Tod ist Erlösung
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Buchvorschau
Tod ist Erlösung - Manfred Hirschleb
1
Leverkusen, 15.09.1990
Es war ein spätsommerlicher Tag, noch gab sich die Sonne dem Herbst nicht geschlagen, was die Menschen in die Straßencafés trieb. In den Parks saßen Mütter und schauten ihren Kindern beim Spielen zu, Jogger drehten ihre Runden und Biker benutzten die Wege als Rennstrecken.
Das Häuschen mit dem großen Garten, eingerahmt von Koniferen, Magnolienbäumchen und Weigelien-Sträuchern, lag in Leverkusens besserer Wohngegend. Ein kleiner Bach bildete die Grundstücksgrenze. Inmitten des gepflegten Rasens befand sich ein Gartenteich, in dem die Blüten der Teichrosen die Sonnenstrahlen einfingen. Rot- und grünschillernde Libellen huschten hin und her, auf der Suche nach geeigneten Wasserpflanzen, um ihre Eier anzuheften. Im Jahr darauf würden sich die Larven zu brutalen Räubern entwickeln, die alles auffraßen, was sie bewältigen konnten.
Als Ignatz, ihr Mann, bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, war Carmen Reitmeier im siebten Monat schwanger – sie erlitt damals einen Nervenzusammenbruch. Marcel wurde als Frühchen geboren, entwickelte sich aber prächtig. Seitdem bewohnten Carmen und Marcel das Haus allein. Die Witwenrente sicherte ihr Auskommen und die üppige Lebensversicherung sparte sie für Marcels Ausbildung, er sollte später mal studieren. Den Nachbarn erschienen sie als unscheinbare kleine Familie, eine Alleinerziehende mit ihrem Sohn.
Eher still und in sich gekehrt glänzte Marcel in der Schule mit Bestnoten. Als Außenseiter fiel es ihm etwas schwer Freundschaften zu schließen. Nur Reinhard fühlte sich zu Marcel hingezogen, er war sein einziger Freund. Nach der Schule bummelten sie manchmal auf dem Nachhauseweg, kauften sich ein Eis oder saßen einfach nur zusammen und verloren sich in kindlichen Belanglosigkeiten. Ein paar Mal versuchte er, von seinem Freund zu erfahren wie es sei, einen Vater zu haben, und ob der mit ihm manchmal spielte und ob seine Mutter ihn genauso liebte, wie Carmen ihn liebte, doch jedes Mal verließ ihn der Mut und er fragte nicht.
Er spürte, dass er anders war als die anderen Jungen; ihre Spiele waren nicht die seinen, weil er ihnen nichts abgewinnen konnte. Seine Welt war tiefgründiger, eher naturbezogen; er interessierte sich für alles, was da kreuchte und fleuchte, im Gegensatz zu seinen Schulkameraden, die sich neben Computerspielen zunehmend für das andere Geschlecht interessierten. Jetzt, mit beinahe zwölf, begannen seine Hormone manchmal verrückt zu spielen. Waren die Folgen bei seinen Schulkameraden noch recht unschuldig, verlief es bei ihm ganz anders.
Marcel war Carmens ganzer Stolz. Sie – eins dreiundsiebzig groß, fast vierzig, mit kastanienbraunen halblangen Haaren, grünen Augen, einer großen Oberweite und schlanker Figur – war eine attraktive Erscheinung. Wenn sie beide in der Stadt einkauften, drehten sich die Männer nach ihr um.
Früher hatte sie oft Angst auf dem Spielplatz, weil Marcel wie ein Wilder alle Geräte ausprobierte, die sich bewegen ließen. Besonders das Karussell hatte es ihm angetan. Er schob es immer bis zur maximalen Geschwindigkeit an und wollte gar nicht mehr aufhören sich damit im Kreis zu drehen. Was ihn jedoch noch viel mehr faszinierte, waren die Büsche, Bäume und Pflanzen und alles was fliegen oder kriechen konnte. Die Natur war sein Metier. Er kaute oft auf einem Blatt herum, nur um festzustellen, wie es schmeckte. Im Frühjahr zupfte er die zarten Triebe von den Fichten und kaute auf ihnen herum, bis der bittere Geschmack seine Geschmackspapillen überstrapazierte. Sogar Gras probierte er – er wollte wissen, warum Kühe Gras fraßen, die dann als Milch wieder herauskam. Seine Mutter hätte schwören können, dass der Junge einmal Naturwissenschaft studieren würde. Auf diesem Gebiet war er aufgeweckt und neugierig, las viel, trocknete Blumenblüten und Blätter. In Gläsern sammelte er Fliegen, Käfer, Ameisen und auch mal einen Schmetterling. Er konnte stundenlang hinter dem Haus am Bach sitzen, fing Kaulquappen oder Salamander, um sie eingehend zu untersuchen und wieder frei zu lassen. Abends war er oft so müde, dass er sofort ins Bett wollte.
Seine Mutter sorgte dafür, dass er sich ordentlich wusch und seine Zähne nach dem Essen putzte. Dann las sie ihm eine Gutenachtgeschichte vor. Meistens lag sie neben ihm, sodass sein Kopf zwischen ihren Brüsten zu liegen kam. Sie hatte ihn gestillt, bis er vier Jahre alt war, doch auch danach musste er sich immer zu ihr legen, den Kopf zwischen ihren nackten Brüsten, deren harte Nippel sich ihm entgegenstreckten. Dann erzählte sie ihm von seinem Vater, der im Januar 1949, im eisigen Winter, mit seinen Eltern aus Tannenberg in Ostpreußen floh, als die Rote Armee ihre Großoffensive im Osten Nazideutschlands begann, wie sie über die zugefrorene Ostsee flüchten mussten, nach Pillau, wo die letzten Schiffe Flüchtlinge aufnahmen. Die Menschen hatten nur das Nötigste dabei, auf Handwagen oder Schlitten, einige auch mit Pferdefuhrwerken. Die Flugzeuge der Russen schossen erbarmungslos auf die Fliehenden und viele fanden dabei den Tod, andere versanken mit ihren Fuhrwerken in den eisigen Fluten der Ostsee, als das Eis unter ihnen zerbrach. Marcels Vater war vier Jahre alt, als er mitansehen musste, wie seine Eltern untergingen. Er wurde gerettet, eine fremde Familie nahm sich seiner an und mit ihr erreichte er, mehr tot als lebendig, den rettenden Hafen. Jahrzehnte später studierte Marcels Vater in Köln Molekularbiologie. Ein anderes Mal erzählte sie, wie sie sich auf einer Betriebsfeier kennengelernt und verliebt hatten, sie war als Chefsekretärin in der gleichen Firma tätig gewesen, aber immer endete sie damit, wie er starb.
Als er auf dem Weg zur Arbeit diesen Unfall hatte, war das ein schwerer Schlag für sie, es zerriss ihr das Herz. Sie weinte jedes Mal, wenn sie davon erzählte, und drückte Marcel noch fester an ihre Brust – er sollte daran saugen, so wie er das früher getan hatte.
Mit zunehmendem Alter kam ihm das befremdlich vor. Vor allem konnte er sich Mutters verhaltenes Stöhnen nicht erklären, wenn er zwischen ihren Brüsten lag. Da sie meistens nackt waren, spielte sie manchmal mit seinem Penis, bis dieser steif wurde. Erst wenn sie einschlief, schlich er sich in sein Bett. Meistens war er danach so aufgewühlt, dass er noch lange wach lag.
Ihr Bedürfnis nach seiner Nähe blieb bestehen und weil er sie liebte, ließ er sie gewähren, doch mit zwölf Jahren wollte er definitiv nicht mehr gesäugt werden. Er entdeckte nun in großen Schüben seine eigene Sexualität und entwickelte seiner Mutter gegenüber Schamgefühle. Ihm dämmerte, dass das bisherige Miteinander nicht normal war und begann sich dem zu widersetzen. Auch wenn er es genoss, wenn sie mit ihm spielte, empfand er ihr Gestöhne und das Saugen an ihrer Brust doch als abstoßend, schließlich war er kein kleines Kind mehr.
In seiner Not versuchte er herauszufinden, wie das bei anderen Jungen war, und vertraute sich seinem einzigen