„Aufstand vom 17. Juni 1953“ – Versionsunterschied

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Als '''Aufstand vom 17. Juni 1953''' (auch ''Volks-'' oder ''Arbeiteraufstand'') werden die Vorkommnisse in der [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]] bezeichnet, in deren Verlauf es in den Tagen um den 17. Juni 1953 zu einer Welle von Streiks, Massen-Demonstrationen und politischen Protesten kam. Ausgelöst durch verschiedene Ursachen, vornehmlich der für viele Bürger zum Teil brutal und rücksichtlosrücksichtslos geführte [[Aufbau des Sozialismus]] sowie repressive Maßnahmen des SED-Regimes, erstreckte sich der anti[[Stalinismus|stalinistische]] [[Aufstand]]<ref>{{Internetquelle|url=http://www.rbb-online.de/imparlament/berlin/abgeordnetenhaus_berlin.media.!etc!medialib!rbb!rbb!imparlament!berlin!archiv_2010!17_juni_2010!rede_des_praesidenten.html|titel=Rede des Parlamentspräsidenten|hrsg=RBB|werk=Im Parlament|datum=2010-06-17|archiv-url=https://archive.is/20130211163627/http://www.rbb-online.de/imparlament/berlin/abgeordnetenhaus_berlin.media.!etc!medialib!rbb!rbb!imparlament!berlin!archiv_2010!17_juni_2010!rede_des_praesidenten.html|archiv-datum=2013-02-11|zugriffabruf=2012-06-19}}</ref><ref>{{Internetquelle|autor=Michael Lemke|titel=Der 17. Juni 1953 in der DDR-Geschichte|hrsg=[[Bundeszentrale für politische Bildung|BpB]]|werk=Aus Politik und Zeitgeschichte|url=http://www.bpb.de/publikationen/EBZ2NO,1,0,Der_17_Juni_1953_in_der_DDRGeschichte.html|datum=2003-06-02|zugriffabruf=2012-06-19}}</ref> über weite Teile des noch jungen Staates. In einem Flächenbrand<ref name=":5" /> wurden politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Forderungen gestellt, darunter ''Rücktritt der Regierung'', ''Freie Wahlen'' und ''Freilassung aller politischen Gefangenen''.<ref name=":7">{{Internetquelle |autor=Bundeszentrale für politische Bildung |url=https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/der-aufstand-des-17-juni-1953/152602/der-17-juni-im-land/ |titel=Aufstand des 17. Juni 1953 |abruf=2022-06-22}}</ref><ref name=":8">{{Internetquelle |autor=Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland |url=https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-gruenderjahre/weg-nach-osten/17-juni-1953-volksaufstand.html |titel=17. Juni 1953 – Volksaufstand |werk=hdg.de |hrsg=Lebendiges Museum Online – lemo |abruf=2022-06-22}}</ref>
 
Insgesamt beteiligten sich mehr als eine Million Menschen an dem Aufstand, der für den Historiker [[Hubertus Knabe]] „in die Reihe der großen revolutionären Erhebungen in Deutschland“ gehört.<ref>{{Internetquelle |autor=Nathalie Wohlleben |url=https://www.pw-portal.de/rezension/19350-17-juni-1953_22490 |titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |werk=https://www.pw-portal.de/rezension/19350-17-juni-1953_22490 |hrsg=Portal für Politikwissenschaft |datum=2006-01-01 |abruf=2022-06-17 |offline=ja }}</ref> In über 700 Städten der DDR kam es zu Streiks, Demonstrationen und zum Teil blutigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften.<ref name=":7" /> An seinem Höhepunkt am 17. Juni wurden alle Großstädte, die meisten Bezirkshauptstädte und weite Teile der kleineren Städte und Ortschaften erfasst. In [[Ost-Berlin]], [[Merseburg]] und [[Halle (Saale)]] fanden die zahlenmäßig größten Proteste und Unruhen statt.<ref name=":9">{{Literatur |Autor=Hubertus Knabe |Titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |Verlag=Propyläen |Ort=München |Datum=2003 |ISBN=3-549-07182-5 |Seiten=209&nbsp;f}}</ref> Im [[Bezirk Halle]] und den Industriestädten um [[Leuna]] und [[Wolfen]] streikten und demonstrierten mehr als 100.000 Menschen.<ref name=":9" /> Die Demonstranten kamen aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen. Teilweise wirkten die Menschen „beschwingt, als gingen sie auf ein Freudenfest“.<ref>{{Literatur |Autor=Guido Knopp |Titel=Der Aufstand 17. Juni 1953 |Verlag=Hoffmann und Campe |Ort=Hamburg |Datum=2003 |ISBN=3-455-09389-2 |Seiten=181&nbsp;ff}}</ref> In den Bezirken Halle, [[Bezirk Dresden|Dresden]] und [[Bezirk Magdeburg|Magdeburg]] erfolgten große, erfolgreiche Gefangenenbefreiungen aus DDR-Gefängnissen.<ref>{{Literatur |Autor=Guido Knopp |Titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |Verlag=Propyläen |Ort=München |Datum=2003 |ISBN=3-549-07182-5 |Seiten=189ff}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Udo Grashoff |Titel=Der 17. Juni 1953 in Halle (S) – Ein Tag der Zivilcourage |Hrsg=Verein für Zeitgeschichte e.&#8239;V. |Ort=Halle (Saale) |ISBN=3-00-008160-7}}</ref>
 
Die [[Sowjetische Kontrollkommission#Hohe Kommission der Sowjetunion in Deutschland|sowjetische Besatzungsmacht]] beendete den Aufstand gewaltsam durch Truppen der [[Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland|Sowjetarmee]] unter Beteiligung von Polizeikräften des DDR-Regimes.<ref name=":8" /> Die Niederschlagung war „einer der größten Militäreinsätze in der europäischen Nachkriegsgeschichte“.<ref name=":4" /> Über 50 Aufständische wurden von sowjetischen Soldaten bzw. den DDR-Sicherheitsorganen getötet oder von der sowjetischen bzw. der DDR-Justiz zum Tode verurteilt. Außerdem wurden mindestens fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane getötet.<ref name=":6">{{Internetquelle |autor=Edda Ahrberg, Tobias Hollitzer, Hans-Hermann Hertle |url=https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/der-aufstand-des-17-juni-1953/152604/die-toten-des-volksaufstandes-vom-17-juni-1953/ |titel=Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 |hrsg=Bundeszentrale für politische Bildung |datum=2013-05-17 |abruf=2022-06-22}}</ref> Das SED-Regime inhaftierte in der Folge mehr als 15.000 Bürger<ref name=":8" /><ref>{{Internetquelle |autor=Westdeutscher Rundfunk |url=https://www1.wdr.de/kultur/kulturnachrichten/gedenken-volksaufstand-17-juni-100.html |titel=Gedenken an 17. Juni 1953 |abruf=2022-06-22}}</ref> und verurteilte Tausende von unschuldigen DDR-Bürgern zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen.<ref>{{Literatur |Autor=Hubertus Knabe |Titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |Verlag=Propyläen |Ort=München |Datum=2003 |ISBN=3-549-07182-5 |Seiten=367ff}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Guido Knopp |Titel=Der Aufstand 17. Juni 1953 |Verlag=Hoffmann und Campe |Ort=Hamburg |Datum=2003 |ISBN=3-455-09389-2 |Seiten=253ff}}</ref> Als Reaktion auf den Aufstand erfolgte zudem der massive Aufbau der [[Ministerium für Staatssicherheit|DDR-Staatssicherheit]].<ref>{{Literatur |Autor=Guido Knopp |Titel=Der Aufstand 17. Juni 1945 |Verlag=Hoffmann und Campe |Ort=Hamburg |Datum=2003 |ISBN=3-455-09389-2 |Seiten=271&nbsp;ff}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Hubertus Knabe |Titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |Verlag=Propyläen |Ort=München |Datum=2003 |ISBN=3-549-07182-5 |Seiten=435&nbsp;f}}</ref>
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Im Zusammenhang mit der beschriebenen Wirtschaftspolitik stand auch die fast vollständige Beseitigung privater Urlaubsorganisation bzw. privater Ferienvermietung zugunsten des Feriendienstes des [[Freier Deutscher Gewerkschaftsbund|FDGB]] (Februar 1953: „[[Aktion Rose]]“).
 
Im Frühjahr 1953 war die Existenz der jungen DDR in der Tat durch eine ernste Ernährungskrise bedroht.<ref>„Noch gravierender als der Mangel an industriell hergestellten Verbrauchsgütern wirkte sich die Missernte des Jahres 1952 aus. Sie war eine Folge schlechter Witterungsbedingungen, aber auch der aus ideologischen Gründen betriebenen Sozialisierungskampagne in der Landwirtschaft, die viele Bauern zur Flucht veranlaßt hatte. Zusätzlich verschärft wurde das Defizit an Lebensmitteln für die Bevölkerung noch durch die Anlage größerer Staatsreserven und die steigenden Anforderungen des Militärs. Jedenfalls brach 1953 in der DDR eine Ernährungskrise aus, die mit den Zuständen in der frühen Nachkriegszeit vergleichbar war.“ Christoph Buchheim: ''Wirtschaftliche Hintergründe des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR'', München, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1990 Heft 3, S.&nbsp;415–433, hier S.&nbsp;428.</ref> [[Enteignung]]en und die [[Bodenreform in Deutschland#Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone ab 1945(SBZ)|Bodenreform]] hatten bereits Mitteab der 1940er Jahre1945 zum Verlassen von Höfen geführt. Die Parzellierung nach der Bodenreform und vor allem der Mangel an landwirtschaftlichen Geräten vieler Neubauern machten ein wirtschaftliches Arbeiten kaum möglich. Die Kollektivierungspolitik der SED Anfang der 1950er Jahre sollte zu einer effizienteren Bewirtschaftung und steigenden Erträgen führen. Das eigentliche Ziel der Kollektivierung war aber die Auflösung des selbstständigen Bauernstandes und hier besonders die Zerschlagung der rentableren Großbetriebe.<ref>Armin Mitter: ''Die Bauern und der Sozialismus'', in: ''Der Tag X, 17. Juni 1953: die „innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952–1954'', Ch. Links Verlag, 1996, ISBN 978-3-86153-083-1, S.&nbsp;75&nbsp;ff., hier S.&nbsp;80–82.</ref> Die Abgabenerhöhungen für Bauern und ihr Ausschluss – sowie der von Handwerkern, Selbständigen und Einzelhändlern – vom [[Lebensmittelmarke|Bezugsscheinsystem]] für Lebensmittel, Bekleidung und [[Hausbrand (Brennstoff)|Hausbrand]] sorgte für weiteren Unmut. Im Herbst 1952 wurden zudem sehr unterdurchschnittliche Ernten eingefahren. Den DDR-Bürgern stand nur die halbe Menge an Fleisch und Fett der Vorkriegszeit zur Verfügung. Selbst Gemüse und Obst wurden nicht ausreichend produziert. Vor den Geschäften entstanden lange Schlangen. In den Geschäften der staatlichen [[Handelsorganisation]] (HO), in denen ohne Bezugsschein eingekauft werden konnte, lagen die Preise deutlich über dem Niveau der Bundesrepublik, so kostete beispielsweise eine Tafel Schokolade im Westen 50&nbsp;[[Pfennig]], im Osten acht Mark. Das Wohlstandsgefälle zu Westdeutschland vergrößerte sich durch die [[Zentralverwaltungswirtschaft#Kritik|Mängel der Zentralverwaltungswirtschaft]]. Da die DDR die Hilfe des [[Marshallplan]]s nicht hatte annehmen dürfen sowie höhere Reparationen leisten musste, befand sie sich in einer wirtschaftlich schlechteren Ausgangsposition. Auch die Unterstützung der Sowjetunion zur Stabilisierung der DDR reichte nicht aus, die Folgen von Reparationen und Planwirtschaft zu kompensieren.
 
Das dramatische Anwachsen der ohnehin seit DDR-Staatsgründung konstant großen Abwanderungsbewegung („[[Abstimmung mit den Füßen]]“) im ersten Halbjahr 1953 stellte ein ökonomisches wie auch ein soziales Problem dar. Ein weiterer Faktor, der zu einer Belastung der politischen Lage führte, war die hohe Zahl von Strafgefangenen in der DDR: Bereits im Frühjahr waren die Gefängnisse der DDR gefüllt mit zu Unrecht inhaftierten Häftlingen.<ref>{{Literatur |Autor=Guido Knopp |Titel=Der Aufstand 17. Juni 1953 |Verlag=Hoffmann und Campe |Ort=Hamburg |Datum=2003 |ISBN=3-455-09389-2 |Seiten=47&nbsp;ff}}</ref> Dies ist der Grund, dass zahlreiche Haftanstalten in der DDR am 17.&nbsp;Juni von Demonstranten belagert wurden.<ref>{{Literatur |Autor=Hubertus Knabe |Titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |Verlag=Propyläen |Ort=München |Datum=2003 |ISBN=3-549-07182-5 |Seiten=46&nbsp;ff}}</ref>
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Am Dienstag, dem 16. Juni, kam es an zwei Berliner Großbaustellen, dem Block 40 in der ''[[Karl-Marx-Allee|Stalinallee]]'' und dem Krankenhausneubau in [[Berlin-Friedrichshain|Friedrichshain]], zu den ersten Arbeitsniederlegungen, die in den Vortagen informell abgesprochen worden waren. Von beiden Baustellen aus formierte sich ein zunächst kleiner Protestzug, der sich auf dem Weg zum ''Haus der Gewerkschaften'' des [[Freier Deutscher Gewerkschaftsbund|Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes]] (FDGB) und weiter zum Regierungssitz in der [[Leipziger Straße (Berlin)|Leipziger Straße]] schnell&nbsp;– vor allem um weitere Bauarbeiter&nbsp;– vergrößerte.
 
Nachdem die Gewerkschaftsführer sich geweigert hatten, die Arbeiter anzuhören, wurde dem Demonstrationszug vor dem Regierungsgebäude die vom Politbüro am Mittag beschlossene Rücknahme der Normenerhöhung mitgeteilt. Inzwischen bewegten sich die Forderungen der Menge allerdings über diesen konkreten Anlass zum Protest weit hinaus.<ref>{{Internetquelle|autor=Ray Furlong |url=http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/europe/2997736.stm|sprache=en|titel=Berliner recalls East German uprising|werk=BBC NEWS|datum=2003-06-17|zugriffabruf=2008-11-12}}</ref>
 
In einer zunehmenden Politisierung der Losungen wurden unter anderem der Rücktritt der Regierung und [[freie Wahl]]en gefordert. Anschließend zog die Menge in einem ständig anwachsenden Demonstrationszug durch die Innenstadt zurück zu den Baustellen der Stalinallee, wobei unterwegs durch Sprechchöre und über einen erbeuteten Lautsprecherwagen der Generalstreik ausgerufen und die Bevölkerung für den folgenden Tag um 7&nbsp;Uhr am [[Strausberger Platz]] zu einer Protestversammlung aufgerufen wurde.<ref>Peter Bruhn: {{Webarchiv|text=''Der 16. Juni 1953 bleibt mir unvergeßlich'' |url=http://www.ib.hu-berlin.de/~pbruhn/juniaugb.htm |webciteID=6FcerDPyL }} (Augenzeugenbericht)</ref>
 
Bereits am Abend des 15. Juni hatte der [[RIAS]] detailliert über Streiks in der Ost-Berliner Stalinallee berichtet. Seit dem Mittag des 16.&nbsp;Juni berichtete er ausführlich über die Streiks und Proteste. Vertreter der Streikbewegung gingen zum Sender und sprachen direkt mit dem damaligen Chefredakteur [[Egon Bahr]], um den Generalstreik über das Radio auszurufen.<ref>{{Webarchiv |url=http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ex-minister-egon-bahr-erinnert-sich-an-den-17-juni-1953-wollen-sie-den-dritten-weltkrieg/2252630.html |text=''Egon Bahr erinnert sich: „Wollen Sie den dritten Weltkrieg?“''. |wayback=20150924123535}} In: ''[[Handelsblatt]] Online'', abgerufen am 17. Juni 2013</ref> Der Sender RIAS verwehrte allerdings den Streikenden diese Möglichkeit. Am 17.&nbsp;Juni rief dann der Berliner [[Deutscher Gewerkschaftsbund|DGB]]-Vorsitzende [[Ernst Scharnowski]] über den RIAS erstmals dazu auf, die Ostdeutschen sollten ihre „Strausberger Plätze überall“ aufsuchen. Trotz einer relativ zurückhaltenden Darstellung der Ereignisse im Radio kann man davon ausgehen, dass die Berichte entscheidend dazu beigetragen haben, dass sich die Kunde von den Protesten in der Hauptstadt äußerst schnell in der ganzen DDR ausbreitete.<ref>Arnulf Baring, Der 17. Juni 1953, Stuttgart 1983</ref><ref>{{Internetquelle |autor=Marianne Howarth |url=https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27601/der-juni-aufstand-und-die-deutschlandpolitik-der-westalliierten/#footnote-target-28 |titel=Der Juni-Aufstand und die Deutschlandpolitik der Westalliierten {{!}} 17. Juni 1953 |werk=bpb.de |datum=2021-12-07 |abruf=2024-02-13}}</ref>
 
=== Mittwoch, 17. Juni 1953 ===
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Die Aufständischen besetzten 11 Kreisratsgebäude, 14 Bürgermeistereien, 7 Kreisleitungen und eine Bezirksleitung der SED. Weiterhin wurden neun Gefängnisse und zwei Dienstgebäude des [[Ministerium für Staatssicherheit|Ministeriums für Staatssicherheit]] (MfS) sowie acht Polizeireviere, vier [[Deutsche Volkspolizei|Volkspolizei-Kreisämter]] (VPKA) und eine Dienststelle der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) erstürmt. Mehr als doppelt so viele Einrichtungen wurden bedrängt, die Besetzung gelang jedoch nicht.
 
Schwerpunkte lagen in Berlin und den traditionellen Industrieregionen, etwa dem „[[Mitteldeutsches Chemiedreieck|Chemiedreieck]]“ um [[Halle (Saale)|Halle]], aber auch in den Bezirkshauptstädten [[Magdeburg]], [[Leipzig]] und [[Dresden]]. Die Zahl der am Protest Beteiligten lässt sich nicht genau bestimmen, Angaben schwanken zwischen 400.000 und 1,5&nbsp;Millionen Menschen. Die vielfältigen Proteste fanden durchgehend sehr spontan statt, es gab praktisch weder eine über den Tag hinausgehende Zielplanung noch echte Führungskräfte, die den Aufstand überregional dirigiert hätten. Neben Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen kam es an mehreren Orten auch zu Erstürmungen von Haftanstalten und Befreiung von Häftlingen. In [[Gera]] kam es zur Stürmung der [[Gedenkstätte Amthordurchgang|Stasiuntersuchungshaftanstalt ''Amthordurchgang'']], wobei Inhaftierte freigelassen wurden. Ungefähr 20.000 Menschen demonstrierten im Zentrum der Stadt mit Unterstützung von Bergleuten aus den Wismut-Revieren.<ref>{{Webarchiv|text=''Der 17. Juni im Thüringen.'' Jan Schönfelder, ''Thüringen Journal'' |url=http://www.mdr.de/thueringen-journal/732106.html |wayback=20090430122732 }}</ref> In Berlin kam es zu Brandstiftungen, am spektakulärsten waren dabei die Brände des Vorzeige-[[Handelsorganisation|HO]]-Kaufhauses ''[[Columbushaus]]'' und des Restaurantbetriebes ''[[Haus Vaterland (Berlin)|Haus Vaterland]]'' am Potsdamer Platz in Berlin. Allein in Berlin gab es 46 verletzte Polizisten, davon 14 schwer, sowie Zerstörungen im Gesamtwert von über 500.000&nbsp;Mark.
<!-- Quelle? -- Die meisten Protestierenden waren Arbeiter. Bis 1989 wurde der Aufstand in der westdeutschen DDR-Forschung primär als Arbeiteraufstand betrachtet. Inzwischen ist die Literatur vom Begriff des Arbeiteraufstandes abgegangen, weil am 17.&nbsp;Juni das Widerstandspotential der ganzen Gesellschaft gegen die sozialistische Diktatur aktiviert wurde. Der Berliner Arbeiterprotest gegen die Normenerhöhung wirkte als Auslöser für eine Volkserhebung, die in der schlechten Stimmung der gesamten Bevölkerung –&nbsp;noch verstärkt nach dem überraschenden Kurswechsel vom 10.&nbsp;Juni&nbsp;– ihren Nährboden fand. Beteiligt an den Demonstrationen waren auch solche Berufsgruppen, die in der SBZ/DDR ihre Privilegien oder Teile ihrer Besitztümer verloren hatten, wie Großbauern, Vermieter, Werksbesitzer, Ärzte, Pfarrer, entnazifizierte Lehrer und Beamte, Offiziere, ehemalige Vermögende und ehemalige Besserverdienende. Daneben stießen in Berlin auch West-Berliner dazu. -->
 
Die Polizei war mit dem Ausmaß der Ereignisse überfordert, teilweise liefen Volkspolizisten zu den Demonstranten über. Es kam vor allem in Ost-Berlin auch zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. In Rathenow verprügelten aufgebrachte Aufständische den Stasi-Spitzel [[Wilhelm Hagedorn (Kommunist)|Wilhelm Hagedorn]], der an den Folgen starb.<ref>{{Internetquelle |autor=Ed Stuhler |url=https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-aktuell-vor-50-jahren-100.html |titel=Geschichte aktuell: Vor 50 Jahren: |werk=[[Deutschlandfunk|deutschlandfunk.de]] |datum=2003-06-17 |abruf=2024-02-17}}</ref><ref>{{Internetquelle | autor=Sven Felix Kellerhoff | url=https://www.welt.de/geschichte/article117066119/Erregter-Mob-lyncht-Stasi-Spitzel-Willi-Hagedorn.html | titel=Erregter Mob lyncht Stasi-Spitzel Willi Hagedorn | werk=[[Die Welt#Online-Ausgabe|welt.de]] | datum=2013-06-17 |abruf=2024-01-27}}</ref> In Niesky wurden Mitarbeiter der Staatssicherheit in einem Hundezwinger eingesperrt und in Magdeburg zwangen die Demonstranten eine Volkspolizistin, spärlich bekleidet ihren Zug anzuführen.
 
In den Kreisen Görlitz und Niesky wurde für wenige Stunden das SED-Regime beseitigt. Aufgrund der besonderen demografischen Struktur dieser Kreise eskalierte die Protestbewegung zu einem politischen Aufstand, der zur kurzzeitigen Entmachtung der lokalen Machthaber führte. Görlitz hatte als Grenzstadt einen hohen Anteil Vertriebener zu integrieren. Die Stadt war nach Berlin und Leipzig das am dichtesten besiedelte Gebiet in der DDR und es herrschte eine vor allem unter Jugendlichen, Frauen und Schwerbehinderten hohe Arbeitslosigkeit, die von einer weit über dem DDR-Durchschnitt liegenden Wohnungsnot begleitet wurde. Zusätzlich wurde das Zusammenleben der Görlitzer durch die Teilung ihrer Stadt und die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR gegenüber dem „polnischen Brudervolk“ erschwert. Ebenso akzeptierten die meisten Görlitzer die [[Oder-Neiße-Grenze]] gemäß dem Vertrag vom 6.&nbsp;Juli 1950 nicht. Die nicht aus der Stadt stammende politische Führung hatte seit 1952 eine radikale Enteignungswelle in Bewegung gesetzt, die zum drastischen Rückgang der Selbstständigen geführt hatte. Ebenso war seit Oktober 1952 die Anzahl der [[Flucht aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR|Republikflüchtigen]] gestiegen.
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=== Filmdokumentation in Halle (Saale) ===
In [[Halle (Saale)]] entstanden am 17. Juni 1953 die einzigen, professionellen Filmaufnahmen von den umfangreichen Demonstrationen und weitreichenden Aufständen in der DDR. Die Aufnahmen halfen zu bestätigen, dass der Aufstand fast die gesamte DDR erfasst hatte. In Halle (Saale), „nahm der Aufstand am 17.&nbsp;Juni mit die größten Ausmaße an“. Allein in Halledort demonstrierten 90.000 Menschen.<ref name=":0">{{Literatur |Autor=Hubertus Knabe |Titel=17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand |Verlag=Propyläen |Ort=München |Datum=2003 |ISBN=3-549-07182-5}}</ref> Die Filmaufnahmen belegtenbelegen, dass Jung und Alt, Arbeiter und Intellektuelle, Frauen und Männer aus allen sozialen Schichten der DDR an dem Aufstand teilnahmen. Der Historiker [[Hubertus Knabe]] hebt die Fröhlichkeit der Menschen in Halle (Saale) hervor: „Die meisten Demonstranten erlebten den öffentlichen Protest&nbsp;– wie anderswo auch&nbsp;– als großes Glücksgefühl“.<ref name=":0" /> Auf Einzelbildern eines originalen Films, die 50&nbsp;Jahre im [[Stasi-Unterlagen]]archiv versteckt blieben, sind hunderte von lachenden und feiernden Demonstranten in Halle (Saale) zu erkennen. Darunter befanden sich auch der Sprecher des Streikkomitees Herbert Gohlke, der fast überschwänglich, einen Demonstrationszug auf dem Marktplatz anführend, in die Kamera blickte und winkte.<ref name=":0" />
 
Diese historischen Filmaufnahmen drehte der [[DEFA]]-Kameramann [[Albert Ammer]] mit Hilfe seiner Assistentin [[Jutta-Regina Ammer|Jutta-Regina Lau]].<ref name=":1">{{Internetquelle |autor=Verein Zeit-Geschichte(n) e.&#8239;V. |url=https://www.zeit-geschichten.de/start/themen/sozialismus/17-juni-1953/fotogalerie/ |titel=Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 – Fotografien von Albert Ammer |datum=2003 |abruf=2021-07-29}}</ref> Die Filmaufnahmen dokumentierten in besonderer Weise die breite soziale und gesellschaftliche Verankerung des Aufstandes. Unter den Demonstranten befanden sich auch zahlreiche Frauen, Jugendliche und Kinder. Die Filmbilder vermitteln eher das Gefühl von Volksfest als von Aufstand.<ref>{{Literatur |Autor=Heinrich Helms |Titel=Volksaufstand in der DDR – Zeitzeugen erinnern sich |Hrsg=''Harburger Nachrichten'' |Ort=Hamburg |Datum=2003-06-14}}</ref> Die von der DDR-Staatssicherheit beschlagnahmten und bis zum Ende der DDR unter Verschluss gehaltenen Filmbilder ergänzen heute die Sicht auf den Aufstand in der gesamten DDR.
 
Ebenfalls von Ammer gefilmt wurde die einzige gelungene Befreiung von Häftlingen aus einem Gefängnis in der DDR. Demonstranten gelang es am Nachmittag des 17.&nbsp;Juni 1953 in Halle (Saale), 248 Frauen und drei3 Männer aus dem Gefängnis an der Kleinen Steinstraße die Freiheit zu schenkenbefreien.<ref name=":0" /> Die Filmaufnahmen zeigen deutlich geschwächte und auch ältere Frauen, die bei ihrer Flucht aus der Haftanstalt von Demonstranten und Angehörigen gestützt werden müssen.<ref name=":1" /> Unter den Befreiten befand sich hier die später vermeintlich zum Tode verurteilte und hingerichtete [[Erna Dorn]]. Vor dem Gefängnis [[Roter Ochse]] filmten Ammer und Lau, wie hunderte von Demonstranten vergeblich versuchten, die Haftanstalt zu stürmen. Bei diesen Unruhen wurden vier oder fünf Demonstranten getötet., Darunterdarunter der durch DDR-Kräfte erschossene 26-jährige Gerhard Schmidt.<ref name=":1" /> Die zeitlich letzten Filmaufnahmen zeigen die auf dem Marktplatz auffahrenden Panzer der Sowjetarmee. Das Ministerium für Staatssicherheit missbrauchtebenutzte Ammers Filmaufnahmen, um Demonstranten in Halle (Saale) zu identifizieren und zu verhaften.<ref name=":10">{{Literatur |Autor=Liane von Billerbeck |Titel=Kamera: Albert Ammer |Hrsg=Helmut Schmidt |Sammelwerk=[[Die Zeit]] |Nummer=25 |Ort=Hamburg |Datum=2003-06-12}}</ref> Der Kameramann Albert Ammer wurde von der Stasi am Morgen des 18.&nbsp;Juni 1953 verhaftet und mehr als drei Jahre in der DDR inhaftiert. Ammer wurde von der DDR-Justiz u.&#8239;a. der Sabotage beschuldigt und verurteilt.<ref>{{Literatur |Autor=Daniel Bohse, Alexander Speck |Titel=Der Rote Ochse Halle (Saale): politische Justiz 1949-1989 |Hrsg=Joachim Scherrieble |Sammelwerk=Schriftenreihe der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt}}</ref> 1991 wurde das DDR-Urteil juristisch aufgehoben und Albert Ammer wurde von der Bundesrepublik Deutschland offiziell rehabilitiert.
 
Im Jahre 2023 schilderten zwei TV-Dokumentationen die Ereignisse in Halle/ (Saale) und die Filmarbeit von [[Albert Ammer]] (''Aufstand der Frauen'' bei ''History'' in der [[ARD]] und ''Kampf um die Freiheit'' bei ''[[Terra X History|Terra&nbsp;X]]'' im [[ZDF]]).<ref>{{Literatur |Autor=Ulrike Merkel |Titel=14 Stunden später in Haft: Geraer Kameramann filmt den Aufstand vom 17. Juni 1953 in Halle |Hrsg=''[[Ostthüringer Zeitung]]'' |Verlag=Funke Medien Gruppe |Ort=Gera, Weimar, Erfurt |Datum=2023-06-13}}</ref>
 
=== Niederschlagung des Aufstands und Kriegsrecht ===
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[[Datei:17Juni Jena Holzmarkt.JPG|mini|Gedenktafel für [[Alfred Diener]] am Holzmarkt in [[Jena]]]]
 
Nach Ergebnissen des Projekts ''Die Toten des Volksaufstandes vom 17.&nbsp;Juni 1953'' sind 55 Todesopfer, darunter sieben Minderjährige<ref>{{Internetquelle |autor=Bundeszentrale für politische Bildung |url=https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/der-aufstand-des-17-juni-1953/152604/die-toten-des-volksaufstandes-vom-17-juni-1953/ |titel=bpb.de - Dossier 17. Juni 1953 - Der Aufstand - Die Toten des Volksaufstandes |datum=2013-05-17 |sprache=de |abruf=2023-10-24 |kommentar=Volljährigkeit wurde in der DDR im Jahr 1953 mit 18 Jahren erlangt}}</ref>, durch Quellen belegt. Etwa 20 weitere Todesfälle sind ungeklärt.<ref>{{Internetquelle|url=http://www.17juni53.de/tote/recherche.html|titel=Tote des 17. Juni 1953|werk=17. Juni 1953|datum=2004|zugriffabruf=2008-11-12}}</ref>
 
Am 17. Juni und den Tagen danach wurden 34 Demonstranten und Zuschauer von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen oder starben an den Folgen von Schussverletzungen. Nach [[Todesstrafe|Todesurteilen]] von sowjetischen und [[DDR-Justiz|DDR-Gerichten]] wurden sieben Menschen [[Hinrichtung|hingerichtet]]. Infolge der Haftbedingungen starben vier Personen, und vier Menschen töteten sich in der Haft. Beim Sturm auf ein Polizeirevier starb ein Demonstrant an Herzversagen. Zudem wurden fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane getötet. Bisher war im Westen von 507 und in der DDR von 25 Toten die Rede. Zufallsopfer wie den von einer verirrten Polizeikugel tödlich getroffenen 27-jährigen Doktoranden der Landwirtschaft [[Gerhard Schmidt (Agrarwissenschaftler)|Gerhard Schmidt]] aus Halle stilisierte die SED zum „antifaschistischen“ Märtyrer, obwohl dessen Familie ausdrücklich dagegen war.
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== DDR-interne Darstellung der Ereignisse ==
 
=== Darstellung der Ereignisse durch die DDR-Medien ===
Um von eigenen Versäumnissen abzulenken und einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Ereignissen auszuweichen, verbreitete das SED-Regime die Verschwörungstheorie, hinter dem Aufstand stehe in Wahrheit „der Westen“. Eine vom Ausschuss[[Ausschuß für deutsche Einheit]] 1954 veröffentlichte Broschüre fragte rhetorisch „Wer zog die Drähte?“, auf dem Titelbild war die übergroße Hand eines [[Marionette]]nspielers zu sehen.<ref>Stiftung Kloster Dalheim (Hrsg.): ''[[Verschwörungstheorien – früher und heute]]''. Begleitbuch zur Sonderausstellung der Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur vom 18.&nbsp;Mai 2019 bis 22.&nbsp;März 2020. Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020, ISBN 978-3-7425-0495-1, S.&nbsp;225.</ref> Der DDR-Rundfunk-Journalist [[Karl-Eduard von Schnitzler]] stellte dies so dar: „[…]&nbsp;unter Mißbrauch des guten Glaubens eines Teils der Berliner Arbeiter und Angestellten, gegen grobe Fehler bei der Normerhöhung mit Arbeitsniederlegung und Demonstrationen antworten zu müssen, wurde von bezahlten Provokateuren, vom gekauften Abschaum der Westberliner Unterwelt ein Anschlag auf die Freiheit, ein Anschlag auf die Existenz, auf die Arbeitsplätze, auf die Familien unserer Werktätigen versucht.“<ref>{{Internetquelle |titel=Karl Eduard von Schnitzler – Der Anschlag auf den Frieden ist gescheitert |hrsg=17juni53.de |zugriffabruf=2012-05-28 |url=http://www.17juni53.de/chronik/530618/doc_4.html}}</ref> Die staatlich gelenkte Presse und der Rundfunk stritten jede Eigenverursachung der Unruhen vom 17.&nbsp;Juni 1953 in Form von Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den politischen Verhältnissen, bedrückende Versorgungsmängel sowie erhebliche Normerhöhungen für die Arbeiter vehement ab.
 
=== Darstellung der Ereignisse durch die DDR-Geschichtswissenschaft ===
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=== Bundesrepublik Deutschland ===
 
==== Zeitzeugen ====
Als [[Ernst Reuter]], der [[Regierender Bürgermeister von Berlin|Regierende Bürgermeister]] in West-Berlin, der sich in [[Wien]] auf dem Europäischen Städtetag befand, die Amerikaner bat, ihm ein Militärflugzeug für den schleunigsten Rückflug zur Verfügung zu stellen, wurde ihm erwidert, dies sei bedauerlicherweise nicht möglich. Bundeskanzler [[Konrad Adenauer]] reiste am 19.&nbsp;Juni nach Berlin, um der Toten zu gedenken.
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=== Vereinigte Staaten ===
In den [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]] dachte man bezüglich des Aufstandes anfangs an einen Trick der [[Sowjetunion|UdSSR]]: Sie wolle, legitimiert durch den Aufstand, zu dessen Niederschlagung bewaffnete Verbände nach Berlin verlegen, um so die ganze Stadt einnehmen zu können. Später hielt man die Demonstrationen eine Zeit lang für von der DDR-Regierung inszenierte Veranstaltungen, die außer Kontrolle geraten seien.
 
Das amerikanische ''Psychological Strategy Board'' für [[Psychologische Kriegsführung]] reagierte auf den Aufstand mit einem Lebensmittel-Hilfsprogramm, welches am 1. Juli 1953 beschlossen wurde. Damit sollte der Antagonismus zwischen der SED und dem Volk weiter verschärft sowie Adenauer bei der [[Bundestagswahl 1953]] gestärkt werden. Die sogenannten Eisenhower-Pakete wurden in West-Berlin nach Vorlage eines Ausweises kostenlos an die ostdeutsche Bevölkerung ausgegeben. Bis zum 15. August 1953 holten 865.000 Ostdeutsche, viele von ihnen mit Ausweisen ihrer Bekannten, mehrere Pakete gleichzeitig ab. Bis zum Ende des Programms im Oktober 1953 wurden mehr als 5,5 Millionen Lebensmittelpakete übergeben. Der RIAS spielte eine wichtige Rolle bei der Bekanntmachung des Programmes. Die SED ordnete eine massive Propagandakampagne gegen die „Bettel-“ oder „Amipakete“ an. In der amerikanischen Führung wurde das Programm als großer Erfolg und als Stärkung ihrer Position im Kalten Krieg betrachtet. Wie beabsichtigt wurden die Spannungen der ohnehin explosiven Situation in der DDR dadurch verschärft. Präsident Eisenhower gab dem ''Psychological Strategy Board'' Anweisung ähnliche Programme für die anderen Ostblock-Staaten auszuarbeiten.<ref>Christian F. Ostermann: ''Between Containment an Rollback. The United States and the Cold War in Germany''. Stanford University Press, Redwood City 2021, S.&nbsp;257 ff.</ref>
 
=== Vereinigtes Königreich ===
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=== Sowjetunion ===
Der Aufstand vom 17. Juni 1953 verschärfte in der Sowjetunion den seit [[Josef Stalin|Stalins]]s Tod am 5.&nbsp;März 1953 ausgebrochenen Kampf um dessen Nachfolge. Dabei unterlag die Gruppe um den mächtigen Minister für Innere Angelegenheiten ([[Innenministerium der UdSSR|MWD]]) [[Lawrenti Beria]] (1899–1953), der zwar die sofortige Niederschlagung des Aufstandes anordnete, jedoch im Interesse einer internationalen Entspannung und in der Hoffnung auf bundesdeutsche Wirtschaftskooperation eine Freigabe der DDR favorisierte. Die siegreiche Fraktion um [[Nikita Chruschtschow]] befürchtete dagegen die Vorbildwirkung des Aufstands auf andere osteuropäische Staaten ([[Volksrepublik Polen|Polen]], [[Tschechoslowakei]], [[Ungarn]]) oder auf Nationen innerhalb der Sowjetunion ([[UkraineUkrainische Sozialistische Sowjetrepublik|Ukrainische SSR]], [[Baltikum]]).<ref>Siehe auch: „Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung. Das Plenum des ZK der KPdSU. Juli 1953, Stenografischer Bericht“, herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Viktor Knoll und Lothar Kölm, Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin, 1.&nbsp;Aufl. 1993, ISBN 3-7466-0207-6.</ref> Als Folge dieser Politik und des vorangegangenen Beitritts der Bundesrepublik zur [[NATO]]<!-- Belege? --> wurde 1955 der [[Warschauer Pakt|Warschauer Vertrag]] ratifiziert, der die osteuropäischen Staaten und die DDR militärisch an die Sowjetunion band und die Teilung Europas festigte.
 
=== Jugoslawien ===
Am [[Vidovdan#Der Veitstag und Serbien|28. Juni]] 1953 erschien in der [[Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien|jugoslawischen]] Parteizeitung ''[[Borba (Zeitung)|Borba]]'' ein Leitartikel des führenden kommunistischen Theoretikers [[Edvard Kardelj]], in dem der Aufstand vom 17. Juni als „das wichtigste Ereignis nach dem jugoslawischen Widerstand des Jahres 1948“ bezeichnet wurde. Kardelj erkannte in den Streiks und Demonstrationen „den Charakter einer echten revolutionären Massenaktion der Arbeiterklasse gegen ein System, das sich ‚sozialistisch‘ und ‚proletarisch‘ nennt.“ Des Weiteren schrieb er: „Die Triebkraft dieser Ereignisse ist im Grunde nicht das nationale Moment; es ist nicht nur ein Problem der Deutschen gegen eine fremde Besatzung. Nein, es handelt sich hier vor allem um den Klassenprotest des deutschen Arbeiters gegen die staatskapitalistischen Verhältnisse, die ihm von der Besatzung im Namen eines ‚sozialistischen Messianismus‘ als ‚sozialistisch‘ und ‚proletarisch‘ aufgezwungen wurden, die er aber nicht als ‚proletarisch‘ noch als ‚sozialistisch‘ anerkennt. Und gerade darin liegt die historische Bedeutung dieser Ereignisse.“<ref>Heidi Roth: ''Der 17. Juni 1953 in Sachsen'', Sonderausgabe für die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden, S.&nbsp;89</ref>
 
=== Polen ===
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Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 werden in mehreren Filmen aufgearbeitet. Beispiele:
* ''Wehe den Besiegten - Der 17. Juni 1953'', DDR 1990/1991, Dokumentarfilm, Regie: Andrea Ritterbusch
* ''Helden ohne Ruhm'' von Artem Demenok und Christof Schmidt, ausgezeichnet mit dem bayerischen Fernsehpreis 2004.<ref>{{Internetquelle |url=http://heldenohneruhm.de/ |titel=Helden ohne Ruhm. Der 17. Juni 1953 |werk=heldenohneruhm.de |hrsg=Schmidt & Paetzel Fernsehfilme |datum=2003 |abruf=2022-06-17}}</ref>
* ''Ein Tag der Zivilcourage – der 17. Juni 1953 in Halle'' von Marlies und Andreas Splett, 2003.<ref>{{Internetquelle |autor=Marlies Splett, Andrea Splett |url=https://www.luchskino.de/film_471/Ein%20Tag%20der%20Zivilcourage%20%C3%A2%E2%82%AC%E2%80%9C%20Der%2017.%20Juni%201953%20in%20Halle/ |titel=Ein Tag der Zivilcourage – der 17. Juni 1953 in Halle |hrsg=Verein für Zeitgeschichte(n) e.&#8239;V., Halle (Saale) |datum=2003 |abruf=2022-06-17}}</ref>
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Bisher kaum erforscht wurden öffentliche Proteste, die sich auf dem Lande, in den Dörfern und in den Gemeinden bildeten. Als Beispiele seien hierzu die Ereignisse in den Dörfern [[Zodel]] oder [[Ludwigsdorf (Görlitz)|Ludwigsdorf]] im Görlitzer Umland genannt.
 
Ebenso wie die Aufständischen handelten auch die lokalen SED-Funktionäre unterschiedlich. So befahl beispielsweise Paul Fröhlich zwischen 13 und 14&nbsp;Uhr den Leipziger VP- und MfS-Angehörigen den Gebrauch ihrer Schusswaffen, obwohl der Ausnahmezustand erst um 16&nbsp;Uhr ausgerufen wurde. Infolge dieses Befehls wurden am frühen Nachmittag des 17.&nbsp;Juni der 19-jährige [[Dieter Teich]] und die 64-jährige Rentnerin Elisabeth Bröcker erschossen. Dem Trauerzug mit der aufgebahrten Leiche des Neunzehnjährigen, der vom Dimitroffplatz über den Georgiring bis zum Hauptbahnhof verlief, folgten tausende Leipziger. Dagegen versuchten am 16.&nbsp;Juni Funktionäre wie Fritz Selbmann in Ost-Berlin oder am 17.&nbsp;Juni [[Otto Buchwitz]] in Dresden die Streikenden zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit zu bewegen. Die SED-Bezirksleitung von [[Karl-Marx-Stadt]] versprach den Aufständischen, auf ihre sozialen Forderungen einzugehen, sodass in diesem Bezirk der Juni-Aufstand verhaltener als anderswo verlief. Der dienstlich in Halle weilende SED-Funktionär [[Fred Oelßner]] konstituierte&nbsp;– vorerst ohne Rückhalt aus Berlin&nbsp;– eine Bezirkseinsatzleitung (bestehend aus den Chefs der bezirklichen SED-, MfS-, VP- und KVP-Institutionen sowie den sowjetischen Streitkräften), mit dem Ziel, den Aufstand schnell und gewaltsam niederzuschlagen. Dagegen erhielt der am 17.&nbsp;Juni aus Berlin in den Bezirk Dresden entsandte Fritz Selbmann offizielle Anweisungen von Walter Ulbricht.
 
Die verschiedenen Streikleitungen bemühten sich, Sachbeschädigungen und Gewalt gegen Personen zu verhindern, wobei sie meist wenig Einfluss auf die Geschehnisse außerhalb ihrer Betriebe hatten. Sie waren außerdem auf die strikte Einhaltung demokratischer Regeln bedacht und vermieden antisowjetische Losungen, da ihnen bewusst war, dass gegen die Sowjetunion keine gesellschaftliche Veränderung in der DDR erreicht wird. In einigen Städten (z.&#8239;B. Leipzig, Schkeuditz, Görlitz) bildeten sich während des Aufstandes überbetriebliche Organisationsstrukturen heraus, die die bereits spontan entstandenen Massendemonstrationen koordinierten. In anderen Städten (z.&#8239;B. Dresden, Halle) entwickelten sich die Massendemonstrationen eigendynamisch und unabhängig von den Streikleitungen. Der Anteil ehemaliger [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|NSDAP]]-Mitglieder war in den Streikleitungen&nbsp;– im Gegensatz zu der späteren SED-Propaganda&nbsp;– sehr gering. Die meisten Streikaktivisten waren parteilos, wobei sich unter ihnen viele ausgeschlossene SED-Mitglieder, darunter häufig ehemalige Sozialdemokraten, befanden. Führende Akteure in den Streikleitungen waren oft ältere Arbeiter, technische oder kaufmännische Angestellte, die auf ihre Erfahrungen im politischen und gewerkschaftlichen Kampf vor 1933 zurückgreifen konnten.
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== Literatur ==
 
=== Fachbücher ===
* {{Literatur
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== Weblinks ==
{{Commonscat|Uprising of 1953 in the German Democratic Republic|17. Juni 1953}}
 
'''Allgemeines'''
* Bundeszentrale für politische Bildung (Bpb): [https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/517063/aufstand-17-juni-1953/ Der Aufstand vom 17. Juni 1953].
* Bundesarchiv: [https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/geschichten/volksaufstand/ Volksaufstand 1953]; Sammlung von [https://www.stasi-mediathek.de/sammlung/volksaufstand-des-17-juni-1953/ Stasi-Unterlagen zum Volksaufstand in der Stasi-Mediathek]; [https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Der-17-Juni-1953/der-17-juni-1953.html Virtuelle Ausstellung].
* Bundesstiftung Aufarbeitung: [https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/volksaufstand-vom-17-juni-1953-der-ddr Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR]. Mit umfangreichem [https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/volksaufstand-vom-17-juni-1953-der-ddr/materialien Nachweis von Materialien].
* Jugendopposition.de: [httphttps://www.jugendopposition.de/index.phpnode/145306?idguid=2659 Jugendliche beim Volksaufstand 1953].
* Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: [https://www.lpb-bw.de/17-juni 17. Juni 1953 Volksaufstand in der DDR].
* [https://www.pw-portal.de/?view=article&id=19351:t-17-juni-1953---volksaufstand-in-der-ddr_22491&catid=133 17. Juni 1953 - Volksaufstand in der DDR] auf [[Annotierte Bibliografie der Politikwissenschaft|Portal für Politikwissenschaft]]
* Politische Bildung.de: [http://www.politische-bildung.de/17_juni_1953_volks_aufstand_ddr.html Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953].
* [[Ehrhart Neubert]]: [http://www.17juni53.de/material/bpb/bedok001.html ''Der Aufstand vom 17. Juni 1953''.]
* [https://www.br.de/nachrichten/17-juni-122.html ''17. Juni 1953: Der Aufstand in der DDR.''] Chronologie des [[Bayerischer Rundfunk|Bayerischen Rundfunks]].
* [http://www.kalenderblatt.de/index.php?what=thmanu&lang=de&manu_id=172&tag=17&monat=6&weekd=&year=2005&weekdnum=&dayisset=1&lang=de ''17. Juni 1953: Aufstand in der DDR.''] ''KalenderBlatt'' der [[Deutsche Welle|Deutschen Welle]].
* [https://web.archive.org/web/20090420211706/http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2000-2003/heft-42/04205/ ''Der 17. Juni und die DDR-Opposition''.] In: ''[[Horch und Guck]]'' 12.&nbsp;Jg., Heft&nbsp;42 (2/2003), S.&nbsp;18–21.
* Maximilian Zech: [https://www.spektrum.de/news/17-juni-1953-der-tag-an-dem-die-ddr-fast-unterging/2150211 ''Der Tag, an dem die DDR fast unterging''] in [[Spektrum.de]] vom 16. Juni 2023
 
'''Regionales'''
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'''Fotos und Filme'''
{{Commonscat|Uprising of 1953 in the German Democratic Republic|17. Juni 1953}}
* Fotogalerie 17. Juni 1953 in Halle (Saale) [https://www.zeit-geschichten.de/start/themen/sozialismus/17-juni-1953/fotogalerie/ Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953]