Phänomen Grundschule: Wege durch Labyrinthe
Von Mari Hardt
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Phänomen Grundschule - Mari Hardt
Mari Hardt
Phänomen Grundschule
Wege durch Labyrinthe
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VerlagslogoInhaltsverzeichnis
Titel
Phänomen Grundschule
Impressum neobooks
Phänomen Grundschule
Einleitung
Wer schon einmal eine erste Unterrichtsstunde einer ersten Klasse bei der Einschulung miterlebt hat, dem wird sich das erwartungsvolle, offene Leuchten in den Augen der Schulanfänger als unvergesslich eingeprägt haben. Aus diesen Augen der Kinder sprechen Neugier, Mut, Forscherdrang, Abenteuerlust, Aufnahmebereitschaft und Tatendrang, manchmal sogar Ungeduld. Lange schon im Vorfeld dieses bedeutenden Tages, mit dem ein neuer Lebensabschnitt beginnt, freuen sich die Kinder auf die Schule. Dann soll es endlich losgehen. Es ist vielleicht ein wenig vergleichbar mit dem ersten Blick eines neugeborenen Kindes hinaus in die Welt. Von diesem „menschlichen Urvertrauen ist bei den Meisten beim Eintritt in die Schule noch eine gehörige Portion übrig. Nun kommt es darauf an, dieses Vertrauen nicht zu beschädigen oder gar zu zerstören, damit es so lange wie möglich, möglichst ein ganzes Leben lang, erhalten bleibt und nicht enttäuscht wird. Hier liegt der Nährboden für eine gute Entwicklung und zugleich eine gewaltige Verantwortung in den Händen derer, denen die Kinder anvertraut sind. Wie viel Einfühlungsvermögen und Behutsamkeit braucht der Umgang mit den Kindern zum Beispiel von Seiten der Lehrer in den ersten Schuljahren? Welche Erziehungsziele sind von Bedeutung? Wissensvermittlung allein reicht natürlich nicht aus, um die Kinder angemessen auf das Leben vorzubereiten. Diesen Fragen gehe ich in dem vorliegenden Buch nach. Dabei kann ich aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen, und aus Beobachtungen, die ich in meiner zweiten beruflichen Laufbahn als Lehrer-Quereinsteigerin machen konnte. In den Grundschulen, in denen ich unterrichtete, konnte ich hautnah erleben, wie so genannte alternative Pädagogik in der Praxis umgesetzt wird. Ich möchte den Leser mitnehmen in die Erlebenswelt heutiger Schulkinder und Lehrer. Durch ein besseres Verständnis soll mein Buch Eltern helfen, heraus zu finden, was ihre Kinder brauchen und welches die „richtige
, passende Schulform für sie ist. Erwachsenen wird darüber hinaus angeboten, die eigene Schulzeit zu verarbeiten. Studenten, die den Lehrerberuf in Erwägung ziehen, finden Entscheidungshilfen und Möglichkeiten zur Selbstreflexion.
Ich bin als Autorin mit meiner Biografie mit dem „fremden Blick" ins Lehrerzimmer gekommen – eine Insiderin mit dem Blick von außen.
In der DDR studierte ich Informationstechnik/Akustik und übte den Beruf der Toningenieurin beim dortigen Fernsehen aus. Als Folge der Kollision mit dem Arbeiter- und Bauernstaat lernte ich gezwungenermaßen beruflich andere Bereiche kennen. Ich arbeitete im Dienstleistungsgewerbe in der Fototechnik, beim Binnenhandel und tat im Privaten das mir Mögliche, um Veränderungen in der DDR mit herbeizuführen und damit dann auch die gesamtdeutsche Entwicklung zu forcieren. Nach der Maueröffnung orientierte ich mich neu und entschied mich, Lehrerin zu werden. Zu diesem Zweck absolvierte ich eine Waldorflehrer-Ausbildung. Danach folgten befristete Verträge an privaten Grundschulen mit überwiegend reformpädagogischem Profil – ein Blick nach innen.
Aufbruch in den privaten Bildungsdschungel (Biografisches)
Erziehung und Geheimlehre
Was sind das nur für merkwürdige verwischte Schattierungen dort an der Wand? Und da drüben genau das Gleiche. Wahrscheinlich haben irgendwelche Eltern beim Renovieren der Räume mitgeholfen, die sind ja auch nicht gerade immer Profis im Anstreichen. Solche oder ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich einmal, vom Vorlesungsgeschehen abgeschweift, ins Träumen und Sinnieren geraten, urplötzlich wieder zurück in die Realität einer Unterrichtseinheit, in eine der ersten Stunden, die ich dort hörte, geholt wurde. Damals war ich noch vollkommen unbelesen, ein unbeschriebenes Blatt, was die Waldorfpädagogik anbelangt. Aber im Laufe meines zweijährigen Studiums zur Waldorflehrerin konnte ich neben einigen anderen Ungereimtheiten auch dieses Phänomen aufklären.
Es hat etwas zu tun mit Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber allen Erscheinungen dieser Welt. Im Besonderen soll den Kindern, die erzogen werden wollen, Weite und Grenzenlosigkeit übers Unterbewusste vermittelt werden, damit sie offen bleiben für alles, was sie lernen können, sollen und wollen. Viel spezifischer und zielorientierter findet sich dieser gedankliche Ansatz im Malunterricht der Waldorfschulen wieder. Es wird grundsätzlich nur mit Aquarellfarben gearbeitet, von klein an. Dahinter verbirgt sich wieder die These vom Verwischt- und Verschwommensein, vom Ineinanderfließen der Farben, welche eine freie Interpretation des Dargestellten erleichtert. Künstlerische Entwicklungsprozesse sollen nicht zu früh abgeschlossen und vollendet erscheinen und dadurch unter- oder abgebrochen werden, vermeintliche Grenzen und Abgrenzungen sollen deshalb vermieden werden. Diese Ansicht geht auf Rudolf Steiner zurück, den Urheber der Waldorfpädagogik. Nach seinem Verständnis kommt bei der Erziehung nicht nur dem Inhalt des Vermittelten Bedeutung zu, sondern auch der Form und Erscheinung desselben wie zum Beispiel 1dem Rhythmischen, dem Takt, der Melodie oder der Zusammenstimmung von Farben. Bildende Kunstausübung wird ebenso erst möglich durch Prozesse der Wiederholung, die vorwiegend unbewusst ablaufen. Also stellt die spezielle Wandbemalung in den Waldorf-Räumen ein gelungenes Beispiel für die Umsetzung von Theorie in Praxis dar und überzeugt außerdem schon lange als Verkörperung einer echten „Corporate Identity", wie man heute nach modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu sagen würde.
In Anlehnung an die Art der Wandgestaltung in den Räumen aller, aber auch wirklich aller mir bekannten Waldorfeinrichtungen wird auch denen, die sich entschieden haben, sich die Pädagogik zu eigen zu machen und nach ihr zu lehren, ein gehöriges Maß an Offenheit und Unvoreingenommenheit, ja mitunter gar Unbedarftheit und Blauäugigkeit abverlangt und eine Menge Neugier erwartet und vorausgesetzt. Dies betrifft vor allem die Auseinandersetzung mit der Lehre der Anthroposophie, einer Art Menschenkunde, die von Rudolf Steiner erfunden wurde. Sie bildet die Grundlage der Pädagogik. In Vorbereitung des Studiums wurde mir ein einschlägiges Werk zum Lesen mitgegeben („Theosophie – Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung"), das mich schon etwas schockiert hat wegen der bedeutenden Rolle der Leiber, Seelen und Geister im Jenseits, welche ich dann aber der Entstehungszeit des Buches schuldete und als nicht ganz zeitgemäßen obskuren esoterischen Kult abtat. Dem Seminar gegenüber erklärte ich, dass ich mich im Laufe meines Lebens schon des Öfteren mit Psychologie und Ähnlichem beschäftigt hätte und mir derartige Betrachtungsweisen nicht fremd wären. Als man hörte, dass das Arbeitsamt meine Ausbildung gegebenenfalls fördern würde, beeilte man sich, alles unter Dach und Fach zu bringen.
Aufmerksam geworden auf dieses Studium war ich durch ein verlockendes Inserat im Stellenservice der Arbeitsagentur. Als mein Sohn neun Jahre alt war, und ich auf der Suche nach einem sinnvollen, ausfüllenden Job, entschied ich mich für die Arbeit mit Kindern. Ich hatte schon einige Praxiserfahrung gesammelt. Alles was mir fehlte, war ein entsprechender Abschluss. Lehrerin zu werden schien mir ein lohnendes Ziel. Die vollmundige Verheißung einer lohnenswerten Ausbildung in der Annonce bestätigte sich im Grunde im Verlauf des Aufnahmegespräches. Meine Bedenken, dass ich nicht mehr die Jüngste sei, wurden weggewischt mit der Bemerkung, Lehrer mit Lebenserfahrung würden dringend gebraucht und gesucht, auch bei den Waldorfschulen. Später zeigte sich, dass die Waldorfschulen nicht auf einem anderen Stern angesiedelt waren und über jeglichen Zeitgeist und gesellschaftliche Manipulationen erhaben, sondern sehr wohl an staatliche Vorgaben gebunden, besonders wenn es um Finanzen und die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Schulen ging. Es sei denn, ich hätte mich vollkommen überzeugen lassen und wäre Anthroposophin geworden. Dann hätten mir alle Türen und Wege offen gestanden! Dann hätte man mich auch ohne die erforderlichen Abschlüsse auf eigene Kosten an einer Waldorfschule eingestellt. Obwohl mir immer noch der Satz geläufig ist, zu Zeiten der Ausbildung oft genug vernommen: „Man muss kein Anthroposoph sein, um Waldorflehrer zu werden! Aber man muss ganz schön hart gesotten sein, um die wöchentlichen Lehrerkonferenzen in den Schulen ein ganzes Berufsleben lang einigermaßen „unbeschadet
an Geist und Seele zu überstehen! Denn hier wird Tacheles geredet und kein Blatt vor den Mund genommen. Die Schriften und Vorträge von Steiner werden wortwörtlich gelesen und gedeutet, auf ihre Alltagstauglichkeit hin akribisch untersucht und in der Regel für richtig befunden. Und wer da mal anderer, zweifelnder oder gar ablehnender Haltung ist, wird schief angeschaut. Abweichler sind nicht gern gesehen, werden nicht wirklich geduldet. Dies kann sich bei entsprechender Hartnäckigkeit und Uneinsichtigkeit des Querulanten noch steigern und bedrohliche Ausmaße annehmen. Das Klima unter den Lehrern, in der Belegschaft, ist an vielen Waldorfschulen kein kollegiales. Es gibt unzählige Mobbingfälle, die belegbar sind. Aber auch dies ist von Schule zu Schule verschieden. Es liegt eben an den Menschen, die vor Ort sind. Werden Absolventen der Waldorf-Ausbildungseinrichtung an Schulen neu eingestellt, erfolgt vorab eine Rückfrage bei eben dieser auf „Unbedenklichkeit. Es wird sozusagen ein „Persilschein
ausgestellt oder auch nicht. All dies trägt leider sehr sektiererische Züge. Prägt das die Lern- und Unterrichtsatmosphäre an den Schulen mit? Gibt es Auswirkungen auf die Schüler? Langzeitstudien zu diesem Thema existieren nicht. Laut Gesetz ist es den Lehrern und Schulen untersagt, Anthroposophie in den Lehrbetrieb hinein zu tragen. Das bedeutet, die Lehre darf nicht gelehrt werden. Die Stoffinhalte müssen sich an den jeweiligen Rahmenlehrplänen der Länder orientieren. Inwieweit halten sich die Schulen nun tatsächlich daran? Fest steht auf jeden Fall, dass die Reinheit und Bewahrung der Lehre mit an oberster Stelle rangiert. Engstirnigkeit und Borniertheit haben Einzug gehalten. So entsteht der Eindruck, dass sich eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftut. Dabei hatte alles einmal so redlich und schön begonnen…
Die Gründung der ersten Waldorfschule
Der Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in