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Seltener Besuch: oder Der Junge der keine Probleme hatte
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Seltener Besuch: oder Der Junge der keine Probleme hatte
eBook143 Seiten1 Stunde

Seltener Besuch: oder Der Junge der keine Probleme hatte

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Über dieses E-Book

In den Sommerferien lernt Tobias in einer Jugendherberge seinen sensiblen Stiefbruder Andy kennen. Der idealistische Andy wird von gleichaltrigen Jugendlichen unterdrückt. Als Tobias Andy vor den anderen beschützen will, kommt es zu Prügeleien unter den Jugendlichen. Gemeinsam verlassen Tobias und Andy die Feriengruppe und suchen Unterschlupf bei Onkel Nelles, einem nörglerischen Zyniker, den die Leute nicht ohne Grund "Kinderfresser" nennen. Die Begegnung von vollkommen unterschiedlich geprägten Menschen steht im Mittelpunkt dieses Romans, der das Tragische mit dem Komischen zu verbinden versucht. - LESERSTIMMEN: "Moderner Stoff in einer zeitlosen, ganz eigenen Sprache ... spritzig, witzig und originell." (MissGlueck) "Großartig und ausgereift!" (Antja M.) "... tiefgründig und spannend." (Kalindamarie) "Wunderbar lebendige Romanfiguren ..." (Liana) "Besser gehts nicht!" (Heike Wolter)

* Dieses Werk gehört zu den Gewinner-Beiträgen im 4. neobooks-Wettbewerb 2011
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Nov. 2012
ISBN9783847622222
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    Buchvorschau

    Seltener Besuch - Erhard Schümmelfeder

    Die Vorgeschichte

    Der Zyniker Cornelius Schenkhut war bekannt für seine bissigen Reden, in denen er sich über die Dummheit in der Welt ereiferte. Nur selten bekam er Besuch von Verwandten; Bekannte und Nach­barn gingen ihm aus dem Weg, weil seine beleidigenden Bemerkungen zu Fragen des menschlichen Mitein­anders stets in Streit ausarteten. Oft beklagte er voller Verbitterung die Ver­dorbenheit des Lebens und die schier grenzenlose Torheit der Menschen. Am Fenster seiner Küche sitzend, schickte er in Selbstge­sprächen üble Flüche in die Welt hinaus, um seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen. So lebte der nörglerische Mann allein in seinem Haus am Rande des Bevertals.

    Unter den Kindern der Nachbarschaft wurde Cornelius Schenkhut nur der Kinderfresser genannt, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass mit diesem Zeitgenossen nicht zu spaßen sei. Auch Prospektverteiler und Handelsreisende, die den hitz­köpfigen und rechthaberischen Sonderling längst kannten, mie­den das Haus, denn hier war nichts zu bewegen oder gar zu holen.

    Einmal im Jahr, zumeist im Frühling, verirrten sich zwei Männer in die Straße, an deren Ende Cornelius Schenkhut wohnte. Immer war einer der bei­den Män­ner uniformiert, während der andere Zivilkleidung trug. Die von Jahr zu Jahr wechseln­den Spen­densammler des Kyffhäuser Soldatenbun­des schell­ten auch jedes Mal an der Haustür von Cornelius Schenkhut, um ihr Anliegen vorzu­tragen: »Guten Tag, wir sammeln für die Kriegsgräberpflege in Russ­land. Möchten Sie etwas spenden?« Die Sammel­büchse, die stets von dem uniformierten jungen Mann gehalten wurde, veranlasste Cornelius Schenkhut im ersten Jahr dazu, ein bissig hingebell­tes »Nein» ertönen zu lassen, bevor die Tür sich vor den verdutzt-erschrockenen Män­nern wieder ver­schloss. Im darauffolgenden Jahr wiederholte er seine schroffe Verneinung und ließ die Tür mit Wucht ins Schloss fallen. Im Laufe der Zeit wurde der Besuch der Spendensammler zu ei­ner fast will­kommenen Abwechselung im eintö­nigen Le­ben des alten Mannes. Einmal zwang er sich zu ei­nem sarka­stisch-freundlichen »Nein«, wobei er seine nicht mehr vollständig vorhandene Zahnreihe ent­blößte, während er zwölf Monate später einen ge­langweilten und gleichgültigen Kommentar äußerte.

    Da es keine anderen Auseinandersetzungen mit dem Leben und den Menschen gab, war der Be­such der Spenden­sammler gleichzeitig immer eine Gele­genheit, den angestauten Groll mit leidenschaftli­cher Inbrunst hinauszubrüllen. Sobald er die bei­den Männer in der Straße auf sein Haus zukommen sah, rieb er sich die Hände anlässlich der bevorste­henden Begeg­nung, auf die er zwölf Monate schimp­fend gewartet hatte. Die Palette seiner Nein-Varia­tionen war bunt und voller Gefühlsregungen: sach­lich, lauthals, drohend, fauchend, hustend, kräch­zend, hämisch grinsend, verächtlich glot­zend, em­pört prustend und einmal sogar ge­künstelt singend, hatte er seine ablehnende Haltung bekundet.

    Seine verbale Aus­drucksweise wich bald einer non­verbalen Form: Einmal schüttelte er nur mit zusammengepressten Lippen sein Haupt. Im darauffolgenden Jahr vollführte er schadenfroh grinsend ein bedauerndes Achselzucken. Nie erlaubten sich die Bitt­steller ein Wort des Wider­spruchs oder gar der Kri­tik; immer zogen sie sich kommentar­los zurück und gingen weiter zur näch­sten Straße.

    Wieder einmal schellte es an der Haustür. Wieder öffnete Cornelius Schenkhut, doch ließ er dem Sprecher keine Zeit, seine Bitte vorzutragen und sagte nur knapp: »Nein, nein und nochmals nein.« Schon wollte er die Tür zuschlagen, da fragte der Unifor­mierte mit der Sammelbüchse interes­siert: »Und warum nicht?«

    Die unverhoffte Frage irritierte Cornelius Schenkhut einen Moment. Schweigen. Nachdenken. Endlich fasste er sich und schnauzte den Männern seinen Standpunkt ins Gesicht: »Für Kriegsopfer spende ich, für Kriegstäter aber nicht. Basta!«

    Von seinem Fenster aus beobachtete er die bei­den Männer, die sich eilig aus der Straße entfern­ten. Bevor sie seinen Blicken ent­schwanden, zog der Mann in Zivil ein Notizbuch aus der Jacke und notierte etwas mit einem Stift. Aha, dachte der Zyniker, das saß!

    Im folgenden Frühling hockte Cornelius Schenkhut wie­der am Fenster seiner Küche und äugte lauernd die Straße entlang. Endlich erblickte er die beiden Sammler, deren Gesichter er nicht kann­te. Vergeb­lich rieb er seine Hände, denn nachdem sie das vor­letzte Haus der Straße besucht hatten, kehrten sie um, ohne sein Haus auch nur zu beach­ten. Die Flü­che, die Cornelius Schenkhut ausstieß, können an dieser Stelle nicht alle wiedergegeben werden. Nur soviel sei versichert: sie waren recht übel und keinesfalls gesellschaftsfähig.

    Im folgenden Frühling blieb der Besuch der Spendensammler wieder aus. In diesem Leben, soviel hatte Cornelius Schenkhut begriffen, würde er wahrscheinlich keine Spen­denbitten mehr hören. Hatte er sich richtig verhalten? Ja, ja und nochmals ja, sagte er sich. Kein Wort würde er je von seiner Meinung zurückneh­men.

    Trotzdem vermisste er merkwürdigerweise den Be­such der beiden Männer.

    *

    Tobias Schenkhut hatte es sich zur Gewohn­heit ge­macht, alle Ereignisse seines Lebens mit Sym­pathienoten zu versehen. Die Ferien in der Weserstadt Höxter bewegten sich auf seiner imaginären Bewer­tungsskala launisch zwi­schen 1 und 6. Heute würde er auf dem Bahnhof den Jungen treffen, der keine Probleme hatte...

    So könnte ein Roman aus der Sicht eines allwissenden Erzählers beginnen...

    4 minus, dachte er, als ihm einfiel, dass es keine Möglichkeit gab, die erste Begegnung mit seinem Stief­bruder Andy an einen günstigeren Ort zu verlegen...

    Aber ich bin nicht allwissend. Ich möchte aus meiner subjektiven und somit begrenzten Sicht etwas erzählen über den lange zurückliegenden Sommer, der ein Teil meiner eigenen Lebensgeschichte ist. Es ist die konfliktlastige Beschreibung vom Zusammentreffen dreier Menschen mit unterschiedlicher Prägung: Ein Realist, ein Idealist und ein grantiger Zyniker verbringen einige Tage in einem Haus auf dem Lande. Ich will versuchen, die merkwürdigen Ereignisse dieser Begegnung in Worte zu fassen. Mein Interesse für Menschen und die oft verborgenen Beweggründe ihres Handelns war in der Zeit meines neunzehnten Lebensjahres nur schwach entwickelt. Tiefgreifende Reflexionen über die prägenden Faktoren in der Lebensgeschichte anderer Leute, die mir begegneten, beschäftigten mich nicht. Die wesentlichste Erfahrung dieses Sommers - der plötzliche und unerwartete Tod eines mir nahestehenden Menschen - hat bis zum heutigen Tag Spuren in meinem Denken hinterlassen. In manchen Augenblicken sehne ich mich danach, die Zeit zurückzudrehen, um das Lebensgefühl dieses Sommers noch einmal zu erleben.

    Wie soll ich mit meiner Schilderung anfangen?

    Allein die Vorstellung, dass ein Junge namens Andy nun mit seiner Mutter unter einem Dach wohnte, war noch gewöhnungsbedürftig. Nach der Trennung sei­ner Eltern hatte seine Mutter wieder geheiratet und hieß nicht mehr Schenkhut, sondern Simon. Ihre Absicht, Tobias und Andy zusammenzuführen, war vereitelt worden durch eine Sommergrippe. Mit einwö­chiger Ver­spätung sollte Andy gleich in der Stadt eintref­fen, um die verbleibenden sechs Ta­ge »unter Jungen sei­nes Alters« zu ver­bringen...

    Nein, das ist noch nicht der Ton jener Melodie, die in meiner Erinnerung spielt, wenn ich an meine erste Begegnung mit Andy denke. - Ich halte in Gedanken die Zeit an und spule sie - wie einen Film - zurück bis zu dem Julitag, an dem die Geschichte beginnt...

    M o n t a g

    Ich bin unterwegs. Als ich die Stufen zum Bahn­hofsgebäude hinauf steige, schlägt die Kirchturmuhr über den Dächern der Stadt elf Mal. Ich öffne die Eingangstür, gehe durch den Warteraum auf den Bahnsteig hinaus und höre aus dem Lautsprecher die Ankündigung des in Kürze eintreffenden Zuges. Auf der Bank verschränke ich beide Arme vor der Brust und blic­ke zur Nebenbank, auf der ein Junge Gitarre spielt. Kenne ich das Lied? Klingt wie Kein schöner Land. Ich meine, Passagen der Nationalhymne aus dem Saitenspiel herauszuhören.

    1, denke ich.

    Dann fällt mir der gestrige Telefonanruf meiner Mutter ein.

    »Andy ist schon sehr gespannt auf seinen Stief­bruder. Ich bin sicher: Ihr werdet euch gut verstehen.«

    5, geht es mir durch den Sinn.

    »Andy ist der sanftmütigste Junge der Welt. Er ist ein Mensch, der bislang keine Probleme hatte.«

    »Dann ist er wohl zu beneiden.«

    »Das glaube ich kaum. Ich finde, er ist zu viel al­lein. Ich wünschte, er hätte ein paar Probleme, denn daraus könnte er etwas fürs Leben lernen. Üb­rigens ist das der Grund, weshalb ich dich anrufe.«

    5.

    »Verstehe. Du meinst, wenn es um Probleme geht, ist er bei mir gut aufgehoben.«

    »Tobias, du sprichst mir aus der Seele. Er sollte öfter mit Jungen seines Alters zusammen sein. In der Vergangenheit hast du oft bis zum Hals in irgend­welchen Schwierigkeiten gesteckt. Es hat dir aber nie geschadet. Versprichst du mir, dich ein wenig um Andy zu kümmern?«

    6.

    »Ja, ich werde es versuchen.«

    »Du bist ein Schatz.«

    »Mama, wir haben hier in unserer Gruppe auch etliche Grippefälle. Es wäre nicht gut für Andy, wenn er sich noch einmal anstecken würde.«

    »Keine Sorge, Tobias. Unser Hausarzt hat für die Reise grünes Licht gegeben.«

    Grünes Licht.

    6.

    Von meinem Platz aus sehe ich den weißen Rad­dampfer, der mit vergnügt winkenden Gästen auf der Weser stromaufwärts fährt. Die beiden Bahn­schranken senken sich. Auf der Brücke stauen sich die Autos zu einer blechernen Schlange. Reisende mit Koffern hasten auf den Bahnsteig. Fast lautlos fährt der Zug ein. Türen öffnen sich zi­schend. Leute steigen aus, Leute steigen ein. Trotz meines Verdrusses bin ich ins­geheim auch ein wenig neugierig auf den Jun­gen, der bislang keine Probleme hatte. Ich bleibe sit­zen und lasse meinen Blick zwischen den eiligen Fahrgästen prüfend hin und her wandern. Ki­chernde Mädchen mit Lippenstift-Herzen auf den Wangen. Ein junger Bursche mit wallenden Haaren und Stirnband geht mit dem Gitarristen zum Aus­gang. Ritterlich schleppt ein weißhaariger Greis die beiden Koffer einer vornehmen Dame. Dann, als der Bahnsteig sich zu leeren beginnt, entdeckte ich Andy zwischen zwei Reisetaschen, einem Rucksack und einem länglichen Stoffbeutel. Er ist mindestens zwei Jahre jünger als ich ist, höchstens sechzehn.

    4 minus,

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