Höhlengereift: Winken, ein ganz normales Dorf
Von Petra Kochgruber
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Über dieses E-Book
Eigentlich wollte Dr. Selma Schwarz dem sozialen Dichtestress der Grossstadt entfliehen. Eigentlich wollte sie Mord und Totschlag den Rücken kehren. Eigentlich suchte sie die Ruhe und Abgeschiedenheit eines Schweizer Dorfes am Rande der Alpen. Eigentlich wollte sie in einem Tiny House dem einfachen Leben frönen, um dort zu entschleunigen. Eigentlich...
Das Dörfchen Winken belehrte sie eines Besseren. Ausser ihrer eigenen Mitte fand sie dort, wo alles so idyllisch wirkte, einiges mehr. Denn Menschen sind nicht immer, was sie scheinen. Und selten etwas besseres.
Der etwas andere Krimi, in dem Leute verschwinden, und mysteriöse Todesfälle Rätsel aufgeben. Wo Deutsche auf Schweizer treffen, pfiffige Pathologen sich mit kantigen Kriminologen messen. Wo vielseitig empfängliche Dorfobere mit sturen Weltverbesserern zu kämpfen haben. Und ein kleiner Junge mit seinem Hund die Herzen im Sturm erobert, während eine skurrile Alte ständig pupsend durchs Bild läuft...in einem ganz normalen Dorf mit Menschen wie du und ich.
Petra Kochgruber
Petra Kochgruber, geboren 1966 in Lörrach, hat nach ihrem Wirtschaftsstudium und über zwanzig Berufsjahren im Marketing Management internationaler Unternehmen die klassische Karriere an den Nagel gehängt, um mehr Freiräume zu schaffen für ihre anderen persönlichen Leidenschaften: Reisen, Texten, Schreiben, Fotografieren, Gärtnern und Kochen. Heute lebt und arbeitet sie in der Schweiz. Mit ihrem Mann und Hund bereist sie Europa und Afrika zu Fuss oder mit dem Wohnmobil. Über ihre Abenteuer, Erlebnisse und Erfahrungen berichtet sie, gemeinsam mit ihrem Mann Robert, in Reportagen, Fotos und Videos auf ihrem Blog Magazin: www.nurmut.ch
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Buchvorschau
Höhlengereift - Petra Kochgruber
Buch
Eigentlich wollte Dr. Selma Schwarz dem sozialen Dichtestress der Grossstadt entfliehen. Eigentlich wollte sie Mord und Totschlag den Rücken kehren. Eigentlich suchte sie die Ruhe und Abgeschiedenheit eines Schweizer Dorfes am Rande der Alpen. Eigentlich wollte sie in einem Tiny House dem einfachen Leben frönen, um dort zu entschleunigen. Eigentlich…
Das Dörfchen Winken belehrte sie eines Besseren. Ausser ihrer eigenen Mitte fand sie dort, wo alles so idyllisch wirkte, einiges mehr. Denn Menschen sind nicht immer, was sie scheinen. Und selten etwas besseres.
Der etwas andere Krimi, in dem Leute verschwinden, und mysteriöse Todesfälle Rätsel aufgeben. Wo Deutsche auf Schweizer treffen, pfiffige Pathologen sich mit kantigen Kriminologen messen. Wo vielseitig empfängliche Dorfobere mit sturen Weltverbesserern zu kämpfen haben. Und ein kleiner Junge mit seinem Hund die Herzen im Sturm erobert, während eine skurrile Alte ständig pupsend durchs Bild läuft…in einem ganz normalen Dorf mit Menschen wie du und ich.
Autorin
Petra Kochgruber, geboren 1966 in Lörrach, hat nach ihrem Wirtschaftsstudium und über zwanzig Berufsjahren im Marketing Management internationaler Unternehmen die klassische Karriere an den Nagel gehängt, um mehr Freiräume zu schaffen für ihre anderen persönlichen Leidenschaften: Reisen, Texten, Schreiben, Fotografieren, Gärtnern und Kochen. Heute lebt und arbeitet sie in der Schweiz. Mit ihrem Mann und Hund bereist sie Europa und Afrika zu Fuss oder mit dem Wohnmobil. Über ihre Abenteuer, Erlebnisse und Erfahrungen berichtet sie, gemeinsam mit ihrem Mann Robert, in Reportagen, Fotos und Videos auf ihrem Blog Magazin:
www.nurmut.ch
»Das Leben ist unendlich viel seltsamer als irgendetwas,
das der menschliche Geist erfinden könnte.
Wir würden nicht wagen, die Dinge auszudenken,
die in Wirklichkeit blosse Selbstverständlichkeiten
unseres Lebens sind.
(Sir Arthur Conan Doyle)
Inhalt
Intro
Willkommen im Heidiland
Winken für Anfänger
Hallo Liebes, lebst du noch?
Sonntags um neun ist die Welt noch in Ordnung
Selma
Von Ritualen und einsamen Fürzen in der Nacht
Montagsblues und die Sache mit der Vergangenheit
Von Traditionen und dem Luxus im Verborgenen
Auch heile Welten haben kleine Risse
Die Ruhe vor dem Sturm
Abgehangen
Höhlengereift
Winken macht Schlagzeilen
Das ist doch alles Käse
Durchgeputzt
Vom Gemüsebeet in die Stadt
Was haben Sushi und Pathologen gemeinsam?
Von Gürteln und roten Ohren
Analog statt digital
Unterkühltes Tribunal
Hals-und Schädelbruch
Weltverbesserer und Höheners Paradies
Fladen, Büsi und Brocki
Von Ärztinnen und starken Frauen
Menschen sind nicht immer, was sie scheinen
Aggressive Hunde und beherzte Albaner mit Biss
Glück im Unglück
Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken
Eine Hand wäscht die andere
Schwarz wie mein Name und süss wie die Liebe
Schöne Aussicht oder Harmonie
Das Balzverhalten des Glögglifroschs
Hubers Schweigen
Pärchenabend und Beichtmutter
Die Karten lügen nicht
Ausgabenüberschuss
Wenn Zartbitterschokolade auf Gitarrensaiten trifft
Von limitierten Genpools und roten Schuhen
Nichts als Ärger mit dem Ruedi
Durchschaut
Savoir vivre à la Suisse
Strawberry Fields forever
Abgeschleppt
Menschen, die man mag
Die Sauchöggli bei der Wurzel packen
Blaue Augen und dunkle Flecken
Mal gewinnt der eine, mal der andere
Mildernde Umstände nach Feierabend
Vollmondnacht im Bambiland
Von vagen Theorien und seltenen Blutgruppen
Sozialer Dichtestress
Nach dem Verdacht ist vor dem Verdacht
Eine neue Baustelle
Die Hölle, das sind die anderen
Das Leben der anderen
Tarzan, Ferkel und dicke Schädel
Jeder ist normal, bis du ihn besser kennst
Opera d’arte
Alles hängt an einem Seil
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Intro
Wie jeden Morgen raste Moggel den Hügel hinauf über die Wiese zur Tür des kleinen Holzhauses. Wo er freudig wedelnd, mit gespitzten Ohren und schräg gelegtem Kopf erwartungsvoll stehenblieb und gespannt wartete. Peter stiefelte langsam hinter seinem Hund her. Deutlich weniger enthusiastisch. Denn die Tür, hinter der sonst stets ein älterer Herr gewartet hatte, um Peter fröhlich »Grüezi« zu sagen und Moggel mit einem Leckerli zu begrüssen, blieb seit einigen Wochen geschlossen.
»Man darf nie zu schnell aufgeben!«, hatte Wickie stets zu Peter gesagt. »Egal, worum es geht im Leben«, schärfte er ihm immer wieder ein, »wenn man etwas wirklich will und sich ganz fest wünscht, dann kann man es auch erreichen. Man darf nur nicht frühzeitig die Flinte ins Korn werfen.«
Dieser Ratschlag fiel dem Jungen jedes Mal ein, wenn er an dem Häuschen mit der verschlossenen Tür vorbei kam. Schon seit Wochen fasste er sich immer wieder ein Herz und klopfte zaghaft hoffend mit seiner kleinen Faust dagegen. Auch heute wieder. Keine Reaktion.
Peter setzte sich wie immer, wenn es nicht regnete oder schneite, auf die Holzveranda und wartete einen Moment.
»Wo könnte er nur sein? Und wieso meldet er sich nicht?«, nachdenklich zog er seine Stirn in Falten und rümpfte seine Stupsnase mit den Sommersprossen. Das tat er stets, wenn er nachdachte, traurig war oder besonders glücklich. Heute war er traurig, denn sein guter Kumpel Wickie fehlte ihm. Genau wie das tägliche Morgenritual vor der Schule. Ohne Wickie begannen die Tage fad. Gedankenverloren stützte er seinen Kopf in die rechte Hand und blickte in die Ferne, während er mit der linken die samtigen Ohren von Moggel kraulte, der wie immer neben ihm sass. Aber nicht lange. Denn plötzlich stellte der Mischling seine Ohren, lauschte und flitzte beinahe im selben Moment los. Über die Wiese zu dem anderen kleinen Häuschen, das als zweites auf diesem idyllischen Hügel über dem kleinen Schweizer Dorf thronte.
»Moggel, wo willst du hin?«, rief Peter verdutzt und wurde jäh aus seinen trüben Gedanken gerissen. »Komm zurück, du Spinner!« Er vermutete eine der vielen Katzen von den umliegend verstreuten Bauernhöfen. Meist kam der Hund nach kurzer Zeit wieder zu ihm zurück, weil die Katzen sowieso viel schneller waren. Und weil Moggel als Pazifist sowieso keinem anderen Tier etwas zuleide tat.
»In der freien Wildbahn wäre der schon längst verhungert«, pflegte Wickie früher in solchen Fällen zu sagen, und damit war der Junge mit seinen Gedanken bereits wieder ganz woanders.
Als Moggel nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht um die Ecke gebogen war, rappelte sich Peter langsam auf und schlenderte in Richtung des zweiten Hauses, wohin sein Hund verschwunden war.
»Nicht, dass er wieder ein Huhn von Tom getroffen hat«, brummelte er vor sich hin. Und erinnerte sich daran, wie sein Hund als neugieriger, pubertierender Jungspund eine Henne, die sich vor Schreck tot stellte, mit einer Pfote festhielt, um ihr in aller Seelenruhe am Hühner Popo zu schnüffeln. Anderen Tieren am Popo zu schnuppern, war definitiv ein Hobby von Moggel. Damals hatte es richtig Ärger gegeben mit dem Hühnerbesitzer. Obwohl alle quietschfidel, nur mit dem Schrecken davon gekommen waren. Der Thomas verstand überhaupt keinen Spass mit seinen Tieren. Das wusste Peter.
Doch weder das Huhn noch die Katze waren Ziel des stürmischen Vierbeiners gewesen. Er sass auf der Veranda des anderen Hauses und liess sich genüsslich in der ersten Morgensonne seine weichen Ohren und den Nacken kraulen.
»Wer ist das denn?«, fuhr es Peter durch den Kopf. »Die hab ich hier noch nie gesehen.«
Neben seinem Hund sass eine schlanke Frau. Blonde, kurze Haare, Jeans, Kapuzen Shirt, Turnschuhe an den Füssen und eine Tasse in der Hand, aus der ein Teebeutel baumelte. Überrascht, weil er eigentlich alle im Dorf kannte, die hier aber noch nie gesehen hatte, sagte er schüchtern:
»Grüezi.«
»Hallo«, antwortete eine leicht heisere, aber freundliche Stimme, »ist das dein Hund? Wie heisst er denn?«
»Wickie«, antwortete der Junge.
»Das ist aber ein ungewöhnlicher Name für einen Hund.«
»Äh, nein, nicht der Hund. Der Wickie ist weg«, stammelte Peter ganz in Gedanken und sichtlich nervös, weil er um diese Jahreszeit an diesem Ort so gar nicht mit Fremden gerechnet hatte. Mit seinen zehn Jahren war er ein eher zurückhaltender Junge, der nicht gern viele Worte machte. Er beobachtete lieber still und machte sich seine eigenen Gedanken.
»Moggel, heisst er. Eigentlich Mogge, aber ich hab ihn Moggel getauft. Das ist eine längere Geschichte«, schickte Peter erklärend mit rotem Kopf hinterher.
»Moggel also«, sagte die Frau mit ruhiger Stimme und strich dem Hund über den Kopf. Um ihre grünen Augen bildeten sich feine Lachfältchen.
»Ich bin Selma«, sagte sie aufmunternd in Hochdeutsch mit leichtem Akzent, der Peter ganz entfernt bekannt vorkam.
»Nein, die ist ganz sicher nicht von hier«, dachte er.
Willkommen im Heidiland
So schnell der kleine Junge mit seinem Hund aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Und liess Selma mit ihrer Teetasse und ihren Gedanken zurück.
»Moggel«, dachte sie und lächelte. Im Schwarzwald, wo sie aufgewachsen war, nennt man kleine Kinder liebevoll Moggele oder Mockele. So hatte ihre geliebte Großmutter sie als Kind auch genannt. Ja, die Oma. Sie hatte doch auch immer gesagt, der erste Eindruck, den man hat von einem neuen Ort, und der erste Mensch, den man dort trifft, sind ausschlaggebend dafür, ob man sich wohl fühlen wird.
Nun sass sie also auf der Terrasse vor ihrem gemieteten Tiny House. An einem neuen Ort, namens Winken, der in den nächsten drei Monaten zu ihrer Wahlheimat werden sollte. Und hatte dort als ersten diesen rothaarigen Jungen mit den vielen Sommersprossen getroffen. Mit seinem zutraulichen, freundlichen Hund Moggel. Kein schlechter Anfang, fand Selma, und nahm einen Schluck ihres Kräutertees, der gar nicht so übel schmeckte. Eigentlich brauchte sie morgens eine Tasse Kaffee, um wach zu werden. Aber leider hatte sie in ihrem neuen Heim zwar eine tolle Schweizer Kaffeemaschine vorgefunden, jedoch keine Kaffeebohnen, so dass sie einstweilen mit dem vorhandenen Kräutertee vorlieb nahm.
»Passt ja auch irgendwie gut in die Gegend«, sagte sich Selma beim Blick auf die umliegenden sanften, grasbedeckten Hügel und den imposanten Gebirgszug mit den noch Schnee bedeckten Gipfeln am Horizont. Unweigerlich fielen ihr die saftigen Kräuterwiesen ein, über die das unbeschwerte Heidi im gleichnamigen Buch von Johanna Spyrig lief, aus dem die Oma ihr als Kind immer vorgelesen hatte. Und der Film, den sie später so oft angeschaut hatte wegen der herrlichen Landschaft. Genau so sah es hier aus.
Mit einem Seufzer holte Selma tief Luft und schaute sich um in der ruhigen Morgenstille. Für Anfang April wärmte die Morgensonne an der Holzfassade ihren Rücken schon erstaunlich angenehm. Und das auf beinahe tausend Metern Höhe.
Was war das denn? Dort hinten an den Hecken, die das Grundstück begrenzten, raschelte etwas. Selma traute ihren Augen nicht. Zwei Eichhörnchen spielten Fangen und schienen sie gar nicht zu bemerken. Begeistert beobachtete sie die possierlichen Tierchen, wie sie schliesslich hintereinander in Spiralen einen Baumstamm hinauf jagten. Definitiv, sie war im Heidiland gelandet. Solch ein Idyll hatte sie wahrlich nicht erwartet, als sie vor zwei Monaten die Anzeige im Internet gelesen hatte: Tiny House - genau das Richtige für eine Auszeit - alleine mitten in der Natur! Ein umfangreicher Bioladen in unmittelbarer Nähe ist immer geöffnet. Der Luxus ist die wunderbare Einfachheit. Vom Bett aus schauen Sie in die Schweizer Hügel, von der Terrasse aus hören Sie das beruhigende Geläut glücklicher Kühe. Die Abendsonne scheint lange und zaubert unvergessliche Sonnenuntergänge über die Bergwelt. Ihre Unterkunft ist einfach und sehr gemütlich, lassen Sie sich auf dieses spezielle Erlebnis ein.
Für Kühe war es wohl noch etwas zu früh im Jahr. Aber die Eichhörnchen waren ja noch viel authentischer, um das Gefühl zu haben, mitten in der Natur zu wohnen. Die Abendsonne hatte Selma noch nicht erlebt, denn als sie gestern Abend gegen zwanzig Uhr hier angekommen war, zeigte sich der Himmel stark bewölkt und es dunkelte schon.
Fast den ganzen Weg von Berlin hierher hatte es geregnet. Erst auf der Höhe von München hatte der Dauerregen endlich nachgelassen. Nach elf stressigen Stunden Autofahrt mit einigen Staus auf der Strecke war Selma viel später als geplant in dem kleinen Schweizer Dorf Winken eingetroffen. Sie hatte von unterwegs bei der Agentur Hin & Weg angerufen, um ihr späteres Eintreffen anzukündigen, und dabei bereits ihr erstes Erlebnis der Schweizer Art gehabt.
»In der Schweiz arbeiten wir am Freitag nicht länger als bis siebzehn Uhr. Wenn sie es nicht bis siebzehn Uhr schaffen, deponieren wir den Hausschlüssel und die Informationsmappe für sie unter dem Fussabstreifer«, hatte ihr das Fräulein am Telefon mit dem charmantem Schweizer Akzent mitgeteilt, den Selma so sehr mochte.
»Ist das denn auch sicher mit dem Schlüssel unter’m Fussabstreifer?«, hatte Selma, aus dem kriminellen Großstadtdschungel Berlins kommend, skeptisch gefragt.
Worauf das gut geschulte Fräulein höflich antwortete: »Bei uns ist es so sicher, dass sie die Haustüre eigentlich gar nicht abschliessen müssten. Wir wünschen ihnen einen erholsamen Aufenthalt!«
Genau das war es, was Selma suchte. Eine ruhige, sichere Gegend ohne Kriminelle und Verbrechen.
So war sie gestern Abend also todmüde angekommen im Haselweg 1, der sich oberhalb des Dörfchens Winken einen kleinen Hügel hinauf schlängelte. Das rechte von zwei frei stehenden Häusern auf dem weitläufigen Hügelgrundstück sei ihres, hatte man ihr erklärt. Dahinter konnte sie am Ende des Haselwegs auf einem kleinen, eben gestampften Naturparkplatz ihr Auto parken. Da sie wusste, dass ihr gemietetes Tiny House insgesamt nur fünfundzwanzig Quadratmeter Wohnfläche haben würde, hatte sie sich beim Gepäck beschränkt. Worüber sie nach der langen Fahrt mehr als froh gewesen war, denn der kleine Koffer, der Rucksack und die Laptoptasche waren schnell ausgeladen. Sowohl im Dorf, das sie zuvor durchquert hatte, als auch hier oben war ihr um diese Zeit keine Menschenseele mehr begegnet. Welcher Kontrast zu Berlin.
Als sie die vorgelagerte Terrasse ihres Häuschens betreten hatte, leuchtete automatisch eine kleine Lampe über der Eingangstür auf, die den Eingangsbereich in warmes Licht tauchte.
Gespannt hatte sie den Fussabstreifer angehoben, auf dem in roten Lettern stand: »Sönd willkomm!« Darunter hatte eine grüne Mappe gelegen, in der sie zwei Hausschlüssel, ein Anschreiben, ein Instruktionsmanual und eine Strassenkarte der Umgebung fand. Sehr ordentlich. Erwartungsvoll hatte Selma die Holztür aufgeschlossen. Im kleinen Entrée, rechts der Tür, befand sich ein Lichtschalter. Ihre paar Habseligkeiten hatte Selma dort abgestellt und spähte neugierig ins Haus. Ein edler Holzboden veranlasste sie, in Socken weiterzugehen. Geradeaus ging es ins Bad, wohin ihr Weg sie nach der langen Fahrt direkt geführt hatte.
»Erstmal Pippi machen und dann Hände waschen.« Überrascht hatte sie sich in dem kleinen, modernen Badezimmer umgesehen. Sogar eine Waschmaschine gab es gegenüber der geräumigen Dusche und neben einem schicken Waschbecken, das in ein Holz Sideboard eingelassen war. Ein Spiegelschrank sowie das Keramik WC unter einem Fenster komplettierten den Raum.
»Alles, was der Mensch braucht«, hatte Selma zufrieden festgestellt, die eine tägliche Dusche sehr schätzte. Und wie sauber und frisch alles aussah. Als ob sie die erste Bewohnerin sei.
Aus dem Badezimmer war Selma rechts hinaus getreten in die gemütliche Küche mit Tisch und gepolsterter Eckbank unter einem grossen und zwei kleinen Fenstern. Alles aus demselben, warmen Fichtenholz gefertigt, das ihr schon im Bad begegnet war, und das einen unglaublich guten Duft verströmte. Ein Cerankochfeld, ein Backofen, eine Kaffeemaschine, sogar ein Dampfabzug und ein grosser Kühlschrank. Die begnadete Hobbyköchin konnte ihr Glück nicht fassen, hatte sie sich unter »wunderbarer Einfachheit« doch nicht einen solchen Luxus auf kleinstem Raum vorgestellt.
Von der Wohnküche führte ein breiter Durchgang weiter in ein kleines Wohnzimmer, wo sie endgültig staunte. Hier stand ein kompaktes Zweisitzer Sofa und ein Designklassiker als Sessel vor einem runden Kamin. Ein dazu passender Mini Couchtisch, eine schmale Stehlampe und ein Holzregal mit ein paar Büchern an der Wand rundeten das Ensemble ab. An der Stirnseite führte eine verglaste Terrassentür hinaus. Wohin, das wollte bei Tageslicht erkundet werden. Die moderne Tapete mit silbernem Blütendessin auf grauem Grund an der Wand hinter dem Holzregal, die sie bereits an der Küchenwand hinter der Eckbank gesehen hatte, war Selma gleich positiv aufgefallen. Sie bildete optisch einen stilvollen Kontrast zu all dem Holz. Dies war absolut keine Alphütte, sondern eher ein kleines, feines Luxus Chalet. Der Eigentümer bewies viel Geschmack.
Das Schlafzimmer ihres Tiny Houses befand sich am anderen Ende, vom Badezimmer aus links. Dort stand ein Doppelbett, dessen karierte Bettwäsche Selmas Heidiland Vorstellungen komplett erfüllte. Ein gekonnter Stilbruch zur Blumentapete, die sich auch hier an der südlichen Wand fortsetzte. Vom Bett aus sah man direkt zu einer zweiten verglasten Terrassentür, auf deren Aussicht am nächsten Morgen Selma sehr gespannt war. An der Wand befand sich ein Kleiderschrank, daneben ein schmaler Schreibtisch mit einem Holzhocker.
Vor diesem Schlafzimmer, in dem sie letzte Nacht tief und traumlos geschlafen hatte, sass Selma nun auf der kleinen Terrasse mit ihrem Tee und liess den Vorabend gedanklich Revue passieren.
Ihre Müdigkeit war beim Anblick dieses hübschen Häuschens gestern schnell verflogen gewesen. Bei ihrem Erkundungsgang hatte sie hie und da kleine Aufsteller aus Papier mit ihrem Namen darauf bemerkt. Zum Beispiel im Wohnzimmer auf dem Kamin stand: »Liebe Selma, bitte Dampfabzug nicht benutzen, während Holz im Kamin brennt.« Oder an einem Technikpaneel im Eingang stand: »Liebe Selma, von hier aus können die Infrarotheizkörper in den einzelnen Räumen gesteuert werden.« Und am Kühlschrank schliesslich: »Liebe Selma, hier drin befindet sich eine kleine Überraschung.«
Selmas anfängliche Skepsis, das Haus nicht persönlich übergeben zu bekommen, war wie weggeblasen gewesen. Als ob kleine Heinzelmännchen alles liebevoll für sie vorbereitet hätten, hatte sie ihr neues Zuhause wohlig warm und perfekt ausgestattet vorgefunden. Im Grunde war sie sogar froh gewesen, nach der blöden Autofahrt ihre Ruhe zu haben und mit niemandem mehr reden zu müssen. So hatte sie sich am Abend nur noch ein Stückchen von dem würzigen Bergkäse gegönnt, den sie im Kühlschrank zusammen mit einer kühlen Flasche Bier aus der Region gefunden hatte. Dazu ein Stück des frischen, rustikalen Brots und zum Dessert eins von den herrlich süssen Lebkuchenteilchen, die mit Marzipan gefüllt waren. All die feinen Dinge, welche für sie als Willkommenspaket deponiert waren.
»Das ist ja besser als im Hotel hier«, hatte Selma selig vor sich hin gemurmelt und sich satt und müde in ihre karierte Decke eingekuschelt.
Frisch ausgeschlafen hat auch der erste Tag in ihrem Häuschen so gut begonnen, wie der gestrige Abend geendet hatte. Die Räume waren angenehm warm, das Duschwasser ebenfalls, und der Induktionsherd in der Küche hatte ihr Teewasser in Rekordzeit zum Kochen gebracht. Alles schien zu funktionieren.
Winken für Anfänger
Die Tasse Tee hatte gut getan und Selmas Lebensgeister geweckt. Sie stand auf, blinzelte in die Sonne und sah auf ihre Armbanduhr.
»Schon zehn Uhr«, dachte sie, »jetzt hätte ich den Jungen noch fragen können, wie lange hier die Geschäfte offen haben.«
Denn so fein der Kräutertee auch schmeckte, am morgigen Sonntag wollte sie doch lieber wieder die gewohnte Tasse Milchkaffee mit viel Zucker zum Frühstück geniessen. Ausserdem war der Kühlschrank nicht so voll gewesen, dass der Inhalt fürs Wochenende gereicht hätte.
Selma leerte kurzerhand ihren Rucksack, in dem sie ihre Sportsachen und Schuhe transportiert hatte, schnappte sich ihre Umhängetasche mit dem Portemonnaie, Jacke, Sonnenbrille und machte sich auf den Weg ins Dorf. Das Auto liess sie stehen.
»Wer weiss, ob es Samstagmorgens überhaupt einen freien Parkplatz gibt?«
Ausserdem war der Einkauf zu Fuss am Samstag auch zuhause, in ihrem Berliner Kiez, ein lieb gewordenes Ritual.
»Sicherlich haben die Läden hier auf dem Land nicht durchgehend bis spät in die Nacht offen. Besser, ich beeile mich ein bisschen.« Aus ihrer Kindheit wusste sie, dass auf dem Dorf, zumindest in Deutschland, andere Öffnungszeiten galten als in der Millionenstadt Berlin. Das war in der Schweiz bestimmt nicht anders.
»Mal sehen, ob ich den Bioladen aus dem Inserat finde. Und was es hier sonst noch so alles gibt.«
Voller Elan folgte sie dem gekiesten Haselweg und bog links auf den schmalen, geteerten Hauptweg ein, der direkt ins Dorf führte. Zu ihrer Rechten passierte sie ein grosses, eingezäuntes Grundstück mit einer Wiese, auf der unter alten Bäumen ein Gartenhaus mit schmiedeeisernen Fenstergittern stand. Gegenüber ein Hühnerstall mit Hühnerleiter, vor der fünf schwarze Hennen im Gras pickten, und ein schwarz weiss gepunkteter Hahn herum gockelte. Als er Selma sah, krähte er laut und heiser wie ein rostiger Wasserhahn.
»Ich wünsch dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Herr Nachbar«, rief Selma dem Federvieh übermütig zu und blieb kurz stehen, um sich den herrlich verwunschenen Garten anzusehen.
Diese glücklichen Hühner gehörten zu dem einzigen anderen Haus, das sich in der Nachbarschaft der beiden Tiny Häuser befand. Ein stattliches altes Bauernhaus aus Holz mit geschindelter Fassade und einem geräumigen, längs angebauten Stall. Einige der alten Sprossenfenster wurden mit Holzläden von oben geschlossen, die Selma so noch nie gesehen hatte. Ähnlich wie ihr kleines Häuschen lag auch dieses Anwesen erhöht mit phantastischer Rundumsicht auf Dorf und Umgebung. Als Selma entlang des weitläufigen Holzzauns die östliche Stirnseite des Bauernhauses erreichte, sah sie dort eine ebenfalls mit Holzsprossen versehene Eingangstür am Ende einer kleinen Treppe, die wohl in ein Geschäft führte.
Thomas Widmer - Sennensattlerei stand darüber auf einem Holzschild. Interessiert blickte Selma zu den erhöht liegenden Fenstern des Geschäftes, durch die sie im Hintergrund nur ein paar Holzregale sehen konnte und den oberen Rand eines gebeugten grauen Haarschopfs.
»Den heb ich mir für nächste Woche auf«, dachte Selma im Vorbeigehen, »jetzt ist was zu Futtern wichtig.«
Die Strasse führte sie weiter bergab, wo die Besiedlung dichter wurde. Selma fielen die vielen alten Bauernhäuser auf mit grossen Gärten und Wiesen drumherum. Wie verschwenderisch man hier noch mit dem Platz umgehen konnte. Nach den vielen Jahren Grossstadt, wo sie seit ihrem Studium hauptsächlich gelebt hatte, war sie solche Dimensionen nicht mehr gewöhnt.
In einem der Gärten war eine ältere Frau gerade dabei, die Erde ihrer Blumenbeete mit einer kleinen Hacke aufzulockern. Hie und da sah man schon ein wenig Grün spriessen. Tulpen oder Narzissen, vermutete Selma, weil diese in den Blumenrabatten vor ihrem Arbeitsplatz in Berlin bereits schon vor ihrer Abreise in die Höhe geschossen waren. Daneben schimmerten Forsythien bereits gelb durch die Hecken. Die alte Dame mit dem flotten, grauen Kurzhaarschnitt und einem dunkelblauen Anorak über ebensolchen Hosen richtete sich auf. Als sie Selma kommen sah, lächelte sie interessiert und sagte:
»Grüezi.«
»Grüezi«, antwortete Selma, amüsiert über ihren ersten wackeligen Versuch, Schweizerdeutsch zu sprechen, und wunderte sich im ersten Moment, dass sie als Fremde bemerkt und sogar gegrüsst wurde. Das war ihr in den letzten Jahren schon lange nicht mehr passiert.
»De Frühelig chunt efengs«, schickte die alte Dame ihrem Gruss noch freudig hinterher.
»Ja, die Sonne hat schon ganz schön Kraft«, antwortete Selma, froh darüber, dass das Schweizerdeutsch dem Alemannischen ihrer Kindheit sehr ähnelte. Auch wenn sie das Gefühl hatte, den typischen Schweizer Kehllaut und das rollende »R« niemals perfekt zu beherrschen und deshalb lieber beim Hochdeutschen blieb. Obwohl ihre Verwandten am Kaiserstuhl ihr als Kind das berühmte »Chuchichäschtli« immer und immer wieder versucht hatten, beizubringen. Bei ihr war diesbezüglich Hopfen und Malz verloren.
Die ältere Gärtnerin bemerkte erst jetzt, dass Selma wohl nicht aus der Region kam, und schaltete blitzschnell ihrerseits um auf Hochdeutsch mit charmantem Akzent.
»Ich wünsch’ ihnen ein schönes Wochenende!« Sprach’s, bückte sich wieder über ihr Beet und häckelte weiter.
»Danke, ebenso.«
Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Bub, kamen Selma auf der Strasse entgegen. Beide hatten Brottüten in den Händen und sahen Selma freundlich an:
»Grüezi«, sagten sie im Chor.
»Grüezi.« Selma war erstaunt. Sogar die Kinder. Nein, das kannte sie aus Berlin so nicht. Wie lang war es her, dass diese offene Freundlichkeit für sie ebenfalls selbstverständlich gewesen war?
Plötzlich fühlte sie sich auf einer Zeitreise in die eigene Kindheit. Mit leicht gemischten Gefühlen. Denn sie wusste nicht genau, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Lange konnte sie sich deswegen jedoch keine Gedanken machen, denn sie kam nun unten im Dorfkern an, wo das Samstagstreiben ihre volle Aufmerksamkeit verlangte.
Vorbei an einer kleinen Kirche und einem klitzekleinen Park mit alten Bäumen, unter deren Schatten Bänke auf einer Wiese standen, führte sie ihr Weg geradewegs auf den zentralen Dorfplatz. Dieser hatte vor Jahren einmal einen Schweizer Preis gewonnen für seine historischen, gut erhaltenen Bürgerhäuser. Sie schaute sich um. Mit den geschweiften Dach- und Giebelformen erinnerten die Häuser Selma ein wenig an Frauen, die ganz frisch onduliert vom Friseur kamen. Schön herausgeputzt, mit kleinen Erkern und Türmchen sowie aufwändigen Holztäfer Füllungen an den Fassaden machten die viergeschossigen Gebäude Eindruck, wie sie ordentlich aneinander gereiht den Dorfplatz schmückten. Die meisten von ihnen breit und stattlich, dazwischen ein kleineres, schmales, das Selma sofort zu ihrem Liebling erkor. Hatte ihr neues Tiny Zuhause bereits abgefärbt auf ihre Gebäudepräferenzen?
Um sie herum herrschte reger Verkehr auf der Hauptstrasse, die mitten durch Winken führte. Auch auf den Parkplätzen des Dorfplatzes ein Kommen und Gehen. Polierte Familienvans mit getönten Scheiben und gestressten Müttern, ihre Kinder im Schlepptau. Daneben praktische, gebrauchte Allrad-Kombis, denen Landwirte oder Landfrauen in Gummistiefeln entstiegen. Grosse SUVs, in denen Paare in schicker Freizeitkleidung heran brausten. Eine bunte Mischung bot sich hier. Alle auf dem Weg zum Einkaufen in Winkens einzigem Supermarkt und der Metzgerei daneben. Nicht zu vergessen, all die Samstagseinkäufer mit Rucksäcken, Taschen oder Trolleys, zu Fuss unterwegs wie Selma.
»Gut, dass ich das Auto zuhause gelassen hab. Zu Fuss geht’s wirklich einfacher«, räsonierte Selma, während sie eines der grossen SUV Schlachtschiffe direkt vor sich ausparken liess.
Hier schienen sich alle irgendwie zu kennen, manche Leute standen in Zweier- oder Dreiergrüppchen auf dem Bürgersteig und schwatzten miteinander. Jeder grüsste jeden und meist wurde dazu gewinkt, auch aus den vorbeifahrenden Autos heraus.
»Heisst ja auch Winken hier«, ging es Selma kurz durch den Kopf. Im Vorübergehen hörte sie, dass alle sich immer mit Namen begrüssten, meist mit den Vornamen. Und immer wieder hörte sie. »Hoi«, anstatt »Grüezi«. Auch sie selbst kam beinahe gar nicht mehr aus dem »Grüezi sagen« heraus, denn sie war mittendrin statt nur dabei. Irgendwie fühlte sie sich gut damit. Und weniger fremd. Ein Zitat ihres Lieblingskomikers Karl Valentin fiel ihr spontan ein: »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.«
Da alle dem kleinen Supermarkt zustrebten, verschob Selma ihre Suche nach dem Bioladen, den sie bis jetzt noch nirgends gesehen hatte, auf später. Sie hatte ja noch soviel Zeit, das Dorf zu erkunden. An der Eingangstür zum Supermarkt, die man über drei Stufen erreichte, hing ein Schild: »Behindertengerecht«. Weit und breit kein Lift und keine Rampe zu sehen. Selma wunderte sich kurz, stieg dann aber selbst die Treppe hinauf und betrat das Geschäft namens Volg, wo sie sich im Eingangsbereich einen Einkaufswagen schnappte, der ohne Münzen zu bekommen war. Ein bärtiger, älterer Herr in Kordhosen, mit einem bunten Strickpullover bekleidet und einer Schiebermütze auf dem Kopf, hatte sie freundlich gegrüsst und ihr galant den Vortritt gelassen. Es gab noch echte Kavaliere hier.
Eine gut sortierte Obst- und Gemüseabteilung war Selmas erster Anlaufpunkt. Als Vegetarierin fand sie hier alles, was ihr Herz begehrte. Sogar Bioprodukte waren im Angebot. Alles frisch und appetitlich präsentiert. Ihr Einkaufswagen füllte sich rasch. Noch ein paar Eier, Butter, Käse, Sahne. Das Kühlregal überforderte sie beinahe. So viele verschiedene Sorten an Milchprodukten! Ihr Feinschmeckerherz schlug höher, und sie griff zu. Aber wo bitte fand sie Sahne? Die brauchte sie für ihr Kartoffelgratin.
»Entschuldigung«, fragte sie eine junge Frau neben sich, »wo finde ich denn bitte die Sahne?«
»Rahm meinen sie? Vollrahm oder Halbrahm? Schauen sie, dort drüben. Da hat’s auch noch Sauerrahm.«
»Vielen Dank! Na klar, der Rahm.« Selma lernte schnell dazu. Es gab wohl noch einiges, was sie neu in ihren Wortschatz integrieren musste. Ob es wohl ein Schweizer Wörterbuch gab? Damit hatte sie sich vor ihrer Reise gar nicht beschäftigt. »Muss ich später mal googeln«, nahm sich Selma vor.
Schnell noch zum Schokoladenregal, in der Schweiz ja wohl ein Muss. Zumal Selma allem Süssem gegenüber sehr aufgeschlossen war. Mit ein paar Tafeln dunkler sowie Nuss Schokolade, einer Packung fair gehandelter Kaffeebohnen und je einer Flasche Rot- und Weisswein in ihrem gut gefüllten Wagen stellte sie sich schliesslich in die Schlange vor der einzigen Kasse.
»Hoi, Rösli! Was macht dein Rheuma?«
»Säg nüt!«
Trotz der langen Warteschlange fand die Kassiererin noch Zeit und Musse, mit jedem einzelnen Kunden ein paar persönliche Worte zu wechseln. Und sie schien auch jede und jeden zu kennen. Die Wartenden nahmen das mit stoischer Gelassenheit hin, unterhielten sich leise miteinander und standen geduldig, bis es wieder ein Stückchen voran ging. Niemand drängelte oder nörgelte. Im Gegenteil, als ein junger Mann, nur mit einer Dose Cola und einer Tüte Chips von hinten in Richtung Kasse ging, liess man ihn vor, wofür er sich überschwänglich bedankte. Selma beobachtete, staunte und spürte selbst, wie sich eine wohltuende Ruhe und Gelassenheit einstellte. Als sie schliesslich an der Reihe war, sprach die Kassiererin auch mit ihr über das schöne Wetter und blickte sie dabei lächelnd an. Ungewöhnlich.
»Einen Moment bitte! Ich komm gleich wieder«, sagte die junge Kassiererin plötzlich zu ihr, stand auf und ging zum Eingang. Ein Kollege von ihr, der eben noch die Regale aufgefüllt hatte, sprang ebenfalls zur Tür. Selma konnte zunächst nicht sehen, was die beiden dort machten. Bis sie mit einer älteren Dame im Rollstuhl auftauchten, den sie kurzerhand rechts und links an den Armlehnen gepackt und mitsamt der Frau die Treppe hinauf gehievt haben. Dort setzten sie ihre Fracht vorsichtig ab und wünschten der Vreni einen guten Einkauf, die mit einem fröhlichen Lachen ihren Rollstuhl in Richtung Gemüse lenkte.
»So, da bin ich wieder«, meinte die Kassiererin leicht ausser Atem und setzte ihre Arbeit fort.
»Brauchen sie noch ein Säckli?«
»Nein, danke. Es sollte so gehen. Ich hab den Rucksack dabei.«
»Sonst melden sie sich gern. Fünfundneunzig Franken zehn bitte!«
Selma stutzte kurz. Konnte das sein für die paar Sachen? Aber sie wollte den ganzen Laden nicht noch mehr aufhalten und zückte schnell hundert Franken.
»Sie können sonst auch gern mit Karte bezahlen«, die freundliche Kassiererin deutete auf ein Kartenterminal und nahm den Schein entgegen, während Selma ihre restlichen Sachen im Rucksack verstaute, der bereits gefährlich spannte.
»Hier haben sie doch noch ein Säckli«, mit diesen Worten reichte die Kassiererin Selma eine Papiertüte, ihr Wechselgeld und den Kassenbon.
»Uf wiederluege un es schöns Tägli!«
»Auf Wiedersehen.«
Draussen schulterte Selma ihren übervollen Rucksack, als der ältere Herr von vorhin ebenfalls aus dem Supermarkt trat.
»Sie sind von Dütschland, stimmt’s? Ein dütsches Fräulein! Machen sie Ferien bei uns?«, interessiert und ein wenig amüsiert musterte er sie, während er auf ihre Reaktion wartete.
»Ja, also nein. Nicht direkt.«
Er hatte sie ein wenig aus dem Konzept gebracht.
»Also, ja. Ich komme aus Berlin. Und nein, ich mache nicht nur Ferien hier. Ich wohne in einem der Tiny Houses dort oben am Hang.«
«Ah, beim Wickie also! Der sucht sich schon immer die hübschesten Fräuleins aus. Willkommen in Winken! Aber wie eine Berlinerin klingen sie nicht gerade«, damit drehte der ältere Herr sich um und schlenderte von dannen.
Irritiert und doch auch ein wenig geschmeichelt ob seines Kompliments stand Selma verblüfft vor dem Supermarkt. Hatte der kleine Junge heute morgen nicht auch etwas von einem Wickie gesagt? In Gedanken ging Selma mit ihren Einkäufen durchs Dorf zurück. Wieder begegnete ihr jemand mit einer Brottüte unter dem Arm, der aus einer Nebenstrasse eingebogen war. Brot hatte sie vergessen.
»Mal sehen, wo die Bäckerei ist«, Selma bog links ab. Dort vorne musste sie sein.
»Bäckerei & Confiserie Stängeli« stand in geschwungenen Lettern auf dem Schaufenster, wo neben verschiedenen Brotsorten auch kunstvolle Pralinés, Petit Fours und verführerische Torten ausgestellt waren.
»Das wird vermutlich mein Lieblingsgeschäft«, dachte Selma, als sie das Schlaraffenland betrat, aus dem ihr der unwiderstehliche Geruch frischer Backwaren in die Nase stieg. Hier war gerade nicht viel Betrieb, so dass ihr gar keine Zeit blieb, sich in Ruhe umzuschauen. Ein kleines Café gehörte noch