Ein Russisches Pilgerleben

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EIN RUSSISCHES

PILGERLEBEN
HERAUSGEGEBEN
VON
REINHOLD VON WALTER

Kloster St. Andreas


Hüttenstraße 126
4791 Altenbeken-Buke

1 9 2 5
PETROPOLIS , VERLAG / BERLIN
VERLAG i DIE SCHMIEDE / BERLIN
VOR.wo RT.

Alle Rechte vorbehalten

Ohlenroth'sche Buchdruckerei Erfurt

Der vollständige russische Titel dieses Bu-


ches lautet: „Eines Pilgers aufrichtige,
seinem Beichtvater mitgеteilte Erzähl-
ungen".
Der Name des Erzählers ist unbekannt.
Dem kurzen Vorwort der russischen Ausgabe
ist zu entnehmen: Der 1883 verstorbene Abt
Paissij vom Michailo -Archangelschen Tache-
remissenkloster schrieb diese Егzhluпgеn niе-
der und zwar auf Grund von Berichten eines
'Starez', also eines durch heiligmäßiges Leben
ausgezeichneten Einsiedlermönches, des be-
kannten griechisch-katholischen Klosters auf
dem Athos; Abt Paissij veranlaßte auch die
Drucklegung, die in Kasan erfolgte. Jener
Starez ist aber mit dem Pilger selbst durch-
aus nicht identisch.
Es ist das Buch eines Namenlosen, — dies
vor allem ist seine Signatur, — eines russi-
schen Bauern, der lesen und etwas schreiben
konnte, der fromm war, der sein Leben dazu
brauchte, um den Stoßseufzer „Mein Jesus,
V

Barmherzigkeit" oder in wörtlicher Überset-


zung „Herr Jesus Christus, erbarme Dich
meiner" zu erlernen, der diese Worte nicht
mit den Lippen, nicht mit dem Verstande
allein, sondern mit dem Herzen, dessen lau-
terste Kräfte lösend, sprechen lernte und in
diese Gebetswolke gehüllt, auf den Flügeln
dieser wenigen Worte, vollkommen irrational,
durch Rußland, auch durch Sibirien pilgerte,
daß man sich des Eindrucks kaum erwehrt:
er flog über das Land, er schwebte darüber
hin.
Es muß wohl gesagt sein, daß dieses Buch
nicht im mindesten den Anspruch erhebt, Li-
teratur zu sein. An vereinzelten Stellen ist
hie und da das Traktätchen, der theologische
Kothurn, frommer Endämonismus zu spüren,
der rührend naiv anmutet, aber keinen Augen-
blick über die wogende Glut dieser Seele weg-
täuscht. Es ist, wenn man so sagen darf, das
Werben um den Geist das Auszeichnende die-
ses Buches. Dies und die Eigenart, mit der
das Weltbild, wie es sich dem Pilger darstellt,
gefaßt wird, die Einsamkeit, in die er taucht,
um die Volksgemeinschaft, als eine Gemeinde
der Heiligen, großartig ökumenisch zu emp-
finden, zu einem Zeugnis für den Christus,
den Stifter der Kirche zu gestalten, — das
VI

ist schon eine der wesentlichen Formeln, um


nicht zu sagen, die eigentliche, die für Ruß-
land Geltung haben könnte. Daran ändert
auch die russische Gegenwart natürlich nichts,
da diese in höchst aktiver Weise Geschichte
und zwar materialistische Geschichte macht,
während es sich hier um das Zeitlose, um die
Geschichtslosigkeit des Frommen handelt, der
(nicht minder unbekannt als der „inconnu" —
der unbekannte Gefallene des Krieges) hier
nur in vermehrtem Sinne : der Unbekannte,
der namenlose Fromme zum Sinnbild des
Iebendigsten Kollektivs, der Christenheit selber, der una sancta Ecclesia wird.
Mit Vorbehalt sei hier der Name Dostojewskijs genannt, nur im Sinne eines Hinweises
etwa : Alioscha Karamasow, bekanntlich der
Held des ungeschriebenen dritten Teils der
großen Karamasow-Trilogie, dieser Alioscha
hat die Tendenz zu dem Pilger dieses Buches.
Auch er sollte in der Welt bleiben und Zeugnis ablegen. Es ist aber jedenfalls so,
daß
selbst die ekstatische Kraft eines Dostojewskij nicht hinreichte, diesen Typus
erstehen
zu lassen, so sehr er ihn auch ahnte und ersehnte. Das Leben selber mußte ihn
s c h a f f e n, ihn — den Pilger —, einen Zeugen
für den, der Feuer zu senden kam und nichts
VII
anderes wollte, als daß es schon brennte. Man
wird nicht verkennen, daß sich von jeher diesem Vorhaben Widerstände errichteten
und
heute mehr denn je errichten, die ja der nämliche Dostojewskij in seinen „Bösen"
(auch
„Dämonen" genannt) mit einer Vehemenz
ohnegleichen ins Bild setzte. Und es kann
eben dieser Roman an dieser Stelle genannt
werden, weil dem Aufwand an zerstörender
Kraft in den „Bösen" allenfalls potentiell das
ökumenische Bewußtsein entgegenzusetzen
ist, wie es in der Idee der christlichen Kirche,
in ihrem Glutkern, in Erscheinung tritt oder
doch treten sollte. Von der Beschaffenheit
dieses Kernes, von dem Vordringen in sein
Innerstes durchs Gebet gibt hinwiederum das
„russische Pilgerleben" eine Vorstellung. Man
wird finden, daß es in manchen Stücken verwandt ist dem, was die abendländische
Mуstik hervorbrachte, steht doch diese nicht
minder als jene der östlichen Patriarchate in
dem sie beide verbindenden Zeichen: Kveto SXecoтºs.
So ergibt sich denn das Bild einer Einheit
in der idealen Projektion. Wohl keine zeitempfundene Gegenwart wird dieser letzten
Realität, diesem Realissimum, gerecht werden. Die Gründe liegen in der menschlichen
VIII

Unzulänglichkeit. Aber im römischen Missale


ist ein Spruch zu lesen, der von dieser Einheit
handelt, und der im Mittelpunkt einer jeden
Weltzeit stehen könnte. Er lautet: Haec est
Vera fraternitas, quae vicit mundi crimina :
Christum secuta est, inclyta tenens regna coelestia. — Eine hymnische Umschreinung
dieser Gedanken ist das ganze vorliegende Buch.
Abschließend sei bemerkt, daß dieser Übersetzung der russische Text des
Pilgerlebens
vom Jahre 1884 zugrundegelegt wurde. Herrn
Dr. W. N. Iljin sei an dieser Stelle für seine
freundliche Beratung bei übersetzungstechnisch schwierigeren Stellen herzlichst
gedankt.
Lichterfelde,
März 1925.

Reinhold von Walter.

IX
EIN RUSSISCHES
PILGERLEBEN
„Der Könige Heimlichkeit soll
man verschweigen, aber die Werke
Gottes soll man herrlich offenbaren.”
Tobias 12, V. B.

ERSTE ERZÄHLUNG.
Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer
Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser
Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort
zu Ort. Folgendes ist meine Habe : auf dem
Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem
Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das
ist alles. In der vierundzwanzigsten Woche
nach dem Fest der Dreifaltigkeit kam ich in
eine Kirche zur Messe, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die
Thessalonicher im fünften Kapitel der siebzehnte Vers;
der lautet: Betet ohne Unterlaß. Dieses
Wort prägte sich mir besonders ein, und ich
begann darüber nachzudenken, wie man wohl
ohne Unterlaß beten könne, wenn doch ein
jeder Mensch auch andere Dinge verrichten
muß, um sein Leben zu erhalten ? Ich schlug
1 Ein

russisches Pilgerleben

1
in der Bibel nach und sah dort mit eignen
Augen dasselbe, was ich gehört hatte, und
zwar, daß man ohne Unterlaß beten, bei allem
Gebet und Flehen allezeit im Geiste beten
und darin wachen muß in Ausdauer und allerorts mit zum Gebet erhobenen Händen. Ich
dachte viel darüber nach, wußte aber nicht,
wie das zu deuten sei.
,Was tu ich nun?' dachte ich bei mir. ,Wo
finde ich einen, der es mir deutet ? Ich will
in Kirchen gehen, die im Rufe stehen, gute
Prediger zu haben; gewiß werde ich dort eine
Unterweisung finden.` Und so tat ich. Ich
hörte da sehr viele gute Predigten über das
Gebet. Doch waren es Belehrungen über
das Gebet im allgemeinen : was das Gebet ist,
wie man beten soll, welche Frucht das Gebet
bringt; darüber aber, wie man im Gebet fortschreiten könne, redete niemand. Wohl
war
da einmal eine Predigt über das Gebet im
Geist und über das unablässige Gebet; doch
wurde nicht gesagt, wie man zu diesem Gebet
gelangen könne. So brachte mich denn das
Hören der Predigten nicht zu dem Gewünschten. Als ich mich daher an ihnen satt
gehört
und keine Vorstellung bekommen hatte, wie
man ohne Unterlaß beten soll, hörte ich auf,
die öffentlichen Predigten zu besuchen, be-

schloß aber, mit Gottes Hilfe nach einem erfahrenen und wissenden Mann zu suchen,
der
mir das Beten ohne Unterlaß erklären könnte,
da ich mich ja eben zu diesem Wissen so unverwandt hingezogen fühlte.
So pilgerte ich lange von Ort zu Ort; las
immer die Bibel und forschte, ob es nicht irgendwo einen geistigen Lehrer oder
einen frommen, erfahrenen Führer gäbe ? Nach einiger Zeit sagte man mir, daß in
einem Dorf seit
langer Zeit schon ein Herr lebe und dort ein
frommes Leben führe, um seine Seele zu retten : er habe in seinem Hause eine
Kirche, ginge
niemals aus und betete immer zu Gott und
lese ohne Unterlaß inBüchern, die das Seelenheil fördern. Da ich dies hörte, ging
ich nicht,
nein, ich lief in das mir genannte Dorf; ich kam
hin und fand dort auch den Gutsbesitzer.
„Was ist es, was dich zu mir führt ?" fragte
er mich.
„Ich habe gehört, daß Sie ein frommer und
kluger Mann sind; darum bitte ich Sie auch,
um Gottes Willen, mir zu erklären, was es
heißt, wenn der Apostel sagt : Betet ohne
Unterlaß, und auf welche Weise man auch
ohne Unterlaß beten kann ? Ich wünsche sehr,
dies zu erfahren, kann ich es doch ganz und
gar nicht verstehen."

1•
3
Der Herr schwieg, blickte mich aufmerksam prüfend an und sagte : „Das unaьlässige,
innere Gebet ist das ununterbrochene Streben des menschlichen Geistes zu Gott. Um
in dieser süßen Übung fortzuschreiten, ist es
erforderlich, möglichst oft Gott zu bitten,
Er möge einen lehren, ohne Unterlaß zu beten. Bete mehr und mit größerer Inbrunst;
das Gebet selber wird dir ofenbaren, auf welche Weise es ohne Unterlaß gebetet
werden
kann; alles kommt zu seiner Zeit."
Nachdem er dies gesagt, ließ er mir Essen
bringen, gab mir eine Wegzehrung und entließ
mich. So hatte er es mir denn nicht gedeutet.
Da ging ich denn wieder meines Weges; ich
dachte und dachte, las und las, grübelte und
überlegte, was mir der Herr gesagt hatte und
konnte es doch nicht verstehen; ich wollte
es aber sehr verstehen, so sehr, daß ich in den
Nächten keinen Schlaf fand. An zweihundert
Werst mochte ich so gepilgert sein und kam
dann in eine große Gouvernementsstadt. Ich
sah dort ein Kloster. Ich machte in einer Herberge Halt und erfuhr, daß der Abt
dieses
Klosters sehr gütig, fromm, gastfreundlich
sei und Pilger bei sich aufnähme. Ich ging
zu ihm; er nahm mich freundlich auf, hieß
mich Platz nehmen und wollte mich speisen.
4

„Heiliger Vater," sagte ich, „Eure Bewirtung ist mir nicht vonnöten. Ich wünschte
aber, daß Ihr mir eine geistliche Unterweisung
erteilt, wie ich meine Seele retten soll."
„Wie du deine Seele retten sollst ? Handle
nach den Geboten und bete zu Gott, dann
wirst du auch gerettet werden."
„Ich höre, daß man ohne Unterlaß beten
soll, weiß aber nicht, wie man ohne Unterlaß
betet und kann es gar nicht mal fassen, was
es bedeutet, ohne Unterlaß zu beten. Ich
bitte Euch, mein Vater, erklärt mir das."
„Ich weiß nicht, lieber Freund, wie ich es
dir noch erklären sollte. Doch halt, ich habe
hier ein Buch, da ist es erklärt." Und er
brachte mir des heiligen Dimitrij ‚Geistliche
Unterweisung des inneren Menschen'. „Lies
mal hier auf dieser Seite."
Ich las folgendes : „Die Apostelworte :
,betet ohne Unterlaß` sind zu verstehen
als ein Gebet, das im Geist verrichtet wird;
denn der Geist kann immer in Gott eindringen und kann ohne Unterlaß zu ihm
beten."
„Erklärt mir das, auf welche Weise der
Geist immer in Gott eindringen kann, nicht
abgelenkt wird und unab ässig betet."
„Dies ist überaus schwierig, es sei denn,
5
daß es einem Gott selber gibt," sagte der Abt.
Und so erklärte er es mir nicht.
Nachdem ich bei ihm übernachtet und ihm
am Morgen für die freundliche Aufnahme gedankt, machte ich mich wiederum auf den
Weg und wußte selber nicht wohin. Mein
Nichtverstehen bekümmerte mich. Und um
das Herz zu erfreuen, las ich die Heilige Bibel.
So ging ich fünf Tage lang auf einer Landstraße; endlich holte mich gegen Abend ein
altes Männchen ein, allem Anschein nach
geistlichen Standes.
Auf meine Frage sagte mir der Alte, er sei
Eremit und lebte in einer Einsiedelei, die zehn
Werst abläge, abseits von der Landstraße,
und er forderte mich auf, mit ihm in seine
Einsiedelei zu kommen. „Bei uns," sagte er,
„werden Pilger aufgenommen, werden beruhigt und zusamt anderen Frommen in einem
Gasthof gespeist."
Ich wollte aus irgendeinem Grunde nicht
dorthin und antwortete also auf seine Einladung: „Meine Ruhe hängt nicht von der
Herberge ab, sondern von einer geistlichen
Belehrung; auch auf Nahrung bin ich nicht
bedacht, denn ich habe in meinem Beutel
noch viel Hartbrot."
„Und was ist es denn für eine Belehrung,
б

die du suchst ? Was ist es, was du nicht verstehen kannst ? Komm nur, komm, lieber
Bruder, zu uns; wir haben erfahrene Starzenl), die können dich wohl geistig speisen
und dir den rechten Weg zeigen im Lichte des
Wortes Gottes und der Unterweisungen der
heiligen Väter."
„Ja, seht, Vater, es mag ein Jahr her
sein, daß ich in der Messe bei der Epistelverlesung das Gebot hörte: Betet ohne
Unterlaß. Da ich dies nicht verstehen konnte, begann ich in der Bibel zu lesen. Und
auch dort
fand ich an vielen Stellen das Gebot Gottes,
man soll ohne Unterlaß beten, immer, zu jeder
Zeit, an jedem Ort, nicht nur bei jeglicher Beschäftigung, nicht nur im Wachen,
sondern sogar im Schlaf. ,Ich schlafe, aber mein
Herze wacht` 2). Dies setzte mich sehr in Erstaunen, und ich konnte nicht
verstehen, wie
man dieses erfüllen kann und welche Wege dahin führen; ein lebhaftes Wünschen und
Neugierde wurden in mir wach; Tag und Nacht
kam mir dies nicht aus dem Sinn. Darum
bin ich in verschiedene Kirchen gegangen und
habe Predigten über das Gebet gehört; aber
1)Mönche, die sich durch große innere Erfahrung und
tiefe Frömmigkeit auszeichnen.
2) Hohelied 5, 2.

7
so viele Predigten ich auch gehört habe, fand
ich doch in keiner eine Belehrung, wie man
ohne Unterlaß beten müsse; immer war nur
die Rede von der Vorbereitung zum Gebet,
oder von den Früchten des Gebets und dergleichen, es war da aber keine
Unterweisung,
wie man ohne Unterlaß beten soll, und was
ein solches Gebet zu bedeuten habe. Ich habe
oft in der Bibel gelesen und an ihr das Gehörte nachgeprüft; ich habe aber dabei
nicht
die gewünschte Erkenntnis gefunden. So bin
ich denn bis hiero in Unwissenheit und Unruhe
verblieben."
Der Starez bekreuzigte sich und begann
also : „Danke Gott, geliebter Bruder, daß Er
dir dieses unüberwindliche Verlangen nach
der Erkenntnis des unablässigen inneren Gebetes offenbarte. Erkenne hierin die
Berufung Gottes und sei stille, nachdem du dich
davon überzeugt hast, daß bis zu dieser Stunde eine Prüfung dir auferlegt ward, ob
dein
Wille auch der Stimme Gottes gehorcht, und
da dir gegeben ward zu verstehen, daß man
nicht durch die Weisheit dieser Welt und nicht
durch äußeren Wissensdurst das himmlische
Licht, das unablässige innere Gebet erlangen
kann, sondern im Gegenteil : durch die Armut
des Geistes und durch tätige Erfahrung wird
8

es einfältigen Herzens erworben. Darum ist


es auch gar nicht erstaunlich, daß du von
dieser wichtigen Sache des Gebets nichts vernehmen und die Wissenschaft nicht
erfahren
konntest, wie man dazu gelange, ohne Unterlaß in dem Tun desselbigen zu beharren.
Und
dann, um die Wahrheit zu sagen, obwohl nicht
wenig über das Gebet gepredigt wird und
es auch viele Lehrmeinungen verschiedener
Schriftsteller darüber gibt, so unterweisen
diese doch, sofern ihre Erörterungen zumeist
auf Verstandeserkenntnis, auf Erwägungen
der natürlichen Anschauung, nicht aber der
tätigen Erfahrung beruhen, eher über alles,
was zum Gebete gehört, als über das Wesen
des Gegenstandes selber. So mancher weiß
wundervoll über die Notwendigkeit des Gebets zu sprechen; ein anderer wieder über
seine Kraft und seine Segnungen; ein dritter
über die Mittel, die zu vollkommenem Gebet
führen, das heißt darüber, daß es fürs Gebet des Eifers, der Aufmerksamkeit, der
Herzenswärme, keuschen Denkens, der Versöhnung mit den Feinden, der Demut, der
Zerknirschung und dergleichen bedarf. Aber was
ist das Gebet ? Und wie lernt man beten ?
Für diese, obwohl allerwichtigsten Fragen
wird man bei den Predigern unserer Zeit sehr
9
selten ausführliche Erklärungen finden können; und zwar deshalb, weil solche
Erklärungen schwieriger zu erfassen sind, als alle oben
hergezählten Erörterungen, auch bedürfen sie
eines geheimen geheiligten Wissens, nicht nur
einer schulmäßigen Gelahrtheit. Am beklagenswertesten ist aber, daß die eitle,
natürliche Klugheit einen nötigt, Gott mit menschlichem Maß zu messen. Viele
urteilen über
das Gebet ganz verkehrt, wenn sie glauben,
daß die vorbereitenden Mittel und die frommen Werke das Gebet erzeugen, nicht aber
das Gebet diese frommen Werke und alle Tugenden gebiert. In diesem Falle verstehen
sie
die Früchte oder die Folgen des Gebets nicht
richtig als Mittel und Wege zu ihm hin und erniedrigen eben hierdurch des Gebetes
Kraft.
Und dieses läuft der Heiligen Schrift ganz zuwider: denn der Apostel Paulus
unterweist
im Gebet mit folgenden Worten : ‚Darum ermahne ich vor allem, daß Gebete
geschehen'1).
Hier, nach diesem Wort des Apostels besteht
die erste Unterweisung im Gebet darin, daß
er das Gebet an allererste Stelle rückt : Darum ermahne ich vor allem, daß Gebete
geschehen. Es gibt viele fromme Werke, die
vom Christen verlangt werden, aber das Werk
1) I. Tim. 2, 1.
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des Gebets muß vor allen andern Werken stehen, denn ohne das Gebet kann kein
anderes
gutes Werk verrichtet werden. Unmöglich ist
es, ohne Gebet den Weg zu Gott zu finden,
die Wahrheit zu erkennen, das Fleisch mit
seinen Leidenschaften und Lüsten zu kreuzigen, sein Herz mit dem Lichte Christi zu
durchleuchten und die selige Verbindung mit
Gott zu finden. Dies alles kann nicht geschehen, ohne voraufgehendes häufiges
Gebet. Ich
sage häufiges Gebet, denn die Vollkommenheit und Richtigkeit des Gebets geht über
unsere Möglichkeiten hinaus, wie der Apostel
Paulus sagt : ‚Denn wir wissen nicht, um was
wir beten sollen, wie es sich ziemt`1). Folglich ist nur die Häufigkeit, die
Unabhtssigkeit
als Mittel unserem Vermögen zugefallen, um
zur Reinheit des Gebetes zu gelangen, welche
die Mutter eines jeden geistigen Gutes ist.
Wirb um die Mutter, und sie wird dir Kinder
gebären, sagt der heilige Isak Sirin; lerne das
erste Gebet dir zu eigen zu machen, und leicht
wirst du dann alle Tugenden erlangen. Hierüber aber bestehen nur unklare
Vorstellungen,
und wer mit der Übung und mit den tiefen
inneren Lehren der Väter nicht vertraut ist,
wird wenig darüber sagen können."
1) Rºm. 8, 26.
11
So redend, waren wir unvermerkt fast bis
zur Einsiedelei gekommen. Um diesen weisen
Starez nicht aus den Augen zu verlieren, sondern möglichst schnell eine Erfüllung
meines
Wunsches zu finden, beeilte ich mich ihm zu
sagen : „Erweist mir die Güte, ehrwürdiger
Vater, erklärt mir, was bedeutet das — unablissiges innerliches Gebet, und wie kann
man es erlernen; ich sehe, daß Ihr es genau
und aus Erfahrung kennt."
Der Starez nahm diese meine Bitte voller
Liebe entgegen und forderte mich auf, zu ihm
zu kommen: „Komm jetzt zu mir, ich will
dir ein Buch der heiligen Väter geben, und
auf Grund dieses Buches wirst du mit Gottes
Hilfe klar und genau verstehen und beten lernen."
Wir betraten die Klause, und der Starez
sagte folgendes : „Das unaЫässige innerliche
Jesusgebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des Göttlichen Namens
Jesu
Christi mit den Lippen, mit dem Geist und
mit dem Herzen, wobei man sich Seine ständige Anwesenheit vorstellt und Ihn um Sein
Erbarmen bittet bei jeglicher Tun, allerorts,
zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten :
Herr,
Jesus Christus, erbarme Dich meiner! Wenn
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sich nun einer an diese Anrufung gewöhnt, so


wird er einen großen Trost erfahren, und das
Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten, derart, daß er ohne dieses Gebet
gar
nicht mehr leben kann, und es wird sich ganz
von selber aus ihm lösen. Verstehst du nun,
was das unablässige Gebet ist ?"
„Sehr wohl habe ich es verstanden, mein
Vater! Um Gottes Willen, unterweiset mich,
wie ich es erlange," rief ich voller Freude.
„Wie man dieses Gebet lernt, wollen wir
hier in diesem Buche lesen. Dieses Buch heißt
,Tugendliebe`1). Es enthält die vollständige
und genaue Wissenschaft über das unmässige innere Gebet, dargelegt von
fünfundzwanzig heiligen Vätern; und so hoch steht
dieses Buch und so nützlich ist es, daß es als
der vornehmste und erste Lehrmeister im beschaulichen geistlichen Leben gilt und,
wie
der heilige Nikifor sagt, ,ohne Schweiß und
Mühe zur Rettung führt`."
„Wäre es wirklich höher und heiliger als
die Bibel noch ?" fragte ich.
„Nein, es ist nicht höher und heiliger als
1) Ein griechisches Erbauungsbuch unter dem Titel
„Philokalia", also eigentlich „Schönheitsliebe", doch
ist dabei an die innere Schönheit gedacht, die auch alles
Äußere verklärt.

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die Bibel, vielmehr enthält es alle lichten Erklärungen dessen, was es an
Geheimnisvollem
in der Bibel gibt, was aber wegen seiner Erhabenheit unserem kurzsichtigen
Verstande
schwer zugänglich ist. Hierfür will ich dir ein
Beispiel geben : die Sonne ist die größte, glänzendste und vornehmste Leuchte; doch
vermagst du sie nicht mit einfachem, unbewaffnetem Auge zu schauen und zu
betrachten. Es
bedarf dazu eines gewissen künstlichen Glases, welches wohl millionenmal kleiner
und
dunkler ist; durch dieses aber könntest du dir
diesen herrlichen Fürsten unter den Gestirnen betrachten, dich daran ergötzen und
seine
flammenden Strahlen in dich aufnehmen. Also
ist auch die Heilige Schrift eine glänzende
Sonne, die ,Tugendliebe` aber ist jenes erforderliche Glas, das einem den Zugang zu
jener
erhabensten Leuchte ermöglicht. Höre nun, ich
will dir jetzt vorlesen, auf welche Weise man
das unmässige innere Gebet erlernen kann."
Der Starez schlug die „Tugendliebe" auf,
suchte darin die Unterweisung des heiligen
Simeen, des neuen Theologen, und begann
so : „Setz dich still und einsam hin, neige den
Kopf, schließe die Augen; atme recht leicht,
blicke mit deiner Einbildung in dein Herz,
führe den Geist, das heißt, das Denken, aus
14

dem Kopf ins Herz. Beim Atmen sprich, leise


die Lippen bewegend oder nur im Geiste :
,Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner'.
Gib dir Mühе, alle fremden Gedanken zu vertreiben. Sei nur still und habe Geduld
und
wiederhole diese Beschäftigung recht häufig."
Hierauf erklärte mir der Starez alles dies,
zeigte mir ein Beispiel dafür, und wir lasen
noch in der „Tugendliebe" das, was der heilige
Grigorij, der Sinaite, und die Heiligen Kallist
und Ignatius sagen. Alles, was wir in der
„Tugendliebe" lasen, erklärte mir der Starez
noch mit seinen eignen Worten. Voll Begeisterung hörte ich mir alles aufmerksam an,
verschlang es in mein Gedächtnis und bemühte mich, alles möglichst im Einzelnen zu
behalten. So verbrachten wir die ganze Nacht
und gingen dann, ohne geschlafen zu haben,
zur Matutin.
Als mich der Starez entließ, segnete er mich
und sagte, ich möge, solange ich dieses Gebet
lernte, mit einfältiger Beichte zu ihm kommen, denn ohne Nachprüfung des
Lehrmeisters wäre es weder gut noch erfolgversprechend, sich selbständig diesem
inneren Tun
hinzugeben.
Da ich in der Kirche stand, fühlte ich flammenden Eifer in mir erwachen, mit
möglich15
stem Fleiß das unablässige innere Gebet zu
erlernen, und ich flehte zu Gott, Er möge mir
darin beistehn. Alsdann dachte ich, wie ich
es anstellen sollte, den Starez aufzusuchen,
um mir Rats zu erholen oder ihm zu beichten;
denn länger als drei Tage würde man mich im
Gasthof nicht wohnen lassen, und in der Nähe
der Einsiedelei gab es keine Wohnungen .. .
Endlich hörte ich, daß vier Werst weiter ein
Dorf war. Ich ging hin, um mir dort eine Arbeit zu schaffen; und zu meinem Glück
wies
mir Gott eine bequeme Anstellung : ich verdingte mich dort für den ganzen Sommer
einem Bauern; ich sollte seinen Gemüseacker
bewachen und in einer Schutzhütte auf diesem Gemüseacker wohnen. Gott sei Dank!
So hatte ich denn einen ruhigen Fleck gefunden. Und so lebte ich denn hin und
lernte
das innere Gebet nach der mir angezeigten
Weise und suchte auch den Starez auf.
Etwa eine Woche beschäftigte ich mich voller Eifer in meiner Einsamkeit auf dem
Acker
mit dem Erlernen des unablässigen Gebetes,
genau in der Weise, wie es mir der Starez erklärt hatte. Anfangs schien die Sache
auch
zu gehen. Alsdann fühlte ich große Schwere,
Trägheit, Langeweile, Schläfrigkeit befiel
mich, und allerhand Gedanken rückten wie

eine Wolke gegen mich an. Betrübt ging ich


zum Starez und erzählte ihm von meiner
Lage. Er kam mir liebevoll entgegen und
sagte:
„Dies, geliebter Bruder, ist der Kampf der
Welt der Finsternis gegen dich; denn nichts
ist ihr in uns so furchtbar, als das Gebet des
Herzens, und darum ist sie auf jede Weise bemüht, einen zu stören und vom Erlernen
des
Gebets abwendig zu machen. Übrigens handelt auch der Feind nicht anders, als nach
Gottes Ratschluß und Willen, sofern dies für
uns erforderlich ist. Du mußt wohl noch eine
Prüfung durchmachen, um zur Demut zu gelangen; darum ist es auch noch zu früh, mit
unmäßigem Eifer an den höchsten Zugang
zum Herzen zu rühren, um nicht in geistigen
Hochmut zu verfallen. Ich will dir für diesen
Fall eine Belehrung aus der ,Tugendliebe`
vorlesen."
Der Starez schlug die Unterweisung des
heiligen Mönches Nikifor auf und begann zu
lesen: „Wenn du nach einigem Bemühen nicht
in das Herzensland Eingang findest, so wie
man es dir erklärt hatte, so tue, was ich dir
sagen will, und mit Gottes Hilfe wirst du das
Gesuchte finden. Du weißt, daß die Fähigkeit, Worte auszusprechen, bei einem jeden
2 Ein russisches Pilgerleben

17
Menschen in der Kehle sitzt. Bediene dich
dieser Fähigkeit, vertreibe alle fremden Gedanken (du kannst es, wenn du nur
willst),
und laß dich selber unaufhörlich dieses sprechen : ‚Herr Jesus Christus, erbarme
Dich meiner' — und zwinge dich dazu, dieses immer
auszusprechen. Wenn du eine Weile hierin
beharrtest, so wird sich dir hierdurch ohne
jeden Zweifel der Zugang zum Herzen erschließen. So hat es die Erfahrung gelehrt."
„Du hörst, wie uns die heiligen Väter für
diesen Fall unterweisen," sagte der Starez,
„und darum mußt du nun auch voller Vertrauen das Gebot auf dich nehmen und soviel
du nur kannst, mündlich das Jesusgebet
verrichten. Da hast du einen Rosenkranz;
verrichte danach zunächst dreitausend Gebete an jedem Tage. Ob du stehst oder
sitzt,
ob du gehst und liegst, wiederhole unablässig
,Herr. Jesus Christus, erbarme Dich meiner',
nicht laut, ohne Übereilung; und tue dieses
eben dreitausendmal am Tage, füge nichts
hinzu, streiche aber auch nichts aus eigenem
Ermessen. Gott wird dir hierdurch helfen,
das unablässige Wirken des Herzens zu erlangen."
Voller Freude nahm ich sein Gebot auf und
ging wieder zurück an meinen. Ort. Ich ver18

richtete das Gebet getreulich und genau, so


wie es mich der Starez gelehrt hatte. Etwa
zwei Tage fiel es mir schwer, kam mir dann
aber so leicht und erwünscht von den Lippen,
daß mich, wenn ich das Gebet nicht sprach,
ein Verlangen ankam, das Jesusgebet wieder
zu verrichten; und es sprach sich auch bequemer und leichter, nicht mehr so wie
früher mit
einer Nötigung dazu.
Dies teilte ich dem Starez mit, und er gebot mir nunmehr, je sechstausend Gebete am
Tage zu verrichten, und sagte :
„Sei ruhig und bemühe dich nur, so getreulich als möglich die angesagte Zahl von
Gebeten zu verrichten; Gott wird dir Gnade erweisen."
Die ganze Woche durch verrichtete ich in
meiner einsamen Schutzhütte alltäglich sechstausend Jesusgebete, bekümmerte mich um
nichts sonst, achtete auch nicht der fremden
Gedanken, wie sehr sie auch auf mich einstürmten; nur darauf war ich bedacht, das
Gebot des Starez genau einzuhalten. Und
was geschah ? Ich gewöhnte mich so sehr an
das Gebet, daß ich, wofern ich auch nur für
kurze Zeit unterließ, es zu verrichten, alsbald
fühlte, daß mir irgendetwas fehlte, als habe
ich irgendwas verloren; dann begann ich wie*

19
der zu beten, und sogleich, im selben Augenblick, wurde mir leicht und freudig ums
Herz.
Wenn ich jemanden traf, so hatte ich schon
keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen, und
hatte nur das Verlangen, immer in der Einsamkeit zu sein und das Gebet zu sprechen;
so sehr hatte ich mich daran in der einen
Woche gewöhnt.
Da der Starez mich wohl zehn Tage lang
nicht bei sich gesehen hatte, kam er selber,
mich aufzusuchen; ich offenbarte ihm meinen
Zustand. Nachdem er mich angehört hatte,
sagte er:
„Nun hast du dich an das Gebet gewöhnt;
sieh zu, daß du diese Gewohnheit wach erhältst und mehrest; verlier' deine Zeit
nicht
müßig und entschließe dich mit Gottes Hilfe,
von nun ab zwölftausend Gebete am Tage zu
verrichten: erhalte dich in der Einsamkeit;
stehe möglichst früh auf und geh möglichst
spät schlafen; und komm' zu mir, um dir Rat
zu holen immer nach zwei Wochen."
Ich tat so, wie mir der Starez befohlen
hatte, und am ersten Tage wurde ich in später Abendstunde kaum damit fertig, meine
Zwölftausendregel auszuführen. Tags darauf
ging es aber schon ganz leicht, und ich hatte
Freude daran. Erst fühlte ich bei dem un20

entwegten Sprechen des Gebets Müdigkeit


oder gleichsam ein Steifwerden der Zunge und
eine Gebundenheit der Kinnbacken, was übrigens nicht unangenehm war, alsdann einen
leichten, feinen Schmerz am Gaumen; außerdem empfand ich einen kleinen Schmerz im
Daumen der linken Hand, mit der ich die
Rosenkranzperlen zählte, und eine Entflammung des Handgelenks, die bis an den
Ellenbogen hinaufreichte, was ein höchst angenehmes Empfinden war. Zudem reizte
mich dies
und zwang mich zu eifrigerer Verrichtung des
Gebets. — Also verrichtete ich fünf Tage hintereinander getreulich je zwölftausend
Gebete, und zugleich mit der Gewohnheit stellte
sich auch ein angenehmes Empfinden und die
Lust daran ein.
Einst früh am Morgen war es so, als habe
mich das Gebet geweckt. Ich begann meine
Morgengebete zu verrichten, aber die Zunge
sprach sie nur ungeschickt aus, und mein ganzes Wünschen strebte ganz von selbst
dahin,
das Jesusgebet zu verrichten. Und als ich es
dann zu sprechen begann, wie leicht wurde
mir da, wie froh ums Herz, und es war so, als
sprächen Zunge und Lippen die Worte ganz
von selbst, ohne Nötigung! Den ganzen Tag
über war ich voller Freude, und es war mir,
21
als wäre mir alles andere in der Welt fremd;
ich war gleichsam wie auf einer andern Erde,
und mit Leichtigkeit gelang es mir, die zwölftausend Gebete bis zum frühen Abend zu
verrichten. Mich kam eine große Lust an,
das Gebet noch fortzusetzen; ich wagte es
aber nicht, mehr zu tun, als mir der Starez
befohlen hatte. Sо fuhr ich denn auch in den
nächsten Tagen fort, den Namen Jesu Christi
anzurufen, und dies geschah mit Leichtigkeit, und ich fühlte mich hingezogen zu
selbigem Tun.
Dann ging ich zum Starez, um mich ihm zu
offenbaren, und erzählte ihm alles ausführlich
Nachdem er mich angehört hatte, sagte er :
„Gott sei Dank, daß sich in dir diese Lust
aufgetan hat und die Leichtigkeit des Gebets.
Es ist dies eine natürliche Sache, die von der
häufigen Übung herrührt, so wie eine Maschine, deren Hauptrad man im Schwung
bringt oder antreibt, noch lange hierauf selbsttätig weiterläuft; um das
Weiterlaufen aber
noch zu verlängern, muß man das Radschmieren und es immer antreiben. Siehst du nun,
mit wie vortrefflichen Eigenschaften der menschenliebende Gott sogar die sinnliche
Natur
des Menschen begabt hat, welche Empfindungen sich einstellen können, selbst außer22

halb der Gnade, in nicht gereinigter Sinnlichkeit und in der sündigen Seele, wie du
das ja
selber erfahren hast. Wie vortrefflich, wie
beseligend und voller Süße ist es aber, wenn
der Herr Gnade gibt, die Gabe des selbsttätigen inneren Gebets zu entdecken und die
Seele von Leidenschaften zu reinigen ? Dieser
Zustand ist unbeschreiblich, und die Offenbarung dieses Gebetsgeheimnisses ist ein
Vorgeschmack der himmlischen Süßigkeit auf Erden. Dessen werden gewürdigt, die in
der Einfalt ihres liebevollen Herzens den Herrn suchen ! Nun gestatte ich dir :
verrichte das Gebet, so oft du willst, so viel als möglich, bemühe dich, alle
wachen Stunden dem Gebet
zu weihen und rufe den Namen Jesu Christi
an, ohne Zahl, dich demütig dem Willen Gottes hingebend und von ihm Hilfe
erwartend;
ich glaube, daß Er dich nicht verlassen und
deinen Wege leiten wird."
Nachdem ich diese Unterweisung entgegengenommen hatte, verbrachte ich den ganzen
Sommer unmässig im mündlichen Lesusgebet und war sehr ruhig. Des öfteren träumte
ich davon, daß ich das Gebet verrichtete; geschah es aber am Tage, daß ich irgend
jemanden traf, so erschienen mir alle ohne Ausnahme
so lieb und nah, als wären sie meine Verwand23
ten, wenn ich mich auch gar nicht mit ihnen
abgab. Alle fremden Gedanken hörten ganz
von selbst auf, und ich dachte an nichts anderes, als an das Gebet, welchem auch
mein
Verstand sich zuzuwenden begann, während
ich im Herzen ganz von selbst zeitweise eine
Wärme und ein angenehmes Gefühl verspürte. Geschah es, daß ich zur Kirche ging, so
schien mir der lange Klostergottesdienst kurz
zu sein und war nicht mehr ermüdend wie
früher. Meine einsame Schutzhütte erschien
mir als ein herrlicher Raum, und ich wußte
nicht, wie ich Gott danken sollte, daß Er mir,
dem verruchten Sünder, einen Retter und
Lehrmeister wie den Starez gesandt hatte.
Aber nicht lange konnte ich aus den Unterweisungen meines geliebten und gottweisen
Starez Nutzen ziehen; gegen Ende des Sommers starb er. Unter Tränen nahm ich
Abschied von ihm, und nachdem ich ihm für
seine väterlichen Lehren gedankt, bat ich mir
zum gesegneten Gedenken anihn seinenRosenkranz aus, den er für seine Gebete
gebraucht
hatte. So war ich denn allein geblieben. Endlich war auch der Sommer zu Ende, und
nach
der Ernte stand der Gemüseacker leer. Ich
hatte keine Wohnung mehr. Der Bauer entließ
mich, gab mir für meine Wächterdienste zwei
24

Rubel und schüttete mir für den Weg meinen


Beutel voll Brot. Und wieder begann ich von
Ort zu Ort zu pilgern; indessen wanderte ich
nicht mehr wie früher von meiner Not geplagt; das Anrufen des Namens Jesu Christi
erfreute mich unterwegs, und alle Menschen
waren gütiger zu mir; es war so, als hätten
mich alle lieb gewonnen.
Einmal begann ich zu überlegen, was ich
wohl mit dem Gelde machen sollte, das ich
für meine Wächterdienste bekommen hatte.
Wohin damit ? Halt, dachte ich, der Starez
ist nicht mehr am Leben; unterweisen kann
mich niemand mehr; ich will mir die ‚Tugendliebe' kaufen und will das innere Gebet
danach erlernen. Ich bekreuzigte mich und ging
betend meines Weges weiter. Ich kam in
eine Gouvernementsstadt und fragte in verschiedenen Handlungen nach der
,Tugendliebe`; in einem Geschäft fand ich sie auch,
doch verlangte man dafür drei Rubel, ich besaß aber nur deren zwei; ich versuchte
zu
handeln, doch wollte mir der Kaufmann das
Buch nicht billiger geben. Schließlich sagte
er: „Geh mal in jene Kirche drüben und frage
nach dem Kirchenältesten; er besitzt ein ganz
altes Exemplar dieses Buches; möglichenfalls wird er es dir für zwei Rubel
abtreten."
25
Ich ging hin und kaufte die ,Tugendliebe`
— ein ganz altes, zerlesenes Buch — tatsächlich für zwei Rubel; da freute ich mich.
Ich
flickte es notdürftig zusammen, nähte es in
einen Lappen ein und legte es in meinen Beutel neben die Bibel.
So ziehe ich nun meiner Wege und verrichte
unablässig das Jesusgebet, das mir wertvoller
und süßer ist, als alles andere in der Welt.
Mitunter gehe ich meine siebzig Werst am
Tage, manchmal auch mehr, und fühle gar
nicht, daß ich gehe; ich fühle aber nur, daß
ich das Gebet verrichte. Fährt mir eisige
Kälte durch die Glieder, so beginne ich das
Gebet angespannter herzusagen und bin bald
vollkommen erwärmt. Martert mich der Hunger, so rufe ich den Namen Jesu Christi
häufiger an und vergesse, daß ich essen wollte.
Bin ich krank, oder fühle ich ein Reißen
im Rücken und in den Beinen, so beginne ich
auf das Gebet hinzuhorchen und spüre den
Schmerz nicht mehr. Wenn mich jemand beleidigt, so denke ich nur daran, wie süß das
Jesusgebet ist; sogleich ist die Kränkung und
aller Zorn geschwunden, und ich habe alles
vergessen. Ich bin gleichsam närrisch geworden; um nichts sorge ich mich mehr;
nichts
gibt es, das mich fesselt; nichts Eitles schaue

ich an; wenn ich nur immer allein bin in der


Einsamkeit ! Der Gewohnheit getreu drängt
es mich nur zu dem Einen : unmässig das Gebet zu verrichten, und immer, wenn ich
mich
damit abgehe, werde ich sehr froh. Gott weiß,
was mit mir vorgeht. Gewiß ist dies alles
sinnlich, oder, wie der verstorbene Starez
sagte, natürlich und künstlich, von der Gewohnheit erzeugt; doch wage ich es nicht,
mich bald ans Erlernen und an die Aneignung
des inneren Gebets im Herzen zu machen, da
ich unwürdig und töricht bin. Ich warte der
Stunde des göttlichen Willens und hoffe auf
die Gebete meines verstorbenen Starez.
Obwohl ich also das unablässige, selbsttätige innere Gebet im Herzen noch nicht
erlangt
habe, danke ich doch Gott, denn ich verstehe
jetzt klar, was das Wort bedeutet, das ich in
der Epistel hörte: betet ohne Unterlaß.

27
ZWEITE ERZÄHLUNG.
Lange pilgerte ich so von Ort zu Ort, und
das Jesusgebet begleitete mich; es ermutigte
mich, es tröstete mich auf allen Wegen, bei
allen Begegnungen und bei allen Begebenheiten. Endlich fühlte ich, daß es wohl
besser
sei, irgendwo an einem bestimmten Ort Halt
zu machen, um mich möglichst bequem der
Einsamkeit hinzugeben, wie auch, um die ‚Tugendliebe' zu studieren, in der ich
allerdings
schon ein weniges gelesen hatte, so, wenn ich
mich zur Nacht niederlegte, oder wenn ich
am Tage Rast hielt; dennoch empfand ich
das lebhafte Verlangen, mich ständig in das
Buch zu vertiefen und gläubig die wahre Unterweisung zur Rettung der Seele durch
das
Herzensgebet aus ihm zu schöpfen. Weil ich
mich aber diesem meinem Wunsche entsprechend nirgends zu schwerer körperlicher
Arbeit verdingen konnte, da ich mich von Kind
auf meines linken Armes nicht bedienen konnte, daher also auch der Möglichkeit
beraubt
war, ständige Arbeit und Unterkunft zu fin28

den, begab ich mich in die sibirischen Länder,


zum heiligen Inokentij von Irkutsk, weil ich
der Meinung war, daß ich stiller durch die sibirischen Wälder und Steppen würde
pilgern
können, es mir folglich auch bequemer fallen
müßte, mich mit dem Gebet und mit dem
Lesen des Buches zu beschäftigen. So zog ich
denn meines Weges und verrichtete unablässig das mündliche Gebet. Endlich fühlte
ich nach nicht gar zu langer Zeit, daß das Gebet ganz von selbst ins Herz
überzugehen begann, das heißt, das Herz fing an beim gewöhnlichen Schlagen,
gleichsam innerlich, die
Gebetsworte mit jedem Schlage auszusprechen, zum Beispiel: 1. Herr, 2. Jesus, 3.
Christus, usw. Ich hörte auf, das Gebet mit den
Lippen zu sprechen und horchte mit Eifer darauf hin, wie das Herz es sprach; zudem
war
es so, als wenn ich auch mit den Augen nach
innen schaute, wobei ich mich daran erinnerte, was mir der verstorbene Starez
erklärt
hatte, wie angenehm dies sei. Dann fühlte
ich einen feinen Schmerz im Herzen, im Geiste aber eine solche Liebe zu Jesus
Christus,
daß es schien, ich wäre Ihm, wenn ich Ihn
irgendwo getroffen hätte, gleich zu Füßen gefallen und hätte sie nicht aus meinen
Händen
gelassen, hätte sie geküßt und Ihm unter Trä29
nen gedankt, daß er mir mit Seinem Namen
in Seiner Gnade und Liebe, mir, Seinem unwürdigen und sündigen Geschöpf, einen
solchen Trost gewährte.
Alsdann begann ich eine wohltuende Erwärmung im Herzen zu spüren, und diese
Wärme erstreckte sich auch über die ganze
Brust. Dies veranlaßte mich insonderheit zu
eifrigem Lesen der ,Tugendliebe`, um sowohl
meine Empfindungen nachzuprüfen, als auch
um durch weitere Beschäftigung mit dem inneren Herzensgebet dieses zu erlernen;
denn
ich fürchtete, ohne diese Nachprüfung in Versuchung zu fallen oder natürliche
Wirkungen
für Gnadenwirkungen zu halten, oder in Hochmut zu verfallen, weil ich das Gebet
schnell
erfaßt hatte, wie ich vom verstorbenen Starez
gehört hatte. Darum wandertee ich zumeist
in der Nacht, verbrachte aber die Tage hauptsächlich damit, imWalde unter Bäumen
sitzend
die ‚Tugendliebe' zu lesen. Ach, wieviel Neues,
wieviel Weises und bisher Unbekanntes offenbarte mir dies Lesen! Da ich mich darin
übte, empfand ich eine solche Süßigkeit, wie
ich sie mir bis zu dieser Zeit überhaupt
nicht hatte vorstellen können. Zwar gab es
da einige Stellen, die meinem törichten Geist
beim Lesen nicht verständlich waren, doch
30

erkannte ich an den Folgen des Herzensgebets das nicht Verstandene; zudem erschien
mir mitunter mein verstorbener Starez im
Traum, der mir vieles deutete und zu allermeist meine unverständige Seele der Demut
geneigt machte. Mehr als zwei Sommermonate
verbrachte ich in solcher Seligkeit. Ich pilgerte zumeist durch Wälder, und kam ich
auf
Feldwegen in irgendein Dorf, so bat ich mir
Hartbrot aus in meinen Beutel, eine Handvoll Salz, füllte meine Feldflasche mit
Wasser und wanderte dann die nächsten hundert
Werst weiter.
Ob nun wegen der Sünden meiner verruchten Seele, oder weil es das geistige Leben so
erforderte, oder zwecks besserer Unterweisung
und Erfahrung, — jedenfalls stellten sich
gegen Ende des Sommers Versuchungen ein.
Und zwar : als ich auf der Landstraße meines
Weges zog, holten mich in der Dämmerung
zwei Menschen ein, die vielleicht Soldaten
sein mochten; sie forderten Geld von mir. Als
ich ihnen sagte, daß ich keinen Groschen hätte, glaubten sie mir nicht und schrien
frech :
„Du lügst! Pilger betteln sich haufenweise
Geld zusammen !" Der eine sagte : „Was sollen wir lange mit ihm reden !" Und schlug
mich mit einem Knüppel so auf den Kopf,
31
daß ich bewußtlos hinstürzte. Ich weiß nicht,
wie lange ich so dagelegen habe ; als ich dann
wieder zur Besinnung kam, gewahrte ich, daß
ich ganz zerschunden in der Nähe der Landstraße im Walde lag, und mein Beutel
fehlte;
nur die durchschnittenen Schnüre, an denen
ich ihn trug, waren noch da. Meinen Paß hatten sie Gott sei Dank dagelassen; ich
hatte
ihn in meiner alten Mütze liegen, um ihn möglichst schnell vorweisen zu können,
falls man
mich danach fragte. Als ich mich erhob, weinte ich bitterlich, nicht so sehr, weil
mir der
Kopf schmerzte, sondern weil mir meine Bücher, die Bibel und die ,Tugendliebe`, die
in
dem geraubten Beutel lagen, abhanden gekommen waren. Tag und Nacht trauerte ich
und weinte. Wo war nun meine Bibel geblieben, die ich von klein auf gelesen hatte
und
die ich immer bei mir trug ? wo meine ,Tugendliebe`, aus der ich Belehrung und
Trost
schöpfte? Ich Unglückseliger hatte den einzigen Schatz meines Lebens, ohne daß ich
mich an ihm hätte sättigen können, verloren.
Hätten sie mich doch lieber ganz totgeschlagen, als nun so ohne diese geistige
Nahrung
leben zu müssen. Nun würde ich sie mir nie
wieder erwerben können !
Ein paar Tage konnte ich die Beine kaum
32

vorwärts bewegen, so sehr hatte mich mein


Schmerz niedergeworfen; am dritten Tage
aber ließen mich meine Kräfte ganz im Stich,
ich brach unter einem Busch zusammen und
schlief ein. Da träumte mir nun, ich wäre in
der Einsiedelei, in der Klause meines Starez,
und klagte ihm mein Leid. Der Starez tröstete
mich und begann folgendermaßen: „Es soll
dir das eine Lehre sein, dich zu irdischen Dingen gleichgültig zu verhalten, um
desto bequemer deinen Weg zum Himmel fortsetzen
zu können. Diese Versuchung ist über dich
gekommen, damit du nicht in geistige Wollust verfällst. Gott will, daß der Christ
seinen
eigenen Willen, sein Wünschen und eine jegliche Leidenschaft ablegt und sich ganz
und
gar Seinem göttlichen Willen hingibt. Er
führt alle Dinge im Leben so, daß sie dem
Menschen nützen und seine Rettung fördern;
,welcher will, daß allen Menschen geholfen
werde`1). Fasse darum Mut und glaube, daß
‚Gott macht, daß die Versuchung so ein Ende
nimmt, daß ihr es ertragen könnt`2). Auch
du wirst bald viel größeren Trost finden, als
du jetzt Leid trägst." Bei diesen Worten
erwachte ich, fühlte meine Kräfte befestigt
1)1. Tim. 2. 4.
2)1. Kor. 10. 13.
3 Ein russischеѕ р lgerleben

33
und gleichsam Licht und Beruhigung über
meine Seele kommen. „Gottes Wille geschehe," sagte ich, bekreuzigte mich, stand
auf und ging weiter. Wieder begann das Gebet
in meinem Herzen, wie früher, zu wirken, und
so wanderte ich wohl drei Tage lang ruhig
dahin.
Danach holte ich unterwegs eine Sträflingskolonne ein, die von einer Eskorte
begleitet wurde. Als ich den Zug entlang schritt,
sah ich die beiden Männer, die mich beraubt
hatten, und da sie im äußersten Gliede gingen,
fiel ich vor ihnen nieder und bat sie flehentlich, mir zu sagen, wo meine Bücher
seien.
Anfangs beachteten sie mich nicht, dann sagte
einer der beiden : „Wenn du uns irgendwas
gibst, so wollen wir dir sagen, wo deine Bücher sind. Gib uns einen Rubel." Ich
schwor,
ich würde ihnen das Geld geben, ganz bestimmt geben, selbst wenn ich es mir um
Christi willen erbetteln müßte. „Wenn ihr
wollt, nehmt meinen Paß hier als Pfand." Da
sagten sie mir, daß meine Bücher zusamt den
anderen gestohlenen Sachen, die man ihnen
abgenommen hatte, im Train mitgeführt würden. „Aber wie bekomme ich sie ?" — „Bitte
den Hauptmann darum, der uns begleitet."
Ich stürzte zum Hauptmann und erklärte ihm
34

alles ausführlich. Unter anderem fragte er


mich : „Verstehst du denn wirklich, die Bibel
zu lesen ?" — „Ich kann nicht nur alles lesen,"
antwortete ich, „sondern auch schreiben; Sie
werden in der Bibel eine Einschrift finden,
daß sie mir gehört; und in meinem Paß hier
ist ja auch mein Name und Stand genannt."
Der Hauptmann sagte dann: „Diese Gauner
sind Deserteure; sie haben in einer Erdhütte
gehaust und viele Leute beraubt. Ein gewandter Kutscher hat sie gestern gefangen;
dem wollten sie sein Dreigespann fortnehmen.
Meinethalben, ich werde dir deine Bücher geben, wenn sie sich hier finden sollten.
Komm'
aber mit, bis wir für die Nacht Rast machen.
Wir marschieren nicht mehr weit, vier Werst
noch. Ich kann nicht um deinetwillen die
Kolonne und den Train aufhalten." Voller
Freude schritt ich neben dem Reitpferd des
Hauptmanns einher. Allgemach kam ich in
ein Gespräch mit ihm. Ich merkte, daß er
ein guter und ehrlicher Mann war, nicht mehr
jung an Jahren. Er fragte mich aus, wer ich
sei, woher ich käme, wohin ich wanderte. Ich
beantwortete alle seine Fragen wahrheitsgemäß; so langten wir denn bei der
Etappenhütte an, wo für die Nacht Rast gemacht werden sollte. Er suchte meine
Bücher heraus,
3*

35
gab sie mir ab und sagte : „Wohin willst du
jetzt in der Nacht wandern ? du kannst bei
mir im Flur übernachten." So blieb ich denn.
Da ich die Bücher erhalten hatte, war ich
so froh, daß ich nicht wußte, wie ich Gott
danken sollte; ich drückte die Bücher an
meine Brust und hielt sie so lange fest, bis
mir die Finger klamm wurden. Tränen strömten mir aus den Augen vor lauter Freude,
und
mein Herz schlug in süßem Entzücken! Da
der Hauptmann mich so sah, fragte er: „Du
liest die Bibel wohl gern ?" Vor Freude vermochte ich ihm nicht hierauf zu
antworten;
ich weinte nur. Er fuhr fort : „Ich selber,
Freund, lese regelmäßig an jedem Tage das
Evangelium." Bei diesen Worten knüpfte
er seinen Waffenrock auf und zog ein kleines, in Kijew gedrucktes Evangelienbuch in
schmiedesilbernem Einband hervor.
„Setz' dich mal her, ich will dir erzählen,
wie ich dazu gekommen bin ... Richtet mal
das Abendessen!"
Wir setzten uns an den Tisch, und der
Hauptmann erzählte : „Als junger Mensch begann ich meinen Dienst in der Armee, lag
also
nicht in Garnison; meinen Dienst versah ich
gut, und meine Vorgesetzten liebten mich,
weil ich ein tüchtiger Fähnrich war. Ich war
36

aber jung an Jahren und meine Freunde desgleichen; zum Unglück gewöhnte ich mir das
Trinken an : zum Schluß war es aber so, daß
ich mich ganz dem Trunke ergab; das war
wie eine Krankheit; trank ich nicht, so war
ich ein tüchtiger Offizier; kaum ging es aber
mit dem Trinken los, so mußte ich für sechs
Wochen in Arrest. Lange duldete man das.
Endlich aber wurde ich wegen grober Worte,
die ich trunkenen Muts meinem Chef gesagt
hatte, degradiert und für drei Jahre in Garnison und unter die Soldaten gesteckt;
man
drohte mir mit noch strengeren Strafen, wenn
ich mich nicht bessern und das Trinken aufgeben würde. In diesem unseligen Zustand
geschah es nun, daß ich, so sehr ich mich auch
bemühte, enthaltsam zu sein und mich von
meinem Laster zu heilen, es dennoch auf
keine Weise aufgeben konnte; darum sollte
ich in das Strafbataillon versetzt werden. Als
ich dieses hörte, wußte ich nicht, was ich mit
mir selber anfangen sollte.
„Einmal saß ich in Nachdenken versunken
in der Kaserne. Plötzlich kam ein Mönch herein. Er hatte ein Sammelbuch bei sich
und
bat um Gaben für den Bau einer Kirche. Jeder gab, soviel er gerade konnte. Er trat
auf
mich zu und fragte : ‚Warum bist du so trau37
rig ?` Ich kam mit ihm ins Gespräch und
klagte ihm mein Leid; der Mönch empfand
Teilnahme für meine Lage und sagte: ‚Ganz
genau so ist es meinem Bruder ergangen. Geholfen hat ihm aber folgendes : sein
Beichtvater gab ihm ein Evangelium und befahl ihm
mit Bestimmtheit, er solle jedesmal, wenn
ihn das Verlangen ankäme, zu trinken, unverzüglich ein Kapitel im Evangelium lesen;
sollte er dann immer noch trinken wollen, so
müsse er das nächste Kapitel lesen. Mein
Bruder verfuhr so, und in kürzester Zeit war
die Trunksucht verschwunden. Seit fünfzehn
Jahren kommt kein Tropfen berauschender
Getränke über seine Lippen. Tue auch du
also. Du wirst sehen, daß es nützt. Ich besitze ein Evangelium; wenn du willst,
bringe
ich es dir.'
„Nachdem ich dies angehört, sagte ich ihm :
,Was soll mir dein Evangelium helfen, wenn
mich doch meine eigenen Bemühungen und
keine Arzneimittel vom Trinken abbringen
konnten!` Ich sagte so, weil ich nie das Evangelium gelesen hatte. ,Sag' nicht,'
entgegnete
mir der Mönch, ,sei versichert, es wird dir
nützen.` Tags darauf brachte mir der Mönch
wirklich das versprochene Evangelium, —
dieses hier. Ich schlug es auf, warf einen Blick

38

herein, überflog einige Zeilen und sagte: ,Ich


will es nicht haben; man versteht überhaupt
nicht, was drin steht; außerdem bin ich nicht
gewöhnt, Kirchenschrift1) zu lesen.'
„Der Mönch fuhr fort, in mich zu dringen;
er sagte, in den Worten des Evangeliums wäre
eine heiligmachende Kraft verborgen, denn
es stünde darin geschrieben, was Gott selber
gesagt habe. ,Es macht nichts, daß du es
nicht verstehst. Lies nur eifrig. Ein Heiliger
hat gesagt : Wenn du das Wort Gottes nicht
verstehst, so verstehen doch die Teufel das,
was du liesest, und zittern; die Trunksucht
rührt ja aber doch bestimmt von den Teufeln
her; und dann will ich dir noch sagen, Johannes Chrysostomus schreibt, daß selbst
der
Schrein, in dem das Evangelium bewahrt
wird, die Geister der Finsternis zittern macht,
zо daß sie es nicht wagen, darüber herzufallen.'
Ich weiß nicht mehr, — doch gab ich diesem Mönch einige Groschen und nahm dafür
dieses Evangelium hier in Empfang; ich legte
es in den Kasten zu meinen übrigen Sachen
und vergaß es ganz. Nach einiger Zeit war es
so weit, daß mich wieder die Lust zum Trinken
1) Die russische Kirchenschrift unterscheidet sich von
der Profanschrift.

39
überkam; mich verlangte so unbändig nach
Schnaps, daß ich rasch den Kasten aufschloß,
um mir Geld herauszunehmen und dann in
die Schenke zu laufen. Als erstes fiel mein
Blick auf das Evangelium, und ich mußte lebhaft daran denken, was mir der Mönch
gesagt
hatte; ich schlug es auf und begann das erste
Kapitel im Matthäus zu lesen. Nachdem ich
es zu Ende gelesen hatte, war es genau so, —
ich hatte nichts verstanden; auch erinnerte
ich mich daran, was der Mönch gesagt hatte :
,das macht nichts, wenn du es auch nicht verstehst, lies nur eifrig'. Halt, dachte
ich, ich
will das zweite Kapitel lesen. Ich las es, und
schon war es mir begreiflicher. Dann also
auch das dritte; kaum hatte ich es begonnen,
als das Glockenzeichen in der Kaserne ertönte : alle mußten sich für die Nacht zu
ihren
Pritschen begeben; somit war es nicht mehr
möglich, die Kaserne zu verlassen und auf die
Straße hinauszugehen; so blieb ich denn da.
„Als ich am Morgen aufstand und mich anschickte hinauszugehen, um mir Schnaps zu
kaufen, dachte ich bei mir : ich will mal ein
Kapitel im Evangelium lesen; was kann da
sein ? Ich las es und ging nicht. Wieder überkam mich die Lust zu trinken; ich las
dann
noch ein Kapitel und schon war mir leichter
40

geworden; dieses ermutigte mich, und bei jeder Versuchung zum Trunk las ich nun
immer
je ein Kapitel im Evangelium. Je länger ich
so verfuhr, desto leichter wurde mir, und als
ich schließlich alle vier Evangelisten zu Ende
hatte, war meine Trunksucht vollkommen geschwunden, und ich empfand nur einen
Widerwillen gegen das Trinken. Und nun sind es gerade zwanzig Jahre her, daß
überhaupt keine
berauschenden Getränke über meine Lippen
kommen.
„Alle staunten über den Wandel in mir.
Nach Ablauf von drei Jahren wurde ich wieder zum Offizier ernannt, rückte dann auf
und
bin schließlich Kommandeur geworden. Ich
habe eine brave Frau geheiratet; wir haben
uns ein kleines Vermögen verdient; und so
leben wir jetzt gottlob zusammen und bemühen uns nach Kräften, Armen zu helfen,
Pilger bei uns aufzunehmen. Ich habe einen
Sohn, der ist auch schon Offizier, ein braver
Junge!
„Nun höre : ich habe, seit ich von der Trunksucht geheilt bin, den Schwur getan,
jeden
Tag, mein ganzes Leben lang, das Evangelium
zu lesen, und zwar täglich einen ganzen Evangelisten, gleichviel, was auch
dazwischenkäme.
So verfahre ich auch jetzt. Wenn ich im
41
Dienst sehr viel zu tun habe und sehr müde
bin, so lege ich mich abends hin und lasse
meine Frau oder meinen Sohn mir einen ganzen Evangelisten vorlesen. Und an dieser
meiner Regel halte ich unverbrüchlich fest.
Zum Dank und zum Lobpreise Gottes habe ich
dieses Evangeliuminreines Silber fassen lassen
und trage es immer bei mir auf der Brust."
Voller Wonne hatte ich diese Erzählung
des Hauptmanns angehört und sagte: „Ein
ähnliches Beispiel habe ich auch gesehen; in
unserem Dorf war in der Fabrik ein in seinem
Handwerk sehr kunstfertiger Meister; ein guter, tüchtiger Meister;
unglücklicherweise
hatte er es auch mit demTrinken,und es überkam ihn oft. Ein gottesfürchtiger Mensch
gab ihm den Rat, er möge, wenn ihn nach
Schnaps verlangte, dreiunddreißigJesusgebete
sprechen der heiligen Dreifaltigkeit zu Ehren
und weil das Erdenleben Jesu Christi dreiunddreißig Jahre gedauert hat. Der Meister
hörte auf ihn, tat so, wie jener sagte, und ließ
dann bald das Trinken ganz sein. Und was
noch ? Nach drei Jahren ging er ins Kloster."
„Und was steht höher ?" fragte der Hauptmann, „das Jesusgebet oder das
Evangelium ?"
„Es ist ein und dasselbe," antwortete ich,
„ob nun das Evangelium oder das Jesusgebet,
42

denn der göttliche Name Jesu Christi enthält


in sich alle evangelischen Wahrheiten. Die
heiligen Väter sagen, das Jesusgebet sei eine
Zusammenfassung des ganzen Evangeliums."
Dann beteten wir zusammen; der Hauptmann las das Markusevangelium vom ersten
Kapitel an, ich hörte zu und verrichtete im
Herzen das Gebet. Es war bald zwei nach
Mitternacht, als der Hauptmann das Evangelium zu Ende gelesen hatte, und wir gingen
dann zur Ruhe.
Wie es meine Gewohnheit war, stand ich
früh am Morgen auf; alle schliefen noch, und
gleich, als es zu dämmern begann, stürzte ich
mich auf meine gelebte „Tugendliebe". Mit
welcher Freude schlug ich das Buch auf! Als
hätte ich meinen leiblichen Vater, der aus
weiter Ferne heimkehrte, wiedergefunden,
oder einen von den Toten auferstandenen
Freund. Ich küßte es und dankte Gott, der
es mir wiedergegeben hatte. Alsbald begann
ich im philadelphischen Feolipt zu lesen, im
zweiten Teil der „Tugendliebe". Seine Unterweisung erstaunte mich; er schlägt vor,
gleichzeitig drei verschiedene Dinge zu verrichten : sitzt du bei Tisch, sagt er,
so gib dem
Leibe Nahrung, dem Gehör — Lesung, dem
Geist aber — Gebet. Doch dieser Gedanke
43
wurde mir in Erinnerung an den vergangenen, so sehr freudigen Abend aus der
Erfahrung heraus und in der Tat klar. Und hier
enthüllte sich mir das Geheimnis, daß Herz
und Verstand nicht ein und dasselbe sind.
Als der Hauptmann aufgestanden war, ging
ich zu ihm, um ihm für seine Güte zu danken
und von ihm Abschied zu nehmen. Er bewirtete mich mit Tee, gab mir einen Rubel,
und so verabschiedeten wir uns. So zog ich
denn voller Freude weiter.
Als ich etwa eine Werst gegangen war, fiel
es mir ein, daß ich den Soldaten einen Rubel
versprochen hatte, den ich jetzt unvermutet
besaß. Sollte ich ihnen das Geld geben oder
nicht ? Einerseits dachte ich : sie haben dich
geschlagen und beraubt, und außerdem können sie das Geld doch nicht so verwenden,
wie sie wollen, weil sie doch bewacht werden.
Andrerseits stellte sich mir die Sache so dar:
denke daran, was in der Bibel steht : „Wenn
deinen Feind hungert, so speise ihn1)". Und
auch Jesus Christus sagt : „Liebet eure Feinde," 2) und dann: „Will jemand deinen
Rock
nehmen, dem lasse auch den Mantel." з) Die1)Ri3m. 12, 30.

2)Matth. 5, 44.
) Matth. 5, 40.

44

ses überzeugte mich, und ich kehrte wieder


zurück. Kaum war ich in der Nähe der Etappenhütte, als die Sträflinge herausgeführt
wurden; sie sollten zur nächsten Raststelle
weitergetrieben werden; ich kam schnell herzugelaufen, steckte ihnen den Rubel zu
und
sagte : „Bereut und betet. Jesus Christus liebt
die Menschen; Er wird euch nicht verlassen!"
Und mit diesen Worten entfernte ich mich
und ging dann meiner Wege in entgegengesetzter Richtung.
Nachdem ich etwa fünfzig Werst auf der
Landstraße gewandert war, kam es mir in den
Sinn, vom Wege abzubiegen, um einsamer zu
sein und bequemer lesen zu können. Lange
pilgerte ich so durch die Wälder; hie und da
nur kam ich an kleinen D örfern vorbei. Manchmal saß ich den ganzen Tag über im
Walde
und las eifrig in der „Tugendliebe". Viel wunderbares Wissen schöpfte ich daraus.
Mein
Herz war entflammt zur Vereinigung mit Gott
durch das innere Gebet; ich bemühte mich,
es zu erlernen, indem ich mich von der „Tugendliebe" anleiten ließ und mich danach
prüfte; gleichzeitig empfand ich aber Trauer
darüber, daß ich noch keinen Ruheort gefunden hatte, wo ich mich ganz dem Lesen
hätte
hingeben können.
45
Um diese Zeit las ich ebenfalls in meiner
Bibel und fühlte, daß ich sie noch klarer verstand, nicht so wie früher, da mir
noch vieles
unverständlich erschien und ich des öfteren
mich nicht zurechtfand. Sehr mit Recht sagen die heiligen Väter, die „Tugendliebe"
sei
der Schlüssel zu den Geheimnissen der Heiligen Schrift. Unter selbiger Anleitung
begann
ich nun teilweise den inneren Sinn des Wortes
Gottes zu erfassen: es begann mir, klar zu
werden, was es mit dem inneren Menschen,
der im Herzen verborgen ist, für eine Bewandtnis habe, was das wahre Gebet sei, das
Beten im Geist, das Himmelreich in uns, die
unaussprechliche Fürbitte des mit uns seufzenden Heiligen Geistes, das Wort :, Ihr
werdet in Mir sein,' das andere: ,Gib mir dein
Herz,' was es bedeutet, ,Christus anziehen,'
was das Verlöbnis des Geistes in unseren Herzen bedeutet, was der Herzensseufzer :
Abba!
Vater ! usw. Wenn ich hierbei mit dem Herzen zu beten begann, so stellte sich mir
die
ganze Umgebung in entzückender Gestalt
dar: die Bäume, die Gräser, die Vögel, die
Erde, die Luft, das Licht, alles schien gleichsam zu mir zu sprechen, daß es für
den Menschen da wäre, die Liebe Gottes zum Menschen bezeugte, und alles betete,
alles war

voller Lobpreisungen Gottes. Und da verstand ich, was in der „Tugendliebe" mit dem
Worte gemeint ist : ,Den Geist der Geschöpfe
verstehen'. Und ich sah den Weg, den man
zu beschreiten hat, um mit Gottes Geschöpfen Zwiesprache zu führen.
So pilgerte ich lange Zeit. Endlich kam
ich in eine so einsame Gegend, daß ich wohl
drei Tage lang unterwegs durch kein einziges
Dorf kam. All mein Hartbrot hatte ich verzehrt, und ich war bekümmert, daß ich nun
Hungers sterben müßte. Kaum begann ich
aber mit dem Herzen zu beten, als die Kümmernis schwand; ich vertraute mich ganz
dem
Willen Gottes an und wurde fröhlich und
ruhig. Nachdem ich so eine Weile den Weg
gepilgert war, der an einem riesigen Walde
hinführte, erblickte ich vor mir einen Hofhund, der aus selbigem Walde gelaufen
kam;
ich lockte ihn heran; er kam auch gleich
gelaufen und schmiegte sich an mich; da
freute ich mich und dachte : „Das ist Gottes Gnade ! Sicherlich weidet in diesem
Walde
eine Herde, und natürlich gehört dieser zahme
Hund einem Hirten oder vielleicht einem
Jäger, der auf Jagd gegangen ist; aber ob so
oder anders, jedenfalls werde ich mir doch
etwas Brot erbitten können, denn ich habe
47
schon den zweiten Tag nichts gegessen, oder
ich werde mich erkundigen können, wo das
nächste Dorf ist." Nachdem mich der Hund
umsprungen hatte und wohl sehen mochte,
daß ich ihm nichts zu fressen geben konnte,
lief er auf demselben schmalen Pfade, der auf
die Landstraße mündete, in den Wald zurück.
Ich folgte ihm. Ich mochte vielleicht fünfhundert Schritt gegangen sein, als ich
zwischen den Bäumen sah, wie der Hund in
einem Erdloch verschwand, aus dem er hervorlugte und bellte.
Hinter einem dicken Baumstamm trat ein
Bauer in mittleren Jahren hervor; er sah sehr
elend aus und war maß. Er fragte mich, wie
ich hierher käme. Ich fragte dagegen, warum
er sich hier aufhalte. Wir kamen in ein
freundliches Gespräch. Der Bauer lud mich
in seine Erdhütte ein; er teilte mir mit, er
wäre Waldhüter und müsse diesen Wald bewachen, da er bald abgeholzt werden solle.
Er bot mir Brot und Salz an, und es entspann
sich zwischen uns eine Unterhaltung.
„Ich beneide dich," sagte ich, „daß du so
bequem in der Einsamkeit, fern von den Mensehen leben kannst, nicht so wie ich,
denn ich
pilgre von einem Ort zum andern und muß
mit allerhand Volks zusammenkommen."
48

„Wenn du Lust hast," sagte er, „bleib' hier


meinethalben wohnen; drüben, nicht weit von
hier, ist eine alte Erdhütte, die der frühere
Waldhüter bewohnte; obwohl sie nun ziemlich baufällig ist, läßt sich doch noch im
Sommer darin wohnen. Einen Paß hast du, Brot
hab' ich zur Genüge, man bringt es mir wöchentlich aus unserem Dorfe; dort fließt
ein
Bächlein, das nie versiegt. Ich selber nähre
mich wohl schon seit zehn Jahren nur von
Brot und Wasser; sonst nehme ich nichts zu
mir. Und nur Eines ist schlimm: wenn die
Bauern im Herbst die Ernte eingebracht haben, werden etwa zweihundert Holzfäller
herkommen und diesen Wald abholzen; alsdann
werdeich selber hier nicht wohnen können, und
auch dich wird man hier nicht leben lassen."
Nachdemich dieses alles gehört, erfüllte mich
eine so große Freude, daß ich ihm am liebsten
zu Füßen gefallen wäre. Ich wußte nicht, wie
ich Gott für diese Gnade, die er mir erwiesen
hatte, danken sollte. Wonach ich mich gesehnt, was ich gewünscht hatte, war mir nun
unverhofft zugefallen. Bis zum Spätherbst
waren noch reichlich vier Monate, und so
könnte ich mich denn in dieser Zeit dem
Schweigen und der ersehnten Ruhe hingeben,
um die „Tugendliebe" aufmerksam zu lesen
4 Ein russisches Pilgerleben

49
und das unablässige Herzensgebet zu erlernen
und mir anzueignen. So blieb ich denn voll
Freude einstweilen in der Erdhütte, die man
mir gewiesen hatte. Wir kamen noch mehr
ins Gespräch mit ihm, der mich schlicht wie
einen Bruder aufgenommen hatte; er erzählte
mir sein Leben und seine Gedanken.
„Im Dorf," sagte er, „war ich nicht gerade
der Letzte. Ich hatte ein Handwerk; ich
färbte Baumwollstoffe und Leinwand; ich
hatte mein Auskommen, wenn es auch nicht
ohne Sünde abging: beim Handeln habe ich
viel betrogen, habe unnützlich Gottes Namen
angerufen; ich habe auch unflätig geschimpft,
habe mich betrunken, war ein Raufbold. Wir
hatten in unserem Kirchdorf einen alten
Psalmsänger; der besaß ein altes, uraltes Buch
über das Jüngste Gericht. Er pflegte die
Rechtgläubigen zu besuchen und aus dem
Buch vorzulesen; dafür gab man ihm Geld;
er kam auch des öfteren zu mir. Gab man
ihm zehn Kopeken und setzte ihm noch
einen Schnaps vor, so las er einem vom Abend
bis zum ersten Hahnenschrei vor. So kam
es denn, daß ich ihm bei meiner Arbeit zuhörte, und er las, was für Qualen uns in
der
Hölle bevorstehen, wie sich die Lebenden
wandeln werden, und die Toten werden auf50

erstehen, Gott selber wird herabsteigen zum


Gericht, die Engel werden in die Posaunen
stoßen, und dann das Feuer, die Flammenglut, siedendes Pech, und der Wurm wird die
Sünder fressen. Als ich dies eine Zeitlang gehört hatte, kam mich Furcht an. Ich
dachte :
,Den Qualen werde ich nicht entgehen! Halt,
ich will mich daran machen, meine Seele zu
retten; vielleicht werde ich meine Sünden abbüßen.` Lange überlegte ich hin und
her, gab
dann mein Handwerk auf, verkaufte die Hütte und ging, da ich Junggeselle war als
Waldhüter in den Wald unter der Bedingung, daß
mir die Bauern Brot, Kleidung und Wachskerzen für meine Andachten liefern. So
lebe ich denn hier schon über zehn Jahre;
ich sättige mich nur einmal am Tage und
nehme auch dann nur Brot und Wasser zu
mir; in jeder Nacht erhebe ich mich mit dem
ersten Hahnenschrei und bete dann unter tiefen Verbeugungen bis zur Dämmerung; wenn
ich bete, stecke ich vor den Heiligenbildern
sieben Kerzen an. Wenn ich aber am Tage
den Wald abschreite, trage ich zwei Pudl)
schwere Büвerketten am nackten Leibe. Ich
schimpfe nicht mehr unflätig; Schnaps und
Bier trinke ich nicht, und mit keinem habe
1)
4*

Etwa 65 deutsche Pfund.

51
ich Raufereien; Weiber und Mädchen habe
ich mein Lebtag gemieden. Anfangs hat mir
dieses Leben mehr behagt, aber jetzt — gegen
Ende — verfolgen mich unentwegt böse Gedanken. Weiß Gott, ob es einem gelingt,
seine
Sünden abzubüßen, und das Leben, das ich
führe, ist doch so hart. Und stimmt es auch,
was im Buch zu lesen steht ? Wie könnte ein
Mensch auferstehen, sollte man meinen! So
mancher ist schon vor hundert Jahren gestorben oder länger noch, und es ist nicht
mal
Staub von ihm übrig geblieben. Und wer
weiß denn, ob es eine Hölle geben wird oder
nicht ? Aus jener Welt ist doch niemand zu
uns gekommen; es scheint, wenn der Mensch
stirbt und verwest, so ist er auch spurlos verschwunden. Das Buch werden wohl die
Popen
geschrieben haben und die Vorgesetzten, um
uns Narren Angst zu machen, damit wir gehorsam und bescheiden leben. So plackt man
sich denn auf Erden und findet keinen Trost,
und auch in jener Welt wird es nichts geben.
Was folgt denn daraus ? Vielleicht wäre es
doch besser, recht vergnügt und bequem auf
Erden zu leben ? — Dies sind die Gedanken,"
fuhr er fort, „die gegen mich anrennen, und
ich fürchte, daß ich schließlich doch noch zu
meinem alten Handwerk zurückkehre."

Als ich ihn so reden hörte, tat er mir leid,


und ich dachte bei mir selber: „Man sagt, daß
es Gelehrte und Weise gibt, die Freidenker
sind und an nichts glauben. Aber da nehme
man unsereinen, den einfachen Bauern, was
der sich für Unglauben ersinnt ! Wohl mag
dem Reich der Finsternis Zutritt zu allen gewährt sein, und es mag ihm ja auch
leichter
fallen, gegen einfache Menschen aufzukommen. Gegen den Feind der Seele muß man
sich, so sehr man kann, mit dem Worte Gottes waffnen und fest darin werden." Und um
diesem Bruder, so sehr ich konnte, zu helfen
und seinen Glauben zu stützen, holte ich aus
meinem Beutel die „Tugendliebe" hervor,
schlug das hundertneunte Kapitel des heiligen Isichios auf, las es ihm vor und
begann
ihm auseinanderzusetzen, daß das Meiden der
Sünde aus Furcht vor den Qualen weder gut
noch fruchtbar sei, und die Seele könne sich
durch nichts anderes vor Gedankensünden
retten, als dadurch, daß man über seinem
Geist wacht und sich ein reines Herz bewahrt.
Dies alles nun ist durch das innere Gebet
zu erlangen. „Und zwar," fügte ich hinzu,
„nicht etwa nur heiligmäßiges Leben aus
Angst vor den Höllenqualen, sondern auch
gute Werke, die man tut, um seine Seele zu

52
53
retten, um das Himmelreich zu erwerben,
nennen die heiligen Väter ein Mietlingswerk.
Sie sagen, Angst vor Qualen sei der Weg der
Knechte, und der Wunsch, das Himmelreich
als Lohn zu empfangen — der Weg der Mietlinge. Gott will aber, daß wir als Seine
Söhne
zu Ihm kommen, das heißt, daß wir aus Liebe
und Eifer um Ihn ein ehrliches Leben führen
und uns der erlösenden Vereinigung mit Ihm
in der Seele und im Herzen erfreuen. Du
magst dich noch so sehr kasteien, du magst
die schwersten körperlichen Mühen und Werke auf dich nehmen, wofern du aber nicht
immer Gott sinnst und das unabhissige Jesusgebet im Herzen hast, wirst du nie Ruhe
finden vor feindlichen Gedanken und wirst immer zur Sünde geneigt sein, selbst beim
geringsten Anlaß. Mach' dich mal dran, Bruder, das Jesusgebet unabhissig zu
sprechen;
du kannst es ja doch ; und es geht auch an
hier in dieser Einsamkeit; sehr bald wirst
du dich von seinem Nutzen überzeugen. Alsdann werden dir die gottlosen Gedanken
nicht
mehr zusetzen, der Glaube wird sich dir erschließen und die Liebe zu Jesus
Christus;
alsdann wirst du es erfahren, wie die Toten
auferstehen, und das Jüngste Gericht wird
sich dir so darstellen, wie es in Wahrheit sein
54

wird. Im Herzen aber wirst du durch das


Gebet eine solche Leichtigkeit und Freude
verspüren, daß du staunen wirst, und du wirst
dich nicht mehr grämen, auch nicht mehr
zweifeln wegen deines frommen Lebens."
Dann erklärte ich ihm, so gut ich konnte,
wie er mit dem unablässigen Jesusgebet beginnen und darin fortfahren müsse, und was
das Wort Gottes darüber sagt, auch, was die
heilig(i Väter lehren. Scheinbar war er hiermit ei verstanden und wurde ruhiger.
Nachdem ich mich alsdann von ihm getrennt hatte,
begab ich mich in die verfallene Erdhütte,
die er mir gewiesen hatte.
Mein Gott, welch eine Freude empfand ich,
welche Ruhe und welche Wonne, kaum daß
ich über die Schwelle dieser Höhle oder besser
gesagt, dieses Grabes getreten war; es schien
mir ein herrliches, königliches Gemach zu
sein, ganz erfüllt von allerhand Trost und
Freude. Ich weinte Freudentränen, dankte
Gott und dachte : „eben hier, in dieser Ruhe
und Stille, muß ich mit Eifer an mein Werk
gehen und Gott um Erleuchtung bitten." Und
so begann ich denn vor allen Dingen die „Tugendliebe" zu lesen, der Reihe nach, von
Anfang bis zu Ende, mit größter Aufmerksamkeit. In kurzer Zeit hatte ich alles
gelesen und
55
gewahrte, welche Weisheit, Heiligkeit und
Tiefe darin enthalten ist. Da aber in dem
Buche von vielen und mannigfachen Dingen
geredet wird, auch verschiedene Unterweisungen der heiligen Väter darin enthalten
sind, vermochte ich nicht alles zu verstehen
und es in dem einen Punkt zusammenzufassen, auf den es mir besonders ankam, nämlich
alles über das innere Gebet zu erfahren,
um hieraus den Weg zur Erlernung des unablässigen, selbsttätigen Herzensgebetes zu
erfahren. Dies wollte ich aber gar sehr, wie
ja auch Gott durch den Apostel gebietet :
„Beeifert euch aber um die besseren Gaben"1)
und ferner : „den Geist löschet nicht" 2). Ich
dachte und überlegte, wie ich's anstellen sollte ? Mein Verstand und mein
Begriffsvermögen reichten nicht hin, und war auch keiner
da, der es mir hätte erklären können. Ich will
mal Gott mit meinem Gebet zusetzen; vielleicht wird mich der Herr irgendwie
erleuchten. Hierauf tat ich einen Tag nichts anderes,
als nur im unablässigen Gebet zu beharren,
welches ich ohne die geringste Unterbrechung
verrichtete; meine Gedanken beruhigten sich,
und ich schlief ein; da träumte mir nun, ich
sei in der Klause meines verstorbenen Starez,
1) 1. Kor. 12, 13. E ) 1. Thess. 5, 19.
56

und er deutet mir die „Tugendliebe" und


spricht also : „Dieses heilige Buch ist voll tiefer Weisheit. Es ist eine geheime
Schatzkammer des Eindringens in die verborgenen
Führungen Gottes. Nicht in allen Stücken
und nicht jedermann ist es zugänglich; doch
enthält es nach Maßgabe des Verständnisses
für einen jeden Unterweisungen: für den einfachen Mann — einfache, für den Weisen —
weise. Darum sollt ihr, die Einfältigen, es
nicht in der Reihenfolge lesen, wie die Schriften der heiligen Väter angeordnet
sind. Die
Anordnung ist dort eine theologische; der
nicht gelehrte Mensch aber, der das innere
Gebet aus der „Tugendliebe" erlernen will,
muß sie in dieser Reihenfolge lesen: 1. er lese
zuvor das im zweiten Teil enthaltene Buch
des Mönches Nikifor, dann 2. das ganze Buch
des Sinaiten Grigorij mit Ausnahme der kurzen
Kapitel, 3. Simeon, den nеuenTheologen,über
die drei Arten des Gebets und seine Schrift
über den Glauben, und hierauf 4. das Buch
Kallist's und Ignatij's. In diesen Vätern ist
eine vollständige, für jedermann verständliche Unterweisung und Lehre über das
innere
Herzensgebet enthalten. Wenn du aber eine
noch leichter verständliche Belehrung über
das Gebet haben willst, so schlage im vierten
57
Teil auf, was der heiligste Patriarch Källist
von Konstantinopel in Kürze über die Art
des Betens sagt."
Als hielte ich gleichsam meine „Tugendliebe" in den Händen, begann ich die genannte
Unterweisung zu suchen, konnte sie
aber nicht so schnell finden wie ich wollte.
Da blLttterte der Starez selbst in dem Buch
und sagte: „Da ist die Stelle; ich will sie dir
anstreichen." Er hob ein Stückchen Holzkohle auf, machte damit einen Strich am
Rande der Seite bei dem aufgeschlagenen Kapitel. Alles, was der Starez gesagt,
hatte ich
aufmerksam angehört und bemühte mich, es
mir möglichst fest und in allen Einzelheiten
einzuprägen.
Ich erwachte, und da der Tag noch nicht
angebrochen war, blieb ich liegen und wiederholte im Gedächtnis alles, was ich
geträumt
und was mir der Starez gesagt hatte. Dann
überlegte ich : „Gott weiß, ob mir die Seele
des verstorbenen Starez erscheint, oder sollten es meine eignen Gedanken sein, die
so gestimmt sind, da ich ja viel und oft an die „Tugendliebe' und an den Starez
denke ?" Hierüber war ich mir nicht im klaren und stand
auf; es begann schon zu dämmern. Und was
denn ? Da sehe ich auf dem Stein, den ich
58

an Stelle eines Tisches in meiner Erdhütte


hatte, die aufgeschlagene „Tugendliebe" liegen und zwar gerade an der Stelle, die
mir
der Starez gewiesen hatte, und der Kohlestrich war auch da, genau so, wie mir dies
geträumt hatte, ja, sogar ein Stückchen Kohle
lag noch neben dem Buch. Dies setzte mich
in Erstaunen, denn ich erinnerte mich mit
Bestimmtheit, daß das Buch am Abend nicht
dagelegen hatte; vielmehr lag es geschlossen
mir zu Häupten; und ebenso bestimmt weiß
ich, daß dort früher an der angestrichenen
Stelle kein Merkzeichen war. Dieser Vorfall
überzeugte mich von der Wahrheit des Traumgesichts und von der Gottwohlgefälligkeit
meines Starez seligen Angedenkens. So machte ich mich denn daran, die „Tugendliebe"
eben in der Reihenfolge, wie sie mir der Starez
angegeben hatte, zu lesen. Ich las das Buch
einmal, las es dann noch einmal und da entbrannte in meiner Seele die Lust und der
Eifer, alles Gelesene auch wirklich zu erproben. Durchaus verständlich und klar war
es
mir geworden, was das innere Gebet sei, welcher Mittel man sich bedienen müsse, um
es
zu erlangen, welche Folgen es zeitigt, und wie
es Herz und Seele erquickt, und wie man erkennen soll, ob diese Beseligung von Gott
59
kommt oder von der Natur, oder ob es eine
Versuchung ist.
So machte ich mich denn vorerst daran,
die Stelle des Herzens aufzufinden, wie Simeon,der neueTheologe, dies lehrt. Ich
schloß
die Augen, blickte mit dem Geist, das heißt
mit der Einbildung, ins Herz und wünschte
mir, es mir vorzustellen, wie es da in der linken Brust eingebettet liegt, und
horchte aufmerksam auf sein Schlagen. Hiermit befaßte
ich mich erst je eine halbe Stunde etliche Mal
im Verlauf des Tages ; anfangs merkte ich
nichts als Dunkelheit; alsdann stellte sich mir
das Herz sehr bald dar, und desgleichen die
Bewegungen, die darin vorgingen; des Weiteren begann ich, das Jesusgebet zusammen
mit dem Atem ins Herz ein und wieder herauszuführen, so wie es der heilige
Grigorij, der
Sinaite, auch Kallist und Ignatij lehren, das
heißt, geistig ins Herz blickend und die Luft
einziehend, stellte ich mir vor und sprach :
Herr Jesus Christus, — und dann die Luft
wieder herausstoßend: erbarme Dich meiner.
Anfangs beschäftigte ich mich damit eine
Stunde, vielleicht auch zwei, dann, je weiter
ich fortschritt, setzte ich die Übung häufiger
fort, und endlich war es so, daß ich fast den
ganzen Tag mit dieser Beschäftigung ver-

brachte. Überkam mich Schwere oder Trägheit oder Zweifel, so las ich alsbald in der
„Tugendliebe" die Stellen, die im herzlichen
Tun unterweisen, und damit erwachte wieder
Lust und Eifer zum Gebet. Etwa nach drei
Wochen begann ich einen Schmerz im Herzen
zu spüren, alsdann eine überaus angenehme
Wärme, Freude und Ruhe in selbigem. Dies
machte mir Lust und regte mich dazu an,
mich mit vermehrtem Eifer im Gebet zu
üben, derart, daß alle meine Gedanken damit
beschäftigt waren, und ich große Freude empfand. Von dieser Zeit an spürte ich
bisweilen
mannigfaltige Empfindungen in Herz und
Geist. Mitunter war es so, dаß ich ein beseligendes Beben im Herzen fühlte, es war
so
voller Leichtigkeit, Freiheit und Trost, daß
ich ganz wie verwandelt war und vor Wonne
zu vergehen glaubte. Mitunter fühlte ich
flammende Liebe zu Jesus Christus und zu
der ganzen Schöpfung Gottes. Mitunter entströmten meinen Augen ganz von selbst süße
Tränen des Dankes an Gott, der mir verruchtem Sünder solche Gnade widerfahren ließ.
Mitunter lichtete sich mein sonst so törichtes
Verstehen, so daß ich mit Leichtigkeit Dinge
erfaßte und überlegte, an die ich früher nie
hätte denken können. Mitunter überвtrömte
б1

60

die süße Herzenswärme mich ganz und gar,


und voller Rührung verspürte ich in mir die
Allgegenwart Gottes. Mitunter empfand ich
die allergrößte Freude beim Anrufen des Namens Jesu Christi und erkannte, was das
Wort bedeutet, welches Er gesagt hat: „Das
Reich Gottes ist in euch"1).
Da ich diese und dem ähnliche beseligende,
Tröstungen erfuhr, merkte ich, daß sich die
Folgen des Herzensgebets auf dreifache-Weise
kundtun : im Geist, im Fühlen und in Offenbarungen; im Geist spürt man
beispielsweise
die Süßigkeit der Liebe Gottes, innere Ruhe,
ein Verzücktsein des Geistes, Reinheit der
Gedanken, ein beseligendes Denken Gottes;
im Gefühl — eine angenehme Erwärmung
des Herzens ; alle Gliedmaßen sind erfüllt mit
Süßigkeit, freudiges Beben des Herzens, Leichtigkeit und Frische, man empfindet das
Leben als angenehm; für Krankheiten und Kummer wird man unempfindlich; in den
Offenbarungen — eine Durchleuchtung der Vernunft, Eindringen in die Heilige
Schrift, man
versteht den Geist der Schöpfung, ist losgelöst vom irdischen Getriebe und erkennt
die
Süßigkeit des inneren Lebens, ist der Nähe
Gottes gewiß, desgleichen Seiner Liebe zu uns.
) Luc. 17, 21.

62

Etwa fünf Monate verbrachte ich in der


Einsamkeit mit dieser Gebetsbeschäftigung
und in der Beseligung der vorerwähnten Empfindungen; ich hatte mich so sehr an das
Herzensgebet gewöhnt, daß ich mich ununterbrochen darin übte; und endlich fühlte
ich,
daß das Gebet sich ganz von selbst ohne irgendeine Nötigung meinerseits in mir
verrichtete und von Geist und Herz nicht nur im
wachen Zustande verrichtet wurde, sondern
daß es sogar im Schlaf genau ebenso wirkte
und durch nichts unterbrochen wurde, nicht
für den geringsten Augenblick, gleichviel, was
ich tun mochte. Meine Seele dankte Gott,
und mein Herz zerschmolz in unablässiger
Wonne.
Da kam die Zeit, daß der Wald abgeholzt
werden sollte; Arbeiter kamen, und ich mußte
meine stille Behausung verlassen. Nachdem
ich dem Waldhüter gedankt, betete ich, küßte
den Fleck Erde, auf dem Gott mich, den Unwürdigen, Seiner Gnade gewürdigt hatte,
band mir den Sack mit den Büchern um und
ging meines Weges. Sehr lange pilgerte ich
durch das Land, bis ich schließlich nach Irkutsk kam. Das selbsttätige Herzensgebet
war auf dem ganzen Wege mein Trost und
meine Freude, auch bei allen Begegnungen,
63
die ich hatte, nie hörte es auf, mich mitWonne
zu erfüllen, wiewohl auch in verschiedenen
Graden; gleichviel, wo ich mich befinden
mochte, was ich auch tat, womit ich mich
beschäftigte, nichts wurde durch dieses Gebet gestört und durch nichts wurde es
vermindert. Wenn ich irgendeine Arbeit vorhabe
und das selbsttätige Gebet im Herzen wirkt,
geht die Arbeit schneller von der Hand; wenn
ich aufmerksam hinhorche oder lese, hört das
Gebet doch nicht auf, und ich fühle gleichzeitig sowohl das eine wie das andere,
als wäre
ich gleichsam gespalten, oder als hätte ich
zwei Seelen in meiner Brust. Mein Gott ! wie
geheimnisvoll ist doch der Mensch ! ... „Herr,
wie sind deine Werke so groß! Du hast sie
alle weislich geordnet"1). Auch hatte ich unterwegs viele wunderbare Vorkommnisse
und
Begegnungen. Wollte ich die alle erzählen,
würde ich es an einem Tage nicht fertigbringen. Da war so ein Fall zum Beispiel:
einmal
ging ich im Winter gegen Abend durch ein
Wäldchen, um in einem Dorf zu übernяchten,
das ich in einer Entfernung von vielleicht zwei
Werst vor mir liegen sah. Plötzlich stürzte
sich ein großer Wolf auf mich. Ich hatte den
aus einer Wollschnur geflochtenen Rosen1) Ps. 103, 24.

kranz des Starez, den ich immer bei mir trug,


in der Hand. Da schlug ich mit diesem Rosenkranz nach dem Wolf. Und was geschah ?
Der Rosenkranz wurde mir aus der Hand gerissen und kam gerade um den Hals des
Wolfes zu liegen; der Wolf entfloh, sprang über
ein Dornengestrüpp, verstrickte sich mit den
Hinterbeinen im Gestrüpp, während der Rosenkranz sich am Ast eines dürren Baumes
festhakte; da wollte sich der Wolf losreißen,
doch konnte er sich nicht befreien, weil ihm
der Rosenkranz den Hals würgte. Gläubig
bekreuzigte ich mich und ging in der Absicht
auf den Wolf zu, ihn zu befreien; noch eher
dachte ich wohl, daß er den Rosenkranz zerreißen und mit ihm fortlaufen könne, und
dann hätte ich meinen kostbaren Rosenkranz
nie wiedergesehen. Kaum war ich an ihn herangetreten und hatte den Rosenkranz
ergriffen, als der Wolf ihn wirklich zerriß und davonlief. Da dankte ich Gott,
gedachte meines
seligen Starez und kam wohlbehalten im
Dorfe an; ich ging in eine Herberge und bat
um ein Nachtlager. Ich kam in die Hütte.
Vorne am Tisch saßen zwei Männer, der eine
— ein Greis, der andere ein dicker Mann in
mittleren Jahren; beide schienen nicht zum
einfachen Volk zu gehören. Sie tranken Tee.

64
5 Ein russisches Pilgerleben

65
Ich fragte den Bauern, der ihre Pferde versorgte, wer sie seien. Der sagte mir, der
alte
Mann wäre Volksschullehrer, der andere aber
Schreiber am Landgericht, also beide wohlgeborene Leute; sie seien unterwegs und
wollten zu einem Jahrmarkt, der zwanzig Werst
weiter stattfände. Nachdem ich eine Weile
dagesessen hatte, bat ich die Wirtin um Nadel
und Faden, rückte näher ans Licht heran und
machte mich daran, meinen zerrissenen Rosenkranz zu flicken. Der Schreiber blickte
auf und sagte: „Du mußt wohl gehörig gebetet haben, wenn du deinen Rosenkranz
zerrissen hast."
„Nicht ich habe ihn zerrissen, sondern ein
Wolf."
„Wie ? Beten denn die Wölfe ?" sagte der
Schreiber lachend.
Ich erzählte ihnen ausführlich, wie sich die
Sache verhalten hatte, und wie sehr ich an
diesem Rosenkranz hänge. Wieder lachte der
Schreiber und sagte : „Ihr heiligen Hohlköpfe
seht überall Wunder ! Was wäre daran Wunderbares ? Du hast einfach nach ihm
geschlagen, der Wolf hat sich erschreckt und ist davongerannt; Hunde und Wölfe
fürchten sich
ja vor Schlägen; auch kann es sehr leicht vorkommen, daß man im Walde hängen
bleibt.

66

In der Welt kann sich ja so mancherlei ereignen, — sollte man deswegen alles für
Wunder
halten ?"
Nachdem der Lehrer dies gehört hatte, begann er ein Gespräch mit ihm.
„Glaubt das nicht, Herr! Der gelehrte Teil
ist Euch nicht geläufig ... Ich vielmehr sehe
in dem Bericht dieses Bauern das geheimnisvolle Walten der sinnlichen und der
geistlichen Natur ..."
„Wieso denn ?" fragte der Schreiber.
„Seht einmal : obwohl Ihr keine höhere Bildung habt, habt Ihr doch natürlich die
heilige Geschichte des Alten und Neuen Testaments, wie sie in Fragen und Antworten
für
Schulen gedruckt ist, in Kürze gelernt. Ihr
erinnert Euch vielleicht, daß dem erstgeschaffenen Menschen Adam, als er noch in
sündlosem und heiligem Stande war, alle Tiere und
wilden Tiere gehorchten; voller Angst nahten
sie ihm, und er gab ihnen Namen. Der Starez,
dem dieser Rosenkranz gehörte, war heilig :
was bedeutet nun Heiligkeit ? Nichts anderes, als Rückkehr in den unschuldigen
Stand
des ersten Menschen durch fromme Übungen.
Wird die Seele geheiligt, so wird auch der
Leib geheiligt. Der Rosenkranz hat sich stets
in der Hand dieses Geheiligten befunden;
5•

б7
folglich ist ihm durch der Hände Berührung
und durch deren Ausdünstung heilige Kraft
eingeimpft, die Kraft des schuldlosen Standes
des ersten Menschen. Dies aber ist ein Mysterium der geistlichen Natur ! ... Diese
Kraft verspüren ererbtermaßen alle Tiere bis
auf den heutigen Tag; sie spüren sie aber
durch ihren Geruchsinn; denn die Witterung
ist bei allen wilden und sonstigen Tieren das
vornehmste Werkzeug des Fühlens. Dies ist
das Mysterium der sinnlichen Natur ! ..."
„Ihr Gelehrten wittert überall Kräfte und
allerhand Weisheiten; bei unsereinem geht
das viel einfacher zu : man gießt sich einen
Schnaps hinter die Binde, und da hat man
eben Kraft," sagte der. Schreiber und ging an
den Schrank.
„Ja, das ist Eure Sache," sagte der Lehrer,
„hingegen bitte ich, uns das gelehrte Wissen
zu überlassen."
Es gefiel mir wohl, wie der Lehrer gesprochen hatte; ich trat auf ihn zu und sagte:
„Darf ich es wagen, Väterchen, Euch noch
einiges von meinem Starez zu erzählen ?" und
ich setzte ihm auseinander, wie er mir im
Traum erschienen war, wie er mich unterweisen und in der „Tugendliebe" die Seite
angestrichen hatte.

68

Dies alles hörte sich der Lehrer aufmerksam an. Der Schreiber aber lag inzwischen
auf der Pritsche und knurrte : „Man sagt
schon recht, daß die Menschen solange in der
Bibel lesen, bis sie sich um ihren Verstand gelesen haben. So ist es genau! Welchem
Teufel wird es einfallen, dir in der Nacht eine
Seite in deinem Buch anzustreichen. Du hast
das Buch einfach im Schlaf fallen lassen und
es mit Asche beschmutzt ... das ist dein ganzes Wunder. Ach, dieses Halunkenpack!
wir
kennen ja euresgleichen ..."
Nachdem der Schreiber also gebrummt
hatte, kehrte er sich zur Wand und schlief
ein. Da ich dieses hörte, wandte ich mich zum
Lehrer und sagte : „Wenn ihr wünscht, will
ich Euch das selbige Buch zeigen, in dem die
Seite richtig angestrichen, nicht aber mit
Asche beschmutzt ist." Ich holte aus meinem
Beutel die „Tugendliebe" hervor, zeigte sie
ihm und sagte : „Ich staune über diese Weisheit, wie die körperlose Seelе ein Stück
Kohle
hatte nehmen und schreiben können ? ...."
Der Lehrer sah sich die bezeichnete Stelle
an und sagte : „Auch dies ist ein Mysterium
der Geister. Ich will es dir erklären; sieh mal,
wenn die Geister einem lebendigen Menschen
in körperlicher Gestalt erscheinen, so sammeln

69
sie und bilden sich einen greifbaren Körper
aus Luft und Lichtmaterie, und wenn sie ihr
Erscheinen beendet haben, geben sie das Geborgte eben den Elementen wieder zurück,
aus denen der Bestand ihrer Leiber geschöpft
war. Und da nun die Luft eine elastische, zusammenpreßbare und dehnbare Kraft hat,
so kann die also bekleidete Seele alles nehmen,
kann handeln und kann auch schreiben. Was
hast du denn da für ein Buch ? Zeig' es mal
her."
Er schlug es auf und fand die Worte Simeons, des neuen Theologen: „Aha, das ist
wohl
ein theologisches Buch. Ich habe es noch nie
gesehen ..."
„Dieses Buch, Väterchen, enthält fast nur
Unterweisungen über das innere Herzensgebet im Namen Jesu Christi; es wird hier mit
aller Genauigkeit von fünfundzwanzig heiligen Vätern erläutert."
„Ah, das innere Gebet, ich weiß," sagte der
Lehrer.
Ich verneigte mich bis an die Erde vor ihm
und bat ihn, mir einiges über das innere Gebet zu sagen.
„Das ist es, was im Neuen Testament gesagt ist, daß der Mensch und die ganze
Kreatur nicht aus eigenem Willen der Unruhe ge70

horcht; alles seufzt aber naturgemäß und


strebt und wünscht sich die Freiheit der erwählten Kinder Gottes; dieses
geheimnisvolle Seufzen der Kreatur und das den Seelen
eingeborene Streben ist das innere Gebet.
Man braucht es nicht zu erlernen. Es ist in
allem und in allen enthalten ! ..."
„Wie erwirbt man es aber ? Wie entdeckt
man es ? Wie fühlt man es in seinem Herzen ?
Wie erkennt man es, und wie nimmt man es
mit seinem Willen auf ? Wie erlangt man es,
daß es sichtbarlich wirkt, beseligt, durchleuchtet und rettet ?" fragte ich.
„Ich besinne mich nicht, daß hierüber in
den theologischen Traktaten etwas geschrieben steht," erwiderte der Lehrer.
„Hier, hier steht dies alles geschrieben,"
bedeutete ich ihm.
Der Lehrer nahm seinen Bleistift zur Hand,
schrieb sich den Titel der „Tugendliebe" auf
und sagte : „Unbedingt lasse ich mir dieses
Buch aus Tobolsk kommen; ich will es mir
ansehen."
So trennten wir uns.
Unterwegs dankte ich Gott für die Unterredung mit dem Lehrer und betete für den
Schreiber, Gott möge es so fügen, daß er,
wenn auch nur einmal, die „Tugendliebe"
71
lese und möge ihn selber unterweisen, daß er
sich zu seinem Heile bekehre.
Ein andermal kam ich im Frühling in ein
Kirchdorf; es machte sich so, daß ich bei dem
Priester Unterkunft fand. Dies war ein gütiger, einsamer Mensch; drei Tage war ich
bei
ihm. Nachdem er mich im Laufe dieser Zeit
kennen gelernt hatte, begann er mir zuzureden : „Bleibe bei mir, ich will dir auch
ein
Gehalt zahlen. Ich brauche einen gewissenhaften Menschen; du hast gesehen, daß wir
nun neben der alten Holzkirche eine neue
steinerne Kirche errichten. Ich kann keinen
zuverlässigen Menschen finden, der einen
Blick auf die Arbeiter hat, und der in der
Kapelle sitzt, um dort die Gaben für den Bau
in Empfang zu nehmen; ich sehe, du wärest
hierzu gerade geeignet, und du hättest auch
bei deiner Veranlagung ein gutes Leben; du
würdest allein in der Kapelle sitzen und könntest immer beten. Da ist auch eine
ganz stille
Kammer für den Wächter; ich bitte dich,
bleib', wenn auch nur so lange, bis der Bau
der Kirche beendet ist."
Obwohl ich mich lange weigerte, mußte ich
doch schließlich den dringenden Bitten des
Priesters nachgeben. So blieb ich denn den
Sommer über bis zum Herbst dort. Ich lebte
72

in der Kapelle. Anfangs hatte ich ein ruhiges


Leben und konnte mich gut meinen Gebetsübungen hingeben, obwohl viel Volks,
besonders an Feiertagen, in die Kapelle kam, einige
um zu beten, andere um faul dazustehen,
andere wieder, um vom Sammelteller was
wegzustibitzen. Da ich aber mitunter bald
in der Bibel, bald in der „Tugendliebe" las,
kam es, daß einige der Leute, die dies sahen,
mit mir Gespräche anknüpften, während
andere wieder baten, ich möge ihnen was
vorlesen.
Nach einiger Zeit merkte ich, daß ein Bauernmädchen häufig in die Kapelle kam und
hier lange betete. Ich horchte auf ihr Gemurmel hin und merkte, daß sie ganz
seltsame Gebete vor sich hinsprach, manche waren sogar ganz entstellt. Ich fragte,
wer es
sie so gelehrt habe. Sie sagte, die Mutter habe
sie beten gelehrt, die hielte sich zurKirche, während ihr Vater Raskolnik1) wäre
und der popenlosen Richtung angehörte. Dies bedauerte
ich und gab ihr den Rat, sie solle richtig, wie
es .die heilige Kirche lehrt, beten, und darum
1) Russische Sekte, die im Gegensatz zur Staatskirche
an den Bräuchen festhält, wie sie bis 1654 üblich waren.
Innerhalb dieser Sekte gibt es eine Gruppe, die zu größter Simplifizierung neigt
und keine Priester anerkennt.

73
erklärte ich ihr, das Vaterunser und das Ave
Maria. Endlich sagte ich ihr :
„Verrichte doch recht häufig und so oft du
kannst, das Jesusgebet; mehr als alle anderen Gebete dringt es zu Gott, und du
wirst
dadurch deiner Seele Rettung finden."
Das Mädchen nahm meinen Ratschlag aufmerksam entgegen und begann danach in
aller Einfalt zu handeln. Und was geschah ?
Nach kurzer Zeit schon erklärte sie mir, sie
habe sich so sehr an das Jesusgebet gewöhnt,
daß sie den Drang verspüre, es unablässig, wenn
sich nur Gelegenheit dazu böte, zu verrichten; wenn sie es aber betete, habe sie
ein beseligendes Gefühl, und auch nach Schluß des
Gebets erfüllte sie eine große Freude und der
Wunsch, im Gebet fortzufahren. Hierüber
freute ich mich und gab ihr den Rat, das Gebet im Namen Jesu Christi auch fernerhin
vermehrt fortzusetzen.
Der Sommer neigte sich seinem Ende entgegen; viele von den Leuten, die in die
Kapelle kamen, erschienen nun bei mir, nicht
nur, damit ich ihnen vorläse und Ratschläge
gebe, sondern auch mit den verschiedensten
Sorgen, die sie plagten; manche wünschten
sogar, ich solle ihnen verloren oder abhanden
gekommene Sachen wiederschaffen; sie mich74

ten mich wohl für einen Wahrsager halten.


Endlich kam auch das oben genannte Madchef sehr bekümmert zu mir, um sich bei mir
Rats zu erholen. Ihr Vater hatte die Absicht,
sie gegen ihren Willen mit einem Raskolnik,
der ebenfalls der popenlosen Richtung angehörte, zu verheiraten; ein Bauer sollte
die
Trauung vollziehen.
„Was wäre denn das für eine gesetzliche
Ehe !" rief sie, „das wäre ja ganz dasselbe wie
Hurerei. Ich will fliehen, gleichviel wohin."
Ich sagte ihr : „Wohin willst du fliehen ?
Man wird dich ja wiederfinden. In unserer
Zeit kann man sich ohne Ausweis nirgends
verborgen halten. Man wird dich überall finden. Bete lieber recht eifrig zu Gott,
Er möge
durch Seine Fügung die Absichten deines
Vaters zuschanden machen und deine Seele
vor Sünde und Ketzerei bewahren. Dies wird
zuverlässiger sein als eine Flucht."
So verging die Zeit, und es wurde unerträglich laut um mich her, und allerhand
Versuchungen nahten. Endlich war auch der
Sommer zu Ende; ich beschloß, die Kapelle
zu verlassen und wie früher meinen Weg fortzusetzen. Ich kam zum Priester und sagte
ihm:
„Ihr kennt meine Veranlagung, Vater. Ich
bedarf der Ruhe, um beten zu können; hier
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werde ich zu sehr zerstreut, und das ist mir
schädlich. Ich habe Euer Gebot erfüllt, habe
auch den Sommer über hier gelebt; laßt mich
nun ziehen und gebt mir den Segen für meine
einsame Pilgerschaft."
Der Priester wollte mich nicht ziehen lassen und begann mir zuzureden:
„Was stört dich denn, auch hier zu beten ?
Du hast doch gar nichts zu tun, als in der Kapelle zu sitzen; um die Nahrung
brauchst du
dir keine Sorgen zu machen. Bete meinethalben Tag und Nacht, führe so dein Leben
mit Gott ! Für diesen Ort hier bist du der rechte
Mann und bringst Nutzen; mit denen, die zu
dir kommen, schwatzest du nicht törichtes
Zeug; du schaffst der Kirche Gottes Einnahmen und sammelst getreulich die Gaben.
Dies
ist Gott wohlgefälliger als dein einsames Gebet. Was hast du denn an der
Einsamkeit!
Es ist doch viel schöner noch, mit dem Volk
zusammen zu beten. Nicht darum hat Gott
den Menschen geschaffen, daß er niemand
außer sich selber kennt, vielmehr sollen die
Menschen einander helfen, sollen einander
zur Rettung führen, jeder nach seinen Kräften. Sieh dir doch die Heiligen an und
die
ökumenischen Lehrer: Tag und Nacht haben
sie für die Kirche gesorgt und geschafft, haben
76

auch überall gepredigt; und sie saßen nicht


in der Einsamkeit und hielten sich nicht vor
den Menschen verborgen."
„Gott gibt einem jeden verschiedene Gaben, Vater. Es hat viele Prediger gegeben,
es hat aber auch viele Einsiedler gegeben.
Welche Neigung einer in sich verspürte, der
ist er auch nachgegangen und glaubte, Gott
selber habe ihm zum Heil seiner Seele diesen
Weg gewiesen. Und wie wolltet Ihr mir das
erklären: daß nämlich viele Heilige ihr Lehramt, ihre Abtei, ihr Priestertum
aufgegeben
haben und sich an einsame Orte in Einsiedeleien zurückzogen, um sich vom Volk nicht
verwirren zu lassen. So ist der heilige Isak
Sirin von seiner Gemeinde und seinem Bischofsamt geflohen; so hat der heilige
Afanassij von dem Athos sein Kloster verlassen;
und zwar gerade darum, weil diese Orte voller
Versuchung für sie waren, und weil sie wahrhaftig dem Worte Jesu Christi glaubten :
,Was
nützt es dem Menschen, wenn er die ganze
Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden
nimmt' 1).
„Das waren ja Heilige," sagte der Priester.
„Wenn schon Heilige sich vorsahen, um
nicht durch den Umgang mit den Menschen
1) Matth.16, 26.
77
Schaden zu nehmen," erwiderte ich, „was
sollte dann wohl erst ein ohnmächtiger Sünder tun!"
Schließlich nahm ich von diesem guten
Priester Abschied, und er gab mir mit freundlichen Worten das Geleit.
Nachdem ich vielleicht zehn Werst gewandert war, machte ich in einem Dorfe Halt,
um dort zu übernachten. Hier sah ich einen
schwer kranken Bauern, und ich gab denen,
die um ihn her waren, den Rat, sie sollten
ihm das heilige Sakrament reichen lassen. Sie
waren damit einverstanden und schickten
am Morgen nach dem Priester in ihr Kirchdorf.
Ich blieb, um den heiligsten Gaben meine
Ehrfurcht zu bezeugen und vor dem erhabenen Sakrament zu beten. Ich ging hinaus,
setzte mich auf eine Erdaufschüttung und
wartete, um den Priester zu begrüßen. Plötzlich kommt jenes Mädchen, das in der
Kapelle zu beten pflegte, aus dem Hof auf mich
zugelaufen.
„Wie bist du hierher gekommen ?" fragte
ich.
„Man hatte bei uns schon den Tag angesetzt, an dem ich jenen Raskolnik heiraten
sollte. Da bin ich fortgegangen." Hierbei
verneigte sie sich tief vor mir und sagte : „Er78

weise mir die Güte, nimm mich mit und


bringe mich in irgendein Nonnenkloster. Ich
will nicht heiraten, ich werde im Kloster leben
und das Jesusgebet verrichten. Wenn du es
sagst, wird man mich dort aufnehmen."
„Aber hör' doch," sagte ich, „wohin sollte
ich dich denn bringen ? Ich kenne hierzulande kein einziges Frauenkloster. Und wie
soll ich denn mit dir wandern, wenn du doch
keinen Paß hast ? Erstens mal wirst du nirgends Unterkommen finden, und zweitens
wirst du dich nirgends verbergen können;
man wird dich gleich festnehmen und wieder
an deinen Heimatsort zurückschicken; auBerdem wird man dich als Landstreicherin
verhaften. Geh lieber nach Hause und bete zu
Gott; willst du aber nicht heiraten, so stelle
dich krank; man nennt dies eine Verstellung
um des Seelenheiles willen; so hat die heilige Mutter des Clemens gehandelt, auch
die
heilige Marina, die in einem Männerkloster
ihre Seele rettete, und viele andere noch."
Da wir so saßen und miteinander sprachen,
sahen wir, wie vier Bauern in einem mit zwei
Pferden bespannten Wagen rasch dahergefahren kamen und dicht vor uns hielten. Sie
ergriffen das Mädchen, setzten es in den Wagen, und der eine Bauer fuhr mit ihr ab,
die
79
drei andern aber fesselten mich an den Händen und trieben mich in das Dorf zurück,
wo
ich den Sommer über gelebt hatte. Auf alle
meine Entgegnungen schrien sie nur: „Wir
wollen dir, Scheinheiliger, schon zeigen, was
das heißt, Mädchen abspenstig machen!"
Gegen Abend brachten sie mich ins Dorfgericht, schmiedeten mich in Ketten, und so
sollte ich im Kerker bis an den Morgen sitzen;
dann würde man kommen, um Recht zu sprechen. Als der Priester erfuhr, daß ich im
Kerker war, kam er mich besuchen; er brachte
mir was zum Abendessen, tröstete mich, sagte
er würde für mich eintreten und als mein
Beichtvater sagen, daß ich nicht die Eigenschaften hätte, wie die Leute dächten.
Nachdem er eine Weile bei mir gewesen war, ging
er wieder.
Später am Abend kam der Kreisbeamte,
der gerade dieses Dorf passierte, und stieg bei
einem der Wahlbauern ab; man sagte ihm,
was geschehen war. Er ließ eine Versammlung einberufen, und ich wurde vor Gericht
geführt. Wir kamen in das Gerichtshaus,
standen da und warteten. Da kam der Kreisbeamte, der schon sehr geladen war, setzte
sich mit der Mütze auf dem Kopf auf den
Tisch und schrie : „He ! Jepifan ! Das Мäd-

во

chen, deine Tochter, hat doch nichts vom


Hofe mitgenommen ?"
„Nichts, Väterchen."
„Man hat sie nicht in schlimmen Dingen
mit diesem Laffen betroffen?"
„Nein, Väterchen."
„Alsdann wollen wir die Sache so handhaben, und beschließen : du kannst mit deiner
Tochter fertig werden, wie du magst; dem
Burschen da aber wollen wir morgen eine
Lehre erteilen und ihn davonjagen; wollen's
ihm auch feste ansagen, daß er sich hier nicht
wieder zeigt; und damit Schluß."
Nachdem er so gesprochen, stieg er vom
Tisch und begab sich zu dem Wahlbauern,
bei dem er übernachten sollte. Ich wurde
wieder in den Kerker gebracht. Früh am
Morgen kamen zwei von der Landpolizei, verabfolgten mir eine Tracht Prügel und
ließen
mich laufen. Ich ging fürbaB und dankte
Gott, daB er mich für wert befunden hatte,
um seines Namens willen zu leiden. Dieses
tröstete mich und bewirkte, daß das unablässige Herzensgebet in mir auflohte.
Alle diese Vorkommnisse kränkten mich
gar nicht; es war so, als wären sie einem andern widerfahren, und als hätte ich nur
zugesehen; ja, selbst als ich mit Ruten gezüch6 Ein russisches Pilgerleben

81
tigt wurde, war auch dies wohl zu ertragen;
das Gebet, das mein Herz ergötzte, ließ es
nicht zu, daß ich auf was anderes achtete.
Nachdem ich vier Werst gewandert war,
traf ich die Mutter des Mädchens, die in einen
Flecken gefahren war, um dort Einkäufe zu
machen. Als sie mich sah, sagte sie :
„Unser Freier hat verzichtet; er hat sich
über die Akulka geärgert, weil sie ihm davongelaufen ist." Dann gab sie mir Brot,
und ich
zog meiner Wege.
Das Wetter war klar und trocken, und ich
wollte nicht in einem Dorf übernachten; als
ich gegen Abend im Walde zwei eingefriedete
Heuschober sah, legte ich mich dort zur Ruhe
nieder. Ich war eingeschlafen, und mir träumte, daß ich auf der Landstraße ginge
und in
der „Tugendliebe" die Kapitel des großen Antonij lese. Plötzlich holte mich mein
Starez
ein und sagte : „Du liesest nicht an der rechten Stelle, lies hier," und er wies
mir das fünfunddreißigste Kapitel des Johannes Karpaphiskos, in welchem folgendes
zu lesen steht :
„Mitunter fällt der Lernende in Unehre und
duldet Versuchungen für Jene, die ihn geistlich in Anspruch nehmen." Und noch wies
er mir das einundvierzigste Kapitel, in welchem geschrieben steht: „Diejenigen, die
das
82

Gebet mit besonderem Eifer betreiben, sind


furchtbaren und schrecklichen Versuchungen
ausgesetzt."
Alsdann sagte er mir: „Erhebe deinen Geist
und sei nicht bekümmert, gedenke, was der
Apostel sagt : ,Der in euch ist, ist größer, als
der in der Welt ist`1). Du hast nun an dir
selbst erfahren, daß keine Versuchung geduldet wird, die des Menschen Kräfte
übersteigt,
daß ‚Gott mit der Versuchung aber auch den
Ausgang gewährt, daß ihr ausharren könnt`2).
Das Vertrauen auf diese Hilfe Gottes hat die
heiligen Beter gefestigt und zu vermehrtem
Eifer gespornt. Diese Männer haben nicht
nur ihr Leben in ständigem Gebet zugebracht,
sondern sie haben auch aus Liebe andre Menschen bei Gelegenheit darin unterwiesen
und
ihnen Offenbarungen gegeben. Hierüber redet
der heilige Gregor von Tessalonich : ,Es gebührt, nicht nur nach Gottes Gebot im
Namen Jesu Christi zu beten, sondern es liegt
uns auch ob, andere darin zu unterweisen und
zu belehren, alle überhaupt, Mönche, Laien,
Weise, Einfältige, Männer, Weiber und Kinder, und in allen den Eifer zum
unablässigen
Gebet zu entfachen.' Ähnlich spricht auch der
1)1. Joh. 4, 4.
2) 1. Кот. 10, 13.
б'

83
heilige Kallist Antilikuda : ,Nicht das geistige
Werben um den Herrn (das heißt, das innere
Gebet), noch das beschauliche Wissen allein
und die Arten, die Seele dem Leid preiszugeben, sollen wir ausschließlich im Sinne
haben, vielmehr sollen wir es auch niederschreiben und darlegen um des allgemeinen
Nutzens
und um der Liebe willen.' Auch das Wort
Gottes redet hiervon, wenn es in den Sprüchen Salomons heißt: ,Ein verletzter
Bruder
hält härter, denn eine feste Stadt`1). Nur muß
man in diesem Fall jedem Ehrgeiz nach Kräften widerstehen und sich vorsehen, daß
der
Same der göttlichen Lehre nicht in die Winde
verstreut wird."
Da ich erwachte, fühlte ich eine große
Freude mein Herz erfüllen, und meine Seele
war fest geworden. Da wanderte ich wieder
weiter.
Lange Zeit hernach war noch ein anderer
Fall; ich will auch ihn erzählen: Einmal, und
zwar am vierundzwanzigsten März, fühlte ich
das unüberwindliche Verlangen, morgen, das
heißt am Tage, der der Reinsten Gottesmutter in Erinnerung an die Göttliche
Verkündigung geweiht ist, am heiligen Abendmahl
Christi teilzunehmen. Ich erkundigte mich,
') Sprüche 18, 19.

в4

ob es weit bis zu einer Kirche wäre; man sagte


mir, dreißig Werst. So wanderte ich denn
den Rest des Tages und die ganze Nacht
durch, um zur Matutin recht zu kommen.
Das Wetter war so schlecht als möglich; bald
schneite es, bald regnete es, dazu blies ein
starker Wind, und es war kalt. Unterwegs
mußte ich über einen kleinen Fluß; wie ich
in der Mitte des Flusses war, gab das Eis
unter meinen Füßen nach, und ich brach bis
an die Hüften ein. So durchnäßt kam ich zur
Matutin. Ich stand den ganzen Gottesdienst
durch, auch später noch im Hochamt, und
Gott gewährte es mir, daB ich am heiligen
Mahl teilnehmen durfte.
Um diesen Tag in Ruhe und ohne Störung
in meiner geistigen Freude zu verbringen, erbat ich mir beim Kirchenwächter die
Erlaubnis, bis morgen früh in seiner Schutzhütte
sein zu dürfen. Diesen ganzen Tag war ich in
unaussprechlicher Freude und Herzenswonne;
ich lag auf der Pritsche in dieser ungeheizten
Schutzhütte, als ruhte ich in Abrahams
Schoß : das Gebet wirkte mächtig. Die Liebe
zu Jesus Christus und zur Mutter Gottes
wallte wie beseeligende Wogen im Herzen und
versenkte die Seele gleichsam in tröstliche
Wonne. Als es zur Nacht ging, fühlte ich

85
plötzlich ein heftiges Reißen in den Beinen;
da erinnerte ich mich daran, daß sie naß waren. Ich achtete nicht darauf und
horchte
nur mit desto größerem Eifer auf das Gebet
im Herzen und fühlte den Schmerz nicht
mehr. Gegen Morgen wollte ich aufstehen,
merkte aber, daß ich außerstande war, meine
Beine zu rühren; sie waren vollkommen abgetaubt und hingen wie Stricke an meinem
Leib. Mit Mühe gelang es dem Kirchenwächter, mich von der Pritsche
herunterzuziehen.
So saß ich zwei Tage da, ohne mich zu rühren.
Am dritten Tage wollte mich der Wächter aus
der Schutzhütte vertreiben. Er sagte : „Wenn
du hier stirbst, so habe ich Plackereien." Mit
Mühe und Not kroch ich, mich auf die Hände
stützend, hinäus und legte mich am Kircheneingang nieder.
So lag ich auch hier zwei Tage. Die Leute,
die vorübergingen, achteten weder auf mich,
noch auf meine Bitten. Endlich kam ein
Bauer auf mich zu, setzte sich neben mich,
und wir kamen ins Gespräch. Er sagte unter
anderem : „Was gibst du mir, wenn ich dich
heile ? Mir selber ist genau das Gleiche widerfahren; ich kenne aber ein
Heilmittel."
„Ich habe nichts,was ich dir gebenkönnte,"
antwortete ich.
86

„Und was hast du da im Beutel ?"


„Nur Hartbrot und Bücher."
„Willst du einen Sommer für mich arbeiten,
wenn ich dich heile ?"
„Ich kann auch keine Arbeit verrichten;
du siehst, daß ich nur den einen Arm gebrauchen kann, der andere ist fast ganz
verdorrt."
„Was kannst du denn tun ?"
„Nichts, außer, daß ich lesen und schreiben kann."
„So, du kannst schreiben ? Nun, dann
magst du meinen Bengel, meinen Sohn nämlich, schreiben lehren; er versteht schon
ein
wenig zu lesen, ich will aber, daß er auch
schreiben lernt. Die Meister verlangen aber
zu viel dafür, sie wollen zwanzig Rubel für
die Schulung haben."
Ich erklärte mich einverstanden, und mit
dem Kirchenwächter selbander schleppten sie
mich in seinen Hof, wo er mir in einer alten
leeren Badstube einen Platz einräumte.
Und nun begann er mich zu heilen; auf
Feldern, Höfen und in Abfallgruben sammelte
er einen Haufen verfaulender Knochen, Knochen von Vieh und von Vögeln und was sich
so fand; er wusch sie ab, zerstampfte sie mit
einem Stein in möglichst kleine Stückchen
und legte alles in einen großen Bottich; den
87
bedeckte er mit einem Deckel, in dem sich
eine Ritze befand. Dies stülpte er dann über
einen in die Erde gegrabenen leeren Topf;
von außen bestrich er aber den Bottich mit
einer dicken Lehmschicht, schichtete dann
Brennholz darüber und ließ das Feuer einen
Tag lang nicht ausgehen; wenn er neues Holz
dazuwarf, sagte er: „Das wird Knochenteer
abgeben." Tags darauf grub er den Topf aus
der Erde, in welchen durch die Ritze im
Deckel des Bottichs wohl ein halber Liter
einer dicken Flüssigkeit gesickert war; sie
war rötlich, ölig und verbreitete einen starken Geruch, der etwa an rohes Fleisch
erinnerte; die Knochen aber, die im Bottich lagen, waren nicht mehr schwarz und
verfault,
sondern so weiß, rein und durchsichtig, als
wäre es lauter Perlmutter oder Perlen. Mit
dieser Flüssigkeit nun rieb ich meine Beine
vielleicht fünfmal am Tage ein. Und was geschah ? Schon tags darauf fühlte ich, daß
ich
die Zehen bewegen konnte; am dritten Tage
konnte ich die Beine im Knie biegen, und am
fünften Tage konnte ich stehen und ging auf
einen Stock gestützt über den Hof. Mit einem
Wort, meine Beine waren nach einer Woche
ganz so wie früher — stark und kräftig. Ich
dankte Gott dafür und dachte bei mir selber:
88

„welche Weisheit Gottes liegt doch in der Kreatur beschlossen ! Trockne,


vermoderte, schon
fast ganz in Erde gewandelte Knochen haben
sich eine so lebendige Kraft, so eine Farbe
und einen solchen Geruch bewahrt; auch
übеn sie eine solche Wirkung auf lebendige
Körper aus und teilen abgestorbenen Körpern
gleichsam das Leben mit. Dies ist ein Unterpfand für die künftige Auferstehung des
Fleisches. Könnte ich dieses doch dem Waldhüter zeigen, bei dem ich lebte, weil er
ja doch
an der allgemeinen Auferstehung zweifelt."
Nachdem ich auf diese Weise wieder genesen war, begann ich den Jungen zu
unterrichten und gab ihm als Vorschrift das Jesusgebet; ich ließ es ihn abschreiben
und zeigte
ihm, wie man die Worte hübsch ordentlich
hinmalen müsse. Der Unterricht war recht
bequem für mich, weil er tagsüber beim Amtmann aufwartete; so kam er denn zu mir
nur
in der Zeit, da derAmtmann schlief, das heißt,
in der frühen Dämmerung bis Schluß des
Hochamts. Der Junge war aufgeweckt und
konnte recht bald einigermaßen schreiben.
Da der Amtmann sah, daß er schreiben
konnte, fragte er ihn : „Wer hat es dich gelehrt ?" Der Junge sagte : „Ein Pilger,
der
den einen Arm nicht gebrauchen kann, und
89

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