Die Drückerkönigin: Kriminalroman - Made in WW
Von Michael W. Caden
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Buchvorschau
Die Drückerkönigin - Michael W. Caden
Vorwort
Es ist die Zeit, als zahlreiche Drückerkolonnen durch die Lande ziehen, junge Menschen, Verlierer und Gestrandete vom äußersten Rand der Gesellschaft, die in Kleinbussen und mit eingebläuten Sprüchen von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf gekarrt werden, um unbedarften, leichtgläubigen Menschen auf der Straße oder an der Wohnungstür Zeitungen und Hochglanzzeitschriften aufzuschwatzen, auf deren Titelseiten das vermeintlich pralle Leben abgebildet ist. Sie geben vor, Spenden für Tierheime oder Unterschriften für wissenschaftliche Meinungsumfragen zu sammeln, an deren Ende – was sie verschweigen – stets ein Abo-Vertrag steht. Zwei junge Frauen und ihr Team arbeiteten mit ausgefeilten verkaufspsychologischen Tricks, ohne jegliches Mitleid und stets auf der Jagd nach der schnellen Mark. Die Mitglieder dieser Kolonne wurden ausgebildet, um zu betrügen. Regina Leininger und Franziska Obermaier gehörten am Ende ihrer Karriere zur oberen Riege der Szene, stellten Kleidung, Regelwerk und Argumente und versprachen leicht verdientes Geld. Doch manch einer ihrer Mitarbeiter sah kaum etwas von seinem Lohn, vielen blieben nur Schulden und Angst. Nicht selten gab es den gefürchteten pinkfarbenen Baseballschläger der Anführerin zu spüren, und unerwünschte Stornozettel mussten vor der gesamten Gruppe heruntergewürgt werden. Das war die Welt von Gina und Franzi. Zwei unterschiedliche Leben haben sich zufällig getroffen. Doch dieser eine Sommer, er sollte alles verändern …
Prozesstag 1
Das Böse und ihr williger Schatten
November 1997. Landgericht Koblenz. Saal 128. Es ist der erste Prozesstag in der Mordsache Silvio Bukowski. Sechs Verhandlungstage hat das Gericht insgesamt angesetzt, um eine plausible Erklärung für die brutale Bluttat, die sich einige Monate zuvor auf einem kleinen, abgelegenen Bauernhof im unteren Westerwaldkreis ereignet hatte, zu finden. Beinahe pünktlich mit dem Neun-Uhr-Läuten von der nahen Liebfrauenkirche sind an diesem Mittwochmorgen zwei Dutzend martialisch bewaffnete Polizisten am Landgericht in der Koblenzer Karmeliterstraße angerückt, haben akribisch die Personalien der Zuhörer kontrolliert, sie im Sekundentakt einzeln und vor laufenden Kameras der TV-Sender durch die Sicherheitsschleuse am großen Schwurgerichtssaal gelotst und sie zusätzlich noch mit hochsensiblen Sensoren abgetastet.
»Für alle Fälle! Man weiß ja schließlich nie!«, meint ein Wachtmeister zu einem älteren, weißhaarigen Herrn, der sich mit einer abgewetzten Lederaktentasche und einem grünmelierten Regenschirm durch eine dichte Menschentraube den Weg in den Zuhörerraum bahnt, und fügt hinzu: »Das Drücker-Milieu ist schließlich brandgefährlich.«
Der alte Mann mit den großen Brillengläsern und der hellen beigefarbenen Blousonjacke ist einer der ersten Besucher an diesem Morgen gewesen, der sich ganz vorne in der Poleposition der langen Warteschlange vor dem Verhandlungssaal 128 im ersten Obergeschoss des Koblenzer Landgerichtes eingereiht hat. Der Linoleumboden ist frisch poliert; es riecht penetrant nach Bohnerwachs.
Draußen liegt ein dunkelgrauer und fast blätterloser Herbst in seinen allerletzten Zügen. Der Winter steht vor der Tür. An diesem Tag hat der Alte mit dem Dreitagebart, der in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte, seine täglich zelebrierte Morgentoilette durch eine Katzenwäsche ersetzt, um zeitig beim Prozessauftakt dabei zu sein. In seiner alten, verschlissenen Aktentasche befinden sich eine Thermoskanne mit extra stark aufgebrühtem Kaffee und zwei mit einer schmierigen Wurst belegte Butterstullen. In den Jahren nach seiner Pensionierung hat der frühere Finanzbeamte sich nach dem plötzlichen Tod seiner Frau in seiner Dreizimmerwohnung in der Koblenzer Altstadt mit dem Alleinsein und der Tristesse des Alltags arrangiert. Lediglich seine Besuche bei Gericht bescheren ihm für einige Stunden eine willkommene Abwechslung. Hobbys hat er keine, die hatte er nie. Das Abarbeiten von Aktenbergen aus Steueranträgen, das war seine Welt gewesen.
Der eher unauffällige Alte mit der etwas blassen Gesichtsfarbe hat sich auf einen längeren Prozesstag eingestellt. Seit einigen Jahren schon geht er bei öffentlichen Strafprozessen ein und aus. Selten verpasst er einen brisanten Fall am Landgericht. Zwei Jahre zuvor, 1996, hatte er in einer der hinteren Zuhörerreihen gesessen, als stern-TV-Moderator Günther Jauch in eine äußerst ungeliebte Rolle schlüpfen musste. Damals verhandelte das Gericht gegen den als »TV-Fälscher« bekannt gewordenen »Journalisten« Michael Born, den »Kujau des Fernsehens«, wie ihn die Gazetten bezeichneten, der verschiedene Privatsender mit eigens inszenierten Beiträgen beliefert hatte. Allein die Redaktion von »stern-TV« kaufte und sendete aus Borns Filmwerkstatt ein rundes Dutzend Beiträge. Die Republik verfolgte vor den Fernsehern in den heimischen Wohnzimmern verwundert Beiträge über verschwörerische Ku-Klux-Klan-Aktivitäten in der Eifel. Brutale Katzenjäger wurden gehetzt oder man stieg mit vermeintlichen Heroinabhängigen hinab in die Kloaken der Frankfurter Drogenszene. Was zunächst niemand ahnte: Die vermeintlich hoch investigativen Reportagen waren reine Fantasieprodukte, an ihnen stimmte so gut wie kaum ein Detail, es waren allesamt Hirngespinste eines bis dahin wenig erfolgreichen Journalisten. Unter den weißen Kapuzen des Ku-Klux-Klans steckten zum Teil Laienschauspieler aus Borns Bekanntenkreis. Seine Mutter hatte die Kleidung für den furchterregenden Geheimbund zu Hause in der Stube genäht, in dem guten Glauben, ihr Michi brauche sie für die Theateraufführung einer Laienspielgruppe. Für die Wachtmeister ist der Alte einer der zahllosen Berufszuhörer, die bei den großen und spektakulären Prozessen wie kleine Heuschreckenschwärme, Voyeuren gleich, in die Gerichtssäle einfallen. Die Justizbeamten schenken ihnen kaum Beachtung, den Alten kennen sie lediglich mit Vornamen, Heinrich heißt er.
Heinrich ist Anfang siebzig und redet nie allzu viel. Um seine Person macht er kaum Aufhebens. Heinrich hört lieber zu, und er beobachtet alles akribisch genau. Das hat er schon sein ganzes Leben getan. An diesem Morgen konnte er sich hinter einer Meute Journalisten ganz vorne im Zuhörerraum einen Platz ergattern. Hier sitzt er gerne. Irgendwie fühlt er sich dort in unmittelbarer Nähe der Pressebank unter seinesgleichen. Der Mann mit dem sauber gezogenen Mittelscheitel und der beinahe pergamentartigen Gesichtshaut mag es, wie die Reporter an den Worten der Angeklagten kleben. Er liebt es geradezu, wie sie begierig alles aufsaugen – jedes Wort, das fällt, jede noch so unauffällige Geste, kaum etwas bleibt in den späteren Beiträgen unerwähnt. Schon ein leiser Seufzer hat das Zeug zur Mega-Schlagzeile. Und jeder Prozesstag kann neue Details der menschlichen Verrohung und Gewalt zutage fördern. Darin liegt für ihn die Spannung.
In diesem Moment betreten zwei junge Frauen den Verhandlungssaal durch einen Nebeneingang, der den Angeklagten vorbehalten ist. Sie sind in Begleitung von mehreren Justizbeamten, während augenblicklich ein grelles Blitzlichtgewitter über sie hereinbricht, flankiert von lautem Getuschel in den Zuhörerreihen. Die Pressebank ist dichtbesetzt mit Journalisten. Kameras surren. Regina Leininger, in der Szene nur kurz Gina genannt, schreitet in Handschellen vorneweg, die Kapuze ihres schwarzen T-Shirts tief ins Gesicht gezogen, wie ein Boxer, der den Ring betritt: aufrecht, die Beine schüttelnd. Sie wirkt taff. Doch sie ist angeschlagen. Es wird ihr letzter Kampf sein. Und eigentlich hat sie ihn schon verloren. Das weiß sie nur zu genau. Ihr Gesicht ist vom Krebs gezeichnet, das Endstadium der Krankheit sichtbar nahe. Die Blitze, die Kameras, die Reporter – sie nimmt kaum Notiz davon. Für die gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alte Frau ist dieser Prozess ein lästiges Übel. Noch eine letzte Runde, die ein paar Verhandlungstage anhält. Und bloß nicht zu Boden gehen, sich abducken und den juristischen Schlägen, die sie in diesem Strafverfahren über kurz oder lang vernichten könnten, ausweichen – ausweichen, so lange noch die Zeit dafür vorhanden ist. Eigentlich will sie nur noch eins: In Würde aus dem Ring, der Leben heißt, abtreten.
Dahinter schlängelt sich in drei, vier Schritten Entfernung Franziska Obermaier durch die schmale Seitentür in den Verhandlungssaal. Sie ist Anfang zwanzig, eine leicht pummelige Frau mit einem extremen Kurzhaarschnitt. Auch sie hat man fixiert, auch sie trägt Handfesseln. Ihre von Natur aus dunkelblonden Haare hat sie in der Untersuchungshaft gothic-schwarz gefärbt. Die vielen Blitzlichter nehmen der jungen Frau mit dem runden Waschbär-Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde die Orientierung. Vor dem Tisch, an dem die Angeklagten mit ihren Verteidigern Platz nehmen, stößt sie an eine Stufe, sie strauchelt, kann sich aber sofort wieder fangen.
»Das Böse in Person«, wie eine überregionale Zeitung Gina Leininger in dicken Lettern titulierte, sitzt indes fahl, abgemagert und mit starren Gesichtszügen auf der Anklagebank, einem Kaninchen gleich, das ahnt, dass es über kurz oder lang von der Schlange den tödlichen Biss erhalten wird. Diese Schlange, die Giftnatter, wie sie sie jetzt nennt, das ist ihre ehemalige Kollegin und Freundin Franzi Obermaier. »Sie war wie ein Schatten, der mir folgte, solange die Sonne schien«, zitierte sie ein Reporter der Bild-Zeitung.
Beinahe regungslos hockt die einstige Drückerchefin zwischen ihren beiden Verteidigern, schutzsuchend wie ein Kind vor den Dämonen der Nacht. Dort fühlt sie sich abgeschirmt.
Einer ihrer Anwälte erzählt einem Kollegen beiläufig von seinem Seychellenurlaub, dass die Mädchen, die dort am Straßenrand Passionsfrüchte oder Avocados verkaufen, hübscher seien, als so manches hoch dotierte europäische arrogante Laufstegmodell. Und sie seien leicht ins Bett zu bekommen, versichert er dem Anwaltskollegen in der schwarzen Robe, der die Arme vor der Brust verschränkt hat und begierig lauscht. Beide haben die junge Frau neben sich in der Anklagebank vollkommen verdrängt. Sie scheint in diesem Augenblick keine Rolle zu spielen.
Während der U-Haft ist das einstige Schwarz aus Ginas Haaren beinahe verschwunden, es hat sich ausgewachsen. Sie starrt auf ihre Hände. Kein einziges Mal wird sie zu der Frau mit dem Waschbär-Gesicht blicken, die jetzt vom Nachbartisch mit leicht gesenktem Kopf herüberschaut. »Das kleine Dreckstück kann mir gestohlen bleiben«, hatte sie sich in einem Interview verbittert einem Reporter gegenüber geäußert. Für Gina, die seit der Untersuchungshaft um Jahre gealtert zu sein scheint, ist Franzi »tote Materie«. Erledigt. Abgeschrieben. Biomüll. Nicht mehr unter den Lebenden. Die einstige enge Freundschaft von Gina und Franzi, sie ist Geschichte.
Franzi Obermaier und Gina Leininger gingen einen Sommer lang zusammen auf Abonnenten-Jagd, schwatzten unbedarften Leuten alle erdenklichen Hochglanzzeitschriften auf, indem sie ihnen die haarsträubensten Märchen auftischten. Gina war die ungekrönte Königin in der Szene, Franzi ihre rechte Hand, ihre »kleine Abo-Kröte«, wie sie die Einundzwanzigjährige gerne scherzhaft nannte. In ihr schlummerte ein Riesentalent, wenn es darum ging, den Kunden ein schnelles Abonnement aufzuschwatzen. Franzi machte mit Abstand die meisten Scheine und brachte Ginas Kolonne finanziell auf Vordermann. Scheine waren ihr Kapital. Wie man am Geschicktesten an sie rankommt, hatte sie von der Pike auf gelernt. Durch Scheine ließen sich Träume erfüllen. Franzi und Gina waren unzertrennliche Freundinnen, für kurze Zeit teilten sie miteinander ihr Leben. Und sie bestraften gemeinsam die Erfolglosen, wenn sie nicht lieferten, was von ihnen erwartet wurde. Doch das ist jetzt Vergangenheit.
»Erheben Sie sich bitte!«
Mit bestimmendem Tonfall fordert der älteste der vier diensthabenden Wachtmeister die Zuhörer auf, von ihren Plätzen aufzustehen, während die drei Berufs- und zwei Laienrichter des Schwurgerichts durch einen hinteren Eingang den Gerichtssaal betreten. Ähnlich einer Sonntagsprozession steuern sie den langen Tisch an, der leicht erhöht am Kopfende des großen Schwurgerichtssaales platziert ist. Dort verharren sie für einen kurzen Augenblick hinter ihren Stühlen.
Der Vorsitzende lässt seinen Blick durch den Saal schweifen. Auch wenn es nur ein flüchtiges Abtasten mit den Augen ist, so hat er sich dennoch in der Kürze der Zeit mit seiner ganzen beruflichen Routine einen Überblick über die Prozessbeteiligten und das Publikum in seinem Verhandlungssaal verschafft.
»Nehmen Sie bitte Platz«, werden die Anwesenden sodann aufgefordert. Auch die drei Berufs- und zwei Laienrichter nehmen jeweils ihre Sitzposition an dem lang gezogenen Tisch ein.
Der vorsitzende Richter Hans-Helmut Kirchhoff, ein Jurist mit Doktortitel, ist ein streng dreinblickender Herr mit leicht gekräuseltem grauen Haupthaar, der kurz vor seiner Pensionierung steht. Staatsanwaltschaft und Verteidiger schätzen vor allem seine faire Verhandlungsführung, die vom unerschütterlichen Glauben getragen wird, dass sich das ewig Böse in seinem Landgerichtsbezirk mit den Mitteln der Strafprozessordnung und des Strafrechts hinreichend bekämpfen lässt. Dieser Glaube gibt ihm einen sichtbaren Halt. Und den wird er gebrauchen können. Die Tatortfotos, die in einer seiner roten Gerichtsakten vor ihm auf dem Richtertisch liegen, sprechen ihre eigene Sprache, die Szenen, die auf dem Hochglanzpapier festgehalten sind, sind roh und brutal.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Es kommt zur Verhandlung die Mordsache Silvio Bukowski. Erschienen für die Anklage ist Staatsanwalt Wotan Müller-Ley. Für die Angeklagte Franziska Obermaier hat Rechtsanwalt Eugen Seligmann das Mandat übernommen. Die Mitangeklagte Regina Leininger wird durch ihre Verteidiger, die Rechtsanwälte Dr. Heiko Flemming und Harry Bartz vertreten. Für das Gericht sind erschienen als Vorsitzender Dr. Hans-Helmut Kirchhoff sowie die hauptamtlichen Beisitzer Hans-Rudolf Straubing und Dr. Klaus-Dieter Eschenauer sowie die Schöffen Eugen Schwarzenberg und Elisabeth Maria Tischbein. Wir haben für heute zunächst die Anhörung der Angeklagten Franziska Obermaier zu ihren persönlichen Verhältnissen auf die Tagesordnung gesetzt. Ist jemand dagegen? Können wir so verfahren?«
Kirchhoff blickt in die Runde. Keiner der anderen Prozessbeteiligten hat einen Einwand.
»Nein? Das ist augenscheinlich nicht der Fall. Dann, Herr Staatsanwalt, möchte ich Sie bitten, die Anklageschrift zu verlesen.«
Wotan Müller-Ley erhebt sich von seinem Stuhl. Vor sich auf dem Tisch hat er die Akte mit den juristisch umschriebenen Tatvorwürfen ausgebreitet. Mit klarer, deutlicher Stimme verliest er den Inhalt der Anklage.
»Die hier anwesende Franziska Obermaier wird angeklagt, in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1997 auf dem Hubertushof bei Montabaur den Kolonnenführer Silvio Bukowski aus niederen Beweggründen und auf heimtückische Art und Weise getötet zu haben, wobei die hier ebenfalls anwesende Regina Leininger sie anstiftete und ihr gleichzeitig Beihilfe leistete. Nachdem die Angeklagte Regina Leininger ihre Kollegin und damalige Freundin Franziska Obermaier telefonisch zum Mord an Silvio Bukowski aufgefordert hatte, fuhr diese zu dem besagten Hof bei Montabaur, drang in die Wohnräume von Herrn Bukowski ein und feuerte willkürlich mehrere Schüsse auf das Opfer ab, wobei sie dessen Arg- und Wehrlosigkeit zur Ausübung der Tat ausnutzte. Die Angeklagte Franziska Obermaier hat sich somit gemäß Paragraf 211 StGB strafbar gemacht, ebenso wie die Mitangeklagte Regina Leininger, wobei für sie zusätzlich die Paragrafen 26 und 27 Strafgesetzbuch Anwendung finden.«
Nachdem der Staatsanwalt die letzten Zeilen der Anklageschrift verlesen hat, nimmt er wieder Platz. Richter Kirchhoff schaut flüchtig zu den beiden angeklagten Frauen und öffnet den obersten Ordner, der auf einem Stapel von Akten vor ihm auf dem Tisch liegt. Dann wendet er sich Franziska Obermaier zu.
»Ihr Anwalt hat Sie sicherlich darüber belehrt, dass Sie als Angeklagte hier keine Angaben machen müssen?«
Sie nickt.
»Möchten Sie dennoch aussagen?«
»Ja, das möchte ich«, antwortet sie leise.
»Gut! Sie heißen Franziska Obermaier, zuletzt wohnhaft in Selters im Westerwald. Und Sie sind heute wie alt, Frau Obermaier?«
»Einundzwanzig … Ich bin einundzwanzig Jahre alt«, stammelt die junge Angeklagte und kann ihre Nervosität kaum verbergen.
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein!«
»Was sind Sie von Beruf?«
»Gastronomiefachfrau.«
»Frau Obermaier, erzählen Sie uns doch, damit sich das Gericht ein Bild über Ihre Person machen kann, bitte etwas über Ihren Werdegang – Schule, Ausbildung, Familienleben und so weiter«, fordert der Vorsitzende die junge Frau auf.
Franziska Obermaier schiebt das Mikrofon, das vor ihr wie ein Pilz emporragt, näher an sich heran.
»Also … geboren … geboren wurde ich in Ulm …«
In den Tagen, als das zweite Kind von Gudrun Obermaier in einem Ulmer Krankenhaus das Licht der Welt erblickt, liegt dichter Schnee über der Schwäbischen Alb. Dicke Flocken haben die Stadt und das Umland mit einem weißen Tuch eingehüllt. Als über Nacht Tauwetter einsetzt, treten ansonsten eher harmlose Flüsse und Bäche mit aller Macht in nur wenigen Stunden über die Ufer. Das Wasser sucht sich seinen Weg durch die Stadt und reißt alles mit, was den Fluten keinen Widerstand leisten kann – Autos, Straßenlaternen, Wellblechgaragen und anderes mehr. Unaufhaltsam fluten die Wassermassen innerhalb von nur wenigen Minuten auch einen Großteil des Hospitals. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk sind mit vereinten Kräften im Dauereinsatz, um das nasse Element, das sich durch die Luftschächte und über das Grundwasser seinen Weg gebahnt hat, aus den Kellern und aus der Tiefgarage zu pumpen. Neben der Notfallaufnahme hat das Wasser auch die Technik-Zentrale des Krankenhauses lahmgelegt. Als Folge davon bricht gegen Mittag im Neubau-Trakt die reguläre Stromversorgung zusammen. Schließlich müssen die OP-Säle und die Intensivstation evakuiert werden. Sanitäter der Bundeswehr helfen mit Containerelementen und bauen in kürzester Zeit mehrere Behelfsoperationssäle auf. Im Kreißsaal des Krankenhauses, der sich in einem Nebentrakt des Krankenhauses auf einer Anhöhe befindet, kann die Arbeit uneingeschränkt fortgesetzt werden. Während die Wassermassen mit einer Wucht der Zerstörung weiter zu Tal stürzen, wird hier neues Leben in die Welt getragen.
Von alledem weiß Gudrun Obermaier nichts, als sie an diesem Tag ihrem zweiten Kind, einem kleinen Mädchen, das Leben schenkt. Doch für sie ist die Geburt kein Grund zur Freude. Im Gegenteil: Eigentlich hat sie das Kind nie gewollt. Ebenso wie ihr Erstgeborener, Gerry, der acht Jahre zuvor das Licht Welt erblickte, ist das Neugeborene das unerwünschte Resultat eines One-Night-Stands, gezeugt in einer modrigen Sozialwohnung nach einem Alkoholexzess mit einem Zecher, den sie abends in einer Spelunke kennengelernt hatte. Angaben zur Vaterschaft konnte sie den Behörden gegenüber keine machen – Name, Ort und Zeitpunkt der Zeugung waren ihr im Rausch entfallen.
Noch während der Schwangerschaft schwor Gudrun, das Ding in ihrem Bauch nach seiner Geburt in der Badewanne zu ertränken. Doch dann beschlossen sie und ihr Freund Lothar, der sich für den leiblichen Vater des Kindes hielt, in bierseliger Laune, dass ihr kleines Mädchen einen ganz besonderen Namen tragen sollte: Franziska, benannt nach Franziska van Almsick. So wie ihr großes Idol sollte Franziska in jungen Jahren eine erfolgreiche Schwimmerin werden. Doch anders als ihr glanzvolles Vorbild, das bereits im zarten Alter von sieben Jahren ins Ost-Berliner Schwimm-Trainingszentrum aufgenommen wurde und mit elf bei der Kinder- und Jugendspartakiade neun Goldmedaillen mit nach Hause brachte, blieben ihrer Tochter im örtlichen Schwimmverein schon auf Kreisebene die großen Erfolge versagt, eine herbe Enttäuschung, vor allem für Mutter Gudrun. Natürlich wird das zweite Kind der Obermaiers, nachdem feststeht, dass sie als Schwimmerin niemals ein Siegertreppchen betreten wird, zu keiner Zeit mehr Franziska gerufen. Zu Hause heißt sie nur Fossy-Bär – weil ihr Gesicht rund ist und weil sie, nachdem sie den Sport an den Nagel gehängt hat, an Gewicht zulegt.
Die Jahre auf der Schwäbischen Alb verstreichen. Nachdem Gudrun und Lothar geheiratet haben, arbeitet er als Lkw-Fahrer. Lothar hat den Nachnamen seiner Frau angenommen. Obermaier, so meinte er, klinge einfach besser als Fickeis, sein eigentlicher Name. Die Familie bezieht eine Wohnung in einem kleinen Ort nahe Ulm an einer viel befahrenen Bundesstraße. Lothar und Gudrun Obermaier wollen sich ihren, wie sie glauben, verdienten Platz im Wohlstandsdeutschland erkämpfen. Doch Geld ist rar in diesen Tagen bei den Obermaiers. Das meiste davon bekommt der Kneipenwirt im zwei Kilometer entfernten Nachbardorf.
Nach Feierabend fallen Lothar und seine Gudi, wie sie auch unter ihren Zechbrüdern gerne genannt wird, im Gasthaus Zum scharfen Eck ein. Während sich das Paar an einem kleinen Tisch mit einem großen HB-Aschenbecher aus den frühen 1970er-Jahren in der Mitte, unweit vom Tresen entfernt, mit seinen fast allabendlichen Saufgelagen als treue Kunden einen Stammplatz erarbeitet, sind die Kinder zu Hause auf sich alleine gestellt, werden vor dem Fernseher geparkt oder früh ins Bett geschickt. In der Kneipe philosophieren Lothar und Gudi oft stundenlang bei Pils und Schnaps mit Manny, dem Wirt, und den anderen Gästen über Gott und die Welt. Sie jammern darüber, wie schlecht die Arbeitsmarktlage doch geworden ist und dass es keine echten Volksvertreter mehr gibt, sondern nur noch selbstverliebte, in Retorten gezüchtete Möchtegern-Politiker, die doch nur auf ihr eigenes Wohl aus seien. Die Ausländer, die bekämen alles in den Arsch geblasen, während das alte Mütterchen, das Deutschland nach dem Krieg als Trümmerfrau wiederaufgebaut habe, mit seinen 500 D-Mark Rente im Monat nicht über die Runden käme. Aufrechte Deutsche wie er könnten es heutzutage zu nichts mehr bringen, tönt Lothar. Und überhaupt sei es an der Zeit, die vielen Sozialschmarotzer im Land zur Arbeit zu bringen.
Wenn Lothar und Gudi ihre Levels erreicht haben, kutschiert Manny sie in seinem alten Mercedes-Benz Diesel nach Hause. Er macht dies nicht, weil er ein Freund der Menschen ist, für ihn ist dies auch keine Dienstleistung, sondern Nebenerwerb. Manny, der Kneipier, der gegenüber seinen Gästen stets den verständnisvollen Kumpel mimt, geht dann auf Beutezug. Im Licht der Autoscheinwerfer hält er zu nächtlicher Stunde in den Gärten der Wohnanlagen und Häusern Ausschau nach brauchbarer Deko. Schneewittchen, der Förster mit den Rehen oder die Sieben Zwerge, stumme Zeugen deutscher Vorgartenidylle, sie alle lässt Manny später bei der Rückfahrt regelmäßig im Kofferraum seiner betagten Statuskarosse verschwinden, um sie in den Wochen und Monaten danach auf den Flohmärkten außerhalb der Region für gutes Geld zu verticken. Von der Kneipe allein kann er schon lange nicht mehr leben. Oft hocken die Obermaiers bis nach Mitternacht in Mannys Bierstube. Außer, wenn Lothar Spät- oder Nachtschicht hat, dann bleibt auch Gudrun zu Hause.
Einmal im Jahr geht es gemeinsam in den Urlaub, dann machen Lothar und seine Gudi auf Familie. Das Ziel ist immer dasselbe: die Halbinsel Walcheren in Holland. Und der Ablauf erfolgt nach bewährtem Muster: Packen am Vortag, Wecken nachts um zwei Uhr, einer nach dem anderen wird durchs Bad geschleust, anziehen, danach schnell eine Tasse Kaffee, koffeinfrei – wegen der Kinder. Gudi schmiert die Stullen, gegessen wird unterwegs auf einer der stark frequentierten Raststätten entlang der Autobahn. Dann lädt Lothar Frau und Kinder in seinen alten klapprigen VW Passat mit mehr als 180.000 gelaufenen Kilometern, etlichen Schweißnähten und abgefahrenen Reifen und fährt los. Um 3.15 Uhr. Nicht früher. Und nicht später.
Nach sieben Stunden Autobahn erreichen die Obermaiers Middelburg, die Stadt im Herzen Zeelands. Kaum angekommen, jagt Lothar die Familie, wie jedes Jahr, die 207 Stufen des Langen Jan hinauf.
»Natürlich«, meint Vater Obermaier verständnisvoll, »der Aufstieg im Turm der Abtei ist zwar anstrengend, doch ohne Fleiß kein Preis.« So sei das nun einmal im Leben. Schließlich erwarte die Familie hoch oben in mehr als 90 Metern Höhe eine grandiose Sicht über die Region.
An klaren Tagen kann man vom Abteiturm bis zu den seeländischen Inseln blicken. Noch wissen die Obermaiers nicht, dass dies ihr letzter gemeinsamer Urlaub sein wird.
An diesem Morgen ist der Himmel mit grauen, schweren Wolken verhangen. Schon die Häuserdächer der Stadt sind fürs Auge kaum auszumachen. Der Ausblick ist trist, Gudi und die Kinder möchten so schnell wie möglich wieder nach unten und drängen zur Tür.
Nach dem Abstieg fällt Lothar mit der Familie bei McDonald’s am Rande der Stadt ein und spendiert jedem zur Krönung des Tages ein Menü. Danach steht ein Besuch der Modellanlage Miniatuur Walcheren auf dem Urlaubsprogramm. Dort schleust Lothar die Familie innerhalb einer Stunde an hüfthohen Nachbildungen von Städten und Dörfern in der Region vorbei.
»Im Miniaturland kann man in wenigen Minuten die ganze Halbinsel bereisen«, erklärt Vater Obermaier und mimt den Tourismusexperten. Sicher, fügt er wohlwollend hinzu, das alles sei zwar etwas kleiner als in natura, aber immerhin könne man sämtliche Attraktionen auf einmal bestaunen, ohne dabei lange Wege zurücklegen zu müssen und man bewege sich zudem auch noch im zeitlichen Rahmen.
Am Nachmittag nehmen Lothar, Gudrun, Gerry und Franzi dann den breiten Sandstrand von Domburg, einen Strand, der seit Jahren mit der internationalen blauen Flagge ausgezeichnet wird, für sich in Beschlag. Für Lothar bietet der Strand alles, was man für einen gepflegten Kurzurlaub mit Badevergnügen und Spielspaß braucht. »Wichtig ist«, sagt er, »dass es einen Bademeister gibt und dass die Rettungsbrigaden über die Strandgäste wachen.« Wichtig sei aber auch, dass die Fahnen und Schilder mit den Badeanweisungen beachtet werden. »Wenn jeder nur das tut, wonach ihm gerade der Sinn steht, versinkt auch solch ein Strand schnell im Chaos«, prophezeit Lothar. Er hat sogar einen Fußball dabei und albert mit den Kindern im Sand herum. Lothar ist in diesen Tagen wie ausgewechselt. Auf der Rückfahrt wird das Erlebte im Auto noch einmal lebhaft diskutiert. Selbst als die Kinder schon eingeschlafen sind, schwärmt Gudi noch lange vom Sandstrand bei Domburg, dem kicherhaften Geschrei der Möwen und vom unaufhörlichen Rauschen der Brandungswellen.
Am späten Abend ist Lothar mit Frau und Kindern wieder zurück bei seinem geliebten Lastwagen. Wenn sich Lothar in seinen Volvo-Laster schwingt, betritt er seine eigene Welt, eine Welt