Raum Und Gegen Raum
Raum Und Gegen Raum
Raum Und Gegen Raum
Charles Gunn
Von Isaac Newtons Entdeckung der Schwerkraft im 17. Jahrhundert bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts hatte die moderne Naturwissenschaft auf einen naiven Materialismus bauen
knnen. Die Wirklichkeit in ihrem Sinne bestand aus materiellen Teilchen, die im
dreidimensionalen Raum verteilt sind, sowie ihrer dazugehrigen Krfte, die fr alle Phnomene
verantwortlich gesehen wurden. Mit dem 20. Jahrhundert kam die Quantenmechanik, die diese
naiv gedachten materiellen Teilchen im Raum endgltig widerlegte und an ihren Platz einen hoch
abstrakten, mathematischen Formalismus setzte, in welchem der Begriff "Materie" keine klare
Bedeutung mehr besitzt.
Gegen den Hintergrund dieser Krise des Materialismus wollen wir hier eine Erweiterung des
Raumbegriffes skizzieren, die den gewhnlichen Raum Newtons als nur einen Pol einer Polaritt
enthlt. Der andere Pol dieser Polaritt stellt eine fr das physische Bewutsein fremde
Geometrie dar, den Gegenraum. Die Wirklichkeit ist dann in dem Spannungsfeld der Polaritt
zu finden, nicht allein in nur einem Pol.
berblick.
Wir beginnen mit einer historischen Einleitung. Dann bieten wir eine kurze, separate Einfhrung
zum Gegenraum in dem "Schnellkurs Gegenraum". Es folgen einige Beispiele aus dem Leben,
wo man den Gegenraum, hoffentlich, erkennen kann. Zum Beispiel wie Pflanzen wachsen, wie
die Sonne wirkt und wie der Mensch selbst organisiert ist. Der Gegenraum kommt nicht fr sich
alleine vor: Alle Beispiele zeigen Phnomene, die aus dem Zusammenwirken von Raum und
Gegenraum entstanden sind. Der Leser ist einer doppelten Herausforderung ausgeliefert: Sich
eine neue Geometrie anzueignen und diese dann mit der gewhnlichen Geometrie zu denken.
Projektive Geometrie.
Gleichzeitig mit Newtons Naturwissenschaft kam eine neue, andersartige Geometrie in die Welt.
Der franzsische Architekt und Mathematiker Grard Desargues (1591-1661) wollte die
perspektivische Malerei der 15. Jahrhunderts besser verstehen und erschuf eine neue Geometrie,
die Projektive Geometrie. Weil ihre Folgen von wesentlicher Bedeutung sind, wollen wir die
Grundgedanken dieser Geometrie jetzt skizzieren.
Perspektive - Paradox
Eine Rtsel der echten Perspektive ist, dass die Abbilder der parallelen Geraden sich im
sogenannten Fluchtpunkt des Bildes treffen. In der gewhnlichen, euklidischen Geometrie -
per definition - treffen sich parallele Geraden nicht. Man hat dann Punkte im Bild, die keinen
entsprechenden Partnerpunkt in der wirklichen Welt haben. Desargues Idee war, neue Punkte,
sogenannten Idealpunkte, einzufhren, wo parallele Geraden sich treffen. In dieser Hinsicht kann
man sagen er hat eine Geometrie fr den Sehsinn entworfen, wie Euklid eine Geometrie fr den
Tastsinn. Es ist ein Symptom von grundlegender Bedeutung fr die Menschheit.
Vollkommene Partnerschaften.
Die Figur zeigt ein Urphnomen der Projektiven
Geometrie. Jeder Punkt der blauen Gerade (unten) ist
mit einer einzigen Geraden des blauen Punktes (oben)
gepaart - der Verbindungsgeraden des roten Punktes mit
dem blauen Punkt. Umgekehrt: Habe ich eine solche
Gerade, so kann ich ihren Partnerpunkt finden - es ist
der Schnittpunkt der roten Geraden mit der blauen
Gerade. Htten wir keine Idealpunkte, dann htte die
rote horizontale Gerade keinen Partnerpunkt, weil sie dann keinen Schnittpunkt mit der blauen
Gerade hat.
Dualitt.
Vollkommene Partnerschaften sind nicht zufllig in der Projektiven Geometrie; sie
sind Ausdruck einer tief verwurzelten Symmetrie die sagt: Fr jeden wahren Satz gibt es einen
Partner-Satz der auch wahr ist. Man erhlt den Partner durch einen bersetzungs - Prozess,
wobei bestimmte Worte und Phrasen durch ihre dual Partner zu ersetzen sind. Zum Beispiel
der Satz Zwei Punkte haben genau eine Verbindungsgerade ist dual zu Zwei Geraden haben
immer genau einen Schnittpunkt. (Letzterer ist nicht gltig in der gewhnlichen Geometrie.)
Dualitt wird eine wichtige Rolle spielen in unseren weiteren berlegungen.
Goetheanismus
Die Wissenschaft Newtons bleibt nicht ohne Gegner. Johann Wolfgang von Goethe (1749-
1832) entwickelt einen alternativen Ansatz zur Naturforschung, der alle hypothetischen Modelle
hinter den Phnomenen streng ablehnt. Stattdessen versucht er, die Phnomene selber sprechen
zu lassen. Die Buchstaben dieser Sprache sind die Urphnomene. Jedes Urphnomen hat
verschiedene Erscheinungsformen, die als Ausdruck einer bestimmten Polaritt zu verstehen
sind. Zum Beispiel: Goethe sieht das Blatt als Urphnomen der Pflanze. Das Samenkorn und das
eigentliche Blatt stellen die Extreme der Polaritt dar : Verdichtung - Ausdehnung. Oder auch
die Farbe ist das Urphnomen in Bezug zu der Polaritt "Hell - Dunkel".
Hier knpft man an einen Bewutseinswandel an, den auch die Newtonsche Wissenschaft im
spten 19. Jahrhundert durchgemacht hat: Der Raum selber wird zu einem Forschungsobjekt. Die
Entdeckung von neuen, nicht-euklidischen Geometrien hat bewirkt, dass der Raum selber zum
empirischen Objekt wird und nicht wie bei Immanuell Kant, der diesen voraussetzt als ein leeres,
absolutes Gef.
Gegenraum.
Die bis jetzt als Forschungsobjekt von der modernen Naturwissenschaft anerkannten nicht-
euklidischen Geometrien gelten als quantitativ anderes, aber qualitativ sind sie sehr hnlich der
Euklidischen Geometrie. Im Gegensatz dazu, wenn man das Dualittsprinzip konsequent auf den
euklidischen Raum anwendet, erhlt man einen qualitativ anderen Raum, den zu Beginn dieses
Artikels erwhnten Gegenraum. Der Gegenraum ist seit dem 19. Jahrhundert mathematisch
bekannt, aber die Anwendungen auf die Wirklichkeit wurden erst durch Rudolf Steiner und
seine Schler durchgefhrt. Wir knpfen an ihre Arbeit hier an.
Schnellkurs Gegenraum.
Der Leser sei nun hingewiesen auf den beigefgten Schnellkurs Gegenraum. Er setzt keine
mathematische Kenntnis voraus, fordert aber trotzdem ein bestimmtes Beharrungsvermgen. Fr
das weitere Verstndnis dieses Artikels ist er aber unentbehrlich. Ohne das man sich bekannt
macht mit dem mathematischen Gedankengang, luft man Gefahr, die folgende Darstellung nur
rein gefhlsmssig zu erfassen, statt gedanklich mitmachen zu knnen. Gegenraum erfordert
innere Ttigkeit, es richtig zu denken. Am besten man bt eine Art zweispaltiges Denken - wie
im Schnellkurs - bis ein Gegenraum beginnt, als ein sinnvolles Ganzes erlebt zu werden.
Wir schreiten jetzt fort in diesem Artikel, aber empfehlen dem Leser erst in dieser Weise den
Gegenraum kennenzulernen. Das Schnellkurs begrenzt sich auf zwei Dimensionen. Als erste
Fortsetzung wollen wir auf die 3. Dimension erweitern. Dann, statt eines punktmssigen Kreises,
hat man eine punktmssige Sphre; statt eines geradenmssigen Kreises, hat man eine
ebenenmssige Sphre, d. h., alle Ebenen die die Sphre berhren. Schwerkraft zieht einen Punkt
zum Sphrenmittelpunkt entlang der Verbindungsgerade; Leichtekraft zieht eine Ebene oben zur
Idealebene. (Zur Erinnerung: da in die Weite wo parallele Geraden sich treffen).
Formbildung.
Wre eine materielle Sphre nur zentrischen Krfte ausgesetzt, wrde sie in sich
zusammenfallen: gbe es nur periphere Krfte, wrde sie "auseinanderfliegen". Nur wenn sie
sich beide gegenseitig balancieren gibt es stabile Formen. Das gilt nicht nur fr Sphren. Wir
stellen als Hypothese auf: Alles was im irdischen Leben eine Form besitzt, besteht aus einem
Zusammenwirkung der zentrischen und peripherischen Krfte. Wo kann man solches
Zusammenwirkung erfahren?
Newtons Apfel.
Von Newton selbst ist berliefert , da ihm seine Gravitationstheorie einmal eingefallen sei, als
er einen Apfel von einem Baum fallen sah. Spter hat sein Landsmann John Ruskin (1819-1900)
bemerkt, das es sein mag, da Newton eine geniale Erklrung gegeben hat fr den Fall des
Apfels, aber unbeantwortet bleibt dabei die viel schwierigere Frage: Wie ist der Apfel oben auf
den Baum gekommen? Kann der Gegenraum helfen dieses zu beantworten?
Frhling im Garten.
Das Bild das Apfelbaumes im Frhling offenbart ganz andere Vorgnge als die des Herbstes. In
unzhligen Knospen, jede einem sogenannten Wachstumpunkt zugehrig, entwickelt sich neues
Leben. Bei genauerer Betrachtung der Knospe findet man einen Hohlraum darinnen, um desssen
leeren Raum um den Wachstumpunkt die kleinen Bltter entstehen, dessen Formbildung von
aussen nach innen wirkt. Im Laufe der Zeit ffnen sich die Bltter und nehmen ihre typische
ebenenhafte, horizontale Gestalt an. Ein unbefangener Blick auf den fallenden Apfel kann die
Signatur des physischen Raumes darin ablesen. So kann man auch hier in diesem sprossenden
Leben die Signatur des Gegenraums ablesen. Gegenraum ist auch hohl; der Wachstumspunkt
mag als sein Idealpunkt dienen. Um diese allbeziehende, innere Unendlichkeit entfaltet sich die
Bltterbildung und zeigt dabei die ebenenhafte Signatur der peripheren Krfte. Dass es auch
materielle Spuren von diesen Krftewirkung gibt, versteht sich von selbst; sie brauchen aber
nicht mehr als Ursachen verstanden zu werden. Der interessierte Leser sei fr eine vollstandige
Diskussion auf die Publikationen von Adams und Whicher hingewiesen.
Regsamkeit.
Die Masse eines Objektes, von der Schwerkraft aktiviert, bringt seine Kapazitt zum
Ausdruck, sich selber gegen andere Objekte zu behaupten. Was ist die entsprechende Eigenschaft
im Gegenraum? Wenn es stimmt, dass Gegenraum berall wirkt, wo Leben spriesst und sprosst,
dann muss diese Eigenschaft mit Lebendigkeit zu tun haben. Wir schlagen vor: Peripherische
Krfte aktivieren die Regsamkeit der irdischen Substanz. Statt in sich zu beharren, wie die
Masse, zeigen sich die Substanzen offen und durchsichtig fr kosmische Einflsse die aus der
Peripherie kommen. In dieser Weise entstehen die Formen der Naturreiche. Zu diesem Thema
sei auf die Forschungen von Ernst Lehrs hingewiesen. [Fussnote: Ernst Lehrs]
Makrokosmischer Gegenraum?
Ohne die leuchtende, wrmende Sonne wird aber kein Sprossen und Spriessen in Frhling
stattfinden, werden keine kleinen Gegenrume um Wachstumpunkte entstehen. Die heutige
Naturwissenschaft sieht in der Sonne einen kosmischen Herd, einen grossen, brennenden Gasball
der Wrme und Lichte in alle Richtungen durch leere Rume schleudert. Wahr ist, die Sonne
zeigt eine sphrische Oberflche. Was hinter diese Oberflche liegt, werden wir in der
voraussehbaren Zukunft nicht direkt erleben knnen, aus dem einfachen Grund da die gewaltigen
Bedingungen in der Nhe dieser Oberflche fr alle irdische Substanz vernichtend sind. D. h.,
alles was jetzt ber den inneren Bereich der Sonne bekannt ist, ist von spekulativer Natur.
Es braucht Zeit.
Paradigmenwechsel wie die hier vorgeschlagenen, brauchen Zeit. Es hat fast 200 Jahre gedauert,
bis sich der Fluchtpunkt entwickelte von der intuitiven Maltechnik zum bewussten,
mathematischen Begriff und 200 weitere Jahre bis das implizite Dualittsprinzip zum Ausdruck
kam. Die Begriffsbildungen, die der Gegenraum von uns verlangt, sind von noch tieferer Natur.
Mit der Projektiven Geometrie hat man es mit einer zustzlichen Punktebene (der Idealebene) zu
tun: mit dem Gegenraum hat man es mit einer Umkehrung des dreidimensionalen Raumes selber,
der alles naiv-sinnesverbundene Denken in Frage stellt, zu tun. Mge dieser Artikel als
Einladung verstanden werden, einen gemeinsamen Umdenkprozess mitzumachen, berall wo
Gedankenbildung von einem einseitigen Raumbegriff mitbestimmt ist.
Interessierte Leser seien auf die umfassenderen Bcher von George Adams, Ernst Lehrs und
Georg Blattmann hingewiesen. (siehe Literatur)
Weiterfhrende Literatur
- Georg Blattman: Die Sonne - Gestirn und Gottheit. Stuttgart 1972.
- George Adams, Olive Whicher: Die Pflanze in Raum und Gegenraum. Stuttgart 1960.
- Ernst Lehrs, Mensch und Materie. Frankfurt/Main 1953.
- Zeitschrift Mensch+Architektur: Raum und Gegenraum, Zum Werk von Nikolaus Ruff.
Nr. 39/40 (2003)