschränkt erwachsene
Individuen gegenüber, die im Laufe einer seltsamen Reise ganz zufällig über
eine weitere lebendige Form gestolpert wären.
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Der ethische Imperativ, nicht zu töten, erwächst aus der Erkenntnis, dass das,
was dem anderen widerfährt, auch mir widerfahren kann. Das soziale Band
zwischen uns beruht auf dieser gegenseitigen Anerkennung unserer lebendigen
Abhängigkeit. Natürlich sind Abhängigkeit und Unabhängigkeit nicht immer
schöne Erfahrungen. Die Abhängigkeit des Arbeiters von einem Brotherrn, der
seine Menschlichkeit nicht anerkennt, ist letztlich nicht hinnehmbar. Bei Hegel
zeichnet sich hier eine psychoanalytische Einsicht ab, dass Abhängigkeit
sowohl notwendig als auch zuzeiten unerträglich ist. Für Freud ist es das Baby,
das sich von denen abzugrenzen versucht, auf die es angewiesen ist, obwohl
die Abgrenzung nie vollständig gelingt. Mit Freud glaube ich nicht, dass
Aggression gänzlich zum Verschwinden gebracht werden kann.
Hegel verstand unter "Aufhebung" einen Prozess, durch den etwas ausgelöscht,
überwunden und dennoch bewahrt wird. Die Aggression erhält und
überwindet zugleich den Kampf auf Leben und Tod. Und auch wenn wir dieses
Wort bei Hegel nicht finden, können wir seine Spur dennoch entdecken, und
zwar im unausgesetzten Kampf des Knechtes. Daraus geht ein ethischer
Imperativ hervor, der meines Erachtens robuster ist als das Gesetz der Achtung.
Er reformuliert das Gebot "Du sollst nicht töten!". Ethisch gesehen haben wir
alle die Pflicht, Ausdrucksformen zu finden, die nicht destruktiv sind, ethische
Praktiken zu pflegen, die mit Aggression rechnen und sich der Aggression
stellen, ohne ihr den Umschlag in Gewalt zu erlauben.
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Die Zukunft ist alles andere als deutlich, wenn die Leserin einmal den Kampf
um Anerkennung und den Kampf auf Leben und Tod hinter sich gelassen hat,
wenn sich der Knecht vom Herrn befreit und der Herr in eine
niedergeschlagene Anerkennung seiner eigenen Abhängigkeit von denen, die
für ihn arbeiten, zurücksinkt. Doch ein paar Prinzipien gehen aus diesen
berühmten philosophischen Szenen hervor. Am Ende des Kampfes auf Leben
und Tod verstehen wir schließlich das Gebot "Du sollst nicht töten!". Was nun
erforderlich wird, ist eine soziale Organisation für unsere Leben, die dieser
gegenseitigen Abhängigkeit des Lebendigen Rechnung trägt und Respekt zollt –
eine nicht mehr von Gewalt oder Ausbeutung diktierte Organisation.
Worum es Hegel geht: Jeder Angriff auf das eigene Selbst oder das Selbst eines
oder einer anderen ist ein Angriff auf die soziale Bindung. Leben wir in
Gesellschaften, in denen wir versuchen, das Leben aller zu erhalten, die ein Teil
dieser Gesellschaft sind oder sein sollten, so bekennen wir uns aufgrund dieser
Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit zu einem Gleichheitsprinzip. Daher
befürworten wir Sozialleistungen und betrachten sie als förderungswürdige
öffentliche Güter, zum Beispiel eine Gesundheitsfürsorge oder
Umweltschutzbestimmungen, die sauberes Wasser garantieren und die
Entsorgung von Giftmüll gewährleisten. Dies bedeutet auch, dass wir im
Namen unseres miteinander geteilten Lebens, des Lebens, an dem wir als
unabhängige Lebewesen teilhaben, alle Formen von ökonomischer Ausbeutung
ablehnen.
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