Little Eve - Kind der Schlange: Thriller
Von Catriona Ward und Olaf Bentkämper
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Über dieses E-Book
Neujahr 1921. Sieben verstümmelte Leichen werden in einem uralten Steinkreis auf einer schottischen Insel entdeckt. Die Opfer sind die Kinder eines Naturkults, der von der Otter regiert wird, einem sadistischen Patriarchen. Und das Wort der Otter ist Gesetz.
Vor der Welt verborgen, verehren die Kinder die Große Schlange, die im Ozean wohnt, tanzen im Morgengrauen auf den Felsen und opfern ihr Blut. Die einzige Überlebende des Massakers behauptet, Eve sei die Mörderin. Doch hinter Eves Geschichte verbirgt sich eine dunklere, seltsamere Wahrheit …
Sarah Pinborough: »Großartige Gothic-Fiction.«
Andrew Cowan: »Brillant, wunderbar geschrieben und voller Überraschungen.«
Philip Womack: »Voller dunkler Kraft und eindringlicher, verblüffender Wendungen. Man rätselt und fiebert bis zum Ende mit.«
Catriona Ward zählt zu den großen neuen Talenten im Thriller-Genre. Alle ihre Romane wurden mit angesehenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Sie schreibt dunkle, ausgeklügelte Psycho-Dramen mit Figuren, deren brutale Schicksale sie für den Leser geradezu lebendig werden lässt.
Catriona Ward
Catriona Ward wurde in Washington, D. C. geboren und wuchs in den USA, Kenia, Madagaskar, Jemen und Marokko auf. Heute lebt sie in England. Ihr Debüt RAWBLOOD (2015) erhielt den British Fantasy Award als bester Horror-Roman des Jahres. LITTLE EVE gewann den Shirley Jackson Award und wieder den British Fantasy Award für den besten Horror-Roman 2019. Catrionas dritter Roman THE LAST HOUSE ON NEEDLESS STREET erschien 2021 und wurde zum Bestseller, der demnächst verfilmt wird. 2022 folgte der ähnlich erfolgreiche Thriller SUNDIAL
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Buchvorschau
Little Eve - Kind der Schlange - Catriona Ward
Impressum
Die englische Originalausgabe Little Eve
erschien 2018 im Verlag Weidenfeld & Nicolson.
Copyright © 2018 by Catriona Ward
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: AdobeStock/Bernadett & AdobeStock/Vitaly
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-037-3
www.Festa-Verlag.de
Für meinen Neffen
Wolf Alexander Ward Enoch,
geboren am 17. Mai 2018
A ’nighean mar a máthair:
Wie die Mutter, so die Tochter.
Sprichwort der Highlander
Dinah
1921
Mein Herz ist ein dunkler Gang, gesäumt von Reihen glänzender Gefäße. In jedem von ihnen schwebt etwas. Die Vergangenheit, bewahrt wie in Alkohol. Hier ist der Duft von Gras und Meer, hier das Knarren von Rädern auf einem holprigen Pfad, hier ein leuchtend gelber Möwenschnabel. Das Gefühl von Blut, das auf meiner Wange im Wind trocknet. Abel, der um seine Mutter weint, Onkels Hand auf mir. Silber auf einem weißen Schlüsselbein. Das Wissen um Verlust, das wie ein Schlag ins Herz oder in den Magen erfolgt. Es erreicht den Verstand erst später.
Sie ist natürlich auch da. Evelyn. Irgendwo entlang der Reihen, hinter Glas, schwebt sie in der trüben Luft. Ich suche sie nicht auf. Mein Überleben hängt davon ab.
Nach allem, und gegen jede Wahrscheinlichkeit, habe ich eine Chance bekommen. Ein Leben. Egal was für eines. Ich habe Menschen, die auf mich angewiesen sind und ich auf sie. Es ist egal, wer sie sind.
Ich bin von Erinnerung erfüllt. Ich muss Platz schaffen in dem dunklen Gang. Also werfe ich sie raus, heute. Ich gebe sie Ihnen. Dies ist der Tag, an dem ich wurde, was ich bin.
Am Morgen des 2. Januar 1921 wurde James MacRaith durch die Stille geweckt. Der Sturm, der drei Tage lang an der Küste gewütet hatte, hatte sich gelegt. Drosseln und Seidenschwänze sangen in den Weißbirken, die Loyals schmale Kopfsteinpflasterstraße säumten. Es war halb sieben, und die Morgendämmerung würde in diesen nördlichen Gefilden noch einige Stunden auf sich warten lassen.
Jamie war 28 Jahre alt, bei guter Gesundheit und hatte nie geheiratet. Er zog sich im Schein einer Kerze vor dem kleinen Viereck aus Glas an, das an der Wand über der Kommode hing. Ein Unterhemd, dicke Wollsocken mit Stulpen, der Kragen seines Baumwollhemds mit einem hellroten Tuch gebunden, eine Schafsfellweste, die stark nach Lanolin roch. Mühsam rührte er aus einem Stück Rasierseife Schaum an und wetzte sein Rasiermesser. Er setzte seine Zahnplatte ein, die dunkle Lücke auf der linken Seite seines Oberkiefers mit je einem weißen Schneide- und Eckzahn füllend. Die Zähne hatte er bei einer Explosion in Frankreich verloren. Zuletzt legte er sorgfältig die Manschettenknöpfe an, die ihm sein Vater hinterlassen hatte. Sie waren aus geschlagenem Silber, mit vergilbendem Elfenbein eingelegt, und Jamie MacRaith hatte sie immer geliebt. Wenn er sie in der Hand hielt, spürte er das Wiegen eines langen Rüssels, den sanften Tritt eines großen Fußes auf staubiger Erde; er nahm den Duft von blühendem Hibiskus wahr. Die Manschetten erinnerten ihn außerdem an den Tod seines Vaters.
Das Obergeschoss des Hauses bestand aus zwei Schlafzimmern, von denen eines Jamie bewohnte. Das andere war das seines Vaters gewesen und stand jetzt leer. Manchmal hörte er noch, wie sein Vater sich darin bewegte.
Jamie aß einige eingemachte Aprikosen aus einem Glas. Er rauchte Woodbine-Zigaretten und trank dazu starken Tee. Er bestrich zwei Scheiben Weißbrot mit Butter und bestreute sie mit Zucker, bevor er sie sorgsam in Wachspapier einwickelte und für später in seine Jackentasche steckte. Er las ein paar Seiten von Tarzan und die Ameisenmenschen von Edgar Rice Burroughs. In dieser Geschichte wird Tarzan von einer Rasse winziger Menschen gefangen genommen und versklavt, um in den Minen zu arbeiten. Jamie MacRaith las gern, vor allem Abenteuer- und Mordgeschichten. Die anderen Bücher, die er an jenem Januartag in der Reisebibliothek ausgeliehen hatte, waren Das fehlende Glied in der Kette und eine Anleitung zum Bau eines Vergasermotors.
Jamie schloss das Haus ab und verstaute die Schlüssel in einem Stapel Schieferplatten an der Hintertür. Verschlossene Türen waren in Loyal bis vor drei Jahren, als Jamie MacRaiths Vater gehenkt wurde, unbekannt gewesen. Er holte Bill, das Pony, von der Koppel hinter dem Hühnerstall. Bills struppige Mähne war von Eiskristallen durchsetzt.
Das Dorf Loyal bestand aus einer einzigen Straße mit weiß getünchten Häusern und lag am nördlichsten Rand von Großbritannien. Im 19. Jahrhundert von Highlandern besiedelt, die vor dem Feuer und Blut der Clearances flohen, war Loyal eine Seetangstadt, bis es keinen Seetang mehr gab. Der Krieg hatte die meisten jungen Männer dahingerafft und nun war es ein Dorf von Krüppeln und alten Frauen, die die Namen längst ausgelöschter Clans trugen. MacRaith, McRae, Buchanan. Sie trauerten um die Vergangenheit und sie hielten die Erinnerungen an ihre Großväter und Großmütter in Ehren.
Jamie führte Bill das Pony die dunkle Straße am kleinen Hafen von Loyal hinunter. Der ölige Salzgeruch verfolgte ihn in der kalten Luft. Während des Sturms waren die Boote hoch über die Wasserlinie auf die gepflasterte Straße gezogen worden, die Masten gelegt und mit Tauen festgezurrt. Die Boote lagen nun ausgestreckt auf der Seite und ließen Jamie an gestrandete Seeungeheuer denken.
Um zehn vor acht schloss Jamie den Laden auf. Er war seit zwei Jahren der Metzger in Loyal, seit er aus dem Krieg heimgekehrt war. Er ging in den Keller, hängte eine große Rinderhälfte aus und wickelte sie in ein Tuch. Er schleppte sie hinaus zu Bill, der vorm Laden angebunden war. Jamie hatte mehrere Monate damit zugebracht, das Pony an den Geruch von Blut zu gewöhnen. Trotzdem sträubte sich Bill manchmal. Das Rindfleisch war von Burg Altnaharra für den Silvesterabend bestellt worden, in dieser Gegend Hogmanay genannt. Wegen des Sturms war es inzwischen drei Tage überfällig und Jamie sorgte sich wegen der Bezahlung.
Mittels eines eigens konstruierten Geschirrs lud er die Rinderhälfte auf Bill und machte sich dann auf den Weg, am Meer entlang.
Unterwegs begegnete er keiner Menschenseele. Um neun Uhr, der Stunde des winterlichen Sonnenaufgangs, begann sich die Welt zu offenbaren. Vögel kreisten am immer heller werdenden Himmel, die Hügel waren rotbraun und grau gefärbt, erstreckten sich bis weit in den hohen Norden. Draußen auf dem Meer war die Sonne ein brennender Ball, der sein gebrochenes Licht über das Wasser warf.
Burg Altnaharra lag auf der gleichnamigen Insel, eine Viertelmeile vor der Westküste der Halbinsel. Im Jahr 1898 kehrte Colonel John Bearings aus Indien zurück und reiste nach Norden in die Highlands, um sein Erbe anzutreten – eine verfallene Ruine auf einer vom Wind gebeutelten Insel. Er setzte die Burg instand, legte Gärten an und stellte Bienenstöcke auf. Zwei Frauen schlossen sich ihm an, Alice Seddington und Nora Marr. Sie nahmen vier Säuglinge auf, Findelkinder aus den vielen verarmten Gemeinden, die in den Highlands verstreut lagen. Die Bewohner von Altnaharra kamen hin und wieder ins Dorf, um Schnürsenkel zu kaufen oder Geschirr ausbessern zu lassen. Von den Einheimischen wurden sie für seltsam gehalten, aber man ließ sie in Ruhe.
Nach der Hinrichtung, im Jahr 1917, erschien ein großes Stahltor auf dem steinernen Damm, der Altnaharra mit dem Festland verband. Die Kinder besuchten nicht mehr die Schule in Loyal. Die Frauen kamen nicht mehr ins Dorf, um Schnürsenkel zu kaufen, sie sammelten kein Treibholz mehr am Ufer. Sie zogen sich in sich selbst zurück.
Die einzigen Lebenszeichen waren die höflichen Mitteilungen, die für Händler in dem Drahtkäfig hinterlassen wurden, der am Tor hing. Blassgrüne Wolle, vom Farbton eines Kohlherzens. Stricknadeln (3x). Drei scharfe Schneidemesser und ein Knäuel Schnur (groß). Rindfleisch für Hogmanay bitte. Mindestens drei Wochen abgehangen. Die Einwohner von Loyal waren es gewohnt, den Käfig zu überprüfen, wenn sie an Altnaharra vorbeikamen, und die Waren dort zu hinterlegen, wenn sie das nächste Mal vorbeikamen. Die Bezahlung wurde auf die gleiche Weise im Käfig hinterlassen, immer auf den Penny genau.
In Loyal erzählte man sich, dass die Bewohner von Altnaharra nachts unter dem Herbstmond das Tor öffneten und wild über das Moor liefen, blau angemalt, um nach Seelen zu suchen, die sie holen konnten. Manche sagten, sie seien alle längst tot und die Insel sei nun von Geistern bevölkert. Jamie schenkte dem keine große Beachtung. Geister und Feen brauchten keine Dinge wie Lammhack oder Wolle.
Der Fußweg zur Insel lag nun vor ihm, unter einem Fingerbreit schimmerndem Wasser. Er beglückwünschte sich, seine Reise so gut geplant zu haben, denn bald würde die Flut einsetzen und wieder hereinströmen. Altnaharra konnte nur bei Ebbe erreicht werden, und wenn er getrödelt hätte, wäre ihm das Meer bei seiner Überquerung bis zu den Oberschenkeln geschwappt.
Aber Bill scheute am Damm zurück. Er setzte seine vier Beine fest auf und stellte klar, dass er seine Hufe nicht nass machen würde. Jamie versuchte, ihn mit dem Stück Zuckerbrot, das er für sein eigenes Mittagessen vorgesehen hatte, zu überreden. Er streichelte und drohte, alles ohne Erfolg. Das Pony wollte nicht hinübergehen. Anstatt sich mit 500 Pfund sturem Highland zu streiten, löste Jamie die Rinderhälfte, nahm sie resigniert auf seinen eigenen Rücken und watete vorsichtig zur Insel hinaus.
Im Kielwasser des Sturms wehte ein steifer Wind, und mehr als einmal hätte ihn das Gewicht des Rindes fast ins Meer gestürzt. In der Ferne hörte er das Bellen von Robben. Ihm gefiel der Gedanke nicht, mit einem 100 Pfund schweren Ochsen am Körper ins tiefe Wasser zu fallen. Die Herden, die bei Altnaharra überwinterten, waren Kegelrobben: riesig, hässlich und stark. Sie waren dafür bekannt anzugreifen, wenn sie den Geruch von Fleisch witterten.
Als Jamie sich näherte, sang der Wind seltsam durch das Stahltor. Es war fünf Meter hoch und an riesigen Pfosten aufgehängt. Schwere Ketten hielten es fest. Jamie legte das Rindfleisch mit einem dumpfen Schlag in den Drahtkäfig. Als er sich zum Gehen wandte, stolperte er im seichten Wasser und hielt sich an einer Querstange des Tores fest. Auf seine Berührung hin schwang es langsam auf und zog Jamie mit, der mit einem Platschen auf die Knie fiel.
Vor ihm lag ein kleiner blauer Kieselsteinstrand. Ein Pfad führte durch vergilbtes Wintergras den Hügel hinauf. Schafe scharrten schwermütig in der harten Erde. Oben zeichnete sich die verfallene Silhouette der Burg scharf gegen den Himmel ab. Jamie richtete sich rasch auf. Er rief ein Hallo. Die Schafe machten erschrocken einen Satz, aber es kam keine Antwort.
»Ich dachte, sie wollten, dass ich das Fleisch zur Burg hinaufbringe«, sagte er später bei der Untersuchung. »Und dass sie das Tor für mich offen gelassen hatten.«
Jamie kletterte den schmalen, steinigen Pfad hinauf. Der Himmel klärte sich zum gestochenen Blau eines kalten Tages. Das Meer kräuselte sich und glitzerte. Dahinter, nach Westen, war das Land in Licht getaucht. Für Jamie fühlte sich jeder Schritt wie eine Übertretung an.
Die Burg war von einem Wall umgeben, alt und bröckelnd. Das rostige Fallgitter war halb heruntergelassen. Im Hof dahinter wehten weiße Papierfetzen oder Stofftücher heftig im Wind.
Die Spitzen des Fallgitters waren scharf und Jamie wollte sich »nicht darunter begeben, denn es sah aus, als ob es jederzeit ganz herunter und auf mich fallen könnte.«
Er rief zum Haus hin. Es gab keine Antwort.
Er schob das Rindfleisch unter die Spitzen, dann schlängelte er sich widerwillig und mit fest geschlossenen Augen hindurch, nur darauf wartend, dass das alte Eisen herunterkrachte und seine Rippen durchbohrte.
Im Innenhof angekommen, rief er erneut. Noch immer erfolgte keine Antwort. Jamie war verärgert – er dachte, dass man sich vielleicht über ihn lustig machte oder irgendein Spiel gespielt wurde.
Als er sich der Küchentür näherte, sah er, dass es sich bei den weißen Stofftüchern in Wirklichkeit um fünf oder sechs Möwen handelte, die sich um die Reste von irgendetwas balgten. Als er die Faust hob, um gegen das Eichenholz zu schlagen, flatterte ihm eine Möwe, verfolgt von ihren Artgenossen, in die Beine. Sie ließ das, was sie in ihrem Schnabel hielt, zu Jamie MacRaiths Füßen fallen. Es erwies sich als ein menschlicher Daumen, der sauber am Gelenk abgetrennt war.
Jamies Herz begann heftig zu schlagen. Schnell legte er die Rinderhälfte ab, wickelte den Daumen in sein Taschentuch und steckte es in die Tasche. Die Möwen pickten wütend nach seinen Fingern, als er dies tat. Als Nächstes entfernte er den Metallhaken, der zum Aufhängen in das Fleisch gesteckt worden war. Mit diesem in der Hand öffnete er die Tür und schlich sich leise in die Küche.
Später sagte er, dass ihn die Erkenntnis in dem Moment überkam, als er Altnaharra betrat. Als er in der Stille stand und die Luft atmete, wusste er, dass sie alle tot waren. Er sah sich in dem Raum mit dem Holztisch und dem eisernen Herd um, der viermal so groß war wie der kleine in seinem Haus. Der Herd fühlte sich kalt an, was ihm verriet, dass niemand ihn an diesem Tag angeheizt hatte. Ein schweres Beil lag auf dem Fußboden, daneben ein aufgeschlitzter Sack Mehl. Der Wind hatte einen feinen Staub durch den Raum geweht. Auf dem Boden waren zwei Fußspuren zu sehen. Er folgte ihnen, wobei er darauf achtete, die Spuren nicht zu verwischen. Schließlich las er Kriminalromane.
Im Korridor waren die Steinplatten von schwarzem Schlamm bedeckt, breite Streifen aus Dreck, die sich über den Boden verteilten, noch nicht ganz trocken. Jamie sah mit einem Gefühl des Fallens, dass der Schlamm rot gefärbt war. Von irgendwo oben erklang etwas, das sich wie ein Schuss anhörte. Jamie erzählte der Polizei später, dass alles »erstarrte und zum Stillstand kam«. Nach ein paar Augenblicken ertönte das Geräusch erneut und die Vernunft setzte sich wieder durch. Es war nur eine Tür, die in irgendeinem Raum im Obergeschoss vom Wind hin- und hergeworfen wurde.
Er ging zum Eingang des großen Saals. Die hohen Fenster blickten auf das Meer im Osten, und die Reflexionen des Wassers spielten an den Wänden und Balken der gewölbten Decke. Es herrschte ein süßer, fermentierter Geruch. Die Stühle waren wie in Eile zurückgeschoben und die Kerzen in den Leuchtern waren alle heruntergebrannt. In der Ecke des Raumes pickten zwei Hühner hungrig an den kalten Steinen. Oben krachte die Tür erneut mit einem gewaltigen Knall im Wind. Nach einem Moment schluckte Jamie MacRaith sein Herz wieder hinunter. Er ging weiter durch das Haus und folgte der Spur aus Schlamm und Blut.
Er kam zur Tür, die auf den Osten der Insel hinausging, und begrüßte erleichtert die Luft und den Himmel. Doch der Türsturz war mit einem rostfarbenen Handabdruck versehen. Der Weg zu seinen Füßen war mit dunklen Tropfen besprenkelt. Er führte zum Meer hin. Er folgte ihm, weil er wusste, dass er es musste, während sich in seinem Kopf eine Frage und eine Antwort wiederholten wie ein Kinderreim oder ein halb vergessenes Lied. Was ist hier geschehen? Eine schreckliche Sache.
Er erklomm den Hügel, einen sanften grünen Hang, der zu dem warmen grauen Haufen einer verfallenen Kirche hinunterführte. Dahinter sah er die stehenden Steine. Sie langten wie weise Finger in den Himmel und warfen lange Schatten auf das Gras. Der größte Stein, Cold Ben genannt, lag auf der Seite, neben einer klaffenden Wunde, wo er aus der Erde gerissen worden war.
Dann sah Jamie sie.
In der Mitte des Steinkreises lagen fünf Gestalten, die sternförmig angeordnet waren. Sie wurden von Möwen bewacht, die eifrig fraßen. Als Jamie näher kam, flogen die Vögel auf, mit weißen Flügeln schlagend.
Die Gestalten waren Menschen, die friedlich wie bei einem Kinderspiel dalagen. Ihre Füße zeigten in die Mitte des Kreises und ihre Köpfe nach außen; ihre Körper zeigten in alle Himmelsrichtungen. Sie waren in feine weiße Wolle gewickelt. Jamie sah ihre Gesichter, sie waren alle tot.
Jamie MacRaiths erster Instinkt war, sich umzudrehen und davonzulaufen. Er unterdrückte ihn. Sein zweiter Impuls war, sich zu übergeben, und für einige Augenblicke kauerte er auf allen vieren. Als er sich wieder erholt hatte, ging er schnell zu dem Kreis. Er überprüfte jedes kalte Handgelenk auf einen Puls. Ihre Herzen waren still. Ihre rechten Augen waren sauber entfernt worden. Die Augenhöhlen klafften rot.
Elizabeths Leichnam lag von Osten nach Westen, zum Meer hin ausgerichtet. Ihr Kopf ruhte neben dem umgefallenen Stein. Sie war 14 Jahre alt gewesen. Der Wind wirbelte ihre Locken durcheinander. Neben ihr lag John Bearings, das Fleisch wie Marmor, steif vor Starre, das Haar fiel ihm in die Stirn. Sein Daumen war am Knöchel sauber abgetrennt. Neben ihm Nora. Ihr einzelnes großes graues Auge starrte. Dinah lag auf der anderen Seite des Kreises. Neben Dinah lag Sarah Buchanan, ein Mädchen aus dem Dorf. Welches böse Schicksal sie hierher nach Altnaharra geführt hatte, konnte Jamie sich nicht vorstellen.
Die Bewohner der Insel waren alle anwesend, bis auf eine Ausnahme: Evelyn war nicht unter den Toten.
Die Möwen begannen vorsichtig zurückzukehren. Eine landete auf Dinahs Gesicht und trieb ihren Schnabel in die Stelle, wo ihr Auge hätte sein sollen. Jamie schrie entsetzt auf und rannte auf sie zu. Die Möwe flatterte ein paar Meter außerhalb seiner Reichweite und landete träge auf Noras Fuß. Schluchzend stürzte er sich erneut auf die Möwe, aber als er sich umdrehte, waren zehn weitere heruntergekommen. Sie rissen und pickten mit gierigen Schnäbeln.
Jamie rannte im Kreis herum und fuchtelte mit den Armen. Die Möwen stiegen auf und ließen sich nieder, stiegen auf und ließen sich in weiß gefiederten Wellen nieder, ihm mühelos ausweichend. Sie füllten ihre Bäuche mit dem weichen Fleisch der Toten.
Jamie schrie und so hörte er zunächst nicht, wie sein Name mit schwacher Stimme ausgesprochen wurde. Dinah rief erneut nach ihm. Ihre Finger zuckten. Ihr Gesicht war grässlich blass, ihre Worte undeutlich, ihr Kopf wackelte betrunken, und eine dünne Blutspur rann ihr die Wange hinab. Aber sie lebte.
Jamie nahm sie in den Arm und weinte.
»Wo ist Evelyn?«, fragte sie. »Oh, ich erinnere mich. Sie hat uns die Augen genommen.«
Jamie MacRaith schaute sich um, als ob Evelyn hinter den Steinen oder im langen Gras lauern würde, aber da war nichts außer dem hellen Morgen.
Jamie kam im Galopp nach Loyal. Das Pony zitterte vor Erschöpfung, sein langes zotteliges Fell war schweißgetränkt. Die beiden wurden erstaunt von Mrs. Smith begrüßt, die sich auf ihre Türschwelle gesetzt hatte, um ein Fischernetz auszubessern. Sie versuchte Jamie ins Haus zu holen, um ihm etwas zu trinken zu geben und ihn zu beruhigen, aber er wollte nicht. Immer wieder zeigte er mit zitterndem Finger über das Moor, nach Osten, auf das Meer, als hätten diese Dinge ein großes Unrecht begangen.
»Sie müssen nach Altnaharra. Die Polizei. Sie sind alle ermordet worden. Nur Dinah ist noch am Leben.«
Was ist hier geschehen? Eine schreckliche Sache.
So überlebte ich, obwohl ich es damals nicht wollte. Sie brachten mich auf einer Trage zurück nach Loyal. Mit meinem verbliebenen Auge starrte ich hinauf. Die Wolken zogen über mir, bildeten immer neue Formen. Darin zeigten sich die Gesichter der Toten.
Leute kamen aus Häusern und von Feldern, als wir uns Loyal näherten. Wir wurden zu einer Prozession. Überall waren Augen und Hände zu sehen. Sie schienen sich die Lippen zu lecken, als sie mich ansahen. Ein kleiner Junge berührte mit einem schmutzigen Finger einen Blutfleck auf meinem Ärmel. Ich schrie. Ich hörte erst auf, als wir im Gasthaus waren und die Tür verriegelt wurde. Ich konnte sie noch immer hinter der Tür atmen hören. All diese Leute. Ich hatte die Insel seit Jahren nicht verlassen.
Sie steckten mich in einen Raum über der Bar, wo sie kaputte Dinge aufbewahrten, die darauf warteten, repariert zu werden: einen Handpflug, einen Krug, eine Kiste mit zerbrochenen Tellern, einen Steigbügelriemen, einen Kreisel mit leuchtend roter und blauer Farbe.
Ein alter Doktor aus Tongue verband mein Auge. Er roch nach Tabak und Kampferöl, und ich weinte die ganze Zeit. Seltsam, dass ein fehlendes Auge noch weinen kann.
»Mein Name ist McClintock«, sagte er.
Ich fragte wieder nach Onkel, Nora und Elizabeth. Ich sagte, es müsse sich um einen Irrtum handeln, denn sie könnten nicht tot sein. Er erwiderte, dass sie tot seien. Ich riss mir die Haare an den Wurzeln aus und kratzte mir das Gesicht. Er gab mir Milch mit etwas darin. Da ich es nicht besser wusste, trank ich sie. Das Zeug brachte meinen Verstand ins Schleudern, ließ ihn sanft in sich selbst stürzen.
»Warum hat sie die Augen genommen?«, fragte mich der alte Mann.
»Sie dachte, es würde ihr Macht geben. Sie hat sich vor drei Jahren selbst ein Auge ausgestochen. Es war nicht genug.«
Er machte einen missbilligenden Laut in der Kehle.
»Das ist die Sorte Unsinn, auf die sie sich stürzen werden. Da draußen erzählen sie schon die alte Geschichte, sagen, dass es die Eubha Muir war.« Der alte Mann erhob sich mit einem Ächzen. »Ich habe mich um die Lebenden gekümmert, nun kommt der Rest.«
Unsinn oder nicht, er wollte weg von mir, deshalb sagte ich: »Ich muss bei ihnen sein.«
Trotz seiner Proteste ging ich mit ihm über die Straße, barfuß, durch die zuschauende Menge. Die Leichen waren im Keller von Jamie MacRaith, zusammen mit dem Rindfleisch. Ich folgte ihm die Treppe hinunter. Als ich sie alle sah, weinte ich wieder. Ich versuchte auf die Bahre zu klettern, um mich neben Elizabeth zu legen. Der Doktor ließ mich nicht. »Ich bin eine von ihnen. Ich bin auch tot.«
»Geh runter. Lass mich meine Arbeit machen. Es gibt Dinge, die ich tun muss – die Leichen müssen gelüftet werden. Es ist die alte Pariser Methode. Du wirst das verstörend finden.«
»Ich kann nicht zurück ins Gasthaus gehen. All diese Augen und Hände.«
Er sah mich mit Ungeduld und einigem Mitleid an. »Es gibt nichts zu befürchten.«
»Wo ist Evelyn?«
»Ach, sie werden sie fangen und hängen«, sagte er. »Oder sie wird in der Kälte sterben. In dieser Gegend gibt es niemanden, der sie beherbergen würde. Sie ist nicht die Eubha Muir, nur eine böse Frau.«
»Lassen Sie mich bleiben.«
Der alte Mann zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Es ist deine Entscheidung. Ich habe noch zu tun.« Er ging zu Onkels Leiche, die weiß auf der Bahre lag. Er machte einen kleinen Schnitt in die Wunde, das Skalpell blinkte im schwachen Licht. Der Leichnam gab einen zischenden Laut von sich, als würde Gas entweichen. Er zündete ein Streichholz an und hielt es an die Wunde. Der Schnitt begann mit blaugrüner Flamme zu brennen. Er wiederholte diesen Vorgang an der Lunge und am Unterleib, machte Kerzen aus den Toten.
Ich ließ mich am Eingang zum Keller nieder. Die Dosis wirkte in mir. Die Szene schimmerte, die Leichen brannten wie Votivgaben. Ringsherum wiegten sich die Kadaver von Kühen sanft an ihren Haken. Ich war verändert.
Hier ist das Gefäß mit seinem bleichen Inhalt. Es gehört jetzt Ihnen. Ich hoffe, es wird Ihre Nächte heimsuchen. Ich glaube, das wird es.
Vielleicht werde ich dies nie absenden. Falls ich es tue, werde ich es von einer anderen Stadt aus abschicken. Suchen Sie nicht nach mir. Das sind Sie mir schuldig.
D
Evelyn
1917
Die Tür schwingt mit einem langen, hohen Ton hinter mir zu. Ich verziehe das Gesicht zu einem stummen Schrei. Bestimmt wird Dinah aufwachen. Doch sie schläft weiter, das Haar durcheinander über dem offenen Mund, die Arme weit ausgebreitet, als würde sie aus großer Höhe durch die Luft fallen.
Ich betrachte sie. Sie ist weiß, das Fleisch wie Wachs über ihre Knochen gegossen, Wimpern wie lange Schatten junger Bäume in der Abenddämmerung. Sie ist feucht an den Schläfen, das Haar ein Haufen polierter Pennys, die auf dem Bett verschüttet sind. In diesem Sommer ist sie zu nichts als Lippen und Augen geworden, und manchmal denke ich: Wer ist diese Frau? Es ist, als ob schon immer eine Fremde in ihr gelebt hat, die jetzt zum Vorschein kommt.
Durch das offene Fenster stirbt die Nacht. Die dunkle Luft ist vom Versprechen auf Licht erfüllt, dem schweren Innehalten vor der Morgendämmerung. Unten ist das Meer mit Nebel verhangen, der sein Atem auf dem Wasser ist. Irgendwo unter den Wellen bewegen sich seine trägen, schweren Windungen in der Tiefe.
»Komm heute nicht zu Dinah«, bete ich. »Sie möchte es nicht.«
Dinah keucht im Schlaf. Sie hat mächtige Träume, und das Aufwachen ist schwer. Langsam überquert sie die Grenze.
Wenn man sie lässt, wird Dinah schlafen, bis Onkel kommt. Sie wird benommen aufwachen, zu seiner Enttäuschung. Ich werde schnell und hell wie ein Messer sein. Onkel wird seine Hand auf meinen Kopf legen und die Wärme wird sich in mir ausbreiten. Eve, wach auf! Der Onkel wird endlich sehen, dass ich sein Liebling bin.
Ich seufze. Ich zwicke die Innenseite ihres blassen Schenkels. »Wach auf, Schlafmütze.«
Dinah greift meinen Arm mit überraschender Kraft, fünf Fingernägel graben sich hinein. »Eve.« Ihre Stimme ist schwer, weit entfernt. »Wir waren weiße Kaninchen. Wir waren eingeschlossen, wir konnten nicht hinaus. Der Miefling war unter uns mit seinen Nadelzähnen. Wir wussten nicht, wann er zuschlagen würde.« Der Miefling ist Dinahs ganz eigenes Monster. Er kommt zu ihr, seit ihr Verstand ihr zum ersten Mal Träume eingab.
»Es ist Zeit, Dinah.«
Sie setzt sich müde hin, zurückkehrend, dann stöhnt sie und steht auf, ihre nackten Füße erbleichen auf den eiskalten Steinen. Das Streichholz zischt in ihrer Hand, die Kerze wärmt die Dunkelheit.
Dinah starrt auf ihr Spiegelbild in dem kleinen gesprungenen Viereck aus Glas an der Wand, als wäre es ein großes Rätsel. Sie beginnt zu ahnen, dass sie schön ist, aber sie ist sich noch nicht sicher. Sie fährt sich mit der Zunge über ihre wunde Oberlippe und zuckt zusammen. »Glaubst du, dass das bis zum ersten Schultag weggehen wird? Ich hoffe es.« Wenn Dinah Angst hat, wird sie fast vollkommen still, und ihre Aufmerksamkeit verengt sich, findet irgendeinen kleinen Fokus.
Ich beobachte, wie sie ihr dunkelrotes Haar in Strähnen teilt und flicht. Als sie fertig ist, ist sie von einem Kranz aus Zöpfen gekrönt. Nora hat es Dinah beigebracht. Meine Finger wollten es nicht lernen. Oder vielleicht war es so, dass Nora es mir nicht beibringen wollte. Wir mögen uns nicht, sie und ich.
»Komm her, Schlafmütze.« Dinahs Finger sind schnell und geschickt, binden mein Haar an meinen Schädel. Das ist ihre Art, sich bei mir zu bedanken. Ich hätte sie auch schlafen lassen