Ardelaine Ardèche
Ardelaine Ardèche
Ardelaine Ardèche
Kassel 2009
Entwicklungsperspektiven Nr. 97
Kassel 2009
ISBN print:
ISBN online:
URN: urn:nbn:
978-3-89958-686-2
978-3-89958-687-9
de:0002-6870
bersetzung:
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H.-Friedrich Lammers
Umschlaggestaltung:
Universitt Kassel
FB 05
Nora-Platiel-Str. 5
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Fax: 0049 561 804 3464
<http://www.uni-kassel.de/fb5/soziologie/sel/>
Die Debatte ber Entwicklungsperspektiven steht berall auf der Tagesordnung. Einseitig an wirtschaftlichem Wachstum orientierte Vorstellungen haben verheerende materielle, soziale und psychische Auswirkungen in Lateinamerika, Afrika und Asien, aber auch in Europa und den USA. Obwohl das am
Wirtschaftswachstum orientierte Konzept lngst kritisiert wurde, ist es nach wie
vor fr die Richtung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vernderungen nach innen und auen mageblich.
Die Kritik muss mit konkreten Entwicklungsperspektiven fr eine humanitre Entwicklung verbunden werden. Technokratische Politik zur Entwicklung
reicht ebenso wenig aus wie politische Utopien. Die Erarbeitung der Perspektiven ist in Wirklichkeit ein umfassender Lernprozess, der ein neues Verstndnis
von Politik und nicht zuletzt auch ein neues Rollenverstndnis von Technikern
und Sozialwissenschaftlern erfordert.
So geht es in dieser Reihe Entwicklungsperspektiven darum, emanzipatorische Prozesse im Produktions- und Reproduktionsbereich (bzw. Ursachen
fr ihre Verhinderung) aufzuzeigen. In ihnen wird an die eigene Geschichte angeknpft und die eigene Identitt erneut gefunden. Die Analyse emanzipatorischer Erfahrungen in verschiedenen Bereichen (Gesundheit, Wohnungsbau, Bildung, Produktionsorganisation) knnen hier wie dort Schritte auf dem Weg der
Lsung von Abhngigkeiten hin zur Selbstbestimmung klren helfen.
Entwicklungsperspektiven sind heute schwer zu erkennen, daher suchen wir
Berichte aus der Erfahrung demokratischer Organisationen, Analysen anderer Gesellschaften und Kulturen sowie ihrer Wirtschafts- und Lebensweisen.
Auswertungen von Erfahrungen in Entwicklungsprojekten.
Dokumente mit Hilfe derer die Lernprozesse aus diesen Erfahrungen von
Europa nach Lateinamerika und vice versa vermittelt werden knnen.
LATEINAMERIKA-DOKUMENTATIONSSTELLE
Universitt Kassel
FB 5
34109 Kassel
Inhaltsverzeichnis
Batrice Barras
Ardelaine, ein nachhaltiges Unternehmensmodell?
RECIT
Ardelaine Gemeinsam-Handeln mit Pragmatismus und Flexibilitt auf dem
Weg zu einem staatsbrgerlichen Ansatz
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Bruno Roelants
Schaffung nachhaltiger Arbeitspltze und lokale Entwicklung: Die solidarische
konomie in Europa
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Claudia Snchez Bajo
Schlussbemerkungen
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Autoren
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Einleitung
Solidarische konomie als Motor regionaler
konomie
Claudia Snchez Bajo1
Sechs Monate lang Gastdozentin an der Universitt Kassel, wo sie drei Kurse angeboten hat. Einen in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Clarita Mller-Plantenberg ber Solidarische konomie, die beiden anderen ber
die Mondragn-Genossenschaft in Spanien sowie ber Regionalismus, Politik und konomische Akteure
in der EU und dem Mercosur. Dieses Seminar und der Aufenthalt in Kassel wurden vom DAAD untersttzt.
Entwicklungsthemen beschftigt und war in verschiedenen Projekten ttig, insbesondere in China, Indien und Osteuropa. Derzeit ist er Generalsekretr von
CECOP (European Confederation of Workers Cooperatives, Social Cooperatives and Participative Enterprises) in Brssel und der Weltorganisation dieser
Genossenschaften, der CICOPA. Er zeigt, wie Projekte der solidarischen konomie durch Zusammenarbeit, kritische Reflexion, Partizipation und Gemeinwesenarbeit ber die Grenzen jeder einzelnen, isolierten Initiative hinausreichen.
Wenn es sich beim gegenwrtigen Zeitraum wirklich um die zweite groe
Transformation handelt, wie Polanyi gesagt hat, dann ist es wichtig, neue Wege
zur Frderung einer endogenen Entwicklung, die demokratisch, einbeziehend,
nachhaltig und friedlich ist, zu studieren, zu erforschen und zu ebnen. Dies ist
ein wesentliches Thema fr unsere Zukunft. Ich hoffe, wir tragen mit dieser
Publikation einige gute Ideen zu diesem Thema bei.
Batrice Barras
man (aber) beide Enden dieser Kette hlt, kann man diese schlechte Wertverteilung ausgleichen.
Die Kraft des Kollektivs
Einige Jahre vorher hatten wir an einer wunderschnen Stelle in den ArdcheSchluchten ein vllig in Trmmern liegendes Dorf entdeckt, das Vieil Audon.
Wir hatten uns entschlossen, das Dorf wieder aufzubauen und schufen dafr die
Jugendlager fr Ferienarbeit. Wir wussten, welche Kraft ein Kollektiv entwickeln kann fr die Realisierung eines gemeinsamen Projekts. Heute ist dieses
nur zu Fu erreichbare Dorf, nach jahrelanger Arbeit der Jugendlichen, wieder
vollkommen instand gesetzt. Es gibt dort eine Besucherbetreuung, zahlreiche
Angebote zur Weckung des Umweltbewusstseins, zur Eingliederung von Jugendlichen, usw.
Diese Erfahrungen hatten wir sehr interessant gefunden, aber wir wollten
noch weitergehen, ber die Ferienlager und die Freiwilligkeit hinaus, wir wollten diese Kraft des Kollektivs im Rahmen eines richtigen, nach konomischen
Gesetzmigkeiten arbeitenden Unternehmens erproben. Wir wandten uns einfach an Freunde von den Jugendferienlagern, und drei Jahre spter hatten wir ein
fnfkpfiges Team zusammen: Catherine, die gerade ihren Abschluss in Management gemacht hatte; Fred, der als Bauarbeitergeselle auf Wanderschaft gewesen war; Pierre, der einen Abschluss als Agrartechniker hatte; Grard, Architekt
und ich selbst, Logopdin. Etwas spter kam noch Pierre hinzu, der Mechaniker
fr Dieselmaschinen und in der Marine gewesen war und seine Frau, Simone,
Grundschullehrerin.
Die Vorbereitung des Projekts
Natrlich hatten wir kein Geld: Gerade genug, um mit einem kleinen Kredit der
Besitzerin die Spinnereiruine abzukaufen, unter berlassung des Wohnrechts
fr sie.
Geld zusammen bekommen
Sieben Jahre lang haben manche zeitweise in ihren alten Berufen weitergearbeitet, um das notwendige Geld zusammen zu bekommen. Damit dies schneller
ging, entschlossen wir uns, zu sparen indem wir so wenig Geld wie mglich
ausgaben. Insbesondere auch durch Gemseanbau im Garten, um den grten
Teil unserer Ernhrung selbst zu produzieren und indem wir Gebrauchsgter
geteilt haben: wir hatten z.B. nur zwei Autos, die wir je nach Bedarf genutzt haben. Auerdem hatten wir eine gemeinsame Wohnung in Valence gemietet, fr
die, die dort arbeiten gehen mussten.
Die Spinnerei wieder aufbauen
In der freien Zeit zwischen zwei Zeitarbeitsverhltnissen und in den Zeiten der
Arbeitslosigkeit fasste jeder bei den Bauarbeiten, unter der Leitung unseres Architekten und unseres Bauarbeitergesellen mit an. Damit wir unsere eigene
Energie erzeugen konnten, nahmen wir auch die Mhle der Spinnerei wieder in
Betrieb, indem wir das alte Rad durch eine Turbine ersetzten.
Kenntnisse erwerben
Um das Projekt vorzubereiten, mussten wir auch die ntigen Kenntnisse fr die
Wollverarbeitung erwerben. Um unser Ziel zu erreichen, mussten wir lernen,
Schafe zu scheren, Wolle zu waschen, sie zu gltten, zu spinnen, zu frben, zu
stricken, zu weben, zu verkaufen, die Buchfhrung zu machen. Das waren viele
verschiedene Berufe! Also hat einer beim technischen Institut fr Schaf- und
Ziegenhaltung Schafe scheren gelernt, einer ein Praktikum fr Betriebsgrndung
gemacht, whrend ein dritter bei einem Matratzenhersteller gelernt hat, Wollmatratzen zu machen. Wir haben uns auch an unser Netzwerk gewandt: so hat
z.B. ein befreundeter Wasserbau-Ingenieur ausgerechnet, wie gro das Geflle
des Kanals sein muss, um die Turbine in Gang zu setzen.
Material sammeln
Schlielich mussten wir die ntige Ausrstung zusammenbringen. Vor Ort waren noch Maschinen vorhanden, die aber in so einem schlechten Zustand waren,
dass wir sie nicht reparieren konnten. In Mazamet haben wir Gebrauchte gefunden, die unser Mechaniker gelernt hat zu demontieren und wieder zusammenzusetzen, um ihre Funktionsweise zu verstehen und sie zum Funktionieren zu bringen.
Der groe Sprung
1982 fhlten wir uns bereit den groen Sprung zu wagen. Wir versammelten
etwa 15 Personen, die am Projekt teilnehmen wollten, darunter die sieben, die
damit schon nher befasst waren. Fr uns war klar, dass wir uns als Kooperative
organisieren wrden; die Fderation der SCOP half uns, Statuten zu erstellen
und jeder hat zweihundert Francs fr die Bildung einer Gesellschaft mit 3200
Francs Grundkapital das gesetzliche Minimum gezahlt.
Die Versorgung mit Wolle
Die Versorgung mit dem Rohstoff stellte a priori kein Problem dar. Der Kanton
(Landkreis) Saint-Pierreville hat die hchste Konzentration an Schafzucht in der
Ardche; hier werden ca. 85.000 Schafe fr die Fleischproduktion gehalten, was
gleichzeitig zur Erhaltung der Mittelgebirgslandschaft beitrgt, daher die hohen
Subventionen. Die wichtigste Rasse ist die Blanche du Massif central, die eine
interessante, weil feine und vor allem sehr krause Wolle hat mit viel Elastizitt
und Volumen, was ideal fr die Herstellung von Matratzen und Decken ist.
Diese Wolle wurde weggeworfen, weil sie keinerlei Wert auf dem internationalen, von Australien, Neuseeland, Argentinien, Sdafrika beherrschten Markt
hatte. Diese Lnder produzieren enorme Mengen in sehr homogener Qualitt,
womit sie die Preise kaputt machen. Aus gesundheitlichen Grnden mssen die
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Batrice Barras
Schfer jedoch die Schafe trotzdem weiter scheren lassen, was sie Geld kostete
und Probleme machte, weil immer weniger Schafscherer ihre kleinen, im Gebirge verstreuten Herden bernehmen wollten.
Mit unserem Vorschlag ihre Schafe zu scheren und die Wolle zu kaufen, taten wir ihnen also einen doppelten Gefallen. Wir wurden dabei im brigen von
der Schafzchtergewerkschaft, die uns bei den Schfern vorgestellt hat, untersttzt. Wir arbeiten derzeit mit ungefhr 300 Zchtern zusammen und scheren
50.000 Schafe. Das stellt eine Jahresproduktion von 60 Tonnen Wolle dar. Wir
sortieren sie whrend der Schur nach Qualitt (Sauberkeit, Lnge, Feinhei), behalten zwei Drittel und verkaufen den Rest weiter. Nach der Wsche bleiben nur
noch 20 Tonnen brig, der Rest ist Abfall aus Fett, Erde und Ausscheidungen.
Der Lohn fr das Scheren betrgt einen Euro pro Schaf, fr eine Arbeit, die
etwa drei Minuten dauert, die aber gleichzeitig behutsam und kraftvoll ausgefhrt werden muss. Auerdem muss man von Herde zu Herde gehen und jedes
Mal die Werkstatt aufbauen. Die Preise fr Wolle wechseln je nach Jahr, aber
wir zahlen immer einen wesentlich hheren, ber dem Kurs liegenden, Preis.
Als Gegenleistung haben wir mit den Schfern eine Qualittscharta ausgearbeitet: da wir die Wolle so natrlich wie mglich haben wollen, haben wir die
Schfer gebeten, die Mittel gegen Parasitenbefall, die sie benutzten, gegen Mittel aus der biologischen Landwirtschaft einzutauschen. Wir bemhen uns auch
mit einem Gutscheinsystem, ber das sie den Preis ihrer Wolle durch Kauf von
Waren aus unseren Geschften verdoppeln knnen, ihr Interesse an der Qualitt
der Wolle zu wecken.
Die Produkte
Wir haben mit der Herstellung des am einfachsten und preiswertesten herzustellenden Produktes begonnen, der Wollmatratze, die auerdem noch den Vorteil hatte, dass die Leute sie als althergebrachtes Produkt kannten. Jedoch hatte
sie einen etwas altmodischen Ruf, wir haben sie deshalb aufgepeppt, insbesondere durch die Entfernung der Streifen. Wir haben dann Bettdecken und Kissen
gemacht, schlielich haben wir uns der Kleidung zugewandt und auf einer kleinen Haushaltsstrickmaschine zu arbeiten begonnen.
Eine Genossenschaftlerin, die als Leiharbeiterin in einer Strickwarenfabrik
gearbeitet hatte, erfuhr dass diese Konkurs gemacht hatte und der Besitzer arbeitslos war. Wir haben ihn gebeten uns bei der Einrichtung eines Strick- und
Konfektionsateliers zu helfen. Er hat uns in diese Welt eingefhrt und geholfen,
Maschinen zu kaufen. Dann hat er unter der Bedingung, dass wir uns in Valence
niederlassen, weil er nicht nach Saint-Pierre gehen wollte, die Leitung bernommen. Daraufhin haben wir unser Atelier in einem der heien Stadtviertel
von Valence eingerichtet. Die Sozialwohnungsbaugesellschaft der ZUP (zone
urbaniser en priorit)5 von Valence versuchte nmlich diese Stadtviertel durch
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die Ansiedlung von Geschften und Werksttten im Erdgescho der Wohnblcke aufzuwerten.
Der Verkauf
Am Anfang haben wir unsere Matratzen auf den rtlichen Mrkten verkauft,
was uns in der ganzen Region bekannt gemacht hat. Die (Verkaufs-)Ergebnisse
entsprachen aber nicht unseren Erwartungen. Glcklicherweise begannen sich
zu diesem Zeitpunkt die kologischen Warenmessen zu entwickeln, wie der Salon Marjolaine in Paris. Dort haben wir eine wirklich am Kauf von natrlichen
Produkten interessierte Kundschaft gefunden, und das hat unseren wirtschaftlichen Aufschwung ermglicht.
Wir haben diese Art der Vermarktung immer weiter entwickelt bis wir gemerkt haben, dass es widersprchlich ist, lokale Entwicklung frdern zu wollen,
aber gleichzeitig mit dem Lkw auf (smtlichen) Straen Frankreichs und Europas herumzufahren! Mit der Hilfe eines Freundes, der seinerseits an der Aufwertung der Seidenverarbeitung in den Cevennen arbeitete, und der auerdem das
Verlagswesen kennt, haben wir einen Katalog fr den Versandhandel erstellt.
Wir haben gleichzeitig auch den Verkauf vor Ort in unserem Geschft entwickelt, indem wir die Touristen, die die Ardche besuchen, angesprochen haben. Da wir ein bisschen abgelegen sind, haben wir die Idee gehabt, zunchst
eins, dann zwei Museen zu erffnen, die die Besucher anziehen und die ihnen
ein kulturelles Plus bieten: das erste Museum erklrt die Geschichte der
Schafzucht und der verschiedenen Fabrikationstechniken von Wollprodukten in
der Hauswirtschaft. Im zweiten geht es um den bergang von der handwerklichen Produktion zur Industrialisierung. Der Erfolg lie nicht auf sich warten:
wir zhlen jedes Jahr 20.000 Besucher.
Die Finanzierung der Entwicklung
Am Anfang wagten wir nicht, Banken aufzusuchen oder den Conseil gnral6,
denn wir wussten, sie wrden uns auslachen. Sie wrden sagen: Haben Sie
Marktanalysen gemacht? Wolle ist schon lange keine Marktlcke mehr! Es hat
schon seinen Grund, dass alle mit der Wollproduktion aufgehrt haben! Wir
haben uns deshalb an die Fondation de France gewandt, die ein Programm
namens Initiatives Territoire Emploi Ressource7 besa und uns sehr untersttzt hat.
Anschlieend haben wir Hilfen der ffentlichen Hand im Rahmen des Frderprogramms Arbeitsplatz auf rtlicher Initiative erhalten, dann einen regionalen Zuschuss fr die Schaffung von Arbeitspltzen, der uns etwas Spielraum
und Zeit zur Entwicklung gegeben hat. So konnten wir uns nach und nach mit
einer Waschanlage, einem Wolltrockner, einer Klranlage fr das Waschwasser,
einer Maschine fr die Wollglttung ausstatten. Nun richten wir unsere Anstren6
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Batrice Barras
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Batrice Barras
wirklich allergisch auf den Verkauf reagieren. Produzieren ist eine Sache, aber
sein Produkt auch verkaufen zu knnen, verschafft eine groe Befriedigung.
Grard Barras: Die Tatsache, dass die Produzenten auch verkaufen, ermglicht
es ihnen, stndig zu testen, wie ihre Produkte bei den Kunden ankommen und
wenn ntig, darauf zu reagieren. Das gibt uns viel Flexibilitt, wie z.B. beim
System des Sentier. Es ist eine Funktionsweise, die sich radikal von derjenigen der groen Unternehmen unterscheidet, die extrem zerstckelt sind, die Risiken mit diesem oder jenem Produkt eingehen, die Massenproduktion betreiben
und die grten Schwierigkeiten haben, wieder auf die Beine zu kommen, falls
ein Fehler passiert.
Eine andere Quelle der vielseitigen Verwendbarkeit hngt mit dem Saisoncharakter unserer Produktion zusammen: die Besucher kommen meistens im
Sommer; wir bekommen die Wolle im Frhjahr; wir waschen sie im Herbst und
im Winter, denn im Sommer gibt es nicht genug Wasser im Fluss. Dank der
Vielseitigkeit unserer Mitarbeiter knnen wir ihnen so das ganze Jahr eine Beschftigung sichern. Aber niemand soll unter etwas leiden mssen, wir suchen
also nach ausgeglichenen Lsungen, die die Qualifikation eines jeden, seine Interessen, den Schweregrad der Arbeiten und ihren Wert bercksichtigen. Zum
Beispiel ist es fr den Scherer, der drei Monate im Jahr gebckt in Stllen oder
seinem Lkw verbringt, sehr aufwertend auch Museumsfhrer zu sein.
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weiter und bernimmt seine Geschfte ganz allein. Das Problem ist nachher der
Informationsfluss zwischen den Abteilungen. Zu diesem Zweck haben wir Versammlungen organisiert und wir haben auch den Verwaltungsrat, aber es luft
vor allem auf informellem Weg.
G. B.: In klassischen Unternehmen steht die Struktur fest, die Arbeitspltze sind
definiert und man muss dann den Informationsfluss organisieren. Nun neigt aber
jede Abteilung (Finanzabteilung, Verwaltung, Produktion, kaufmnnische Abteilung, Personalabteilung) dazu, ihre eigene Fachsprache zu entwickeln und am
Ende verstehen sich die Leute nicht mehr. Bei uns ermglicht die Dezentralisierung die Verantwortlichkeit, und wir versuchen, die Rotation zwischen Produktion und kaufmnnischer Abteilung so hoch zu halten, dass man sich gegenseitig
versteht und die Entscheidungsfindung weniger spezialisiert ist; die verschiedenen Abteilungen fragen sich gegenseitig und die Entscheidungen werden relativ
leicht getroffen.
Wortmeldung: Und bei Konflikten?
B. B.: Wir sind alle voneinander abhngig und deshalb darauf angewiesen, Lsungen zu finden. Manchmal erfordert das einfach nur ein bisschen Geduld;
manchmal geht es nur ber eine heftige Auseinandersetzung; und manchmal
muss man eine Lsung finden, mit der alle einverstanden sind. Wenn bei Ardelaine nur Leute mit bsem Willen wren, wrde das Unternehmen keine fnf
Minuten durchhalten. Es funktioniert nur, weil die Leute sehr motiviert sind.
Askese oder Entfaltung
Wortmeldung: Die guten Ergebnisse, die Sie auch im konomischen Bereich
erzielt haben, sind auf die Askese, beziehungsweise den Masochismus der Grnder zurckzufhren. Knnen Sie vernnftigerweise hoffen, dass andere mit dem
gleichen Sinn fr Aufopferung, gemessen an den Standards der heutigen franzsischen Gesellschaft, Ihre Nachfolge antreten?
G. B.: Wenn Sie die Lebensbedingungen von jemand analysieren, der allein in
einem Boot die Welt umsegelt, dann sind diese objektiv gesehen sicher entsetzlich! Alles ist relativ: Wenn Sie das machen, worauf Sie Lust haben, und es
funktioniert, ist alles gut. Nehmen Sie das Beispiel unseres Kooperativmitglieds,
das sich 17 Jahre bei der Marine verpflichtet hatte und das eigentlich sein Leben
mit dem Bau von Unterseebooten htte verbringen sollen; statt dessen war er an
einer Firmengrndung beteiligt, an der Grndung von zwei Museen, die heute
sehr angesehen sind, und hat sehr verschiedener Maschinen wieder instand gesetzt. Als persnliches Lebensprojekt ist das sehr viel interessanter! Einmal hat
mir am Ende eines Museumsbesuchs ein 75-jhriger Mann gesagt: Ich war Ingenieur im Stahlbetonbau, Leiter einer Firma mit ca. 10 Ingenieuren und ich habe viel Geld verdient, aber wenn ich in meinem Leben Bilanz ziehe, dann ist das
einzige, was mir bleibt, das Haus, das ich selbst gebaut habe. Vielleicht htte er
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Batrice Barras
seine Bilanz etwas frher ziehen und sein Leben ndern sollen. Natrlich kann
man niemand zwingen, so zu leben wie wir. Das muss vllig freiwillig sein,
sonst wird es tatschlich zu Masochismus.
B. B.: Es stimmt, dass uns die Nachfolgefrage Sorge bereitet, aber ich persnlich bin optimistisch: wir stellen nur Leute aufgrund von Initiativbewerbungen
ein und die Leute, die sich heutzutage vorstellen, sind immer hher qualifiziert.
Neulich haben wir eine junge Frau mit einem Universittsabschluss in kognitiven Wissenschaften eingestellt, die froh ist, bei uns auf dem Mindestlohnniveau
zu arbeiten: fr sie ist wichtig, eine interessante Arbeit zu haben, in einem Umfeld, das sie respektiert und wo sie Initiativen ergreifen kann. Die Nachfolge
wird durch Menschen gesichert werden, fr die diese Werte mehr zhlen als die
Lohnhhe.
G. B.: Man muss auch unterstreichen, dass unsere Nachfolger die ganze Arbeit
der Organisation des Unternehmens nicht mehr zu machen brauchen: sie werden
(lediglich) ein Arbeitsinstrument am Leben erhalten mssen, das schon sehr
stark strukturiert ist.
Gegen Modelle
Wortmeldung: Sie haben auf einer begrenzten, lokalen Ebene Erfolg gehabt.
Glauben Sie nicht, dass, damit diese Vorgehensweise greren Einfluss hat, es
wirksamer wre, die soziale Verantwortung der Grounternehmen zu entwickeln?
G. B.: Ich persnlich bin fr kulturelle Vielfalt: es strt mich nicht, wenn es
mehrere Anstze gibt, im Gegenteil: in der Natur sind die unterschiedlichen Gattungen komplementr, stellen so im Endeffekt eine Art Gleichgewicht her. Ich
habe den Eindruck, man sucht immer das Universalmodell, die Lsung, die alle
Probleme lsen kann; aber in meiner Erfahrung gibt es so etwas nicht. Ich habe
die Erfahrung gemacht, dass in einer Gruppe alle sehr unterschiedliche Kenntnisse, Denkweisen, berzeugungen haben und dass man zu einem Ergebnis
kommt, wenn man diesen ganzen Reichtum zur Synergie fhrt.
Wortmeldung: Hinter ihrem Ansatz steht sicherlich eine politische Absicht:
Erscheint Ihnen Ihr Unternehmen als eine lebensfhige Alternative zur globalisierten Wollindustrie?
G. B.: Es ist frappierend zu sehen wie schwer es uns fllt, uns vom Gedankengut des 19. Jahrhunderts zu lsen. Wir sind immer noch von der Modellbildung,
der Universalitt, der Massenproduktion fasziniert. Ich persnlich bleibe lieber
in der Welt des Lebendigen, deren Charakteristika u. a. die unvollkommene Reproduktion ist, denn die industrielle Produktion, die auf der vollkommenen Reproduktion basiert, erweist sich am Ende oft als kontraproduktiv. Das passiert
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im Augenblick mit dem Label Bio, das von den Anhngern des Vereins Natur und Fortschritt (Nature et Progrs) erfunden wurde, und das gerade von den
groen Verteilungswegen vereinnahmt wird; in den USA gibt es schon so genannte biologische, 10.000 Hektar groe Farmen, die unterbezahlte Arbeiter beschftigen. Was fehlt, besonders in Frankreich, sind nicht Modelle, sondern
Menschen, die vor Ort Initiativen ergreifen, die sich bewegen, die die Wirklichkeit anders organisieren. Man sollte seine ganze Anstrengung darauf verwenden,
diese Art Handlungstyp auszubilden und nicht darauf, vorgebliche Modelle zu
imitieren.
Probleme selbst lsen
Wortmeldung: Sie bertreiben doch wohl ein bisschen: Wenn ihr Unternehmen
Erfolg hatte, dann doch wegen einer Anzahl von Grnden, die sie trotz allem
versuchen knnen zu bestimmen, um diese Erfahrung weiterzugeben.
G. B.: Unsere Allergie gegen Modelle kommt u .a. daher, dass wir sehr viel
Umgang hatten mit Fachleuten fr regionale Entwicklung und wir haben gemerkt, dass diejenigen, denen man auf den groen Versammlungen das Wort
gab, in der Regel nicht die sind, die mit den Handlungsrealitten vertraut sind.
Oft dienen Modelle vor allem dazu, bestimmte Vertreter von Institutionen zu
beruhigen und ihnen das Gefhl zu vermitteln, zu etwas ntze zu sein, aber konkret bringen sie nichts, weil das Lebendige nicht reproduzierbar ist. Wir leben
noch mit mechanistischem Gedankengut, obwohl das Gedankengut des Lebendigen viel reicher ist, viel komplexer, auf eine viel grere Vielfalt an Organisationsmodellen hinausluft. Das ist die Botschaft, die ich in der Ausbildung zum
Umwelttechniker zu vermitteln versuche, wo ich meine Zeit damit zubringe, zusammen mit anderen Professoren dieses Studienganges, die Gewissheiten der
Schler zu zerschlagen. Es gibt z.B. eine klassische Umweltanalyse die darin
besteht, die Ressourcen und Zwnge ausfindig zu machen; aber nichts ist einfacher als zu zeigen, dass ein Zwang eine Ressource werden kann und umgekehrt!
Wortmeldung: Wenn man Ihnen zuhrt, kommt man nicht umhin zu denken,
dass Sie eine ungeheuer wichtige Rolle spielen knnten in der Beratung lokaler
Institutionen und sie an dem Fachwissen, das Sie gesammelt haben, teilhaben
lassen knnten.
G. B.: Ich bin nicht sicher, dass wir so ntzlich wren. Wenn man auf Schwierigkeiten stt, ist es oft besser, man hat keinen dritten Mann, der die Probleme fr uns lsen knnte und uns vom wesentlichen abhalten wrde: man muss
lernen, zu seinem eigenen Problem auf Distanz zu gehen und es selbst zu lsen.
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Batrice Barras
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Wenn man nicht ber diese praktische Intelligenz verfgt, muss man alles machen lassen, und dann ist es so teuer, dass es fr viele Leute unerschwinglich
wird.
Genies oder gewhnliche Menschen?
Wortmeldung: Wenn ich Ihnen so zuhre, fhle ich dreierlei: Bewunderung fr
diesen wundervollen Erfolg; Ratlosigkeit, weil Sie lauter Bedingungen, die zum
Misserfolg fhren mussten, akkumuliert haben, indem Sie nmlich ein weit abgelegenes Dorf in der Ardche gewhlt haben, eine verfallene Fabrik, eine vllig aufgegebene Branche, eine Funktionsweise, die etwas vom Kibbuz und von
der Kolchose hat, zwei kollektive Systeme, die versagt haben, und trotzdem hat
es funktioniert; und schlielich empfinde ich eine gewisse Verrgerung, weil Sie
an diesem Ort, an dem wir uns befinden, der Hochschule, und vor diesem Publikum mit einer Natrlichkeit sprechen, einer Einfachheit, ohne Komplexe und
einem Wissen, die wirklich nicht normal sind. Wie knnen Sie es wagen, zu
behaupten Sie wren gewhnliche Menschen?
G. B.: Unser einziges Verdienst ist es vielleicht, die unterschiedlichen Intelligenzformen aufgewertet und entspezialisiert zu haben, die im heutigen Schulsystem sorgfltig getrennt, kanalisiert und hierarchisiert werden. In meiner Jugend half ich Archologen auf ihren Ausgrabungssttten; whrend ich im Staub
kratzte, lehrten sie mich die Geschichte meines Departments. Zur gleichen Zeit
hatte ich einen Geschichtslehrer, den ich bld und unertrglich fand, und er mich
auch. Eines Tages, als die Archologen eine wichtige Entdeckung gemacht hatten, besucht er das Ausgrabungsfeld und dann habe ich ihm alles erklrt, weil
ich wesentlich mehr ber die Geschichte der Region wusste als er. Das beweist,
dass es unterschiedliche Formen des Wissens gibt, des Know-how, und auch
unterschiedliche Formen der Pdagogik. Die Gesellschaft funktioniert nur, weil
sich unterschiedliche Intelligenzformen ergnzen und verbinden und ich glaube,
das ist auch einer der Grnde, warum unser Unternehmen erfolgreich ist.
B. B.: An den neuen Aktivitten, die wir gerne beginnen wrden, motiviert uns
brigens die Ausbildung am meisten: Im heutigen Schul- und Ausbildungssystem gibt es so wenig Frderung der Kreativitt, Ermunterung zum initiativen
Handeln, aber auch zum kollektiven Handeln! Es gibt auch so wenig Orte, die
Strke des Kollektivs zu erproben! An dieser Stelle gbe es wirklich viel zu tun!
Wortmeldung: Andr Maurois ordnete die Menschen in drei Kategorien: die
gewhnlichen Menschen, die Menschen mit Talent, die Genies. Er glaubte, dass
fr die erste Gruppe, die groe Mehrheit der Menschen, das Leben ein gefhrlicher Ort sei. Das Ziel des Lebens sei es demnach, irgendwie mit ihm fertig zu
werden. Die zweite Gruppe hat die Furcht berwunden und fr sie ist das Ziel
des Lebens, bewundert zu werden. Was nun die Genies betrifft, so ertragen sie
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Batrice Barras
die Welt, so wie sie sie vorgefunden haben nicht, und ihr Ziel ist es, sie zu verndern. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, in welche Kategorie ich Sie einordne.
Wortmeldung: Es strt mich ein bisschen, Sie als Genie zu bezeichnen: das
scheint den Wunsch zu verraten, dass diese Art von Experiment die Ausnahme
bleibt und nicht reproduzierbar sein sollte. Ich fr meinen Teil habe es wunderbar gefunden, Ihnen zu zuhren: in den 70er Jahren kannte ich viele Gruppen, die sich an hnlichen Experimenten versucht haben und gescheitert sind.
Diese Gruppen haben in der Tat die Marginalitt gewhlt, weil sie das Scheitern des Mai 68 zur Kenntnis genommen haben. Aber Sie haben in der Tat
einen viel angriffslustigeren Weg gewhlt, fr unsere Gesellschaft, die sich in
ihrer augenblicklichen Verfassung fr unsterblich hlt. Sie haben sich nicht an
den Rand gestellt, Sie sind mit Absicht mitten in der Gesellschaft geblieben, und
obwohl Sie gleichzeitig eine radikal andere Funktionsweise angenommen haben,
waren Sie erfolgreich. Und dieser Erfolg ist reines Gift fr die Verfechter der
Philosophie des 19. Jahrhunderts.
Ardelaine
Gemeinsam-Handeln mit Pragmatismus und
Flexibilitt auf dem Weg zu einem
staatsbrgerlichen Ansatz
RECIT (Netz von Brgerschulen)1
Das Projekt Ardelaine fngt in den 70er Jahren mit den Betreuern der Jugendprojekte von Vieil Audon an. Ihnen wird die schwierige Situation in der
Ardche bewusst: 1975 wird die Wolle, die keinen Wert mehr hatte, weggeworfen, die jungen Leute ziehen weg, die Strukturen sind zerstrt. Sieben junge
Leute kaufen die letzte, zufllig gefundene, schon halb verfallene Spinnerei der
Region. Heute sind es 30 Leute, die als wichtige Handlungstrger der Region
anerkannt sind.
Bei Ardelaine geht es vor allem um das Problem der Entwicklung eines
(geographischen) Gebietes, um den Platz und die Verwurzelung in diesem Gebiet; es geht darum, den eigenen Alltag mit eigenen Werten in Einklang zu bringen.
Das gesamte Team zeigt uns, wie eine experimentelle, fr das Knnen eines
jeden und seine Fhigkeit sich zu entwickeln, offene Vorgehensweise, voller
Bescheidenheit und Optimismus, tglich Frchte trgt. Es zeigt uns, wie das mit
viel Pragmatismus und Flexibilitt gefhrte Gemeinsame Handeln jeden bei
seinem staatsbrgerlichen Handeln begleiten kann.
Erziehen als Handelnder: eine ertragreiche Vernderung
Sein (eigenes) Wissen neu entdecken
Die Gruppe der sieben Grnder ist sehr heterogen. Sie haben eine gemeinsame
Vergangenheit, nmlich die freiwillige Arbeit in Vieil Audon und die Lust,
zusammen etwas zu unternehmen, wo man beim Handeln lernt (learning by
doing): das ist das Modell des lernenden Unternehmens, wo jeder im Laufe der
Jahre umlernen kann, sein Knnen neu entdecken, berdenken kann. Durch die
Teilnahme an Ausbildungsmanahmen und die anschlieende Anwendung ihres
Wissens fngt die Gruppe an, die Schur, die eher unsachgem von den Schafzchtern vorgenommen wurde, in die Hand zu nehmen und verbessert dann nach
und nach die Qualitt der Wolle durch die verschiedenen Verarbeitungsgnge
bis zur fertigen Ware.
Anstatt sich auf Untersuchungen und Expertisen zu sttzen, die, wie sie
schnell verstehen, die Realitt nur partiell abbilden, gehen sie auf die Landwirte
1
Eine neue Bewegung in Frankreich, die an der Erziehung zur Staatsbrgerlichkeit arbeitet.
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zu und bilden sich so nach und nach selbst aus, durch das forschende Handeln,
eine ihrer Zeit vorauseilende Vorgehensweise. Schlielich verkaufen sie ihre
Produkte und finden Kunden in ganz Europa.
Diese Vorgehensweise fhrt zu groer Mobilitt. Niemand bleibt fest in einer bestimmten Rolle, sondern geht kreativ mit seinem Knnen um, kann sich
anpassen und vorwrts kommen, und das alles auf ganz einfache Art und Weise.
Die Strke des Teams ist seine Vielfalt, die es ihm ermglicht hat, offen zu bleiben und seine Anpassungsfhigkeit: Jeder war in der Lage, neue Berufe zu lernen.
Vom Einzelnen bis zum ganzen Unternehmen basiert das Projekt auf der
Akzeptanz von Vernderung, die auch die Angst vor dem Misserfolg nimmt: Im
schlimmsten Falle machen wir es eben anders! Es ist fr jeden einzelnen Teilnehmer am Projekt ein allmhlicher Lernprozess von Staatsbrgerlichkeit. Das
Projekt basiert nicht auf Ideologie oder Dogmatismus, sondern immer auf Erfahrung. Alle lernen zusammen, jeder vom anderen.
Der Begriff Erziehen aus dem Untertitel beschreibt den Prozess nicht
deutlich, es handelt sich eher um Selbsterziehung.
Schulung der Verbraucher
Um berleben zu knnen, hat Ardelaine schnell seine Aktivitten vervielfacht:
Das 1989 gegrndete Museum hat fast 290.000 Besucher empfangen, die dort
die verschiedenen Wollberufe entdeckt, die Werksttten besichtigt und ber
ihre Kaufgewohnheiten nachgedacht haben.
Das Museum, wo auch Produkte verkauft werden knnen, ist durch seine
Filmvorfhrungen und Informationstafeln usw. ebenfalls ein Ort der Bildung.
Die Verkufer von Ardelaine haben alle gleichzeitig auch andere Aufgaben
(z. B. in der Herstellung und in der Verwaltung). Sie sind nicht extern, gehren
auch zum Unternehmen, was ihnen ermglicht, die Verbraucher wirklich ber
das Produkt der Region zu informieren.
Im brigen hat das Team durch seine Arbeit und Disziplin den einheimischen Bewohnern gezeigt, dass es mglich ist, qualitativ hochwertige Arbeit, die
allen zugute kommt, zu leisten. Das ruft natrlich Fragen und auch Neid hervor.
Aber insgesamt ist die einheimische Bevlkerung mit der Zeit sehr zufrieden mit
dem Projekt und manche nehmen daran teil.
Es werden jedoch keine Volksbildungsmanahmen anvisiert, weder in Bezug auf die Einheimischen, noch auf die Zchter, bei denen Ardelaine schert
(auch sie sind nicht die Verbraucher). Das resultiert aus der Entscheidung: Handeln statt Predigen. Wer mehr wissen und den Geist des Projekts teilen will,
kann jederzeit dazukommen und mitmachen.
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24
ner, alle Generationen, miteinander. Heute befindet sich das Projekt in einer ruhigeren Phase, aber das Projekt entwickelt sich mit seinem eigenen Tempo.
Vielleicht wird es in zwei Jahren ganz anders sein: man findet hier die Flexibilitt und Anpassungsfhigkeit von Ardelaine wieder.
Das Einben4
Dieser kollektive Geist beruht auch auf einer gemeinsamen Identitt. Jeder
bernimmt praktisch alle Aufgaben, zu irgendeinem Zeitpunkt, und jeder kennt
jeden im Team.
Frhliche Flexibilitt
Damit sich jeder glcklich und an seinem Platz fhlt, muss sich jeder die Geschichte und Lebensweise des Unternehmens zu eigen machen. Die Zwischenbilanzen machen mglich, dass man die Ttigkeiten von allen mehr oder weniger mitverfolgen kann. Am Ende einer Arbeitsphase (Verkaufstourne, Wsche,
Fertigstellung des Katalogs) prsentieren die jeweils Verantwortlichen fr diese
Ttigkeiten dem Rest des Teams ihre Arbeit in leichter und lustiger Form
(Theaterszenen, Fotos, usw.) Das verhindert Machtbernahmen und ermglicht,
dass Bemerkungen der einen oder anderen gehrt werden.
Die gemeinsame Geschichte untersttzen und nhren, ein
permanenter Vorgang
Im Zuge der Entwicklung, der Vergrerung des Unternehmens muss sichergestellt werden, dass alle die Geschichte des Unternehmens kennen lernen und sich
damit identifizieren. Der ursprngliche Kern des Teams ist noch da, aber wenn
jemand geht, wird er sein Knnen an andere weitergegeben haben. Dazu muss
man sich auf die Fragen: Warum funktioniert es und wie kann es weiter
funktionieren konzentrieren. Die bergabe luft ber den persnlichen Kontakt, ber das Verstehen seiner eigenen und der gemeinsamen Geschichte.
Das ist auch der Fall in Fontbarlettes, wo Fotos auf Stellwnden groe Momente des Vereins zeigen, auf denen die Leute sich als Teil des gemeinsamen
Projekts sehen knnen.
Eine Suche nach Kohrenz, fr sich und fr sein Umfeld
Um nicht vom Alltag berwltigt zu werden, um die Vernderungen der Zeit mit
groem konomischen Realismus wahrzunehmen, das Unternehmen zu entwickeln ohne es zu verflschen, muss man ber klare und przise Werte, die an
jedem Wendepunkt genauer definiert werden mssen, verfgen.
Zum Beispiel hat sich das Team gegen einen japanischen Auftrag, typisch
franzsische Bauernjacken aus Rohwolle herzustellen, entschieden. Dazu htte
man den Betrieb wesentlich vergrern mssen, also die erforderliche Qualitt
4
Le tuilage
25
der Wolle, die lokale Herkunft Massif Central die sorgfltige Schur, die heute noch von Ardelaine durchgefhrt wird, aufgeben mssen. Aus hnlichen
Grnden hat man bisher auch immer den Massenvertrieb abgelehnt.
In diesen entscheidenden Momenten ist es notwendig, dass alle zusammen
Bilanz ziehen, gemeinsam ber die Werte, die uns antreiben, sprechen und entsprechend eine Wahl treffen. Das verlangt Disziplin von allen, das Anhren von
abweichenden Meinungen.
Es stellt sich auch die Frage der Grenordnung. Das ist heute eine Kernfrage. Wie kann man das Wichtigste: das Menschliche, den Austausch, das Lernen,
die Bindungen und eine gemeinsame Geschichte im Mittelpunkt des Projekts
bewahren, wenn das Unternehmen sich vergrert? Heute ist die Rede von der
Schaffung neuer, zustzlicher Projekte, um das Unternehmen nicht vergrern
zu mssen.
Perspektive. Anpassungsfhigkeit
Die Krise des CPE (etwa: Ersteinstellungsvertrag) hat gezeigt, dass die alten Funktionsweisen nicht mehr akzeptiert werden.
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Meine Funktion besteht darin, ein etwas allgemeineres Bild zu geben, so etwas
wie einen Hut auf die vorangehende Prsentation von Ardelaine zu setzen. Ich
will versuchen, sie zu ergnzen und zu sehen, ob es ich wrde nicht sagen Regeln, aber gemeinsame Nenner, Methoden oder Systeme gibt, mit deren Hilfe
Projekte wie diese auch in anderen Lndern der Welt entwickelt werden knnen.
Zunchst ist zu sagen, dass Sie etwas ber eine sehr lokale Erfahrung erfahren haben; man hat den Eindruck, dass es sich um eine kleine Angelegenheit in
einem kleinen Dorf handelt. Das ist wirklich sehr hbsch, ganz wunderbar, vllig kohrent, aber die Frage ist: Gibt es solche Erfahrungen auch andernorts?
Kann man von einem Phnomen dieser Art sprechen? Ist in der Welt eine Entwicklung bei den Erfahrungen mit solchen Projekten zu beobachten?
Die von mir hier vertretene Organisation CECOP umfasst mehrere zehntausend solcher Unternehmen, die im Prinzip alle demselben Modell folgen, das
Beatrice erklrt hat; es handelt sich um Arbeitergenossenschaften, in denen die
Arbeiter Mitglieder sind und die Mitglieder Arbeiter, wo die meisten Arbeiter
Mitglieder sind und deshalb ein hoher Grad von Partizipation am Entscheidungsprozess besteht etc.. Nicht alle diese Unternehmen haben dasselbe Kohrenzniveau bezglich der lokalen Entwicklung, nicht alle sind lokale Entwicklungsgenossenschaften, aber die meisten von ihnen haben Auswirkungen auf die
lokale Entwicklung.
Wir sprechen von 65.000 Unternehmen in Europa und wenn wir andere
Weltregionen einbeziehen, sind es sogar noch mehr; wenn wir allgemein ber
Unternehmen der sozialen und solidarischen konomie sprechen, erhalten wir
einen noch hheren Anteil an der Gesamtwirtschaft.
Wir knnen davon ausgehen, dass in Europa etwa 10% der Wirtschaft und
Beschftigung mit diesem Typ von konomie zu tun haben; es handelt sich um
einen endogenen, nicht finanziellen Teil der Wirtschaft und vermutlich ist die
globale Bedeutung dieses Teils der konomie noch grer, allerdings liegen
dazu keine Daten vor. Wrde diese konomie nicht existieren, gbe es sofort
eine Krise.
1
Generalsekretr von CECOP, European Confederation of worker and social cooperatives (Europischer Verband von Arbeiter- und Sozialgenossenschaften).
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Bruno Roelants
29
Wie ich bereits am Anfang gesagt habe, waren nicht alle von Ardelaine
berzeugt; nicht alle haben dasselbe Bewusstsein fr lokale Entwicklung, u.a.
auch deshalb, weil nicht alle wie Ardelaine begonnen haben.
Aufgrund weltweiter Erfahrung knnen wir Folgendes festhalten: Wo immer
wir ein Stck der Wirtschaft nehmen, knnen wir wie im Tal der Ardche
fr lokale Entwicklung ttig sein. Wenn wir es anders machen wollen als Ardelaine, dann machen wir es eben anders. Vielleicht sind auch die Bedingungen
nicht dieselben:
In Schweden gibt es Krippen und Kindergrten, die nach demselben Modell
funktionieren; wir haben Genossenschaften mit behinderten Menschen, die
Buchhaltungsdienste fr eine Gemeinde in Norditalien und andere, die grtnerische Dienstleistungen fr eine Gemeinde erbringen. In den USA habe ich eine
Genossenschaft gesehen, die in einem Dorf Solaranlagen installierte. In Rajasthan in Indien habe ich Weber besucht, die Genossenschaften angehrten, die
ausgestorben gewesen waren und wiederbelebt wurden; diese Menschen hatten
zuvor in den stdtischen Slums gelebt und konnten in ihre Drfer zurckkehren,
weil sie die Gelegenheit erhielten, in Konsortien von Webergenossenschaften zu
arbeiten.
In Argentinien gibt es den Fall eines Unternehmens, das Traktoren herstellt;
es war das einzige mit argentinischem Kapital und wurde von den Arbeitern
bernommen. Es stellt direkt oder indirekt 40% der Arbeitspltze der Kleinstadt,
in der es angesiedelt ist. Sie knnen sich vorstellen, dass die Schlieung dieses
Unternehmens den Tod der kleinen Stadt bedeuten wrde.
Natrlich ist dieses Projekt nicht wie Ardelaine, aber es geht darum, das
Mgliche zu tun, Arbeitspltze zu retten und zu versuchen, auf dieser Basis etwas zu machen und von da aus eine Entwicklung in Gang zu bringen. Wir knnten auch das Beispiel von Krankenhusern in Costa Rica anfhren, die ebenfalls
genossenschaftlich organisiert sind. Durch sie ist eine neue Art von Beziehung
zur Bevlkerung im Bereich der ffentlichen Gesundheitsversorgung entstanden. Ich knnte viele solcher Beispiele aufzhlen und in allen Fllen wird versucht, gemeinsame Systeme aufzubauen, etwas Kohrentes zu schaffen, das ber
das Unternehmen als solches hinausgeht. So wird ein Netzwerk aufgebaut. Ich
mchte betonen, dass das eine lange Zeit in Anspruch nimmt; Sie haben ja gehrt, dass es bei Ardelaine 35 Jahre gedauert hat.
Es handelt sich nicht nur um eine Mesokonomie, sondern um eine konomie, die ber lange Zeit besteht und vor allem darauf basiert, nachhaltige Arbeitspltze zu schaffen und zu sichern. Es erfordert natrlich von den ArbeiterUnternehmern eine langfristige Vision, um ein Unternehmen fr viele Jahrzehnte aufzubauen, das eine neue Art von Unternehmensstrategie verfolgt.
Es handelt sich um ein anderes Konzept von konomie. Manchmal bestehen
diese Unternehmen Jahrhunderte; ich mache keinen Witz, in Italien gibt es genossenschaftlich organisierte Unternehmen, die ihren hundertsten Geburtstag
30
Bruno Roelants
gefeiert haben, und in Bulgarien hat krzlich eine Genossenschaft ihr hundertzehnjhriges Bestehen gefeiert.
Ich spreche von sehr langfristigen Erfahrungen mit einer sehr langsamen
Entwicklung: Lokale Entwicklung geht langsam vonstatten und wir mssen von
einem viel langsameren Konzept ausgehen als bei den Konzepten ber soziale
Einbeziehung und die Schaffung von Arbeitspltzen, die derzeit vorherrschen.
Es handelt sich um viel lngere Zeitrume als diejenigen, mit denen Regierungen und Consultants, die ber Unternehmensgrndungen sprechen, umzugehen
gewohnt sind.
Wie gesagt, errichten wir ein nachhaltiges System nachhaltiger Arbeitspltze, das auf regionale Entwicklung ausgerichtet ist; fr andere Personen, die eine
Region entwickeln wollen, ist es wichtig, das zu verstehen. Wenn man etwas
Derartiges anfngt, muss man sich von Anfang an darber im Klaren sein, dass
diese Arbeit eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Davon darf man
sich nicht entmutigen lassen und in greren Netzwerken arbeiten, denen Institutionen angehren wie beispielsweise die Kammern fr soziale konomie in
Frankreich, Strukturen die ffentlich oder privat sein knnen oder eine Mischung aus privat und ffentlich, oder wie ein Genossenschaftszentrum in
Schottland, oder die 25 in Schweden existierenden Zentren zur Frderung von
lokaler Entwicklung und von Genossenschaften. Aber das ist kein Rezept und es
geht auch nicht darum, einfach Frderinstitutionen zu schaffen.
Natrlich braucht man als erstes die Menschen. Der Prsident meiner eigenen Organisation pflegt zu sagen: "Im Endeffekt gibt es keine Genossenschaften, sondern nur Genossenschafter". Deshalb ist es notwendig einen harten Kern
von ganz hartnckigen Leuten zu haben, die wissen, was sie wollen, und die bis
zum Schluss hartnckig bleiben. In einer ganz anderen Erfahrung, in Mondragon, waren es fnf hartnckige Menschen, nur fnf Menschen, und Mondragon
ist heute weltweit bekannt.
Ich glaube nicht, dass die Mitglieder von Ardelaine sich vorstellen konnten,
dass sie 35 Jahre spter so berhmt sein wrden, denn sie sind wirklich in allen
Netzwerken sehr bekannt. Ardelaine ist in vielen Lndern sehr bekannt geworden. Zum Schluss mchte ich noch betonen, dass es wichtig ist, die historische
Tradition neu zu bewerten: Die Tatsache, dass man ber die Zukunft mit einer
sehr langfristigen Perspektive nachdenken muss, bedeutet auch, dass das Genossenschaftssystem und die soziale und solidarische konomie nicht neu sind. Wir
vergessen, dass es schon viele vor uns gegeben hat und dass es eine reiche Tradition gibt, die wir uns zunutze machen knnen. In Frankreich wurde die erste
Arbeitergenossenschaft 1831 in Paris gegrndet, frher als andere, von denen
wir wissen. In Deutschland gibt es viele interessante Traditionen, die auf das 19.
Jahrhundert zurckgehen, beispielweise das ursprngliche Raiffeisensystem
oder das System von Schultze-Delitsch zur Dorfentwicklung. in diesem Land
gibt es eine unglaublich reiche Tradition, die aufgenommen werden sollte, um
vorwrtszukommen. Ein Teil der Modernisierung Deutschlands und vor allem
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der lndlichen Gegenden war die Folge der Arbeit dieser Pioniere und der Menschen, die ihnen folgten.
Seien Sie nicht pessimistisch oder fatalistisch. Es ist sehr wichtig zu denken,
"das ist mglich".
Frage von Clarita Mller-Plantenberg:
Ich denke, es sollte erwhnt werden, dass Genossenschaften "Erzieher" sind.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Ein weiteres Thema ist, dass Grokapital den
Menschen Dinge wegnimmt wie beispielsweise ein groes Energieprojekt in
Nordhessen, das den Bauern ihren Wohlstand weggenommen hat. Solidarische
konomie muss also propositiv sein, um ein Bezugsystem zu bieten, und das ist
etwas, was in Deutschland fehlt.
Antwort:
Claritas Idee ist sehr interessant. Der Vorschlag sollte Anregungen beinhalten,
wie man ein Unternehmen grndet, wie man dabei konkret vorgeht, nicht nur
eine Reflexion bezglich der unternehmerischen Ebene. Das ist schwierig, aber
es sollte getan werden.
Die Frage von Bildung und Unternehmen in Arbeiterhand ist sehr wichtig:
Ich habe sie nicht erwhnt, aber Sie knnten sie so verstehen: Eine Arbeitergenossenschaft ist eine Schule und hat Auswirkungen auf die gesamte Art, wie
Menschen produzieren. Wenn die Beteiligten Arbeitermitglieder sind, tendieren
sie dazu, anders zu produzieren, weil sie verschiedene Aufgaben im Unternehmen kennenlernen wollen; sie sind bereit, Risiken einzugehen und haben im Unternehmen eine strkere horizontale Mobilitt: Einfache Arbeiter erhalten Gelegenheit, verschiedene Dinge zu tun und erlangen die Erfahrung eines "Unternehmers", was unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung Bildung bedeutet.
Frage:
Meines Erachtens ist Ihre Schtzung, dass die soziale konomie 10% der Gesamtwirtschaft ausmacht, viel zu hoch. In Deutschland stellt sie hchstens 2%
der Arbeitspltze und ihr Anteil am Umsatz ist noch geringer. Die globalisierte
Wirtschaft zieht Geld aus dem System, man denke nur daran, was mit Nokia
passiert. Es ist eine unausgewogene konomie.
Antwort:
Was Ihre Frage angeht, so stellt die soziale konomie tatschlich zwischen 7%
und 12% des BIP. Knnen wir eine echte globale Alternative zu einer konomie
sein wie Sie sagen?
Wie Sie wissen, wurden Berechnungen angestellt, denen zufolge die 300
grten Genossenschaften und Vereine auf Gegenseitigkeit fast die Gre des
32
Bruno Roelants
kanadischen BIP haben. Wenn man dies auf Weltebene hochrechnet, so handelt
es sich um einen betrchtlichen Anteil an der Weltwirtschaft. Andererseits ist
diese konomie weitaus schwcher als die andere. Natrlich haben wir einen
langen Weg vor uns, damit wir als System kooperieren knnen. Davon sind wir
noch weit entfernt und es ist ein langer Weg bis beispielsweise die Banken Projekte produktiver Unternehmen der sozialen konomie besser frdern werden.
Auch bei der Frage besserer Nord-Sd-Beziehungen wie knnen Konsumgenossenschaften nicht nur im Bereich des fairen Handels aktiv sein, sondern
auch die Produkte des genossenschaftlichen Systems aufnehmen? Da befinden
wir uns noch in der Prhistorie des Systems. Es gibt einige zaghafte Erfahrungen
auf diesem Gebiet, aber es gibt ein riesiges Potenzial und die Tatsache, dass die
Akteure sich treffen, sich kennenlernen und darber reden, ist zumindest ein
Zeichen fr eine Art von politischem Willen. Auch hier sprechen wir von einer
langfristigen Perspektive, nicht von fnf, nicht einmal von fnfzehn Jahren.
Frage:
Unternehmen, die nach ihrer Rechtsform Genossenschaften sind, sind nicht
notwendig echte Genossenschaften. Die reale Solidaritt hngt nicht von der
Rechtsform eines Unternehmens ab.
Antwort:
Es gibt Lnder, in denen diese verschiedenen Genossenschaftstypen selbst solche, die vielleicht nicht als vollstndige Genossenschaften bezeichnet werden
knnen, zumindest nach unseren Standards auf nationaler Ebene besser in gemeinsamen Systemen integriert sind und denen es gelingt, hinsichtlich der genossenschaftlichen Entwicklung mehr zu tun, indem sie neue Genossenschaftstypen frdern, einschlielich solcher, die sich um lokale Entwicklung kmmern,
wie dies bei Ardelaine der Fall ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Akteure im Wesentlichen dieselben Standards vertreten. Ob sie sie vollstndig in die
Praxis umsetzen oder die Hlfte von ihnen anwenden, ist eine andere Frage, aber
keine von ihnen nicht einmal Raiffeisen auf der Hhe ihrer konomischen
Macht - kann sagen, dass sie diese Standards nicht teilt. Diese Art der Integration auf nationaler Ebene bietet die Mglichkeit gemeinsamer Projekte, selbst fr
Menschen, die Kilometer voneinander entfernt leben. Ein Beispiel dafr sind die
verschiedenen Genossenschaftssektoren in Italien: Trotz ihrer Differenzen
schaffen sie es, sich zu treffen und an einem Tisch miteinander zu reden und
gemeinsame Systeme zu grnden. 3% des berschusses aller italienischen Genossenschaften flieen in einen gemeinsamen Fonds; diese Mittel stammen
vorwiegend von Konsum- und Bankgenossenschaften und kommen in erster Linie Arbeiter- und sozialen Genossenschaften zugute.
Es gibt eine gemeinsame Philosophie oder ein gemeinsames Wissen; selbst
wenn wir politische Differenzen haben, teilen wir doch dieses kleine Etwas von
33
Wertprinzipien. Lasst uns also das zusammenbringen und sehen, was wir gemeinsam tun knnen.
Schlussbemerkungen
Claudia Snchez Bajo
Es ist ganz wundervoll, wie es den Grndern von Ardelaine ausgehend von einem so einfachen Produkt wie Wolle gelingt, die frhe Periode der Industrialisierung und Globalisierung des Wollsektors mit seinen Konsequenzen fr Europa zu durchdenken, zu analysieren und zu erklren und schlielich zu erkennen,
wie man die Wollproduktions- und Distributionskette als Genossenschaft in einem kleinen Dorf in Frankreich wieder aufbauen kann. Sie haben erkannt, dass
die einzige Mglichkeit darin besteht, den Wert der gesamten Kette wieder herzustellen und nicht nur der Genossenschaft selbst als einem Abschnitt der Verarbeitung des Rohmaterials.
Bruno Roelants baute auf dieser Denkweise auf, als er ber die verschiedenen Entwicklungssysteme durch Genossenschaften im Rahmen einer solidarischen konomie sprach. Dabei mchte ich den Gedanken unterstreichen, dass
solche Initiativen nicht nur als Motor regionaler konomie dienen, sondern auch
als Motor, um eine deindustrialisierte und entvlkerte Region neu zu beleben.
Die Beitrge machen deutlich, dass ein gewisser Prozess zu beobachten ist,
ein langsamer, nachhaltiger Prozess, der einer sich ausbreitenden Welle gleicht,
die lokalen Wohlstand schafft, der gleichmiger verteilt und gleichmiger in
die Gemeinschaft eingebunden ist.
Zunchst entsteht ein Deliberations- und Dialogprozess, oft in Zusammenhang mit Erfahrungen im Bildungsbereich, bis sich dann eine kleine Gruppe definitiv in einem gemeinsamen Projekt engagiert. Ich wrde das die Bildungsphase nennen. Zweitens wird ein genossenschaftliches Unternehmen aufgebaut und
damit ergeben sich konkrete wirtschaftliche Erfahrungen: die konomische Phase. An dritter Stelle steht der graduelle Einsatz fr lokale soziale Bedrfnisse mit
neuen Projekten, die bei Bedarf andere Formen annehmen knnen, beispielsweise Vereine, Gemeinwesenarbeit, Einsatz fr andere, damit sie Zugang zu angemessenen Lebensbedingungen oder Menschenrechten erhalten. Und schlielich
bleiben die Projekte nicht isoliert, im Gegenteil, sie sind in zahlreichen Netzwerken und Organisationen aktiv und auf der Grundlage der stndigen Reflexion
ber Vernderungen analysieren sie Lsungen und schlagen neue Lsungen vor.
Weiterhin ist zu beobachten, dass auch dann, wenn die erste Idee vage ist,
immer deutlich ist, welches Problem angegangen werden muss. Und Lsungen
scheinen nur durch gemeinsames Handeln und eine starke Beteiligung unter
gleichen Bedingungen realisierbar zu sein; gleichzeitig mssen diese Lsungen
angemessen und innovativ sein. Sie mssen imstande sein, bestehende Teufels-
36
kreise zu durchbrechen. Wenn die Lsungen sich als durchfhrbar erwiesen haben, knnen sich gegebenenfalls die aktiven Mitglieder der Rechtssphre zuwenden, um den neuen Formen des Wirtschaftens einen formalen Rahmen zu
geben.
Es besteht die Notwendigkeit zu weiteren Studien und Forschungen ber Initiativen wie Ardelaine, um ihre Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf die regionale Wirtschaft auszuwerten.
Autoren
Batrice Barras
Sprachtherapeutin, Genossenschaftsmitglied der Arbeitergenossenschaft SCOP,
grndete vor ca. 30 Jahren die Kooperative Ardelaine in der Ardche/Frankreich. 2003 verffentlichte sie das Buch Moutons rebelles, Ardelaine, la fibre
dveloppement local.
Grard Barras
Architekt, Mitgrnder von Ardelaine. Mitglied des RECIT (Netz von Brgerschulen) und der SCOP (Societ Cooprative Ouvrire de Production).
Bruno Roelants
Master in Entwicklung und Generalsekretr von CECOP (Zusammenschluss
europischer Genossenschaften) und CICOPA (Internationale Organisation von
Produktivgenossenschaften, Industrie, Handwerk und Dienstleistungen, eine
spezialisierte Organisation der Internationales Genossenschafts-Allianz), Brssel
<www.cecop.coop> <www.cicopa.coop>
Claudia Snchez Bajo
Expertin des konomischen und Sozialen Komitees der Europischen Kommission.
Gastprofessur im Wintersemester 2007/2008 im Fachgebiet Soziologie der
Entwicklungslnder an der Universitt Kassel.
LADOK Entwicklungsperspektiven
Verzeichnis der lieferbaren Schriften
50
51/52
Alberto Chirif T., Pedro Garca, Richard Chase Smith (Hrsg.): Der
Indianer und sein Territorium. 1994, 230 S., 13,30
53
54
55
Ute Wilke: Indianische Vlker Boliviens und "Entwicklung" Kritische Betrachtung des Weltbankprogrammes "Tierras Bajas del Este"
und Auswirkungen auf die Ayoro-Indianer. 1994, 144 S., 8,20
56
57
58
59/60
61
62
63
Isabel Guillen Pinto: Die Aluminiumproduktion in Venezuela. Externalisierte Kosten zu Lasten von Gesellschaft und Natur. 1998, 116
S., 7,20
64
65
66/67
68
Kashyapa A.S. Yapa: Prhispanische Ingenieurtechnik in Lateinamerika und ihre Bedeutung fr die Gegenwart. 2000, 73 S., 6,10
69/70
71/72
Dieter Gawora: Urucu. Soziale, kologische und konomische Auswirkungen des Erdl- und Erdgasprojektes Urucu im Bundesstaat
Amazonas (Brasilien). 2001, 314 S., 14,30
73/74
75
Marcelo Sampaio Carneiro: Buerliche Landwirtschaft und Groprojekte. Die 90er Jahre im Bundesstaat Maranho (Brasilien). 2002, 32
S., 5,00.
76
77/78
79
DAAD: Universities and Rio + 10 Paths of sustainability in the regions Eva Becker: Umwelt und Konsum. Einstellung und Verhalten
der Deutschen zur Umwelt. 1998, 143 S., 9,20
80
H. Feldt, D. Gawora, A. Nufer u.a.: Ein anderes Amazonien ist mglich. Trume, Visionen und Perspektiven aus Amazonien, Zusammengetragen zum 60. Geburtstag von Clarita Mller-Plantenberg.
Kassel 2003, 176 S., 11,00
81/82
83/84
85/86
Clarita Mller-Plantenberg: Solidarische konomie in Europa Betriebe und regionale Entwicklung. Internationale Sommerschule Imshausen. Kassel 2007, 296 S., 15,00
87
Viviana Uriona: Solidarische konomie in Argentinien nach der Krise von 2001. Strategische Debatten und praktische Erfahrungen.
Kassel 2007, 104 S., 10,00
88
Frank Muster: Rotschlamm. Reststoff aus der Aluminiumoxidproduktion kologischer Rucksack oder Input fr Produktionsprozesse? Kassel 2008, 136 S., 10,00
89/90
91/92
Clarita Mller-Plantenberg, Joachim Perels: Kritik eines technokratischen Europa - Der Politische Widerstand und die Konzeption einer
europischen Verfassung. Kassel 2008, 262 S., 13,00
93
94
Clarita Mller-Plantenberg, Alexandra Stenzel: Atlas der Solidarischen konomie in Nordhessen. Strategie fr eine nachhaltige Zukunft. Kassel 2008. 127 S., 19,00.
95
96
Heidi Feldt. Konfliktregelung in der Erdlindustrie im ecuadorianischen Amazonasgebiet und venezolanischen Orinokobecken. Kassel
2008. 12,00.
SONDERDRUCKE:
Clarita MLLER-PLANTENBERG (Hrsg.): Indianergebiete und Groprojekte in Brasilien. Kassel 1988, 527 S., fr Institute 30,70, fr
Einzelpersonen 25,60
Projektgruppe "kologie und Entwicklung" der GhK (Hrsg.): Amazonien
eine indianische Kulturlandschaft, 1988, 5,10
Bezugsadresse:
Universitt Kassel
FB 5, Lateinamerika-Dokumentationsstelle
34109 Kassel
Tel.: 0561/804-3152
Fax: 0561/804-3464
Email: [email protected]