5 Frankreich Krimis im Superband Juli 2024
Von Alfred Bekker
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Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und der Killer von Point-Rouge
Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und der Blitz von Marseille
Alfred Bekker: Ein Killer in Marseille
Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und der Mörder aus dem Museum
Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und die geheimnisvolle Frau
Nach Jahren taucht der Profikiller namens “Blitz” aus der Versenkung auf und hinterlässt in Marseille eine Spur aus Blut. Man hat, wie auch schon bei früheren Morden, keine Hinweise oder Spuren. Alles deutet auf einen Bandenkrieg innerhalb der Müll-Mafia hin, auffällig ist allein die Tatsache, dass der Killer jetzt nicht allein zu arbeiten scheint. Commissaire Marquanteur und seine Kollegen haben einen schwierigen Fall zu lösen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jenny Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Alfred Bekker
Alfred Bekker wurde am 27.9.1964 in Borghorst (heute Steinfurt) geboren und wuchs in den münsterländischen Gemeinden Ladbergen und Lengerich auf. 1984 machte er Abitur, leistete danach Zivildienst auf der Pflegestation eines Altenheims und studierte an der Universität Osnabrück für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Insgesamt 13 Jahre war er danach im Schuldienst tätig, bevor er sich ausschließlich der Schriftstellerei widmete. Schon als Student veröffentlichte Bekker zahlreiche Romane und Kurzgeschichten. Er war Mitautor zugkräftiger Romanserien wie Kommissar X, Jerry Cotton, Rhen Dhark, Bad Earth und Sternenfaust und schrieb eine Reihe von Kriminalromanen. Angeregt durch seine Tätigkeit als Lehrer wandte er sich schließlich auch dem Kinder- und Jugendbuch zu, wo er Buchserien wie 'Tatort Mittelalter', 'Da Vincis Fälle', 'Elbenkinder' und 'Die wilden Orks' entwickelte. Seine Fantasy-Romane um 'Das Reich der Elben', die 'DrachenErde-Saga' und die 'Gorian'-Trilogie machten ihn einem großen Publikum bekannt. Darüber hinaus schreibt er weiterhin Krimis und gemeinsam mit seiner Frau unter dem Pseudonym Conny Walden historische Romane. Einige Gruselromane für Teenager verfasste er unter dem Namen John Devlin. Für Krimis verwendete er auch das Pseudonym Neal Chadwick. Seine Romane erschienen u.a. bei Blanvalet, BVK, Goldmann, Lyx, Schneiderbuch, Arena, dtv, Ueberreuter und Bastei Lübbe und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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Buchvorschau
5 Frankreich Krimis im Superband Juli 2024 - Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Commissaire Marquanteur und der Killer von Point-Rouge
Alfred Bekker
Commissaire Marquanteur und der Killer von Point-Rouge: Frankreich-Krimi
von Alfred Bekker
Ein Bandenkrieg unter Drogendealern in Marseille ruft die Commissaire Marquanteur und die Sonderabteilung FoPoCri auf den Plan. Unliebsame Zeugen werden durch einen Profikiller ausgeschaltet. Als auch beteiligte Anwälte getötet werden, wird die Suche intensiviert, aber der Killer ist geschickt. Er hat jedoch ein eindeutiges Merkmal, auf das sich die Fahndung konzentriert – sehr kleine Füße.
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1
Manchmal fragt man sich, welchen Sinn all das macht, was wir tun.
Da macht man einen Schritt vor, und dann sorgen andere dafür, dass es hinterher wieder mindestens genauso viele Schritte zurück geht.
Vielleicht muss ich erst einmal erklären, wer ich bin und worum es geht, sonst können sie nicht nachvollziehen, was ich meine. Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire.
Soweit, so gut.
Ich gehöre zu einer Sondereinheit, die für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens gegründet wurde. Sie nennt sich Force spéciale de la police criminelle und ist hier in Marseille angesiedelt.
Zusammen mit meinem Kollegen François Leroc übernehme ich die wirklich kniffligen Fälle, die größere Ressourcen und Fähigkeiten benötigen.
Wir riskieren unser Leben, um unseren Job erfüllen zu können.
Und wenn dann ein Krimineller, von dem man genau weiß, dass er schuldig ist, durch juristische Winkelzüge wieder auf freien Fuß kommt, dann ist das gerade für unsereins ziemlich schwer zu verdauen.
Aber das ist wohl auch eine Seite unseres Berufs, mit der man irgendwie klarkommen muss.
2
Hugo Grenadille hob die Hand zum Victory-Zeichen, als er die Stufen des Gerichtsgebäudes hinab schritt. Eine Handvoll Polizisten schirmten den Mann ab, der soeben wegen eines Verfahrensfehlers einer Verurteilung wegen Mordes entgangen war.
Mehrere Kamerateams und Dutzende von Reportern drängten sich um Grenadille, der die Aufmerksamkeit sichtlich genoss.
Eine Mikrofonstange reckte sich Grenadille entgegen.
»Ein kurzes Statement!«, rief jemand.
Grenadille grinste.
»Was soll ich sagen? Wir leben eben in einem Rechtsstaat«, lachte er und bleckte dabei zwei Reihen makellos weißer Zähne.
Hugo Grenadille ahnte nicht, dass er sich in dieser Sekunde im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs befand.
Mein Kollege François Leroc und ich hielten uns etwas abseits des Menschenauflaufs auf, der rund um den Haupteingang des Gerichtsgebäudes entstanden war.
Hugo Grenadille war des Mordes an einen Barbesitzer in Pointe-Rouge bezichtigt worden, aber Staatsanwalt David Lohmer war mit seiner Anklage sang- und klanglos untergegangen. Es hatte sich herausgestellt, dass Beweismittel teilweise unter gesetzwidrigen Bedingungen erhoben worden waren. Man hatte den Verdächtigen nach seiner Verhaftung nämlich nicht hinreichend über seine Rechte aufgeklärt.
Darüber hinaus waren im Verlauf des Verfahrens die Zeugen der Anklage reihenweise umgefallen, hatten ihre Aussagen zurückgezogen oder waren nicht mehr bereit, sie vor Gericht zu bestätigen. Die Staatsanwaltschaft vermutete, dass diese Zeugen unter Druck gesetzt worden waren. Beweise hatte sie dafür allerdings nicht vorlegen können.
Plötzlich hatte sich niemand mehr daran erinnern können, dass Hugo Grenadille die Bar, in der das Verbrechen verübt worden war, am Tatabend überhaupt betreten hatte.
Wir vom Polizeipräsidium Marseille ermittelten seit Langem gegen jenen Mann, der als Auftraggeber dieses Mordes verdächtigt wurde.
Niko Dragnea.
Ein Mann, der hinter vorgehaltener Hand auch als der »Wäscher von Pointe-Rouge» bezeichnet wurde. Er war an Dutzenden von Bars, Clubs und Diskotheken im gesamten Marseille beteiligt oder betrieb sie in eigener Regie. Diese Etablissements, so glaubten wir, dienten einzig und allein der Wäsche von Drogengeldern.
Hugo Grenadille, der als Dragneas Mann fürs Grobe galt, schien sich in seiner Rolle als Medienstar immer mehr zu gefallen.
»Ich danke der Staatsanwaltschaft dafür, dass sie nicht in der Lage war, ein ordentliches Verfahren auf die Beine zu stellen. Ich danke außerdem meinen Anwälten, dass sie es geschafft haben, diesem besser ungenannt bleibenden Schmalspurrechtsverdreher, der durch politische Schleimscheißerei zum Staatsanwalt werden konnte, mal gezeigt wurde, wo seine Grenzen sind. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn er sich sogar sein Universitätsdiplom und seinen Doktorhut selbst gekauft hat.«
»Ein widerlicher Kerl«, kommentierte François den Auftritt Hugo Grenadilles, der sich immer weiter in seinen Triumph hineinzusteigern schien.
Plötzlich veränderte sich Hugo Grenadilles Gesichtsausdruck. Er wurde starr. Mitten auf seiner Stirn erschien ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Gleichzeitig ging ein Ruck durch seinen Körper. Er sackte in sich zusammen.
Tumult entstand.
Eine Kugel hatte Hugo Grenadilles Stirn durchschlagen. Instinktiv ging meine Hand zum Griff meiner SIG Sauer P 226. Ich blickte an der Fassade eines mehrstöckigen Gebäudes empor, das dem Gericht gegenüber lag. Von dort aus musste der Schuss gekommen sein.
Das dritte Fenster im siebten Stock war offen. Ein Windstoß wehte die Gardine ins Freie. Wahrscheinlich die Zugluft, die entstand, wenn jemand gleichzeitig die Wohnungstür öffnete. Der Killer machte sich offenbar schleunigst davon.
»Los! Vielleicht kriegen wir den Kerl noch!«, rief ich François zu.
»Seit wann glaubst du an Wunder, Pierre?«
3
Wir kämpften uns durch die Menge, während im Hintergrund bereits Sirenen von Einsatzfahrzeugen der Polizei und der Notfallambulanz schrillten. Anschließend rannten wir über die Straße. Der Van eines Pizza-Service bremste mit quietschenden Reifen. Der Fahrer zeigte mir einen Vogel, ich ihm meinen Dienstausweis des Polizeipräsidiums Marseille.
Endlich erreichten wir die andere Straßenseite.
Über Handy hatte François längst unsere Zentrale in der Dienststelle verständigt. Von dort aus würden alle weiteren als notwendig erachteten Maßnahmen ergriffen werden.
Wir erreichten den Eingang des gewiss schon etwas älteren, aber in einem Top-Zustand befindlichen Hauses. Ein Bürohaus der gehobenen Sorte – ohne den Komfort der modernen Glaspaläste, aber mit dem Charme und dem Stil der Architektur der Dreißiger.
Anwaltskanzleien residierten hier. Die unmittelbare Nähe zum Gerichtsgebäude war zweifellos ein Standortvorteil, der es zumindest für Kanzleien der mittleren Kategorie attraktiver erscheinen ließen, sich hier einzumieten statt in einer Etage irgendeines teuren Glaspalastes.
In der Eingangshalle patrouillierten Angehörige eines privaten Security Service in schwarzen Uniformen herum. Sie trugen sechsschüssige kurzläufige Revolver vom Typ Smith & Wesson Kaliber 38 an den Gürteln. Ich ging auf den ersten Mitarbeiter der Security zu, zeigte ihm meinen Dienstausweis und sagte: »Pierre Marquanteur, FoPoCri. Vom dritten Fenster im siebten Stock ist auf das Portal des Gerichtsgebäudes geschossen worden. Sorgen Sie mit Ihren Leuten dafür, dass die Ausgänge, das Treppenhaus und die Aufzüge bewacht werden! Niemand darf das Haus verlassen, bevor unsere Verstärkung nicht eingetroffen ist und die Personen kontrollieren konnte.«
»Ja, kein Problem.«
Ich gab ihm meine Karte.
»Da ist meine Handynummer drauf. Melden Sie sich sofort, wenn sich hier unten etwas tut!«
»In Ordnung.« Er steckte die Karte ein. »Drittes Fenster, siebter Stock, sagten Sie?«
»Ja.«
»Das müssen die Räume von Watton & Partner sein. Die sind letzte Woche ausgezogen. Seitdem steht die Etage leer, weil sich noch kein Nachmieter gefunden hat, der bereit war, die horrende Miete zu bezahlen!« Der Mitarbeiter der Security drehte sich um. Sein Name stand in Großbuchstaben an seinem Uniformhemd: B. Borné.
»Hey, Jacques! Bring die Commissaires ins Siebte! Aber pass auf! Kann sein, dass sich da oben ein schießwütiger Killer herumtreibt.«
Jacques – dem Hemdaufdruck nach hieß er Jacques Tihange – zog Revolver und Generalschlüssel und bedeutete uns, ihm zu folgen.
Borné bellte inzwischen Befehle an seine Leute durch die Eingangshalle. Ein weiterer Mitarbeiter der Security, der seinen Platz in einem Kubus aus Panzerglas hatte und von dort aus den Eingang überwachte, griff zum Telefonhörer, um Anweisungen weiterzugeben.
Jacques Tihange führte uns zum Treppenhaus. Wir konnten nur hoffen, dass Borné auch wirklich meinen Anweisungen folgte und in Kürze noch ein paar Mitarbeiter der Security hier in Stellung gingen und sich die schwarzen Sheriffs nicht nur auf die Aufzüge konzentrierten. Schließlich musste innerhalb kürzester Zeit dem Täter jegliche Fluchtmöglichkeit genommen und jedes noch so kleine Loch gestopft werden.
Wenn es nicht ohnehin schon zu spät war.
Wir nahmen jeweils zwei bis drei Stufen mit einem Schritt. Dabei stellte sich heraus, dass es Jacques Tihange in puncto Kondition durchaus mit zwei durchtrainierten Commissaire wie François und mir aufnehmen konnte.
Schließlich erreichen wir den siebten Stock. Ein kurzer Korridor führte zu den Räumen von Watton & Partner. Das Firmenschild war abmontiert.
Lediglich ein Umriss und die Schraubenlöcher waren noch zu sehen.
»Hieß nicht einer der Verteidiger von Grenadille Watton?«, fragte François.
»Allerdings!«
Die Zugangstür zum Bereich von Watton & Partner war durch eine Glastür vom Eingangsbereich getrennt, wo sich auch der Zugang zu den Aufzügen befand. Die überprüften wir zuerst.
Keine der vier Kabinen war gerade in Höhe des siebten Stocks. Drei befanden sich auf dem Weg nach unten, die vierte bewegte sich aufwärts, wie anhand der Leuchtanzeigen erkennbar war.
»Wenn der Kerl den Lift genommen hat, sind wir zu spät«, stellte Tihange fest.
»Aber dann läuft er hoffentlich Ihren Kollegen in die Arme!«, erwiderte François.
Tihange steckte den Generalschlüssel ins Schloss der Glastür.
»Ist offen!«, stellte er überrascht fest.
»Bleiben Sie hier und achten Sie auf den Fahrstuhl!«, sagte ich.
»Aber …«
»Das ist jetzt unser Job, Monsieur Tihange!«
Mit der SIG in der Faust öffnete ich die Tür. François folgte mir. Lautlos traten wir in den Korridor. Zu beiden Seiten befanden sich die Türen zu den Büroräumen, in denen diese ihre Mandanten berieten. Ganz klassisch und konservativ. Kein Großraumbüro und abgesehen von der Eingangstür gab es auch keinerlei Glas. Seriosität schien bei Watton & Partner Trumpf gewesen zu sein. Ich fragte mich, weshalb diese Kanzlei ihren Sitz mit freiem Ausblick auf die künftige Stätte des zu erringenden juristischen Triumphs, den die Mitarbeiter von Watton & Partner für ihre Mandanten zu erringen hatten, aufgegeben hatte.
Das dritte Fenster musste sich im ersten oder zweiten Zimmer auf der rechten Seite befinden. Die Räume auf der anderen Seite des Korridors waren zur Rückseite ausgerichtet und kamen nicht infrage.
Ich trat die erste Tür auf. François sicherte auf dem Flur.
Ein kahler Raum ohne Möbel lag vor mir. Die Abdrücke auf dem hellblauen Teppichboden zeigte genau an, wo die einzelnen Möbelstücke gestanden hatten.
Beide Fenster waren geschlossen.
Ich schnellte zurück, machte François ein Zeichen.
Diesmal war er dran, die Tür aufzustoßen und den Raum als Erster zu betreten, während ich auf dem Flur sicherte.
Mit der SIG in der Faust machte er einen Schritt in den Nachbarraum, dessen Tür nur angelehnt gewesen war. Das Fenster stand offen. Anders als in den ultramodernen Bürotürmen, die sich zwanzig oder noch mehr Stockwerke in den Himmel über Marseille Mitte erheben, bei denen sich die Fenster oft aus Angst vor Selbstmördern gar nicht mehr öffnen lassen und Frischluft einzig über die Klimaanlage in die Räume gebracht werden kann, waren hier ganz herkömmliche Schiebefenster zu finden, wie sie in den meisten französischen Häusern üblich sind.
François senkte die Waffe.
Dies war also der Ort, von dem aus geschossen worden war.
»Los, lass uns die anderen Räume noch kurz durchsuchen!«, sagte François.
»Warte!«
»Was ist?«
»Hier stimmt was nicht.« Ich deutete auf den Vorhang am Fenster. Er hing schlaff herunter, bewegte sich nicht. »Monsieur Tihange, öffnen Sie die Glastür!«, rief ich.
»Steht offen!«, gab Tihange einen Augenblick später zurück.
François sah mich verständnislos an.
»Worauf willst du hinaus, Pierre?«
»Kein Durchzug, François! Der Kerl ist nicht durch die Glastür zu den Aufzügen gelaufen.«
»Sondern?«
Ich rannte über den Flur, stieß die Tür gegenüber auf. Sie war nur angelehnt. Mit der SIG in der Hand trat ich ein. Eines der zum Hinterhof ausgerichteten Fenster stand offen. Zugluft entstand und ließ die Tür hinter mir zuschlagen. Ich lief zum Fenster und blickte in den Hinterhof. Ein Mann mit Baseball-Kappe und einer Sporttasche über der Schulter ging eiligen Schritts auf die etwa hundert Meter entfernte Ausfahrt des von mehrstöckigen Bauten eingerahmten Hinterhofs zu, der vor allem als Parkplatz diente.
Über eine Außentreppe konnte man hinab gelangen. Ich zögerte keine Sekunde, schwang mich aus dem Fenster, erreichte den ersten Absatz der Treppe und rannte sie hinunter.
»Stehen bleiben! FoPoCri!«, rief ich dem Kerl mit der Baseball-Kappe hinterher.
Der Kerl drehte sich um.
OM (Olympique Marseille) stand in Großbuchstaben auf seiner Mütze. Die Augen waren durch eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern verdeckt, so dass man von seinem Gesicht lediglich Nase und Kinnpartie sehen konnte.
Der Mann mit der OM-Mütze griff unter seine blousonartige Jacke, riss eine Waffe hervor und feuerte sofort in meine Richtung. Schüsse peitschten, kratzten Funken sprühend am Metallgestänge der Feuertreppe entlang oder gruben sich in das vergleichsweise weiche Mauerwerk.
Ich feuerte zurück.
François hatte inzwischen das Fenster erreicht und gab mir ebenfalls Feuerschutz.
Der Kerl rannte auf die Ausfahrt zu.
Ich sah zu, dass ich hinunterkam, nahm mehrere Stufen mit einem Schritt, sprang und rutschte, bis ich schließlich den Asphalt des Hinterhofs unter den Schuhen hatte.
Wieder peitschten Schüsse in meine Richtung. Ich duckte mich hinter eine parkende Limousine, feuerte zurück, ohne jedoch zu treffen.
Der Mann mit der OM-Mütze hatte jetzt die Einfahrt zum Hinterhof erreicht.
Ein Wagen bremste. Es handelte sich um einen Renault in Silbermetallic. Der OM-Mann richtete die Waffe auf den Fahrer, umrundete die Motorhaube, riss die Fahrertür auf und zerrte den etwa fünfzigjährigen Mann am Steuer grob heraus.
»Nicht schießen!«, zitterte der Ford-Fahrer.
Der Killer gab ihm einen Schlag mit dem Lauf seiner Pistole, der ihn niedersinken ließ. Dann setzte er sich ans Steuer. Er setzte den Wagen zurück. Rücksichtslos fuhr er auf die sich an die Einfahrt anschließende Straße. Ein Wagen bremste mit quietschenden Reifen.
Ich rannte hinterher, zielte auf die Reifen des Ford. Den vorne rechts erwischte ich. Der OM-Mann startete trotzdem durch. Funken sprühten und ein Geruch von verbranntem Gummi verbreitete sich, als der Renault nach vorne schoss.
Der OM-Mann vollführte mit dem Renault einen riskanten Fahrbahnwechsel. Ein Peugeot musste bremsen. Zwei weitere Fahrzeuge fuhren auf. Ein Fahrradkurier konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen.
Mit aufheulendem Motor und über den Asphalt kratzender Felge vorne rechts dröhnte der Renault die Fahrbahn entlang.
Ich erreichte die Straße, sprang auf den Kofferraum eines parkenden Wagens, legte die SIG Sauer P 226 an und feuerte.
Zwei Schüsse.
Einer traf den Reifen hinten rechts.
Es war ohnehin schon ein Wunder gewesen, wie der OM-Mann es geschafft hatte, den Renault trotz des zerschossenen Vorderreifens in der Spur zu halten. Jetzt brach er hinten aus, schabte an einer Reihe parkender Fahrzeuge entlang und blieb schließlich an einem von ihnen hängen.
Die beiden verbleibenden Reifen drehten durch. Die Metallfelge sprühte Funken wie ein Schweißgerät.
Der OM-Mann öffnete die Tür, riss die Waffe empor und feuerte in meine Richtung. Ich duckte mich, sprang vom Wagen und rannte hinter ihm er.
Keine fünfzig Meter entfernt befand sich eine U-Bahnstation. Der OM-Mann rannte die Stufen hinab, die in die Tiefe führten. Hinunter in die unterirdische Stadt aus U-Bahnhöfen, Schienentunneln und Abwasserkanälen, von denen nur noch ein Bruchteil in Gebrauch war. Mehrere Stockwerke tief reichte dieser Maulwurfbau unter die Oberfläche.
Ich setzte dem flüchtigen OM-Mann, den ich für den Mörder Hugo Grenadilles hielt, weiter nach. Ein Strom von Menschen kam mir entgegen, hielt mich auf, und es nützte mir auch nichts, dass ich mit meiner Polizeimarke herumwedelte. Es waren einfach zu viele. Schon nach wenigen Augenblicken hatte ich den OM-Mann aus den Augen verloren.
Aber noch war ich nicht bereit aufzugeben.
Schließlich erreichte ich den Bahnsteig.
Ein Zug fuhr gerade weg.
Der Bahnsteig war voller Menschen. Eine Minute später stand ich fast allein dort. François sah ich die Treppe hinunterkommen, die SIG in der einen und den Dienstausweis in der anderen Hand.
Er sah sich suchend um.
Von dem OM-Mann war nirgends eine Spur zu finden.
Ich steckte meine Pistole weg und griff stattdessen zum Handy, um sicherzustellen, dass der gerade Richtung Seepark abgefahrene Zug bei der nächsten Station von Kollegen der Marseiller Polizei unter die Lupe genommen wurde. Meine knappe Täterbeschreibung sollte dabei helfen: Der Killer war mindestens eins-achtzig groß, männlich, Baseball-Kappe mit der Aufschrift OM und eine Sporttasche der Firma Nike.
»Danach könnte man nicht einmal ein Phantombild fabrizieren, Pierre«, tadelte mich François, der alles mitbekommen hatte. Auch er steckte jetzt die SIG zurück ins Holster und ließ den Dienstausweis in der Jackentasche verschwinden.
»Sehr witzig, François! Leider hat der Kerl auf meine Aufforderung seine Brille nicht abgenommen, damit ich ihn besser sehen kann!«
4
Wir kehrten zurück zum Tatort.
Nur eine Viertelstunde später war dort bereits der Teufel los. Rund um das Portal des Gerichtsgebäudes natürlich auch. Ein Wagen des Gerichtsmediziners war vorgefahren, um die Leiche von Hugo Grenadille abholen.
Der gesamte Bereich vor dem Gerichtsgebäude und um das gegenüberliegende Gebäude war abgesperrt worden. Uniformierte Kollegen der Polizei hatten das übernommen. Außerdem waren ein halbes Dutzend Commissaire am Tatort eingetroffen, darunter unsere Kollegen Léo Morell und Josephe Kronbourg. Stéphane Caron, der stellvertretende Chef des Polizeipräsidiums Marseille traf zusammen mit seinem Kollegen Boubou Ndonga etwas später ein. Wenn ein Bluthund dieser Größe des organisierten Verbrechens selbst das Opfer eines Mordanschlags wurde, war das ein Fall für die FoPoCri. Schließlich lag nahe, dass dahinter eine Fehde unter organisierten Gangsterbanden steckte.
Kollegen der Erkennungsdienstes, dem im Präsidium ansässigen zentralen Erkennungsdienst, dessen Einrichtungen von allen Marseiller Polizeieinheiten benutzt wurden, trafen ein. In besonderen Fällen hatten wir darüber hinaus die Möglichkeit, auch unsere eigenen erkennungsdienstlichen Mitarbeiter und Labore einzuschalten. In diesem speziellen Fall reichten die Kapazitäten unserer Kollegen vom Erkennungsdienst vollkommen aus.
Polizeihauptmeister Ralph Maiziere leitete den Einsatz unserer Kollegen. Maiziere war ein bärbeißiger, sommersprossiger Mann mit roten Haaren. Seine bretonischen Vorfahren waren nicht zu leugnen.
»Einem Widerling wie Hugo Grenadille dürfte wohl kaum jemand eine Träne nachweinen«, meinte er, als wir uns zusammen mit meinem Kollegen Stéphane Caron in einem der leer stehenden Büroräume von Watton & Partner trafen.
»Trotzdem werden wir den Mord an ihm mit derselben Intensität verfolgen wie jedes andere Verbrechen«, erwiderte ich. »Auch, wenn jetzt der eine oder andere sagen wird, dass es mit Grenadille den Richtigen getroffen hat.«
»Einen Mann, der um keinen Preis der Welt hätte freikommen dürfen!«, war Maiziere überzeugt. »Ich glaube nicht, dass ihn in Pointe-Rouge viele Leute vermissen werden!«
Stéphane zuckte die Achseln.
»Wer weiß, vielleicht hat ihn sogar dieser Niko Dragnea auf dem Gewissen.«
»Sein eigener Boss?«, fragte François.
»Warum nicht?«, erwiderte Stéphane. »Grenadille war für Dragnea der Mann fürs Grobe – und so ein Mann fürs Grobe weiß doch häufig über die dunkelsten Kellerlöcher Bescheid, die sein Auftraggeber zu verbergen hat.«
»Wenn wir erst einmal den Killer haben, bekommen wir auch den Boss, der hinter ihm steht«, war ich überzeugt.
Die Liste derer, die Grenadille den Tod gewünscht hatten, musste ziemlich lang sein. Dutzende von kleinen Bar- und Ladenbesitzer, denen Grenadille im Auftrag von Dragnea auf die Füße getreten war. Natürlich auch die Konkurrenz im Geldwäschegeschäft, die Grenadille recht erfolgreich eingedämmt hatte. Nach unseren Ermittlungen war Grenadille es gewesen, der seinem Boss den Weg nach oben buchstäblich frei geboxt hatte. Oft genug mit Unterstützung von einschlägig bekannten Kriminellen oder Straßengangs. Grenadille war schlau genug gewesen, sich die Hände nur dann schmutzig zu machen, wenn er vollkommen sicher sein konnte, nicht erwischt zu werden.
Mein Handy schrillte.
Es war die Zentrale. Ich bekam Bescheid darüber, dass unser Zeichner Commissaire Perouche auf dem Weg zum Tatort war, um mit mir und François ein Phantombild des Täters zu erstellen, das möglichst schnell an die Medien gegeben werden sollte.
Michel Prevoust vom Erkennungsdienst trat zu uns. Ich kannte Michel von anderen Einsätzen her, hatte ihn aber in seinem schneeweißen Ganzkörperschutzanzug mit Kapuze und Mundschutz nicht erkannt. Erst jetzt, da er beides zur Seite schob, sah ich, mit wem ich es zu tun hatte.
»Hi, Michel!«
»Hi, Pierre.«
Er begrüßte auch die anderen und meinte schließlich: »Diese Anzüge sind das pure Grauen. Angeblich sollen die atmungsaktiv sein.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, im Außendienst zu sein«, grinste François.
Aber das Tragen dieser Schutzanzüge hatte sich in der Spurensicherung bewährt. Gerade die Technik der DNA-Analyse und der Einsatz von Luminol, um normalerweise unsichtbare oder teilweise schon entfernte Spuren sichtbar zu machen, hatten das Geschäft der Spurensicherung in den letzten Jahren revolutioniert. Eine Schuppe, die aus dem Haar eines Beamten rieselte, konnte am Tatort zu einem dermaßen verwirrenden Befund führen, dass der Fortgang der Ermittlungen dadurch stark verzögert wurde.
»Viel kann man im Moment noch nicht sagen«, erklärte Prevoust. »Der Raum war leer, der Täter hat keine Patronenhülse hinterlassen, und das Projektil kann erst nach der Obduktion der Leiche untersucht werden, denn soweit ich den Gerichtsmediziner verstanden habe, steckt es noch in Grenadilles Kopf.«
»Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn die Waffe schon mal benutzt worden wäre«, meinte Stéphane.
»Fingerabdrücke gibt es nirgendwo«, fuhr Prevoust fort. »Der Täter hat Handschuhe getragen. Er hatte allerdings Öl unter den Füßen und hat deswegen ein paar Abdrücke produziert, die mit bloßem Auge fast nicht sichtbar sind, aber …«
»Ihr habt da so eure Tricks«, schloss ich.
Michel nickte.
»Worauf du wetten kannst! Der Kerl trug Turnschuhe der Marke Nike, Größe einundvierzig. Ich würde daher auf einen eher kleinen Täter schließen.«
»Ich habe den Mann gesehen«, sagte ich. »Eins-achtzig war der mindestens, vielleicht sogar noch größer!«
Michel hob die Augenbrauen.
»Schuhgröße einundvierzig passt nicht so richtig dazu, oder?«
»Kannst du laut sagen!«
»Aber an den Messungen wirst da ja wohl nicht zweifeln wollen.« Michel Prevoust zuckte die Schultern und lächelte verschmitzt. »Wie ihr das zusammenbringt – diesen großen Kerl und die kleinen Füße – das ist euer Problem. Aber dafür habt ihr ja eure berühmte Ausbildung in der Polizeihochschule hinter euch.« Ein bisschen Ironie schwang in Michels Worten mit. Ich hatte zufällig von einem seiner Kollegen mal gehört, dass Michel Prevoust selbst mal versucht hatte, die Aufnahmetests bei der Polizei zu bestehen und gescheitert war. Vielleicht kamen daher die Seitenhiebe auf die Polizei, die er sich hin und wieder wohl einfach nicht verkneifen konnte.
»Das ist zumindest ein sehr auffälliges körperliches Merkmal, das uns bei der Fahndung helfen wird«, glaubte Stéphane. »Was wollen wir mehr?«
Während der Zeit, wie wir am Tatort zubrachten, stellte sich noch mehr heraus. So waren sämtliche Fenster der siebten Etage geschlossen gewesen, wie die Mitarbeiter des Security Service versicherten. Auch die Spurenlage an dem Fenster zum Hinterhof, durch das der Täter über die Feuerleiter geflüchtet war, ergab, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf diesem Weg das Gebäude betreten hatte. Vielmehr sprach alles dafür, dass er auf dem herkömmlichen Weg in die ehemaligen Räumlichkeiten von Watton & Partner gelangt war.
Mit Hilfe von B. Borné fanden wir schließlich die entsprechende Video-Sequenz der Überwachungskamera im Eingangsbereich. In dieser Sequenz sprach er kurz mit einem Mitarbeiter der Security, dessen Identität schnell ermittelt war. Er hieß Rainier Gervais, war vierunddreißig Jahre alt und galt nach B. Bornés Angaben als außerordentlich zuverlässig. Die Video-Sequenz konnte uns, was das Äußere des Killers anging, zwar nicht wirklich weiterhelfen, abgesehen davon, dass sich unsere Spezialisten vom Innendienst darum kümmern konnten, ob der Kerl mit der OM-Mütze tatsächlich auch Schuhgröße 41 hatte, was mit Hilfe neuester biometrischer Messverfahren auch anhand von Videoaufnahmen möglich war.
Gervais konnte sich jedoch über die bekannten Details hinaus noch an zwei weitere wichtige Einzelheiten erinnern. Erstens hatte der OM-Mann Gervais‘ Angaben nach stark nach Menthol und Zigaretten gerochen. Und zweitens konnte sich der Wachmann daran erinnern, dass er sich nach der Kanzlei Brugger, Gerlonde & Parte im achten Stock erkundigt.
»Ich habe kurz bei der Kanzlei durchgerufen, um mich danach zu erkundigen, ob er dort tatsächlich einen Termin hatte. Sonst hätte ich ihn gar nicht zu den Fahrstühlen gelassen«, berichtete Gervais. »Sicherheit wird bei uns nämlich groß geschrieben, müssen Sie wissen.«
»Hat er einen Namen genannt?«, fragte ich.
Gervais nickte. »Pierre Meyere.«
»Nicht besonders originell.«
»Habe ich auch gedacht, Commissaire Marquanteur. Aber wenn Brugger, Gerlonde & Parte einen Termin mit einem gewissen Pierre Meyere vereinbart hat und in der Eingangshalle taucht jemand mit diesem Namen auf, dann habe ich keinen Grund, denjenigen daran zu hindern, das Gebäude zu betreten.«
»Es macht Ihnen auch niemand einen Vorwurf«, versicherte ich.
»Wer hätte auch schon ahnen können, dass es sich bei diesem Typ um einen Killer handelt? Schließlich können wir unmöglich bei all den Mandanten der in diesem Haus residierenden Anwälte Leibes- und Gepäckvisitationen durchführen. Dann hätten wir sehr schnell deren gesamte Mandantschaft verprellt.«
Wenig später statteten wir der Kanzlei Brugger, Gerlonde & Parte einen kurzen Besuch ab. Wir bekamen dort die Auskunft, dass tatsächlich ein Mann namens Meyere telefonisch um einen Termin gebeten hatte. Er wollte angeblich Rechtsauskunft in einer Erbschaftsangelegenheit. Wie unsere Kollegen Léo Morell und Josephe Kronbourg herausfanden, hatte dieser ominöse Pierre Meyere auch in zwei anderen Kanzleien angerufen, um einen Termin zu bekommen, war dort jedoch auf spätere Termine vertröstet worden.
Inzwischen traf unser Zeichner, Commissaire Perouche, ein, der zusammen mit dem Mitarbeiter der Security Gervais, François und mir ein Phantombild erstellte. Dazu benutzte er natürlich schon lange nicht mehr Block und Bleistift, sondern einen hochmodernen Laptop mit einer speziellen Software zur Erstellung brauchbarer Phantombilder.
Da in diesem Fall niemand besonders viel vom Gesicht des Verdächtigen gesehen hatte, blieb das Ergebnis trotz eines Top-Bildprogramms und dem unbestreitbaren Können Perouches eher dürftig.
Wir waren gerade damit fertig, als uns ein sehr interessantes Ergebnis der Kollegen des Erkennungsdienstes erreichte. Es war Michel Prevoust, der mir die Neuigkeit per Handy mitteilte.
»Am Schloss der Glastür, die zu den Räumen von Watton & Partner führen, sind keinerlei Spuren eines Einbruchs erkennbar. Da wir davon ausgehen, dass der mutmaßliche Täter über diesen Weg an den Tatort gelangt ist, muss man daraus eigentlich den Schluss ziehen, dass er wahrscheinlich einen Schlüssel hatte oder ihn jemand hereingelassen hat, Pierre.«
»Ich danke dir, Michel.«
Wenig später besprach ich die Sache mit François und Stéphane.
»Wenn ihr mich fragt, dann gibt es da nur zwei Möglichkeiten, wie er an den Schlüssel herangekommen sein kann«, sagte Stéphane. »Entweder hatte er einen Helfer bei den Wachleuten oder bei Watton & Partner.«
»Dürfte auf jeden Fall interessant sein, diese Kanzlei mal unter die Lupe zu nehmen«, fand ich.
5
Es war später Nachmittag. Niko Dragnea saß mit zwei dunkelhaarigen Schönheiten in den Armen an einem Tisch im Buena Vista Club, einer Disco, die als Tummelplatz von Kokain-Dealern für den gehobenen Bedarf bekannt war. Niko Dragnea kontrollierte diesen Laden über einen Strohmann namens Rafi Hazrat. Der Buena Vista Club diente ihm vor allem zur Geldwäsche. Gewinn brauchte der Club ansonsten kaum abzuwerfen. Tat er es doch – umso besser.
Wichtig war nur, dass der Umsatz möglichst hoch war. Je höher der Umsatz, desto mehr schwarzes Geld konnte man durch ihn hindurchschleusen und zu schneeweißem Kapital machen, mit dem sich ganz legale Geschäfte machen ließen. Und genau darauf waren sie alle aus, die mit illegalen Geschäften ihr Geld machten. Die Drogenbarone ebenso wie die Paten der Müll-Mafia oder Falschgeldhändler, die mit dem Export von falschen Euro-Noten nach Osteuropa oder in die ehemaligen GUS-Staaten ein Vermögen machten.
Das Problem blieb immer dasselbe – und Männer wie Niko Dragnea hatten die Lösung dafür.
Die Drogenhändler, die allabendlich im Club herumhingen und ihren Stoff an Rechtsanwälte, Yuppies – karrierebewusste, meist junge Menschen, die großen Wert auf ihre äußere Erscheinung legen – und andere Kunden verhökerten, die bereit waren, für guten Koks etwas mehr auszugeben, als man an den Straßenecken dafür hinblättern musste, nahm Dragnea eigentlich nur in Kauf. Im Grunde stellten sie eine Gefahr für sein Geschäft dar – wenn auch nicht für ihn persönlich, denn im Zweifelsfall musste sein Strohmann für alle rechtlichen Folgen den Kopf hinhalten.
Dragnea waren diese schmierigen Typen, die allabendlich an den Tresen herumhingen oder ihre Hüften zu den Rhythmen wiegten, die im Buena Vista gespielt wurden, zuwider.
Aber da es die Leute von Ben Toufique waren, dem Koks-König von Pointe-Rouge, der es geschafft hatte, so etwas wie der Generalvertreter eines Drogensyndikats in Marseille zu werden, konnte Niko Dragnea die Koksdealer nicht aus dem Buena Vista und anderen seiner Clubs verbannen. Schließlich war Ben Toufique einer seiner wichtigsten Kunden. Davon abgesehen hatte er mehr Männer unter Waffen als sonst irgendjemand in dem Viertel.
Für Gäste hatte das Buena Vista um diese Zeit noch gar nicht geöffnet. Aber bevor der Publikumsverkehr losging, wollte sich der Boss noch etwas amüsieren. Eine Champagnerflasche stand auf dem Tisch. Die Gläser schäumten über, und die beiden Girls, die Dragnea im Arm hielt, schienen bester Laune zu sein.
Rafi Hazrat, Dragneas Strohmann, stand hinter dem Schanktisch und beobachtete misstrauisch die Szene. Hazrat war Mitte dreißig, hatte dunkel gelocktes Haar und war sehr hager. Er hatte bei Dragnea als Türsteher angefangen. Jetzt konnte er sich Clubbesitzer nennen, auch wenn ihm durchaus klar war, dass er seine Existenz auch jetzt noch zu hundert Prozent Dragnea verdankte.
»Auf die Zukunft, Mädels!«, rief Dragnea, der bereits mehrere Champagnergläser geleert hatte.
Die Mademoiselles kicherten.
Aber dieses Kichern erstarb von einem Augenblick zum anderen, als die Eingangstür vom Buena Vista zur Seite flog.
Ricky Balmorte, der breitschultrige und fast zwei Meter große Türsteher des Buena Vista, taumelte durch den Raum und flog der Länge nach zu Boden. Mit einem Fluch auf den Lippen wischte er sich das Blut von der Nase.
Ein unglaublich dicker Mann Anfang vierzig und in einen schneeweißen Maßanzug gekleidet, betrat den Raum. Das blauschwarze Haar war nach hinten gekämmt. Drei Kerle mit schwarzen Rollkragenpullovern und Bodybuilderfigur begleiteten ihn. Sie trugen Maschinenpistolen vom Typ MP 7 der Firma Heckler und Koch im Anschlag.
»Monsieur Toufique!«, stieß Dragnea völlig verblüfft hervor.
Mit allem hätte er jetzt gerechnet, nur nicht damit, dass ausgerechnet Ben Toufique ihm einen Besuch abstattete.
Der Koks-König von Pointe-Rouge deutete auf den am Boden liegenden Balmorte.
»Lausige Bodyguards beschäftigen Sie, Dragnea«, tadelte er den Mann hinter den Champagnergläsern.
Die Mademoiselles saßen jetzt auf einmal ziemlich steif da. Ihre Gesichter erbleichten.
Ben Toufique trat näher.
Hazrat machte eine unbedachte Bewegung, die damit quittiert wurde, dass gleich zwei von drei MP 7-Läufen auf ihn gerichtet wurden.
»Hey, keine Panik! Am besten, wir bleiben alle ganz ruhig!«, zeterte Hazrat.
Toufique steckte sich eine Zigarre in den Mund und zündete sich an.
»Indem Sie das hier dulden, begehen Sie gerade eine Ordnungswidrigkeit, Hazrat«, lachte Toufique, blies den Rauch in die Luft und lächelte kalt. »Schließlich ist das Rauchen in sämtlichen Lokalen nicht nur in Marseille verboten – und bei Zuwiderhandlung wird der Besitzer in Regress genommen!«
»Monsieur Toufique, ich …«, flüsterte Hazrat, aber der Mann in Weiß bedeutete ihm mit einer kurzen, knappen Geste zu schweigen. »Gehen Sie einfach eine Weile spazieren, klar?«
Hazrat wandte den Blick in Dragneas Richtung.
»Ist schon in Ordnung, Rafi!«, sagte dieser.
Toufique versetzte dem am Boden liegenden Türsteher einen Tritt.
»Und nehmen Sie dieses Stück Scheiße mit, Hazrat! Ich will mich mit Ihrem Boss mal ungestört unterhalten.«
Ricky Balmorte bleckte die Zähne wie ein Raubtier. Die obere Reihe war so gleichmäßig, dass sie falsch sein musste. Er ballte die Fäuste.
»Ist schon gut!«, schritt jetzt Dragnea ein. »Tut, was Monsieur Toufique wünscht!«
»Ist das Ihr Ernst, Monsieur Dragnea?«, vergewisserte sich Ricky Balmorte.
»Ja, klar!«, bestätigte Dragnea.
Balmorte erhob sich. Zusammen mit Hazrat verließ er den Raum.
»Ihr verschwindet auch besser!«, knurrte Toufique die beiden Girls an Dragneas Tisch an. »Tut mir wirklich leid, normalerweise habe ich nichts gegen charmante Gesellschaft, aber diesmal stören mich eure Ohren.«
Die beiden jungen Frauen ließen sich das nicht zweimal sagen und verzogen sich sofort – offensichtlich froh darüber, den Raum verlassen zu können. Dragnea schluckte.
»Jetzt sind wir allein, Dragnea!«
»Wollen Sie einen Schluck Champagner, Monsieur Toufique?«
»Was gibt‘s denn zu feiern?«
»Was wollen Sie?«
Toufique setzte sich an den Tisch und ließ sich dabei von einem seiner Leibwächter den Stuhl zurechtrücken. Den Zigarrenrauch blies er Dragnea direkt ins Gesicht.
»Unser beider Geschäfte sind – wie soll ich mich da angemessen ausdrücken – ziemlich eng miteinander verwoben.«
»Ja. So ist es«, murmelte Dragnea fast tonlos. »Das stimmt …«
»Und da werden Sie es doch sicher verstehen, dass ich anfange, mir Sorgen zu machen, wenn ein Kerl, der als Dragneas Bluthund bekannt wurde, plötzlich ungeniert von einem Profikiller auf den Stufen des Gerichtsgebäudes niedergestreckt wird.«
»Sie sprechen von Grenadille!«
»Natürlich spreche ich von Grenadille – und wie Sie hier so ruhig sitzen und Champagner schlürfen können, ist mir ehrlich gesagt unbegreiflich.«
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.
Einer von Toufiques Leibwächtern zapfte sich ungefragt ein Bier und trank es halb leer, bevor er den Mund verzog und es mit vor Ekel verzerrtem Gesicht stehen ließ.
»Ich habe keine Ahnung, wer hinter dem Anschlag auf Grenadille steckt«, behauptete Dragnea.
»Wirklich nicht? Eigentlich liegt es nahe, dass jemand von Ihrer direkten Konkurrenz dahintersteckt. Jemand, der Sie treffen will und Ihnen dafür erst einmal einen Bauern aus dem Spiel nimmt. Aber ich nehme an, dass Grenadille in Ihrem ganz persönlichen Spiel sehr viel mehr als nur ein Bauer war – habe ich recht?«
»Hören Sie, Monsieur Toufique, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich habe meine Organisation im Griff und gegen Konkurrenz kann ich mich wehren.«
»Mit diesem Jammerlappen von Bodyguard, der wie eine Vogelscheuche vor der Tür herumstand?« Toufique lachte rau. »Das ist doch nicht Ihr Ernst. Hier kann doch jeder hereinspazieren und Sie umlegen, Dragnea!« Toufique beugte sich etwas weiter vor und sprach nun in gedämpftem Tonfall. »Sie stecken in Schwierigkeiten, Dragnea. Und zufällig bin ich der Mann, der Sie raushauen kann – oder haben Sie vielleicht Ihren Bluthund selbst umbringen lassen, weil er Ihnen lästig wurde? Weil er vielleicht zu gierig wurde und sich all die kleinen, schmutzigen Geheimnisse, die er mit Ihnen teilt, bezahlen lassen wollte?«
»Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass ich dazu jetzt etwas sage!«
»Wenn erst die FoPoCri auf der Matte steht, werden Sie antworten müssen, Dragnea – und ich kann nur auch in meinem eigenen Interesse hoffen, dass Sie sich bis dahin Ihre Antworten etwas besser zurechtgelegt haben, statt Champagner zu schlürfen!«
»Ich weiß Ihre Sorge um mich zu schätzen, Monsieur Toufique«, erwiderte Dragnea, dem bereits der Schweiß auf der Stirn stand. Ihm war klar, worauf Toufique hinauswollte. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht. »Ich komme sehr gut allein zurecht. Dass es zwischendurch mal ein paar Schwierigkeiten gibt, wissen Sie ja wohl auch aus eigener Erfahrung.«
»Ich mache Ihnen ein Angebot«, sagte Toufique.
Ein Angebot von der Sorte, die man nicht ablehnen kann, dachte Dragnea bitter. Genau so etwas hatte er erwartet. Aber nicht mit ihm! Er war entschlossen, Toufique die Stirn zu bieten – wenn auch vielleicht nicht gerade jetzt, da die Läufe mehrerer Maschinenpistolen vom Typ MP 7 auf ihn gerichtet waren.
»Ich schütze Ihre Geschäfte, Monsieur Dragnea, und dafür bekomme ich einen Anteil von allem, was Sie an Gewinn einstreichen von – sagen wir – dreißig Prozent. Ich bin ja kein Unmensch und möchte natürlich auch, dass Sie existieren können. Aber für den Schutz muss ich nun einmal gewisse Unkosten vorstrecken … Sie haben sicher Verständnis dafür.«
»Ich werde mir Ihren Vorschlag durch den Kopf gehen lassen, Monsieur Toufique.«
Toufique schnipste mit den Fingern, woraufhin einer der Bodyguards seine MP 7 an einen der anderen Gorillas weiterreichte. Der Kerl begann mit den Fingerknochen zu knacken.
»Die türkische und die arabische Übersetzung des Wortes Killer lautet Kaatil«, begann Toufique. Er sprach mit leiser, wispernder Stimme, deren Klang Dragnea an klirrendes Eis erinnerte. »Kaatil hört sich sehr viel poetischer an als Killer – finden Sie nicht, Monsieur Dragnea?« Toufique deutete auf den Kerl, der sich offenbar anschickte, Dragnea zusammenzuschlagen. »Kaatil – das ist sein Spitzname. Er tötet langsam. Er weiß, wie man Schmerzen zufügt. Wenn er mit Ihnen fertig ist, werden Sie ein Krüppel sein, Dragnea …«
»Pfeifen Sie Ihren Dobermann zurück!«, zeterte Dragnea.
»Was soll ich machen? Er hatte in letzter Zeit wenig zu tun und braucht wieder Übung.«
Kaatils Pranke schnellte blitzschnell vor. Er packte Dragneas Nase, drehte sie herum. Dragnea schrie. Blut lief ihm über das Gesicht.
»Okay, okay«, stieß Dragnea schließlich hervor, nachdem er sich wieder gefasst hatte. »Dreißig Prozent sind in Ordnung.«
»Fünfunddreißig«, verlangte Toufique. »Dreißig hätte ich genommen, wenn es ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu einer Einigung gekommen wäre.«
Dragnea schluckte. Hass leuchtete in seinen Augen.
Aber er konnte nichts tun.
Nicht jetzt …
Kaatil packte Dragneas Handgelenk, bis es knackte. Und der Wäscher von Pointe-Rouge schrie.
»Wir sind uns also einig«, stellte Toufique fest.
»Ja«, knurrte Dragnea.
Der dicke Mann im schneeweißen Anzug erhob sich. Ein triumphierendes Grinsen stand auf seiner Stirn.
»Ich habe immer gerne mit Ihnen Geschäfte gemacht, Dragnea. Und ich hoffe, dass das noch lange so bleibt – zukünftig auch gerne wieder in angenehmerer Gesprächsatmosphäre. Aber das liegt ganz bei Ihnen. Und jetzt noch eine Sache: Wer spuckt Ihnen ins Geschäft, Dragnea? Wer immer es ist, ich blas ihn aus dem Weg.«
6
François und ich fuhren später zur neuen Residenz von Germaine Watton, dem ehemaligen Chef von Watton & Partner.
Per Handy versorgte uns die Zentrale mit allen gegenwärtig über Watton vorliegenden Informationen. Commissaire Maxime Valois, einer unserer Innendienstler aus der Fahndungsabteilung, hatte auf die Schnelle herausfinden können, dass die Kanzlei vor Kurzem aufgelöst worden war.
Trotzdem waren alle drei Teilhaber weiterhin an der Verteidigung in Hugo Grenadilles jüngstem Prozess beteiligt gewesen. Schließlich war jeder von ihnen nach wie vor als Anwalt zugelassen.
»Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!«, meinte François. »Ein Gangster stirbt durch einen Schuss, der aus der Kanzlei seines Anwalts abgegeben wurde. An Zufälle glaubt doch da niemand!«
Zuvor hatte Wattons Kanzlei immer wieder Mandanten aus dem Umfeld von Niko Dragnea verteidigt, darunter mehrere Drogenhändler, die wir der Organisation von Ben Toufique zurechneten, einem Drogenkönig, der unseren Erkenntnissen nach in geschäftlichen Verbindungen zu Dragnea stand, ohne dass wir einem der beiden daraus bislang einen Strick hätten drehen können.
Wattons gegenwärtige Wohnung war eine Traumetage in einem modernen Hochhaus mit Blick auf den Seepark.
Wir hatten gerade einen Parkplatz gefunden, als François‘ Handy schrillte. Es war noch einmal Maxime Valois aus dem Innendienst. Er war auf einen interessanten Fall gestoßen, der vor drei Jahren vor Gericht ausgetragen worden war. Hugo Grenadille war wegen schwerer Körperverletzung und Drogenhandel angeklagt und aus Mangel an Beweisen schließlich freigesprochen worden. Der Verteidiger in diesem Verfahren war ebenfalls niemand anderes als Germaine Watton gewesen, Seniorpartner der Kanzlei Watton & Partner.
Wir fuhren in den obersten Stock des exklusiven Appartementhauses, in dem er jetzt residierte. Die Miete dieser Traumetage musste mindestens das Dreifache dessen betragen, was ihn die Räumlichkeiten in dem Bau gegenüber dem Gerichtsgebäude gekostet hatte. Aber Germaine Watton schien sich das leisten zu können.
An seiner Wohnungstür verriet kein Schild, dass sich hier die Residenz eines Anwalts befand. Ob er überhaupt noch ein Büro unterhielt, war noch keineswegs klar.
Ich betätigte die Klingel.
Ein Kameraauge nahm uns ins Visier.
Ein paar Augenblicke später ertönte eine leise Stimme aus der Sprechanlage: »Sie wünschen?«
»Pierre Marquanteur, FoPoCri!«, meldete ich mich und hielt meinen Dienstausweis in die Kamera. »Mein Kollege Commissaire François Leroc und ich haben im Zusammenhang mit der Ermordung eines ehemaligen Mandanten von Ihnen ein paar Fragen.«
»Werfen Sie Ihren Dienstausweis bitte durch den Briefschlitz, damit ich mich von dessen Echtheit überzeugen kann.«
Ich zuckte die Achseln, wechselte einen kurzen Blick mit François und warf schließlich meinen Dienstausweis durch den Briefschlitz.
Wenig später öffnete sich die Tür. Ich hörte, wie mehrere Ketten und zusätzliche Sicherheitsschlösser geöffnet wurden.
Ein kleiner, hagerer Mann mit etwas wirren Haaren stand vor uns. Ich erkannte ihn von seinen Auftritten im Gerichtssaal wieder und schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. Seine Brille mit den dicken, viereckigen Gläsern und der knallroten Fassung wirkte sehr auffällig.
»Monsieur Germaine Watton?«, vergewisserte ich mich.
»Der bin ich. Kommen Sie herein!«, sagte er und winkte uns mit einer lässigen Geste zu.
Er drehte sich um. Wir folgten ihm, während die Tür hinter uns von selbst ins Schloss fiel. Watton brachte uns in sein Wohnzimmer, das mehr Quadratmeter hatte, als die meisten Marseiller Wohnungen insgesamt.
Kaum etwas ist in Marseille so knapp wie Wohnraum. Die verschwenderische Art und Weise, in der Watton damit umging, schien fast so etwas wie eine Demonstration zu sein. Er wollte damit jedem Besucher zeigen, dass er es geschafft hatte und es sich leisten konnte, eine Fläche, die sich gut und gerne für eine fünfstellige Summe im Monat vermieten ließ, einfach so gut wie leer stehen zu lassen.
Die Einrichtung des Wohnzimmers, in das er uns führte, war von genauso demonstrativer Schlichtheit. Ein paar Regale in Metalloptik. Ein abstraktes, großformatiges Bild, das Kreise und Quadrate auf einer hellblau grundierten Fläche sich abwechseln und ein Muster erzeugen ließ, das sich wahrscheinlich vielfältig interpretieren ließ, eine Designer-Lampe in Form eines Schlangenkopfes, in deren Rachen ein großer Halogenscheinwerfer strahlte – das war schon beinahe alles. Diese Wohnung hatte kaum etwas, das eine persönliche Note verriet. Außer einer Bibel, einem Windows-Handbuch und einem Ratgeber für legale Steuertricks gab es keinerlei Bücher.
»Bitte setzen Sie sich«, forderte Germaine Watton uns auf. Wir nahmen in tiefen Ledersesseln Platz, die rund um einen Glastisch gruppiert waren.
»Ich denke, Ihnen ist der Name Hugo Grenadille ein Begriff«, begann ich.
»Oh, natürlich ist er das«, fiel mir Watton ins Wort. »Natürlich! Vor allem seit die lokalen Fernsehnachrichten ausführlich über das Attentat auf ihn vor dem Gerichtsgebäude berichtet haben.« Watton schüttelte energisch den Kopf, während seine Gesichtszüge einen nachdenklichen Ausdruck zeigten. »Ich sage Ihnen, mit diesem Land geht es bergab. Es gibt keinen Respekt mehr vor dem Gesetz. Und selbst auf den Stufen eines Gerichtsgebäudes ist man nicht mehr sicher davor, einfach durch eine Kugel niedergestreckt zu werden.«
»Monsieur Grenadille war ein Mandant von Ihnen«, stellte ich sachlich fest.
»Allerdings!«
»Konnten Sie ihn nicht an seinem peinlichen Auftritt auf den Stufen des Portals hindern?«
»Ich war immer jemand, der dem Gedränge und dem Blitzlichtgewitter ausgewichen ist – Grenadille hingegen hat es in dem Moment wahrscheinlich genossen.«
»Bis zu dem Augenblick, da ihm eine Kugel in den Schädel fuhr. Sie waren zuvor schon einmal für Hugo Grenadille juristisch tätig.«
Watton nickte.
»Das dürfte aber schon ein paar Jahre her sein, Monsieur …«
»Marquanteur«, stellte ich zum zweiten Mal vor und fragte mich dabei, ob er nur so tat, als ob er sich meinen Namen nicht hatte merken können und das vielleicht eine ganz bewusst eingesetzte Geste der Geringschätzung war, mit der ich es da zu tun hatte, oder ob er zeitweise wirklich so fahrig und vergesslich aufzutreten pflegte. Meine Eindrücke im Gerichtssaal entsprachen dem jedenfalls nicht. Mir fiel gleich die gerötete Nase auf. Möglich, dass er nur einen Schnupfen hatte, aber da er während unseres gesamten Gesprächs nicht einmal die Nase schnäuzte, tippte ich eher auf einen anderen Grund für seine zerstörten Nasenschleimhäute. Im Laufe der Zeit bekommt man einen Blick für eine durch das Schnupfen von Kokain ruinierte Nase. Für einen Blütenpollenallergiker schniefte er entschieden zu wenig und außerdem hätte er schon ausgesprochen dämlich sein müssen, sich ausgerechnet eine Wohnung zu nehmen, die nur ein paar Schritte vom Seepark entfernt lag.
»Grenadille wurde von Ihrer ehemaligen Kanzlei aus erschossen. Sie sind doch noch Mieter der Etage in dem zehnstöckigen Haus gegenüber dem Gerichtsgebäude.«
»Aber nur noch für einen Monat«, erwiderte Watton. »Dann läuft der Mietvertrag aus. Leider war es mir nicht möglich, vor dem Ende der Kündigungsfrist einen Nachmieter zu benennen.« Er zuckte die Achseln. »Die Zeiten werden härter, selbst für Anwälte, auch wenn es keiner glauben mag.«
»Für Sie scheint das ja nicht zuzutreffen«, mischte sich François in das Gespräch ein.
Wattons Augen verengten sich.
»Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie mir irgendetwas anhängen? Dann kann ich Sie nur warnen.«
»Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen vor Gericht die Klingen zu kreuzen«, schnitt ihm François das Wort ab. »Warum also so empfindlich?«
»Was mein Kollege damit sagen wollte, ist lediglich, dass es jemandem, der sich in einer Traumetage mit Blick auf den Seepark zur Ruhe setzen kann, finanziell nicht gerade schlecht gehen kann«, ergänzte ich.
»Meine Finanzen gehen Sie nichts an, und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich mich zur Ruhe gesetzt hätte?«
»Wie ein Büro sieht das hier nicht gerade aus«, stellte ich fest.
»Ich bin mir sicher, dass ich nicht verpflichtet bin, Ihnen diese Fragen zu beantworten.«
»Gut, dann beantworten Sie mir doch bitte eine andere.«
»Ich bin gespannt!«
»Wie kommt der Killer, der Grenadille auf dem Gewissen hat, an den Schlüssel zu Ihren ehemaligen Kanzlei-Räumen?«
Watton sah mich völlig entgeistert an. Er schien fassungslos zu sein.
»Wie bitte?«
»Sie haben meinen Kollegen schon richtig verstanden«, bestätigte François. »Nach den Erkenntnissen der Spurensicherung steht fest, dass der Täter einen Schlüssel hatte. Und eine der Adressen, von denen er diesen Schlüssel haben könnte, sind Sie!«
»Warten Sie!«, verlangte Watton. Er ging mit großen Schritten auf eine Tür zu, schob sie zur Seite. Dahinter befand sich ein weiterer Raum, der ebenfalls sehr spärlich, aber mit edlem Mobiliar eingerichtet war.
Watton ging an einen kleinen Schrank, holte insgesamt drei Schlüssel hervor und hielt sie François und mir wenige Augenblicke später vor die Nase.
»Watton & Partner besaß drei Schlüssel, und hier sind drei Schlüssel. Was wollen Sie mehr?«
»Was ist mit Ihren ehemaligen Teilhabern?«
»Ihre Schlüssel sind dabei. Mit der Abwicklung der Kanzlei haben sie nichts mehr zu tun. Ich hatte es übernommen, mich um einen Nachmieter zu kümmern, also habe ich die Schlüssel.«
»Geben Sie uns bitte die gegenwärtigen Adressen Ihrer ehemaligen Teilhaber«, verlangte ich.
»Da wollen Sie also auch noch herumschnüffeln. Tun Sie es ruhig! Die Adressen schreibe ich Ihnen auf.«
Ich wunderte mich etwas über Wattons feindselige, sehr nervöse und dünnhäutige Art. Schließlich kannte er das Spiel doch bestens, nur dass er diesmal nicht Verteidiger sondern Zeuge war. Zunächst einmal. Wer konnte schon wissen, wie sich das weiter entwickelte?
»Jeder von Ihnen hätte eine Kopie anfertigen können«, erklärte ich.
»Ja sicher! Und außerdem der Besitzer des Appartementhauses sowie jeder der Wachmänner, die ja Zugang zu Generalschlüsseln hatten, um im Notfall in die Wohnungen eintreten zu können«, verteidigte sich Watton. »Ich weiß nicht, welchen Strick Sie mir da drehen wollen, aber daraus wird nichts. Sie fischen im Trüben!«
Abwarten!, dachte ich. Die Verbindungen, die sich zwischen Watton und unserem Fall ergaben, waren für meinen Geschmack zu eindeutig, um auf Zufall basieren zu können. Welche Rolle er allerdings in diesem Stück spielte, würden wir noch ermitteln müssen.
»Erzählen Sie uns so viel wie möglich über Hugo Grenadille«, verlangte ich schließlich. »Und natürlich über jeden, der einen Grund haben könnte, ihn töten zu lassen!«
7
Am frühen Abend versuchten unsere Kollegen Léo Morell und Josephe Kronbourg den »Wäscher von Pointe-Rouge« aufzutreiben. Dragnea hatte mehrere Wohnungen über ganz Marseille verstreut. Es gab verschiedene Residenzen, die er über Strohmänner gekauft hatte und von deren Existenz nur sehr wenige Personen etwas wussten.
Manche munkelten, dass Dragnea von Paranoia befallen wäre, andere waren der Überzeugung, dass er genug Feinde hatte, um gute Gründe für seine Angst zu haben.
Aber trotz seiner Ängste hätte Dragnea niemals darauf verzichtet, sich Abend für Abend in einem der Clubs zu zeigen, die unter seiner Kontrolle standen. Das musste er schon deshalb tun, um allen Konkurrenten deutlich zu machen, dass er nach wie vor die Fäden in der Hand hielt und an ihm niemand vorbeikam, der in Pointe-Rouge aus Schwarzgeld schneeweißes Investmentkapital zu machen beabsichtigte.
Im Neuve Avangarde, einer Bar in einer Seitenstraße, kontaktierten Léo und Josephe einen Mann namens René Thierry, der hin und wieder als Informant für uns tätig war. Er glaubte zu wissen, dass Dragnea den heutigen Abend im Buena Vista, einem seiner derzeit angesagtesten Clubs, geplant hatte.
»Das ist eine angesagte Disco«, meinte Thierry. »Das Publikum besteht zum Großteil aus gut betuchten Kunden. Die Preise sind gepfeffert. Polizisten wie Sie können sich von Ihrem Spesenkonto dort wahrscheinlich nicht einmal einen Tequila bestellen …« Thierry kicherte in sich hinein, während Josephe Kronbourg dem Barkeeper im Neuve Avangarde ein Zeichen gab, damit dieser Thierry das Glas nachfüllte.
»Wie kommen Sie darauf, dass Dragnea heute dort ist?«, hakte unterdessen unser Kollege Commissaire Léo Morell nach.
Thierry kicherte nur.
»Glauben Sie, ich gebe Ihnen meine Quelle preis, damit das Geld, das ihr Polizisten in mich investiert, in Zukunft anderswohin fließt?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Ich mag vielleicht ab und zu einen über den Durst trinken, aber das heißt noch lange nicht, dass es hier oben bei mir schon aussetzt«, glaubte er und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Schläfe. »Er ist dort, verlassen Sie sich drauf.«
»Ab wann?«
»Jetzt schon. Und ich habe noch etwas ziemlich Interessantes gehört.«
»Und was?«, knurrte Josephe mäßig interessiert. Er wusste nicht so recht, wie er die Qualität dieser Quelle nun eigentlich einordnen sollte. In der Vergangenheit hatten wir von Thierry schon so manchen wertvollen Tipp erhalten, aber in letzter Zeit war nichts Brauchbares mehr unter seinen Informationen gewesen. Nichts, worauf sich später irgendeine Festnahme oder ähnliches hätte stützen lassen. Das meiste waren derzeit Gerüchte und Dinge, die Thierry vom Hörensagen her wusste.
Er beugte sich vor, sprach plötzlich so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte.