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Marta.: Heimat in Polen, Deutschland und in der Schweiz.
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eBook445 Seiten5 Stunden

Marta.: Heimat in Polen, Deutschland und in der Schweiz.

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Über dieses E-Book


Das kommunistische Polen, 1984. Die fünfzehnjährige Marta wird aus ihrem gewohnten Leben gerissen, als sie mit ihrer Mutter und dem Bruder nach Westdeutschland flieht. Doch in Auschwitz wurde der Mutter von den Nazis Schlimmes angetan. Warum also flieht sie mit ihrer Familie ausgerechnet nach Deutschland? Marta fühlt, dass ein dunkles Lebensgeheimnis über ihrer Mutter schwebt.

Was 1984 beginnt, endet nach einigen Stolpersteinen und Zwischenstationen in der Schweiz. Marta beginnt hier ein neues Leben als Psychiaterin. Doch als ihre verschlossene Mutter stirbt, muss sie sich mit der Vergangenheit ihrer Familie auseinander setzen. Denn es kommt auch eine große Lüge von historischer Tragweite ans Tageslicht und für Marta fügen sich endlich viele Erinnerungen und merkwürdige Begebenheiten zu einem logischen Ganzen.

Die Autorin legt mit diesem Buch einen mitreißenden Entwicklungsroman vor: Sie verwebt Tatsachen, Wirren und Träume miteinander und macht ein Stück europäischer Zeitgeschichte für den Leser persönlich erfahrbar.
SpracheDeutsch
HerausgeberLiterki Verlag
Erscheinungsdatum5. Sept. 2023
ISBN9783952570609
Marta.: Heimat in Polen, Deutschland und in der Schweiz.
Autor

Monika Hürlimann

Die Schweizer Bestseller-Autorin (Jg. 1969) wuchs im kommunistischen Polen auf, wo sie das Kriegsrecht, die Zeit der Gewerkschaftsbewegung Solidarno sowie u.a. auch die Nahrungsmittelrationierung der 1980er Jahre erlebte. 1984 emigrierte sie illegal nach Westdeutschland. Abitur in Kiel, Medizinstudium im Berlin der ersten Stunde nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Heute lebt sie in der Schweiz und führt eine eigene psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis mit kognitiv-verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt.Als Forensische Psychiaterin verfasst sie außerdem strafrechtliche Gutachten für Staatsanwaltschaften und Gerichte. Der Roman Mutters Lüge basiert auf der Lebensgeschichte der Autorin. "Mutters Lüge" wurde mehrfach auf die Schweizer Bestsellerliste (SBVV) aufgenommen. Die Schriftstellerin interessiert sich dafür, was Menschen zu ihren Handlungen motiviert und wie es kommt, dass wir unterschiedlich mit Widrigkeiten des Lebens umgehen. Auch Fragen nach persönlichem Glücksempfinden, der Suche nach Vorbildern und Faktoren, die die innere Souveränität beeinflussen, beschäftigen sie. Diese Themen berührt sie in ihren Geschichten. Sie freut sich, wenn die Leser in sie eintauchen und sich auf diese Weise mit dem eigenen Lebensentwurf und dessen Umsetzung auseinandersetzen. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie begegnet die Autorin im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Menschen, die in verschiedenen Lebenssituationen stehen. Sie sind an einen vertrackten Punkt gekommen müssen etwas Schwieriges bewältigen oder gilt, Wichtiges zu entscheiden. Und: Nicht alles ist umkehrbar. Eine Entwicklung hingegen kann man oft günstig beeinflussen.Gerade die Psychiatrie beschäftigt sich mit Menschen an Abgründen, negativen oder nicht voraussehbaren Folgen von Handlungen und Situationen. Krisen, Beziehungsprobleme, Trennung, Verlust, Selbstwertgefühl, problematische Charakterzüge, Familiengeheimnis, gesellschaftliche Rollen und Herausforderungen, Entwicklung, Abhängigkeit, Trauer, Wahn und Depression werden häufig in einer Psychotherapie behandelt. Zum Arztberuf gehören auch das Sterben, der Selbsttötungsversuch und der vollendete Suizid.Die Schriftstellerin schöpft aus einem enormen Fundus von Lebensläufen, Krisen und deren Lösungsansätzen. Das macht ihre Texte authentisch.

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    Buchvorschau

    Marta. - Monika Hürlimann

    1. Der Aufbruch (Ende April 1984, Polen)

    „Übermorgen fahren wir nach Deutschland, sagte Mutter. „Für immer.

    Marta verspürte einen eigenartigen Knoten hinter der Brust. Ihr Zwillingsbruder Tomek öffnete weit den Mund.

    „Nach Deutschland? Warum? … Für immer?", fragte Marta.

    „Es ist illegal. Kein Wort zu niemandem!"

    „Aber …?" In Martas Kopf rasten so viele Gedanken, dass sie sich nicht auf einen einzelnen konzentrieren konnte.

    „Sonst lande ich im Gefängnis, und du, Marta, darfst nicht ins Lyzeum und wirst nie Medizin studieren, betonte Mutter. „Am Montag geht ihr zur Schule und ich zur Arbeit. Wie üblich.

    „Aber …"

    Mutter hob den Blick von dem erdbraunen Spannteppich und sah die Zwillinge kurz mit ihren himmelblauen Augen an. „Ihr teilt euch ein Gepäckstück. Dann holte sie von draußen aus dem Hausflur ein Monster von einem Koffer und stellte ihn mitten ins Wohnzimmer. „Dieses hier.

    Ein Wunder, dass er nicht schon geklaut wurde, schoss es Marta durch den Kopf.

    „Ich gehe Gassi mit Joka", sagte Mutter, rief die Hündin und ließ die Wohnungstür hinter sich zuknallen.

    Eisige Stille umhüllte das Sofa, auf dem Marta und Tomek saßen. Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und kaute an seiner Faust herum. Kalter Schweiß bedeckte Martas Rücken. Obwohl sie knapp fünfzehn war, fühlte sie sich hilflos wie ein Kind.

    Ist das Ganze ein makabrer Scherz? Was, wenn ich nicht mitwill?

    „Wusstest du davon?", fragte Tomek.

    „Nein."

    Warum hat sie uns nicht eingeweiht?

    „Hat das mit den Kommunisten zu tun?"

    „Tomek! Hast du in der Schule irgendwas Gefährliches gesagt?!", fuhr Marta auf.

    „Nein! Was denkst du von mir?"

    Sie blieb merkwürdig verunsichert. Tomek verschwand wortlos in der Küche, in deren Nische sein Bett stand, während sie sich die vielen Bücher im Regal anschaute. Sie war immer stolz darauf, dass sie nicht wie andere Leute lauter unnütze Kristallvasen hatten.

    Ich nehme alles mit, was ich habe: den Rock, Hose, Unterhose, zwei Paar Socken, zwei T-Shirts, den Pulli, die drei Hemden, und die Strumpfhose mit den reparierten Laufmaschen. Und Bücher. Wenn ich darf.

    Die Zwillinge waren noch nie im Ausland gewesen. Es hieß, im Westen herrsche Freiheit und alles sei besser.

    Aber wie soll ich mich verständigen? Ich kann doch nur Schulrussisch. Und Joka? Mutter hätte uns einweihen müssen, dann hätte ich Deutsch gelernt!

    Sie wusste zwar nicht woher, aber Mutter beherrschte diese Sprache fließend.

    Marta beschloss in die Badewanne zu gehen, ohne auf Mutter und die Hündin zu warten. Aus dem Schaum formte sie erdachte Lebensmittel und blies in die Masse, bis sie sich auflöste. In ihrem Kopf schwirrte das Wort ‚bunt‘ umher. In Polen waren die Dinge zumeist grau, braun, außer vielleicht Obst oder Gemüse. Was hieß das aber: Alles besser? Konnte man äußern, was man dachte, egal wo und zu wem? Lag in Deutschland endlich ein Stück Fleisch auf dem Teller - nur für Marta allein? Vor ihrem geistigen Auge türmten sich Berge aus Bratwürsten, Schweinerippen, Krakauern und ihren geliebten geräucherten Kabanossis. Sie konnte sie förmlich riechen, frisch und nicht mehrfach ausgekocht, um das Aroma an andere Nahrungsmittel abzugeben.

    Drüben trägt man sicher warme Winterstiefel, Sommersandalen und die Häuser sind hell angestrichen. Und die Sportschuhe haben vorne keine Löcher für die größer gewordenen Zehen. Musste man im Westen auch Schlange stehen, um einzukaufen?

    Bei den Danutowskis wurde es stiller als sonst. Niemand redete, das Radio war schon lange kaputt. Die Zwillinge wussten, dass Fragenstellen unerwünscht war. Ihre Mutter arbeitete viel und hatte sie als Babys in die Krippe, später in den Kindergarten oder in die Obhut von Freunden und Bekannten gegeben. Ihren Vater kannten sie nicht einmal von Fotos. So waren sie angepasst und nicht ungehorsam wie ihre Mitschüler.

    In der ersten Nacht nach Mutters Eröffnung, dass sie fortgehen würden, träumte Marta von Büchern in übermannshohen Gestellen. Was gab es Schöneres!? Seit Langem wurde in Polen kaum etwas gedruckt. Am Ende des Schuljahres verkaufte man seine Lehrbücher an jüngere Schüler und erwarb die neuen von älteren. Ihre Leseleidenschaft stillte Marta in Bibliotheken. Sie hatte eine Hassliebe entwickelt für die in braunes Packpapier eingefassten Bände. Sie rochen modrig, waren abgegriffen, vergilbt, die Eselsohren und Fettflecken nervten – und gleichzeitig machten sie sie glücklich.

    Am nächsten Tag, am Sonntag, schlief Tomek bis zum Mittag, und Mutter hatte Dienst im Internat. Marta hatte normalerweise zwar keine Mühe mit Mutters geistig behinderten Schützlingen, aber gerade jetzt wäre sie lieber als Familie zusammen gewesen. Sie besuchte die Messe, und obwohl ihr die Religion nicht viel sagte, fühlte es sich überraschend richtig an. Auf einem langen Spaziergang mit Joka überlegte sie, wie sie sich am Montag nach der Schule von ihren Freunden verabschieden würde. Kaum jemand besaß zuhause ein Telefon, also würde sie sie spontan am Spätnachmittag besuchen. Weil es verboten war und damit Tomek auf keine dummen Gedanken kam, erzählte sie ihm nichts davon.

    Bevor sie ihre Kofferhälfte packte, begann sie, vieles aus ihrem Zimmer wegzuwerfen. Einzig alle Polnisch- und Mathe-Hefte verschnürte sie fein säuberlich, denn sie wollte sie unbedingt behalten. Denn sie war stolz auf die gelösten Aufgaben und auf die Aufsätze über die vielfältigen Themen und hoffte, sie irgendwann wieder in den Händen halten zu können.

    Mutter kehrte spät abends nach Hause zurück und tat, als wäre alles wie immer. Sie fragte nicht einmal, ob sie zu Abend gegessen hatten.

    In der zweiten Nacht, bevor sie ein letztes Mal in Breslau zur Schule gehen würden, konnte Marta kaum schlafen. Erfolglos versuchte sie, die unbekannte Zukunft vor ihrem geistigen Auge zu entwerfen.

    Am Montagmorgen, dem 30. April 1984, stand sie müde auf. Um in der Schule nicht aufzufallen, meldete sie sich im Polnisch-Unterricht freiwillig, ihr Referat gleich nächste Woche zu halten. Danach konnte sie ihren Mitschülern nicht mehr in die Augen sehen. Nach der Schule spazierte sie ein letztes Mal durch ihre geliebte Altstadt und gab sämtliche Bücher an ihre drei Lieblingsbibliotheken zurück.

    Dann betrat sie den Block, in dem viele Schüler aus ihrer Klasse wohnten. Als Erstes wollte sie sich von ihrem besten Freund Adam verabschieden. Als sie langsam in den siebten Stock hinaufstieg, nahm sie bewusst den vertrauten Geruch nach angesäuertem Kohl auf. Normalerweise lief sie so schnell es ging, um ihm zu entgehen.

    Mit klopfendem Herzen klingelte sie an der vergilbten Spanplattentür.

    „Komm raus, die Sonne lacht", sagte sie, als Adam sie wie immer mit ausfahrendem Arm hineinlassen wollte. Ihr war eher nach Heulen zumute.

    Sie liefen in Richtung Freibad, in dem gewöhnlich die halbe Klasse ihre Ferien verbrachte. Die Hecke um den Spielplatz kam ihr heute eigenartig dunkel vor, die Gehwegplatten auffallend uneben und schmutzig.

    „Du bist so schweigsam. Was ist los mit dir?", fragte er.

    „Ich muss dir etwas unheimlich Wichtiges sagen", hauchte Marta beinahe stimmlos und räusperte sich. Die Sonne spiegelte sich in einem Fenster und blendete sie. Ihre Anspannung war kaum auszuhalten.

    „Schieß los!"

    „Es betrifft mich und meine Zukunft."

    „Geht’s um das Lyzeum?"

    „Du kannst es unmöglich erraten."

    „Du, du redest so komisch."

    „Niemand darf etwas davon erfahren."

    „Wovon?"

    „Adam, du musst unbedingt dichthalten … Versprichst du mir das?"

    Er blieb stehen und sah sie an. „Na klar, auf mich ist Verlass."

    „Du, ich meine es todernst. In unserer politischen Situation müssen wir einander vertrauen." Sie setzte sich wieder in Bewegung.

    „Nun sag’s endlich! Was darf ich niemandem verraten?"

    „Heute Abend werden Tomek, Mutter und ich ausreisen, würgte sie mühsam hervor. Sie, die normalerweise um kein Wort verlegen war. „Illegal. Für immer. Ihr Mund war noch nie trockener gewesen.

    Sie beschleunigten das Tempo.

    Adam hielt Marta am Arm zurück, sodass sie sich zu ihm umdrehen musste und stehen blieb. Er schaute sie durch seine dicken Brillengläser durchdringend an.

    „Ich werde dich verlieren? Die beiden kannten die Gedanken des andern, lachten zusammen über die dümmsten Witze, darum wusste sie, was er dachte und fühlte. „Und was ist mit dem Schachspiel? Und den Büchern, die wir zusammen lesen?, rief er und rüttelte sie an den Schultern.

    Marta versuchte seinem Blick auszuweichen und wandte sich ab, um weiter zu laufen. Plötzlich schämte sie sich.

    Ich verlasse mein Land, als würde es sich nicht mehr lohnen, gegen die Kommunisten zu kämpfen. Ich bin ein Feigling.

    Es überkam sie ein fremdartiges Gefühl. Aber noch schlimmer war, dass sie sich gleichzeitig auf die unbekannte Zukunft, auf die verschiedenen Möglichkeiten im Leben freute. „Du musst es für dich behalten, versprichst du mir das?"

    Adam schaute sie von der Seite an und schwieg. Sie wartete mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.

    „Na klar. Ich weiß von nichts", bestätigte er schließlich.

    Sie umarmten sich das erste Mal überhaupt und schworen, sich zu schreiben obwohl sie ahnten, dass es unrealistisch war im kommunistischen Polen.

    Marta hatte nicht den Mut, Adam in die Augen zu schauen. Sie fasste seinen Oberarm, drückte ihn leicht und wandte sich ab. „Bitte geh alleine nach Hause. Ich bleibe noch hier." Er sollte ihre Berührtheit lieber nicht sehen.

    Sie lief weiter, bis sie sich mutig genug fühlte, um ihre beste Freundin Zosia aufzusuchen. Also betrat sie erneut das nach Sauerkraut riechende Treppenhaus und klingelte. Die beiden setzten sich aufs Sofa, und Marta druckste herum, bis sie es endlich aussprechen konnte. Schweigend umarmten sie sich.

    Zosia sagte: „Aber bald haben wir die Aufnahmeprüfungen für das Bio-Chemie-Lyzeum! Wir wollen Medizin studieren. Hast du das vergessen?"

    „Mutter hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich hab keine Wahl, rechtfertigte Marta sich. „Du musst es für dich behalten, hörst du?

    Sie fühlte sich wie jemand, der wider Willen Unrechtes tut und sich dafür verantworten muss. Eine fremde Empfindung. Schweigend umarmte sie Zosia und verließ ihre Wohnung.

    Danach rannte Marta förmlich nach Hause, um ihre geliebte Hündin zu holen. Die schwarze Mischlingsdame war üblicherweise quirlig und fröhlich. Doch bei diesem besonderen Spaziergang lief sie steif umher, entfernte sich nicht allzu weit und schaute häufiger als sonst zu ihr hinauf, als ahnte sie etwas.

    Wieder Zuhause, gesellte Marta sich zu Tomek und Mutter aufs Sofa. Sie aßen Käsebrote und starrten wortlos auf den Koffer und Mutters Reisetasche, die wie verwurzelt in dem erdbraunen Spannteppich wirkten.

    Es dämmerte schon, als die Bukowskis kamen. Es war ihre Familie, auch wenn sie nicht blutsverwandt miteinander waren. Martas Patenonkel Marcin und seine hochschwangere Frau Donata schienen bestens informiert, nur ihre achtjährige Tochter Agata begriff nicht, was vor sich ging.

    „Zwillinge, sagte Marcin streng. „Es ist wichtig: Im neuen Reisepass heißt ihr Kapowski, wie euer Vater. Prägt euch das gut ein.

    Tomek und Marta schauten einander entgeistert an. Das erste Mal hörten sie etwas von ihrem Vater und jetzt hatte er einen Namen.

    Die Bukowskis begleiteten die Danutowskis zu dem weißen Auto, mit dem der unbekannte Mann sie in das unbekannte Land, in die unbekannte Zukunft bringen sollte. Joka! Marta küsste und drückte ihr geliebtes Tier so fest, dass es zu bellen anfing. Erschrocken ließ sie die sonst brave Hündin los. Erst als Marta zu schluchzen anfing – auch das vollkommen ungewöhnlich – merkte sie, dass sie neben all den anderen aufregenden Gefühlen traurig war.

    „Bis zur Grenze musst du dich aber beruhigen, sagte Tante Donata, als sie Marta umarmte. „Es steht viel auf dem Spiel. Keiner darf weinen oder traurig wirken. Auf keinen Fall ungefragt reden. Wir kümmern uns um Joka, versprochen. Es wird alles gut werden.

    Onkel Marcin legte seine Hand auf Martas linke Schulter. Sie war nun zu alt, um auf dem Kopf gestreichelt zu werden. Donata drückte Tomek an ihre Brust. Mutter nahm Platz auf dem Beifahrersitz, die Zwillinge auf der Rückbank. Marta war es peinlich, dass sie sich nicht im Griff hatte.

    Während der nächtlichen Autofahrt blieben alle wach und schwiegen. Nicht einmal das Radio lief. Die vorbeiziehende Landschaft war in Dunkelheit getaucht. Marta starrte auf den Fahrer, den sie für sich ‚Drachen‘ nannte. Er war weder mager noch dick, sein adrett gebügeltes, dunkles Hemd passte zur beigefarbenen Hose, sein Hinterkopf mit den leicht gräulichen, blonden Haaren kam ihr eigenartig vor. Bukowskis’ Schinkenbrötchen schmeckten herrlich – wie die Heimat, die sie gerade verließen. Mutter bot dem ‚Drachen‘ davon an, und Marta staunte, dass er keinen eigenen Proviant mithatte.

    Als sie an der DDR-Grenze ankamen, weinte sie nicht mehr, sondern saß steif und innerlich leer auf ihrem Sitz. Tomek blieb ruhig, was sie verwunderte. Wortlos zeigte der Fahrer ihre gefälschten Pässe und beantwortete einsilbig zwei Fragen der Beamten, deren prüfende Blicke schwer auszuhalten waren. Ihr Gepäck wurde nicht durchsucht. Während Marta alles rätselhaft vorkam, schien es für die anderen wie ein eingeübter Sketch abzulaufen. Sie kamen an Karl-Marx-Stadt vorbei.

    Merkwürdig, dass eine ganze Stadt nach einem Mann benannt ist, der für mich der Inbegriff des Bösen ist.

    An der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland zeigte Mutter nur kurz zwei Blätter, und sie wurden durchgewinkt.

    Sie waren im Westen.

    Im Morgengrauen erreichten sie Friedland bei Göttingen. Marta hatte noch nie so saubere Straßen gesehen.

    Sie sind ja gar nicht bunt!

    Wortlos ließ der ‚Drache‘ sie mitsamt Gepäck an einem gelben Gebäude aussteigen und fuhr weg.

    Es empfing sie eine schlanke, gepflegte, etwas unterkühlte Mitarbeiterin des Auffanglagers für Aussiedler. Es ärgerte Marta, dass sie die Sprache nicht verstand, während Mutter keine Probleme zu haben schien. Die Frau führte sie in ein Zimmer in einer der vielen länglichen Baracken. Es roch nach Putzmitteln, die gelblichen Wände waren kahl, ihr dürftiges Gepäck landete neben den zwei Etagenbetten. Einen Tisch oder Schrank gab es nicht. Die Frau legte eine mit Formularen gefüllte Mappe auf einen der vier Stühle und überließ sie ihrem Schicksal. Keiner redete, alles fühlte sich fremd an. Ohne auszupacken legten die Danutowskis sich in ihrer Reisekleidung hin und schliefen bis in den Nachmittag hinein.

    Hungrig wachte Marta auf - Mutter und Tomek rührten sich nicht. Sie nahm das vorletzte Brötchen aus ihrem Proviant und schlich sich nach draußen, froh, an diesem ersten Tag im sagenumwobenen Westen allein die Gegend erkunden zu können.

    Die Straßen waren menschenleer. Marta staunte, denn sie hatte am Tag der Arbeit Demonstrationen erwartet.

    Wie sie es gehasst hatte, die nach strengen Vorgaben angefertigten Transparente und rote Papierfahnen zu schwenken und gute Miene zu dem absurden Zirkus zu machen. Aus Angst vor schlimmen Folgen hatte sie mitgemacht, statt auszuschlafen.

    Nachdem sie eine Weile herumgelaufen war, ohne eine Menschenseele zu erblicken, kehrte sie zurück ins Zimmer. Mutter und Tomek waren wach, also gingen die Danutowskis in den geräumigen, nahezu leeren Speisesaal. Das gratis Abendessen schmeckte seltsam steril, sättigte aber gut. Wie üblich stellten die Kinder keine Fragen.

    Am zweiten Mai ging Marta nach dem Frühstück in den Supermarkt gegenüber dem Lager. Nur alles anschauen, sagte sie sich; sie hatte schließlich kein Geld. Und sie brauchte nichts. Beim Abendessen gestern hatte sogar eine ganze Wurst in der Linsensuppe geschwommen. In Breslau hatte es höchstens alle zwei Wochen eine für drei Personen gegeben, und das erst nach stundenlangem Schlangestehen. Zu ihrem Erstaunen waren die blitzeblanken Schaufenster mit farbenfreudigen Plakaten beklebt, die Tür öffnete und schloss sich ungewohnt lautlos.

    Drinnen traf Marta buchstäblich der Schlag. Ihr Kopf dröhnte und sie begann zu schwitzen. Niemand stand an, die Frau an der Kasse begrüßte sie – das hatte sie noch nie erlebt. In einem breiten Kühlabteil erblickte Marta bunte Joghurtbecher mit mannigfaltigen Geschmacksrichtungen: Himbeere, Erdbeere, Heidelbeere! Ordentlich aufgereiht, und von allem unerwartet viele. Ihr wurde schwindlig. Sie entdeckte schön verpackte Milch, Butter, Käse. Und in einem anderen Regal lagen Salamis und unterschiedliche Schinkensorten. Die hauchdünnen Scheiben waren sorgfältig fächerförmig übereinandergelegt.

    Fein geschnittene Wurstwaren?!

    Sie kniff sich in die linke Hand und spürte es.

    Oh, Realität!

    Um nichts zu verpassen, versuchte sie ihren Blick systematisch schweifen zu lassen. Und sie wollte sich alle deutschen Wörter für die Lebensmittel merken. Aber es waren viel zu viele. Es gab mehrere Sorten Schokolade, Eier, sogar Strumpfhosen und Zigaretten. Was war nun richtig: Dass es in Polen schwer war, solche Dinge zu ergattern, vielleicht, um bescheiden zu bleiben? Oder dass hier alles einfach da war und man das Problem hatte, zwischen gelb und blau zu wählen?

    … Was ist das!?

    Sie hielt die Luft an.

    Gewaschene und polierte Früchte? Irrsinnig!

    Und dann:

    Bananen

    !!!

    Martas Herz hämmerte kräftig in ihrer Brust. Blitzartig fasste sie einen äußerst dringenden Entschluss, und rannte wie der Blitz hinaus.

    Sie fand Mutter im Verwaltungsgebäude, wo sie in einem schmalen Gang mit Dokumenten auf dem Schoß saß.

    „Im Laden gibt’s Bananen!, japste sie atemlos in Mutters Ohr und stammelte aufgeregt: „Ich möchte soooo gern eine essen! Nur eine! Eine Einzige! Kannst du mir bitte Geld dafür geben?

    „Bananen?", fragte Mutter.

    Marta nickte heftig und trippelte mit den Beinen.

    „Was kosten die denn?"

    Marta schluckte. In der Aufregung hatte sie nicht auf den Preis geschaut. „Ich … weiß nicht."

    Mutter seufzte, fingerte in ihrer Hosentasche ungelenk eine fremde, recht schwere Münze heraus.

    „Hier, vielleicht genügt das."

    Mit einer D-Mark in der Hand eilte Marta zurück in das Geschäft und kaufte sich die erste Banane in ihrem Leben. Sie nahm sich vor, die Frucht abseits des Lagergeländes schön langsam zu verspeisen. Aber als sie nach draußen gelangte, warf sie alle Vorsätze über Bord und schälte ihren Schatz. Auf der Stelle. Gierig schnupperte sie an der weichen, gelblich-braunen, vanilleartigen Banane. Das erste Stückchen schmeckte mild, süß, geradezu himmlisch.

    Schön langsam essen

    , ermahnte sie sich. Der Genuss verstärkte sich deutlich, wenn sie vor dem Schlucken durch die Nase einatmete. Die braunen Stellen zergingen leicht auf der Zunge und waren am leckersten.

    Den ganzen Nachmittag und Abend blieb Marta wie berauscht von ihrer einzigartigen Bananenerfahrung. Sie erzählte sonst niemandem davon.

    Mutter verschwand vormittags im Verwaltungsgebäude, nachmittags saß sie im Foyer und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Zwillinge spielten Federball vor dem Lager. Marta ging hinaus auf die Straße, wo sie deutsche Kinder nach der Schule auf dem Heimweg sah. Als zwei Jugendliche in ihrer Nähe stehen blieben, schaute sie sie freundlich an und sagte: „Gute Tak …"

    Der eine blonde, kräftigere Junge lächelte sie an und zeigte auf die Badmintonschläger, die sie vom Aufenthaltsraum ausgeliehen hatte. Sie gab ihm wortlos einen und sie begannen zu spielen. Der andere schaute ihnen zu. Zwischendurch blickte Marta auf die Seite, wo er seinen Schulranzen hingelegt hatte. Denn dieser kam ihr bunt und gigantisch vor, anders als die Polnischen.

    Wenn der Ball nicht so flog, wie sie wollten, lachten alle drei.

    „Jörg", rief der blonde Junge, als er sich nach dem Ball bückte.

    „Jo?", fragte Marta verunsichert, weil sie weder verstand, worum es ging, noch wie dieses Wort genau ausgesprochen wird.

    „Nicht jo, Jörg, J ö r g, ich heiße Jörg", sagte er lachend und zeigte auf seine Brust.

    „Ah, Marta, gute Tak!". Sie vermied es, den merkwürdigen Buchstaben, das komische ‚ö‘, das es im Polnischen nicht gibt, zu wiederholen. Stattdessen blickte sie fragend den anderen Jungen an.

    „Matthias", sagte dieser und übernahm den Schläger von Jörg.

    Bei uns gibt es normale Namen, die hier kann ich nicht mal aussprechen, geschweige denn mir merken, dachte Marta und nickte in seine Richtung.

    Dabei muss ich möglichst alles gut lernen!

    Als der Ballwechsel schleppend wurde, hörten sie auf zu spielen.

    „ … klasa?", fragte Marta die beiden.

    „Ich gehe in die sechste Klasse", antwortete Matthias.

    „Ich in die siebte", sagte Jörg.

    Marta nahm ihre Finger zur Hilfe: „Eis, zwei, …"

    „Nein. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben …", setzte Mat-thias an und lachte laut.

    Was ist daran komisch? Ich kanns nicht gut. Also noch mal.

    „Acht klasa", sagte Marta und zeigte auf sich.

    „Achte Klasse. Echt klasse", meinte Jörg und musterte sie von Kopf bis Fuß.

    „Echt klasse", wiederholte Marta und die beiden Jungen kringelten sich vor Lachen.

    Was haben die? Meine Hose ist zwar etwas kurz, aber sauber!

    Als Matthias sich beruhigt hatte, schaute er auf die Uhr, hob seine ebenfalls bunte Schultasche von der Straße und rief: „Tschüss, bis morgen."

    Jörg folgte ihm und winkte zum Abschied.

    „Tschus", plapperte Marta unbeirrt nach, denn sie wollte ihre Zukunft möglichst schnell selbst anpacken. Zwar fühlte sich das Ganze holprig an, aber sie gab ihr Bestes. Die Jungs lachten, drehten sich aber nicht mehr zu ihr um.

    Wieder im Zimmer nahm Marta das winzige, in eine Hand passende Wörterbuch und schlug Vokabeln nach, die sie am nächsten Tag im Gespräch mit den Jungs benutzen wollte.

    Beim Abendbrot in der Kantine schwiegen alle wie so oft. Seit Mutters denkwürdigem Satz ‚Übermorgen fahren wir nach Deutschland‘ rasten in Martas Kopf ungeordnete Gedanken, die sich mit einer unheimlichen Leere abwechselten. Dabei wollte sie sich auf die neuen deutschen Wörter konzentrieren. Sie behielt alles für sich, um Mutter nicht zu beunruhigen.

    Die Zwillinge berichteten beim Tee vom Federballspielen, als Mutter in Richtung Tür blickte und sagte:

    „Morgen reisen wir weiter. Nach Norddeutschland."

    „Ist das weit?", fragte Tomek und richtete sich auf.

    „Einige Stunden Zugfahrt."

    „Warum fahren wir da hin?", wollte Marta wissen.

    „Eure Großtante Elisabeth lebt dort, die Stadt heißt Kiel."

    „Haben wir eine Tante?", rief Marta. Von Angehörigen war zuvor nie die Rede gewesen.

    Mutter ist doch als Waisenkind im Heim aufgewachsen. Deswegen sind die Bukowskis unsere Familie, obwohl wir nicht blutsverwandt sind. Merkwürdig.

    „Packt euren Koffer. Ich muss noch etwas erledigen. Heute gehen wir früh schlafen", sagte Mutter und verließ die Kantine.

    Marta schaute ihr nach, sah ihren plumpen Gang, ihre mollige Figur, ihre kurzen, dichten, schwarzen Haare, um die sie sie immer beneidete.

    2. Ringen nach Luft (2011, Deutschland)

    Tomek öffnete Mutters Wohnung in Kiel-Elmschenhagen, und Marta und ihr Mann Patrik folgten ihm.

    Erwartungsgemäß sah es unordentlich aus: Überall lag benutztes Geschirr, im trüben Wasser des Aquariums trieben zwei aufgeblähte Fische und man stolperte über Kabel und Schläuche. Der Fernseher lief, auf dem Sofa stapelten sich Bücher.

    Sie kam Marta fremd vor, diese nach Luft schnappende ältere, dickliche Frau mit vergrößernder Brille und dem schütteren, grauen Haar. Wenn sie meine Patientin wäre, dachte Marta, hätte ich sofort angefangen, professionell zu handeln. Doch bei Mutters Anblick war sie unfähig, das Richtige zu tun.

    „Bleib sitzen, wir kommen zurecht", sagte Marta trocken, als sie das Wohnzimmer betraten.

    Patrik küsste seine Schwiegermutter auf die Wange und verschwand in der winzigen Küche, um Tee zu kochen. Tomek setzte sich aufs Sofa. Marta blieb neben dem wuchtigen Sauerstoffapparat stehen. Eingeschaltet surrte er ähnlich, wie eine alte Spülmaschine. Aber das war er nicht. Schläuche schlängelten sich daraus hervor und lagen ungeordnet auf dem Boden. Zu ihrer eigenen Überraschung wühlte es Marta auf, mit anzusehen, wie Mutter schwer nach Luft schnappte und hechelte.

    „Heute kann ich besonders schlecht atmen …", japste Mutter.

    Der Schlauch mit dem lebensrettenden Gas, der in ihren Nasenlöchern stecken sollte, lag auf dem schmutzigen Teppich.

    Wie kann sie nur.

    „Hier, nimm das!", sagte Marta und gab Mutter das Ende des Kunststoffröhrchens.

    „Ich brauch das nicht."

    „Ich denke, doch. Jetzt schalten wir das ein, damit du besser Luft holen kannst."

    „Ach wo! Es ist bloß das Asthma!"

    „Für die Nacht hat sie ein Gerät mit einer Maske, aber sie vergisst meistens, es anzuschließen", warf Tomek ein.

    Ist klar, weil das Gehirn zu wenig Sauerstoff erhält … Auch eine Demenz wäre möglich.

    Marta schwieg lieber, weil es ihren Bruder sicher verletzt hätte.

    Die erwarten wohl, dass ich alles richte, was sie haben schleifen lassen.

    Aber Mutter hört ja noch weniger auf mich als auf ihn.

    Als Tomek zum ersten Mal in der Schweiz angerufen und Marta gebeten hatte, wegen Mutter nach Kiel zu kommen, hatte sie schon über schlimme Atemprobleme geklagt. Klar, nach jahrzehntelangem Rauchen. Ursprünglich hatte sie nicht fahren wollen. Mutter war ihr fremd geblieben, rätselhaft, unnahbar. Marta hatte sich vor ihrem eigenen Ekel und peinlicher Nähe gefürchtet. Dank ihrem Ehemann war sie nun hier.

    Und ich will Tomek mit unserer alten Mutter helfen. Ja, ich will es wirklich.

    „Johanna, schau’ her, sagte Patrik zu Martas Mutter. Er hatte sich neben sie gesetzt, um ihr zu erklären, wie sie per Internet telefonieren konnte. Denn beim normalen Telefon vergaß Mutter, den Hörer aufzulegen, oder drückte die falschen Tasten. Sie hatten extra einen ausgemusterten Computer aus Patriks Arztpraxis mitgebracht. „Zuerst bedienst du den Knopf hier, dann diesen hier, und schon hören und sehen wir uns auf dem Bildschirm.

    Nach drei vergeblichen Versuchen zeigte Patrik Johanna ein Blatt Papier. „Guck mal, hier steht alles drauf!"

    Mutter wirkte zerstreut und desinteressiert.

    „Wir müssen wohl aufgeben", sagte er zu Marta, die seine Geduld bewunderte.

    „Sieht so aus."

    Da sitzt sie, meine eigene Mutter: Gleichgültig, beinahe abwesend, gerade einmal siebzig und verdummt. Dabei war sie früher immer ausgeglichen gewesen.

    Marta seufzte. „Komm, wir fahren in die Stadt und kaufen ein Telefon mit großen Tasten. Tomek, bleibst du solange hier?"

    Er nickte und befestigte erneut Mutters Nasensonde.

    Marta und Patrik verließen erleichtert die Wohnung.

    Später bestellten sie sich bei Tomek Pizza, und Marta freute es, dass er sich in guter psychischer Verfassung zu befinden schien. Er erzählte, dass er nur noch selten kiffte, regelmäßig arbeitete und Sport trieb. Sie zeigten ihm das neu erstandene Gerät für Mutter.

    „Super, die großen Tasten", meinte er.

    „Wir installieren es morgen, bevor wir nach Hamburg zum Flughafen fahren", beschloss Patrik.

    „Gut, denn ich muss arbeiten."

    „Ich bin dankbar, dass du Mutter so gut umsorgst", sagte Marta.

    „Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Sie macht mir dauernd Vorwürfe", sagte Tomek ein wenig hilflos. Er wirkte bekümmert.

    „Und wieso?", fragte Patrik.

    „Keine Ahnung. Ich besuche sie täglich, bringe mal eine Suppe oder wasche ihre Kleidung, vor allem Unterwäsche – sie duscht kaum …"

    „Sie scheint nicht mehr zu lesen", stellte Marta fest.

    „Dafür läuft den ganzen Tag der Fernseher", fügte Tomek hinzu.

    „Und kann nicht einmal zwei Knöpfe am Computer bedienen", sagte Patrik.

    „Mir gefällt die Atemnot nicht", warf Marta ein.

    Tomek lachte auf. „Sie geht nicht zum Arzt."

    „Dann muss der Arzt eben zu ihr kommen, beschloss sie. „Ich kümmere mich morgen darum.

    „Hoffentlich bewirkst du etwas. Denn das ist ja sehr schlimm", meinte Patrik.

    Gleich am nächsten Morgen rief Marta Mutters Hausarzt an. Schon nach wenigen Sätzen warf sie das Mobiltelefon wütend aufs Sofa. „Das ist ja nicht zu glauben!", schnaubte sie.

    „Was?", fragte Patrik.

    „Der Arzt macht keine Hausbesuche, man muss zu ihm gehen, wenn man ihn braucht."

    „Das ist ein dicker Hund." Patrik schüttelte ungläubig den Kopf. Auch er war Arzt und engagierte sich für seine Patienten.

    „Hoffentlich schafft Tomek es, sie in die Praxis zu bringen."

    Womöglich ist es nicht nur Asthma, sondern sogar eine COPD. Der ständige Sauerstoffmangel würde die Vergesslichkeit und Depression erklären.

    Marta hatte das Gefühl, sie müsste mehr für Mutter tun, aber sie bezweifelte, eine Beziehung zu ihr aufbauen zu können. Sie übernahm lieber die Finanzen, die sie von der Schweiz aus regeln würde.

    Einige Wochen später joggte Marta am Dorfrand und beobachtete den über ihrem Kopf kreisenden Bussard, als ihr wieder einmal bewusst wurde, wie fantastisch die Schweiz mit ihren Bergen, Wiesen, Seen und Wäldern war. Sie fühlte sich sehr privilegiert, in diesem Land, in einem der alten, gepflegten Dörfer zu wohnen.

    Ich kann einfach rauslaufen und in der Natur sein.

    Zurück zuhause sah sie auf dem Weg zur Dusche, dass der Anrufbeantworter rot leuchtete. Auf dem Display erschien Tomeks Nummer. Hm, was ist los, fragte sie sich.

    „Mutter ist in der Uniklinik! Es ist schlimm", schnaubte ihr Bruder.

    „Erzähl!"

    „Sie hat so schwer geatmet am Telefon, geröchelt, sag’ ich dir, ich hab nur ‚Krankenhaus‘ verstanden. Bin mit dem Taxi zu ihr. Sie war fast blau im Gesicht! Unterwegs hat sie auf einmal aufgehört zu atmen. Sie lebte nicht mehr, Marta! Ich dachte, sie stirbt!"

    Etwas hinter Martas Brustbein zog sich zusammen.

    So tapfer. Er hat nicht einmal daran gedacht, die Ambulanz zu rufen, sondern ist sofort zu ihr.

    „Warum hast du keinen Krankenwagen … Marta hielt inne. Das war jetzt egal. „Ich nehme den nächsten Flieger.

    Sie eilte durch die grell beleuchteten, unendlich langen Gänge des Kieler Krankenhauses. Mutter sah bleich aus, lag halb aufrecht im Bett und starrte vor sich hin, als Marta klopfte und ihren Kopf hineinschob.

    „Einen Moment bitte", sagte ein Arzt, der gerade mit Mutter sprach.

    Marta zog sich zurück und wartete auf dem Flur. Sie würde gleich Fragen stellen.

    Als der Arzt aus dem Zimmer kam, stellte sie sich vor, und er erklärte:

    „Ihre Mutter hat das Sauerstoffgerät zu wenig genutzt und hat darum eine schwere Lungenentzündung bekommen. Leider nimmt sie die Situation nicht ernst."

    „Ich befürchte, dass sie zeitweise recht vergesslich ist. Je nach Belüftungssituation."

    „So entsteht ein Teufelskreis, genau."

    Ich muss es mit Tomek besprechen, das kann niemand mehr verantworten.

    Tomek ließ Marta Platz nehmen, als sie bei ihm eintraf und begab sich in die Küchennische. Sie erblickte den mit Zigarettenkippen, Feuerzeugen, altem Brot und Münzen vollgestellten Tisch und legte herumliegende Kleider zu Seite, um sich aufs Sofa setzen zu können.

    Kommt mir bekannt vor.

    Routiniert schob Tomek mit einem Unterarm die Sachen auf der Tischplatte zur Seite und stellte zwei Gläser hin. „Der Tee kommt gleich."

    „Wir können es nicht verantworten, dass Mutter erneut fast erstickt", begann Marta, ohne abzuwarten.

    „Kann das wieder passieren?"

    „Du hast doch auch mit dem Arzt gesprochen."

    Er stand auf und schnappte sich eine Scheibe Brot aus dem Schrank und legte sie auf die ebenfalls sehr belegte Küchenplatte. Dann strich er sie bedächtig mit viel zu weicher Butter und schleckte sich die Finger ab. Er sah Marta nicht an, als er fragte. „Was sollen wir tun?"

    „Sie kann nicht mehr nach Hause, Tomek."

    „Aber ich bin ja für sie da", rief er und warf das Messer auf die Ablage.

    „Sie schafft es nicht mehr allein. Sobald sie zu Hause ist, werden wir sie nicht davon überzeugen können, freiwillig in ein Heim zu gehen. Bekanntlich ‚fehlt‘ ihr ja nichts."

    Tomek nahm einen Bissen von seinem Brot, drehte sich zu Marta, und sagte laut schmatzend: „Ich kann täglich für sie kochen und weiterhin waschen."

    „Du … Dieser Gedanke tut mir doch auch weh." Vergeblich suchte sie seinen Blick.

    Er schluckte laut und biss noch mal in sein Brot. „Ich kann das. Wie die letzten Monate auch."

    „Wir müssen vernünftig

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