Ausstand: Eine Lahntal - Sardinien Roadstory
Von Reiner Kotulla
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Über dieses E-Book
Dort gibt es bald Probleme, die zu sozialen Spannungen führen, denen sich Jonas Bogner nicht entziehen kann. Er lernt Mascha Rudow kennen, eine scheinbar leichtlebige Studentin. Den Schriftsteller zieht es zurück nach Wetzlar, wo er die Arbeit an seiner Bergarbeitererzählung fortzusetzen gedenkt. Seinen Protagonisten, Alfred Karella, lässt er die erste große Liebe erleben, die Blütezeit der Eisenerzgrube "Amanda" bei Nauborn um das Jahr 1906 und deren Ende.
Schließlich kann Jonas Bogner in der Frühlingssonne Sardiniens, seine Arbeit an dem Bergarbeiterroman zu Ende führen. Elena, eine Kollegin, lässt ihn auf andere Gedanken kommen.
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Buchvorschau
Ausstand - Reiner Kotulla
Prolog
„Nein, schrie sie, „tu das nicht!
Doch es war zu spät gewesen. Er saß kerzengerade in seinem Bett, als ihm bewusst wurde, dass er geträumt hatte, wieder einmal, immer dieselbe Geschichte. Hörte das denn nie auf?
Draußen war es noch dunkel. Jonas Bogner hatte kaum geschlafen, war jetzt eigentlich noch hundemüde. An ein erneutes Einschlafen war nicht zu denken, wusste er aus Erfahrung.
Und schon begann sein Gehirn zu arbeiten, und auch wenn er kaum geschlafen hatte, ging er davon aus, dass sich vertrackte Gedankenverbindungen geordnet hatten.
Er glaubte fest daran, dass die Theorie stimmte, wonach unser Gehirn ähnlich einer Festplatte funktioniert, mit einer Art Defragmentierungsprogramm, das in der Lage ist, wenn wir schlafen, Gedanken aufzuräumen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, Bedeutsames zusammenzuführen, Wertloses zu entsorgen. Außer über unsere Träume, so verworren sie uns auch erscheinen mögen, bekommen wir davon nichts mit.
Ihm war kalt. Er kroch noch einmal ganz unter die Bettdecke, und plötzlich schien alles klar zu sein, was ihn noch gestern hatte befürchten lassen, dass es nichts wird, mit dem neuen Roman. Auf einmal wusste er, um was es da gehen sollte: um eine Liebe und um Ereignisse, die sich hier in der Gegend um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert im Eisenerzbergbau zugetragen hatten.
Erster Teil
Eins
Wie wird man Historiker, hatte er sich unlängst gefragt, nachdem sich für ihn so manches geändert hatte. Und er war frei, endlich. Vera war – aber das war eine andere Geschichte. Die neue Freiheit hatte er seiner Lieblingstante zu verdanken. Die war gestorben, nach kurzer schwerer Krankheit, wie es in der Todesanzeige hieß, die er selbst verfasst hatte. Solche Anzeigen haben ihn bisher überhaupt nicht interessiert. Diese Seiten der Regionalzeitung überblätterte er stets.
Er wusste, dass es Leser gab, die sie mit großem Interesse verfolgten, und das waren nicht nur die Älteren. Die lasen sie meist, um zu schauen, ob sie womöglich möglich bald an der Reihe seien, oder um zu erfahren, wer von den Ihren gegangen war.
Warum junge Leute Todesanzeigen lasen, war ihm bisher verschlossen geblieben. Die seiner Tante würde auf alle Fälle Erstere interessieren. In Wetzlar gab es sicher eine ganze Reihe Zeitgenossen, die Margarete Wiener gekannt hatten.
In der Sandgasse, oberhalb vom Eisenmarkt, hatte sie zwei Häuser besessen, die nun ihm gehörten. Ein Rechtsanwalt, ein Zahnarzt und ein Steuerberater hatten hier ihre Kanzlei, Praxis oder Büro und Wohnung. Alle drei alteingesessen mit sicherer Kundschaft, Patienten oder Klientenschaft.
Margarete, die Tante, hatte rechtzeitig restaurieren und renovieren lassen, Zentralheizung, Fahrstuhl und Dachterrasse. Reparaturen oder Renovierungsarbeiten standen zurzeit nicht an, sodass er von den Mieteinnahmen gut leben konnte.
Diese, seine gewonnene materielle Freiheit, erneuerte für ihn die Frage, die er sich schon öfter gestellt hatte: Wie wird man Historiker? Er wusste, dass dieser Beruf in der heutigen Zeit als eine brotlose Kunst galt. Aber wie gesagt, die Mieteinnahmen zweier Häuser …
Ein Freund, Archäologe, hatte ihm empfohlen, sich an der Uni einzuschreiben. Es gäbe da Studiengänge für Leute, die keinen Abschluss erwerben wollten, Senioren meist, die noch einmal etwas Neues beginnen wollten. Als ein solcher fühlte er sich allerdings noch nicht.
In Erwartung des üblicherweise unwirtlichen Februars im hessischen Wetzlar hatte er sich in die Toskana verzogen, nach Arezzo. In der Nähe der Piazza San Francesco war er in einem kleinen Hotel untergekommen. Hier wollte er bis Ende April bleiben, um dann den Frühling zu Hause zu genießen.
Er schrieb eigentlich gerne in Gesellschaft, Gespräche an Nachbartischen hörend aber nicht verstehend. Gerade wurde er bei seinen Aufzeichnungen unterbrochen, als eine Gruppe italienischer Seniorinnen und Senioren über die Terrasse herfiel. Dieses Spektakel allerdings, was die Alten hier inszenierten, ließ ihn keine klaren Gedanken mehr fassen. Deshalb verließ er fluchtartig den vormals so gemütlichen Ort.
Der Name des Cafés, auf dessen Terrasse er gerade noch gearbeitet hatte, erinnerte an den Titel eines Films, der hier vor Jahren gedreht worden war: „La Vita e Bella, das Leben ist schön". Wenn er sich richtig erinnerte, geht es in der Geschichte um einen Vater, der seinem kleinen Sohn das Leben in einem faschistischen Konzentrationslager so schön wie möglich gestalten möchte.
Jetzt beschloss er, einen Spaziergang durch das interessante historische Zentrum dieser Stadt zu machen. Dabei setzte er in Gedanken fort, was ihm vor dem Überfall der Alten durch den Kopf gegangen war, um es später, in seinem Zimmer aufzuschreiben. Er hatte sich also entschlossen, sowohl ein Gaststudium der Geschichte an der Gießener Uni aufzunehmen, als auch sich das nötige Wissen im Bedarfsfalle anzulesen. Für einen „gelernten" Historiker mochte das überheblich klingen, doch woraus besteht ein Studium, wenn nicht aus Hören, Lesen und Anwenden von Wissen.
Vor Kurzem hatte er den berühmten Bergarbeiterroman von Emile Zola, Germinal, gelesen, was ihn auf die Idee gebracht hatte, im Tal der Lahn zu forschen. Denn hier war schon in grauer Vorzeit Eisenerz gefördert worden, zuerst im Übertageabbau und später auch tief unten im Gestein.
Etwa um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert wollte er die Geschichte ansiedeln, die auch eine tragische Liebe beinhalten sollte, eine, wie er sie selbst erlebt hatte. Erlebt, erduldet, erlitten, erhofft, erfahren, ja, was auch immer.
In seinem ersten Leben, so bezeichnete er die Zeit vor Vera Dauer, war er Journalist gewesen, besser Artikelschreiber, bei einer regionalen Zeitung. Dort bestand seine Aufgabe zum Beispiel darin, neunzigjährige Bewohner der zum Leserbereich gehörenden Ortschaften aufzusuchen und sie nach besonderen Ereignissen in ihrem Leben zu befragen.
Immer wieder hörte er sich ähnliche Geschichten an: Frauen, die von ihren Kindern, Enkelkindern und Urenkeln erzählten, und Männer, die ihre „besten Jahre in Frankreich, Norwegen, Afrika, Kroatien oder Russland verbracht hatten. Ja, sie waren herumgekommen, hatten sich durchgeschlagen im wahrsten Sinne des Wortes, bei El Alamein, am Nordkap oder in Stalingrad. Einer hatte in seiner Gegenwart zu singen begonnen: „Ob´s stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht, der Tag glühend heiß oder eiskalt die Nacht
, vom Panzer der vielen zum „ehernen Grab geworden war. Doch der Sänger hatte überlebt, war heimgekehrt ins Egerland und hatte dort vergeblich nach seinen Angehörigen gesucht, bis er von einem Kommunisten, der hatte dableiben dürfen, erfahren musste, dass man sie davongejagt hatte, die „Henlein-Faschisten
, zurecht, wie der Mann betonte. Und er, der „Naziheimkehrer" sollte am besten auch gleich verschwinden, nach Deutschland, von wo aus das Jahrhundertverbrechen seinen Lauf genommen hatte.
„Dieses Kommunistenschwein, meinte der Jubilar, sei dann '68 von den tschechischen Freiheitskämpfern zurecht aufgehängt worden, hätte ihm ein „alter Kammrad
damals geschrieben.
Er aber hätte seine Familie in Braunfels wiedergefunden, sei bald der Egerländer Gmoi beigetreten. Jahrelang hätten sie gehofft, in die alte Heimat zurückkehren zu können. Aber die sei ja von den Sozis ohne Gegenleistung verschenkt worden.
An dieser Stelle bat Jonas Bogner den Opa um ein Bild aus guten Tagen. Der kramte in einem alten Schuhkarton und förderte schließlich ein Bild zutage, das ihn als Gefreiten in der Wehrmachtsuniform zeigte.
Aus dem Gehörten formulierte er dann einen Neunhundertzeichenartikel und hatte dabei große Mühe, die Lebensweisheiten des alten Mannes zu verschweigen.
Dann war da noch das diamantene Hochzeitspaar aus Leun. Diesmal war die Frau berufen, zu berichten. Sie schwadronierte über ihre schöne Zeit beim „Bund deutscher Mädel", zeigte ihm das Mutterkreuz, auf das sie heute noch stolz sei. Und wieder hatte er den Neunhundertzeichenartikel geschrieben. Und dazu das Hochzeitsfoto, das sie im schwarzen Kostüm und ihn in der Unteroffiziersuniform zeigte. Im Vergleich zu diesen Berichten empfand er solche über die Jahreshauptversammlung eines Kleintierzüchtervereins noch als angenehm.
Nach dem Tod seiner Erbtante und einem anderen tiefen Einschnitt in sein Leben hatte er diese Tätigkeit aufgegeben, war in eines der geerbten Häuser gezogen: drei Zimmer, Küche, Bad, mit einer kleinen Dachterrasse im obersten Stockwerk, inklusive der Aussicht auf Dächer der Wetzlarer Altstadt. Verregnet zurzeit, weshalb er geflüchtet war.
Zwei
Es wurde Abend in Arezzo. Er fand ein Lokal, wurde an den letzten freien Tisch geleitet. Nach Spaghetti stand ihm der Sinn. Gerade hatte er die Bestellung aufgegeben, schaute gedankenverloren auf die Straße hinaus, als ihn ihre Stimme aufschreckte: „Ist der Platz noch frei?"
Im ersten Moment fühlte er sich gestört, doch als er hochschaute, in grünblaue Augen blickte, ihr Lächeln sah, machte er eine einladende Handbewegung, auf den Stuhl hin, ihm gegenüber.
Ein Tisch nur für zwei Personen. Wenn man sich da eine Zeit lang gegenübersitzt, entsteht eine unangenehme Situation, ähnlich einer solchen im Fahrstuhl: Zuerst schaut man an seinem Gegenüber vorbei an die Wand, dann ein kurzer, verstohlener Blick, und wenn es dann echt unangenehm wird, ist man hoffentlich im richtigen Stockwerk angekommen.
Doch diese Etage gab es hier nicht, so war die Frage, wer hält den Zustand am längsten aus?
Da räusperte sie sich, als hätte sie eine Sprachbarriere zu überwinden: „Sie sprechen Deutsch, nehme ich an?"
Eine gute Ausgangssituation.
„Ja, aber woraus schließen Sie das?"
„Sie sehen aus wie ein Deutscher."
Eine weitere Steilvorlage.
„Woran erkennen Sie einen solchen?"
„Erwarten Sie jetzt eine Personencharakteristik des typischen Deutschen?"
„Ich glaube, den gibt es nicht."
So hätte es weitergehen können, wenn die Frau ihm gegenüber nicht plötzlich gelacht hätte und auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin dem Bla Bla ein Ende gemacht hätte.
„Genug gefloskelt, was hat Sie hier hergetrieben?"
„Wenn ich ehrlich bin, das Wetter und eine Gelenkstelle, die sich für mich ergeben hat."
Kaum dass er es heraushatte, wurde er sich bewusst, dass das eine Erklärung verlangende Gegenfrage zur Folge haben würde. Die kam auch prompt: „Wie darf ich das verstehen – ich meine nicht das Wetter."
„Ganz einfach, ich beginne gerade ein neues Leben, treibe historische Studien auch in der Absicht, mein altes Leben zu beschreiben."
Wenn sie jetzt oberflächlich reagierte, nahm er sich vor, esse ich meine Spaghetti, trinke den Vermentino, bezahle und gehe mit den Worten: Ich will denn mal. Und sie reagierte, dass es ihm gefiel. „Ah ja?! Jetzt war er an der Reihe: „Und Sie?
„Nicht wegen des Wetters, wohl aber auch, um irgendwo neu anzufangen."
„Interessant, dann haben wir ja Ähnliches im Sinn."
Eine Weile schwiegen sie beide. Jonas Bogner wartete mit dem Bezahlen, bis auch sie fertig gegessen hatte.
Schließlich standen sie auf der Straße.
„Ja dann, war nett, Sie getroffen zu haben", eröffnete sie den Abschied.
„Danke ebenso", sagte er, meinte aber anderes.
Die klassische Szene, er nach rechts, die Straße hinunter, sie nach links, bergan.
Doch nichts dergleichen, beide liefen sie bergan, hatten, wie sich herausstellen sollte, dasselbe Ziel, wohnten im gleichen Hotel. Da war es selbstverständlich, nach einer Fortsetzung des Gesprächs zu fragen. Sie verabredeten, dass sie sich an der Hotelbar treffen wollten. Immer noch hatten sie sich einander nicht vorgestellt.
Jonas Bogner schätzte die Frau um die vierzig. Halblanges dunkles Haar, ungewöhnlich für ihre hellen blaugrünen Augen. Ein hübsches Gesicht, mit leicht asiatischem Einschlag. Er kam zuerst in die kleine Hotelbar, setzte sich an einen der wenigen Tische in der Ecke und wartete. Man kennt die Einstellung aus zahlreichen Filmen. Eine Person betritt den Raum. Der Wartende blickt kurz auf und sogleich wieder anderswohin. Er stutzte, Blick zurück, tatsächlich, sie war es.
Die Frau trug jetzt einen dunkelblauen, engen Rock, der ihr bis kurz über die Knie reichte. Dunkelblaue, taillierte Kostümjacke über einem schwarzen Shirt.
Sie lächelte ihn an, schien seine Überraschung zu ignorieren. „Wir treffen uns, wissen jedoch wenig voneinander, kennen jedoch nicht unsere Namen. Ich bin Vera Galina, einundvierzig Jahre alt, auf dem Weg nach Sardinien, wo ich ein neues Leben beginnen möchte."
Vera, durchfuhr es ihn. Zunächst war er zu keiner Reaktion fähig. Doch die Andere war blond gewesen und zehn Jahre jünger. Jetzt hatte er sich gefasst und stellte sich ihr ebenfalls vor: „Jonas Bogner, fünfzig Jahre alt und wie Sie auf dem Weg, noch keine Ahnung wohin. Irgendwann zurück nach Wetzlar, eine Stadt in Mittelhessen, in der Nähe von Frankfurt am Main …"
„Ich kenne Wetzlar, und nach einer Pause: „Er kam daher.
„Da haben wir etwas gemeinsam. Auch sie kam daher."
Er fragte, was sie nach Sardinen führe.
„Ich bin gelernte Reisekauffrau. Da habe ich mich um Anstellung auf einem Campingplatz beworben, mit Erfolg."
„Was macht man als Reisekauffrau auf einem Campingplatz?"
„Sie haben jemanden aus der Touristikbranche gesucht, der Deutsch und Italienisch sprechen und schreiben kann. Ich habe mich auch beworben, um möglichst weit wegzukommen. Sie wissen, von meinem Leben zuvor."
Er kannte Sardinien bisher eigentlich nur dem Namen nach, als eine Insel neben Korsika. Dort war er einmal gewesen.
Warum er nach dem Ort ihrer Anstellung fragte, wusste er nicht.
„Im Norden, in der Gallura, wenn Ihnen das etwas sagt?"
Sage ihm nichts, gestand er, und erzählte von seinem Korsika-Urlaub. Kleines Zelt und Rucksack. Vierzehn Tage sei er gewandert, von Nord nach Süd, eine schöne Zeit, ungebunden, ohne Ziel.
„Das klingt, meinte Vera Galina, „als trauerten Sie dieser Zeit nach?
„Nein, trauern ist nicht das richtige Wort. Es war schön, aber noch einmal erleben, vor allen Dingen das, was danach kam, möchte ich nicht."
Vera Galina schaute ihn eine Zeit lang an, schien über seine Worte nachzudenken. Dann lächelte sie und sagte, auch für sie gäbe es ein Davor und ein Danach.
Jonas Bogner war überrascht. Sollte er so leicht zu durchschauen gewesen sein?
„Ihre Menschenkenntnis, Vera, erstaunt mich." Er hätte ihn weglassen können, aber er wollte ihn aussprechen, den Namen, den er so oft in Gedanken sagte. Dann, wenn er irgendwo stand, die Himmelsrichtung bestimmend, wo er sie vermutete und mit ihr sprach.
„Manche Leute erzählen viel, wenn sie eine Reise buchen, auch über den Grund, warum sie wohin fahren. Da erfährt man einiges. Ein Mann erzählte mir, dass er noch einmal dorthin wollte, wo er so glücklich gewesen war."
„Aber warum, ohne die Frau, mit der er dort war?"
„Vielleicht, weil er sie dort neben sich glauben wollte."
Jetzt hätte er sagen können, dass er das nachempfinden könnte, ließ es aber bleiben. Warum auch sollte er einer wildfremden Frau von seinem Trennungsschmerz erzählen.
„Sardinien, hat mal jemand gesagt, sei eine wilde Schönheit."
„Das habe ich auch gehört, und bin echt gespannt. Gelesen habe ich einiges."
Sie berichtete und es klang so, als sei sie schon einmal dort gewesen, als freute sie sich auf ein neues Leben dort. Ein wenig beneidete er sie darum, sagte, dass er sich für sie freue und hoffte, selbst auch bald so weit zu sein.
Ob er das nur gedanklich oder auch räumlich meine, fragte sie. Vielleicht ergäbe sich das eine aus dem andern, sinnierte er. Sie sah ihn eine Zeit lang an, sodass er ihr Schweigen als ein Ende des Gesprächs deutete, zumal Vera Galina verstohlen auf ihre Armbanduhr schielte. Er wollte ihr zuvorkommen und sich von ihr verabschieden, als sie einen Entschluss gefasst zu haben schien: „Wenn Sie in Wetzlar niemand vermisst, dann kommen Sie doch einfach mit. Ob Sie nun hier auf den Sommer zu Hause warten, oder dort, wo er bereits Einzug gehalten hat."
Das hatte er nun überhaupt nicht erwartet, was sie ihm anmerkte, und fügte hastig hinzu: „Entschuldigung, ich war gerade nur so einer spontanen Eingebung gefolgt. Auf gar keinen Fall möchte ich Sie bedrängen."
„Ich möchte darüber nachdenken."
„Ja, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht."
Eilig fast erhob sie sich, nickte ihm noch einmal zu, bevor sie sich abwandte. Das hatte für ihn den Anschein, als sei ihr ihr Angebot auf einmal peinlich.
„Gute Nacht ebenfalls", rief er ihr noch nach. Im Gehen erhob sie eine Hand, winkte, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Später, er konnte nicht einschlafen, kam ihm das Ganze unwirklich vor. Doch es war wirklich so abgelaufen: Sie hatten sich zuerst allgemein unterhalten, hatten sich über ihre gegenwärtige Lage ausgetauscht, bis sie ihm jenen denkwürdigen Vorschlag gemacht hatte, sie nach Sardinien zu begleiten. Dorthin, wo jetzt schon der Sommer Einzug hielt.
Er überdachte seine Lage. Seine Einkünfte waren gesichert, solange der Anwalt, der Zahnarzt und der Steuerberater ihre Miete bezahlten. Er war telefonisch und per E-Mail erreichbar, für den Fall, dass er als Hauseigentümer hätte handeln müssen. Bei einem Kleinunternehmer – „Alles rund ums Haus"– war er unter Vertrag. Auch da genügte ein Anruf, etwas in die Wege zu leiten.
Ich werde ihren Vorschlag annehmen, entschloss er sich. Für neun Uhr am Morgen waren sie zum Frühstücken verabredet, da würde er es ihr sagen. Zufrieden mit diesem Entschluss schlief er ein.
Bereits um Viertel vor neun fand er sich im Frühstücksraum des Hotels ein, konnte es plötzlich kaum erwarten, Vera Galina seinen Entschluss mitzuteilen.
Neun, Viertel nach neun, halb zehn. Sie kam nicht. Vielleicht hat sie verschlafen, dachte er, lief zur Rezeption, bat die Angestellte, Frau Galina auf ihrem Zimmer anzurufen.
Die Frau stutzte kurz, wandte sich zum Schlüsselregal um, zog aus einem der Fächer ein Kuvert hervor, fragte ihn nach seinem Namen und überreichte es ihm mit dem Hinweis: „Die Signora hat mich gebeten, Ihnen das zu übergeben, bevor sie abgereist ist."
Drei
Mit dem Brief in der Hand lief er zurück, setzte sich an seinen Tisch, zog das Blatt aus dem Umschlag und las:
Hallo Jonas,
lange konnte ich nicht einschlafen, machte mir Vorwürfe, Sie mit meinem Vorschlag überfahren zu haben. Warum habe ich ihn überhaupt gemacht, fragte ich mich. Vielleicht weil wir beide in einer ähnlichen Situation sind, und ich gebe es zu, Sie mir sympathisch und vertrauenswürdig sind.
Und doch möchte ich mich für den Überfall entschuldigen, denn ein solcher muss es für Sie gewesen sein, das sah ich Ihnen an. Um uns beiden Peinlichkeiten zu ersparen, bin ich abgereist. Ich werde in Livorno die nächste Fähre nehmen.
Schreiben Sie mir, wenn Sie möchten: [email protected]
Danke für Ihr Verständnis.
Vera Galina
Es stimmte, zuerst hatte er sich überfahren gefühlt, nur peinlich musste es ihr nicht sein. Er würde ihr umgehend schreiben. Da sie aber kaum vor dem Check-in ins Netz gehen würde, ließ er sich Zeit, verspürte plötzlich großen Appetit, was er sich so erklärte, dass noch nichts entschieden sei. Er hatte also Zeit, die Angelegenheit noch einmal gründlich zu durchdenken, war er doch zu nichts verpflichtet. Später saß er in der Lobby, zurückgelehnt in einen Sessel, auf einen Widerspruch wartend. Es wollte sich keiner einstellen. So klappte er sein Netbook auf, stellte die Verbindung her und schrieb: „Hallo Vera", und kaum, dass er ihren Namen schrieb, war sie wieder da, die Erinnerung an die Andere:
Ein Spaziergang, das unvermeidliche Gespräch, Vera blieb stehen. Da zog ich den Brief aus der Tasche. Vor uns, am Straßenrand der Briefkasten.
„Es ist Zeit, dass ich ihn endlich einwerfe."
„Du weißt ja, was das bedeutet."
Und ich warf ihn ein und machte die Drohung wahr und leitete damit das Ende ein.
Sie ist eine Andere, die nur so heißt wie sie, rief er sich in die Wirklichkeit zurück. Also schrieb er:
Hallo Vera,
in einem stimme ich Ihnen nicht zu, peinlich muss es Ihnen nicht sein. Unschlüssig war ich, konnte nach unserem Gespräch lange nicht einschlafen. Dann hatte ich mich entschieden, schlief gut. Als ich es Ihnen sagen wollte, am Morgen, beim Frühstück, waren Sie nicht mehr da – schade.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start und hoffe, dass wir in Verbindung bleiben.
Herzliche Grüße
Jonas Bogner
Er setzte seine Studien fort: Jürgen Kuczynsky: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus
.
Heute störte ihn niemand. Er hatte ausgiebig gefrühstückt – im Hotel bot man außer dem italienischen auch ein deutsches Frühstück an – da würde er erst in den Abendstunden wieder Appetit bekommen. Was das Arbeiten betraf, hatte er sich angewöhnt, abschnittsweise vorzugehen: Lesen, durchdenken, schriftlich zusammenfassen. Und er kam gut voran. Vielleicht auch deshalb, weil er sich Hoffnungen machte, von Vera Galina erneut eine Einladung zu bekommen. Doch nichts dergleichen geschah. Abends sah er in der Tagesschau die Wetterkarte. Er war endlich eingekehrt, der Frühling in Deutschland, Ende April. Auf seinem Nachttisch lag Zolas Germinal, und er begann zu verstehen.
Dann, an einem Freitag, er wusste es deshalb so genau, weil er am Montag nach Wetzlar zurückzukehren gedachte, las er:
von vera galina
an jonas bogner
Hallo Jonas,
entschuldigen Sie bitte, dass ich solange nichts von mir habe hören lassen. Ich kam bisher hier nicht zur Ruhe, soviel habe ich dazuzulernen. Ein Campingplatz ist schon etwas anderes als ein Reisebüro. Hier bin ich die Neue unter Alten, die in mir eher eine Konkurrentin denn eine Kollegin sehen.
Kurz gesagt, ich glaube, Ihre Anwesenheit hier täte mir gut, sodass ich hoffe, meine Zeilen erreichen Sie noch in Arezzo.
Herzliche Grüße
Vera Galina.
Da war sie, die Einladung. Er musste nicht lange überlegen, sein Entschluss stand fest.
Vier
Zum ersten Mal mit dem Auto auf einer Fähre, verlief das Verladen einfacher als es sich Jonas Bogner vorgestellt hatte. Der Einweiser sorgte dafür, dass er etwas mehr als eine Handbreit neben dem Nachbar-PKW zum Stehen kam. Erleichtert begab er sich in seine Kabine, wo es ihn aber nicht lange hielt. Es zog ihn zum Buffet, und als er vor den Auslagen stand, verleitete ihn sein Appetit, in deutscher Weise zu verfahren, den Teller mit Pommes Frites, Kotelett und Gemüse vollzuladen.
An einem langen Tisch fand er einen freien Platz. Dort saßen bereits zwei Erwachsene und zwei Halbwüchsige, Mutter, Vater, Tochter und Sohn, nahm er an. Alle schienen mit den italienischen Tischsitten besser vertraut zu sein als er, liefen mehrmals zum