Alphabet
Von Kathy Page
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Über dieses E-Book
Kathy Page ist eine ungemein vielseitige Autorin, die in ihrem Werk eine immense Palette an Themen, Genres und Stilen vereint – jeweils mit beeindruckender Virtuosität. In diesem Roman verarbeitet sie eigene Erfahrungen während eines Arbeitsaufenthalts im Männergefängnis. Ohne diesen Handlungsort zu sentimentalisieren, gelingt ihr ein Bravourstück, das tiefgründig Identität, Vergebung und Gerechtigkeit verhandelt.
Kathy Page
Kathy Page is the author of eight novels, including Dear Evelyn, winner of the 2018 Rogers Writers’ Trust Award for Fiction and the Butler Book Prize. Her short fiction collections, Paradise & Elsewhere (2014) and The Two of Us (2016), were both nominated for the Scotiabank Giller Prize.
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Buchvorschau
Alphabet - Kathy Page
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Die kanadische Erstausgabe erschien 2014 unter dem Titel Alphabet bei Biblioasis in Windsor/Ontario, die englische Erstausgabe 2004 bei Weidenfeld & Nicolson in London.
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die großzügige Förderung ihrer Arbeit an diesem Buch.
We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien. Wir danken dem Canada Council for the Arts für die Unterstützung der Übersetzung.
E-Book-Ausgabe 2021
© 2004, 2014 Kathy Page
© 2021 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach Emser Straße 40/41 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie (»Ulli 2«, 1965) © Herbert List / Magnum Photos.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803143150
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3337 3
www.wagenbach.de
Für Richard
B
1
Es gibt keinen Stuhl, nicht mal das. Der Raum ist blaugrau, neonhell erleuchtet, wie alles andere auch.
»Persönliche Sachen?«, fragt der Mann am Schalter. Seine eigene Kleidung hat man ihm schon abgenommen: Simon steht da in einem gestreiften Hemd und einer dünnen Jeans, die nicht hält.
»Alles, was geklaut werden oder kaputt gehen kann«, sagt der Mann, »gib her –.« Er hat das schon tausendmal gemacht, hat das Timing genau raus. »Das wird jetzt schön fest versiegelt … und dann schön gründlich verschlampt … Ha! Im Ernst, keine Haftung.« Oh, der ist stolz auf sich, klar. Sein weißes Hemd leuchtet fast lila. Die Brusttasche spannt über einer Packung Bensons. Seine Glatze schimmert im Licht, als er sich seitlich an die Nase tippt, sich vorbeugt:
»Also, was hast du da«, sagt er, »Muttis Asche? Die Scheiß-Kronjuwelen? Spuck’s aus, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Hinter mir sind noch sechs, denkt Simon, und weiß der Geier was vor mir … Am Ende ist es wohl egal, was mit seinen beiden Sachen passiert. So muss er wenigstens nicht auf sie aufpassen, und falls sie wirklich verloren gehen, wäre es nicht seine Schuld, egal was dieser kahlköpfige Arsch sagt. Und je schneller er mit dem hier durch ist, desto schneller kann er sich vielleicht hinlegen, er könnte ein Erdbeben auf einem Nagelbrett verschlafen, wenn er nur erstmal läge.
Er grinst den Mann an, wie der mit seinem Riesenschädel und den fetten Fingern dasteht; er behält seine Gedanken für sich und legt seine Sachen auf den Tresen. Zuerst den Briefumschlag. Es ist ein kleiner, dünner Umschlag mit seinem Namen, Simon Austen, sonst nichts.
»Der ist zugeklebt«, sagt er. Also, antwortet ihm ein langsamer Blick, deine Scheißkorrespondenz öffnen, das wäre das Letzte, was ich tun würde, weil sie genau wie du ein Stück –
Simon ist zu fertig, um zu reagieren. Seine Augen sind so verklebt, er kann jedes Blinzeln hören, ja spüren. Nach der Leibesvisitation gab es eine Dusche, aber das Wasser war kalt, und er kann den eigenen Schweiß noch immer riechen. Er starrt auf die Tresenplatte, dunkle Eichenkanten mit Resopaleinsatz, und erinnert sich daran, wie ihm der Brief von einer erschöpften Sozialarbeiterin ausgehändigt wurde, die erst seine Geburtsurkunde überprüft und ihm einen Vortrag darüber gehalten hatte, nicht zu viel zu erwarten. Dann sah sie ihm dabei zu, wie er den Umschlag aufriss, das einzelne Blatt darin entfaltete. Anschließend las sie ihm den Brief vor, die zwei Zeilen: »Es tut mir leid. Es ging nicht anders. Ich hoffe sehr, dass für dich alles gut ausgeht, Sharon«. Das war der Inhalt, laut der Frau. Dann fragte sie ihn, ob er ein bisschen über die Gefühle seiner Mutter gegenüber reden wolle, und als er verneinte, sagte sie, er brauche eine Therapie und gab ihm eine ellenlange Liste mit Telefonnummern; er war so angepisst von ihr, dass er den Brief beinahe weggeschmissen hätte, aber schließlich strich er ihn glatt und klebte den Umschlag wieder zu, trug ihn jahrelang in der Innentasche seiner Pilotenjacke mit sich herum … Tja, genau genommen ist es für ihn so übel wie nur möglich ausgegangen, und die Leute hier können das Scheißding ruhig verschlampen, wenn sie wollen, denkt er. Er lässt es hinter sich, macht sich frei davon. Ausgerechnet hier.
»Eine Uhr«, bemerkt Fettfinger.
»Das ist eine Rolex«, erklärt Simon. Obwohl es keine ist. Er hat sie von seinem ersten echten Monatslohn gekauft, von jemandem, den er in einem Pub kennengelernt hatte. Er wurde über den Tisch gezogen. Also weg damit. Er reist mit leichtem Gepäck: Waschsachen, Bettzeug, Teller, Schüssel, Becher.
»Das war’s?«
Er macht seinen Kringel mit dem Stift. Der Witzbold gegenüber versiegelt seine Sachen, dann schiebt er ihm einen leeren Umschlag rüber: braun mit schwarzer Schrift, sieht amtlich aus.
»Dein Gratisbrief.«
»Wofür ist der?«
»Tja, Junge, wenn du willst, kannst du dir damit den Arsch abwischen!«
»Alles klar, Mann«, spuckt Simon zurück. »Mach ich vielleicht.« Seine Hände sind zu Fäusten geballt, jetzt ist er richtig wach.
»Bleib aus der Schusslinie«, sagt der Mann zufrieden und wendet sich ab. Simon schiebt den Umschlag in die Hosentasche, nimmt sich zwei Laken und eine Decke, stopft alles in den Kissenbezug, geht weiter.
Der Mann vor ihm hat einen Schnauzer, der hinter ihm das Kinn voller Haare. Er kann das Quietschen ihrer Schuhe hören, das Klirren ihrer Schlüsselketten, ihren Atem, seinen eigenen. Sie gehen durch die nächste Doppeltür, erst massiv, dann vergittert, und die nächste, und die nächste, bleiben jedes Mal stehen und warten, bis der Schlüssel hineingleitet und seine Arbeit macht, zweimal öffnen, zweimal schließen. Es fällt kein Wort. Er könnte hier sterben, überlegt er. Könnte umgebracht werden. Drogen nehmen und die Sache selbst erledigen. Einfach alt werden … und ganz plötzlich verlangt es ihn nach dem, was er nie hatte, unbedingt, er will alles, auch ohne zu wissen, was es ist! Wie sehr er den Schalter umlegen will, sich auflösen, woanders wieder auftauchen oder als jemand anderes, irgendjemand. Schon kämpft sein Herz, will aus seiner Brust fliehen, als sich die letzte Doppeltür zum Trakt öffnet und ihm der Gestank und das Echo von Gefangenschaft entgegenschlägt. Wie das Öffnen einer Ofenklappe. Eine Hitzemauer. Sie müssen ihn hindurchschieben.
»Geh schon«, sagt der bärtige Mann hinter ihm, »jetzt geh schon, Junge, das ist eine Einbahnstraße hier.«
2
Ich bin nicht gut im Lesen, sagt er, als sie ihn nach seinen Bedürfnissen fragen. Weil sie in Sachen Pädagogik unterversorgt sind, kommt Ted Kennet mit dem Bus, steigt zweimal um, Woche für Woche, um auszuhelfen.
Rauchst du?, fragt Ted, als er sich zum ersten Mal hinsetzt. Nächstes Mal bringt er eine Papiertüte mit Süßigkeiten mit, Süßigkeiten, du lieber Himmel: A wie Anissamen, B wie Buttertoffee, C wie Colastangen: Es muss nicht Apfel, Ball, Clown sein. Man kann nehmen, was man will, und man muss auch nicht vorne anfangen und in einem durchmarschieren. »Fang an, wo du magst!«, sagt Ted. »Du entscheidest. Ich versuche, es dir leicht zu machen.«
Sie sitzen im hinteren Teil des Lehrerzimmers, unter ein paar schief aufgestellten Bücherregalen. Immer wieder kommen Leute rein, weil sie zum Papierschrank wollen, der jedes Mal auf- und wieder abgeschlossen werden muss.
»Denk dran, du willst das hier, auch wenn du manchmal glaubst, dass du es nicht willst«, sagt Ted. Wenn er nicht mit seinem Zigarettenroller oder seinen Stiften und Zetteln beschäftigt ist, sitzt er da, die großen quadratischen Hände wie tote Gewichte auf den Knien. Die Adern auf seiner Nase und den Wangen sind alle aufgeplatzt, die Falten auf seiner Stirn verlaufen quer und von oben nach unten und schneiden sie in Quadrate. Sein Haar ist kurz und ordentlich geschnitten, doch das meiste davon ist schon lange nicht mehr da. Simon hat noch nie so nah bei einem alten Menschen gesessen, und jedes Mal, wenn Ted hustet, kann er irgendwas in seiner Brust blubbern hören. E wie eklig.
Manchmal verliert er die Geduld. A wie Arschloch. B wie Bastard. C wie Clown.
»D wie durchhalten. Ich gebe nicht so leicht auf«, sagt Ted. Ihm zufolge ist Lesen die eine Hand (er hebt sie hoch, zeigt die von Linien zu einer kunstvollen Hieroglyphe geritzte Handfläche) und Schreiben die andere. Ohne sie muss man Türen mit den Zähnen und Zehen öffnen. »Du hast ein Hirn«, sagt er. »Benutze es.«
Simon bemerkt, dass es Ted nicht gut geht, und sie bezahlen ihn nicht. Das beeindruckt ihn, er macht sich aber nicht vor, dass Teds Freundlichkeit allein mit ihm zu tun hätte, weil er weiß, dass er seine Frau verloren hat und nicht zu Hause herumsitzen und Trübsal blasen will. Gleichzeitig ist auch klar, dass Ted der Typ Mensch ist, der Gutes tun muss. Er hat dreißig Jahre als Betriebsrat der Bauarbeitergewerkschaft hinter sich. Du hättest beitreten sollen, sagt er. Hätte vielleicht was genutzt, wer weiß? Er glaubt an R wie Recht und U wie Unrecht. Analphabetismus ist ein Unrecht, auf derselben Ebene wie von der Stromversorgung abgeschnitten zu sein.
»Man bleibt außen vor«, sagt er. Wissen, das mit W anfängt, ist Macht. Arbeit ist ein weiteres Recht. »Zwei Millionen Arbeitslose!«, spuckt er und zerreibt seine Selbstgedrehte im Aschenbecher. »Wieso hat Thatcher noch einen Job?«
Simon kann sich an niemanden aus seinem früheren Leben erinnern, der ihm detailliert erklärt hätte, dass die Buchstaben, meistens jedenfalls, für Laute stehen, und wie man die Wörter aufbaut. Hat bestimmt jemand gemacht, aber er hat es ganz sicher nicht begriffen. Er war in Burnside und Nummer 32 und mit Iris und John Kingswell in ihrem bescheuerten Bungalow mit dem braunen Teppich und den zugigen Lamellenfenstern. Er hat diese eine große Erinnerung, die auf alle Schulen passt, die er nicht besucht hat – der Geruch von Eintopf und Schweiß, das elende Gefühl beim Hineingehen und die beißende frische Luft in seiner Lunge, wenn er sich um halb zehn über den Zaun gleiten ließ, um draußen frei herumzulaufen. Es ist also mehr als seltsam, wo er jetzt gelandet ist:
»Paradox.« Kommt aus dem Griechischen, sagt Ted. »Das eine und das andere.«
Er hat alle Zeit der Welt, und es ist kein bisschen wie Schule. Simon merkt sich alles. Schon bald ist er über das Alphabet und die kurzen, vernünftigen Wörter wie Bus, Hut, Fuß weit hinaus. Rhythmus. Wagen. Waagen. Vagen. Absätze, Zeichensetzung, sogar ein paar Bong-Mo auf Französisch und Lateinschnipsel nach Bedarf: et cetera, per se, ergo, ad infinitum, er schnappt sie alle auf. Und was Ted angeht, so empfindet Simon ihm gegenüber etwas, was er, soweit er sich erinnern kann, noch nie empfunden hat: Ich habe absolut nichts gegen den Mann, denkt er, und das fühlt sich gar nicht schlecht an.
Achtzehn Monate später ist er funktionstüchtig, und Ted kommt vor allem zum Plaudern vorbei. Sie tauschen sich über die Nachrichten aus, die fast immer schlecht sind: Arbeitslosigkeit, Privatisierung, die Falklandinseln. Dann wird ihm mitgeteilt, Ted sei krank. Drei Wochen lang taucht er nicht auf. Simon schreibt ihm in seiner saubersten Schönschrift, doch wie sich herausstellt, ist er gestorben.
Ted hat ihm ein Gewerbe geschenkt: Er schreibt Briefe. Er sitzt im Schneidersitz auf dem Bett in seiner zwei mal drei Meter großen Zelle, ein Stück Hartfaserplatte als Unterlage, und schreibt an faule Anwälte, Abgeordnete im Parlament, den Innenminister, die Bewährungskommission; an untreue Freundinnen, murrende Ehefrauen, traurige Mütter. Er berechnet pro Seite und je nach Schwierigkeitsgrad. Er gibt sich große Mühe. Er hat verschiedene Handschriften entworfen, passend zu den unterschiedlichen Aufgaben. Er hört den Typen zu, dann spart er die Abschweifungen aus oder verschleiert die Grobheiten, sorgt dafür, dass es besser klingt. Er schlägt Wörter nach, findet bessere, prüft nach Möglichkeit rechtliche Punkte. Dastehen und rot anlaufen und nach den richtigen Worten kramen ist das eine, aber mit einem Brief kann man sofort ins Schwarze treffen: »Es wirkt«, sagt er seinen potentiellen Kunden. Aber natürlich nicht immer. Er hat einen Typen wegen eines Briefs weinen sehen, den er erhalten hatte, zwei Wochen später fiel er Simon um den Hals. Da er keine eigene Post hat, legt er ab und zu sogar seinen Gratisbrief drauf. Und weil er von oben bis unten sauber ist, verkauft er dazu noch seine Pisse, wenn sie testen. Es läuft gar nicht so übel, obwohl er oft an Ted denken muss, als die Eiserne Lady es wieder schafft. Erdrutsch.
Er fängt an, sich für Bildung zu interessieren, so richtig. Er lässt das mit dem Briefeschreiben und konzentriert sich auf Kursarbeiten, Hausaufgaben. Er besteht den mittleren Schulabschluss in Englisch, Mathe, Soziologie und Informatik, außerdem einen Kurs in Maschineschreiben und ein Zertifikat in verbaler Kommunikation, bevor sie ihn auf halbem Weg zur Hochschulreife stoppen und beschließen, ihn hierher zu verlegen, wo es heißt, er habe schon zu viel Bildung genossen und müsse sich hinten anstellen. Jede Form von Beschäftigung ist ein Plus und muss aufgeteilt werden. Ein bisschen Küchenarbeit. Eine Schicht im Elektroladen, wo sie recycelte Stereoanlagen zusammenbauen. Und jetzt ist er seit über sieben Jahren drin, zwölf Monate in derselben Zelle mit demselben Wichser nebenan.
Die haben mir gesagt, ich sei schlau, erinnert er sich. Da ist definitiv was dran, denn als er mit einem Abszess an einem Backenzahn zur Notaufnahme geschickt wurde, saß er da mit seinen Schmerzen, wartete stundenlang mit Handschellen an zwei Wärter gefesselt, und dann kam endlich der Arzt und fragte: »Wer von Ihnen ist Simon?« Ein Arzt – noch Fragen?
Irgendwann kann ich vielleicht einen Abschluss machen, sagt er sich. Nicht ausgeschlossen.
3
Die Container riechen nach glühendem Heizungslack und nach denen, die zuvor drin waren. Rührt sich wer nebenan, bewegt sich der Boden. Es gibt keine Lüftung, und Barry, der Betreuer der Stunde, ist zwar ständig dabei aufzuhören, aber er raucht, ziemlich viel sogar.
»Wie steht’s, Simon?«, fragt er. Er spricht mit einem weichen walisischen Rollen und hat ein Jungengesicht, dabei muss er über vierzig sein.
»Normal«, sagt Simon, »zu Tode gelangweilt.« Barry lehnt sich zurück, faltet die Hände hinter dem Kopf. Das schmale Fenster befindet sich hinter ihm, weit oben, mit Ausblick direkt auf die Gefängnismauer. Geputzt wurde es auch noch nie. Also muss Simon Barry ansehen, der den Blick mit seinen ernsten braunen Augen erwidert, oder halt seine eigenen Hände. Die sind immer sauber und gepflegt, da passiert also auch nicht viel.
»Am Thema Bildung bin ich immer noch dran«, fährt Barry fort, »aber das System ist so überfüllt. Stehen auch noch mehr Kürzungen an. Eine Schande. Aber auch so gibt es vieles, worüber Sie sich Gedanken machen können. Haben Sie über das nachgedacht, was wir letztes Mal besprochen haben?« An dieser Stelle löst er seine zurückgelehnte Haltung und wirft einen Blick in seine Notizen, um sich in Erinnerung zu rufen, was vor vier Monaten gesagt wurde. »Simon«, sagt er, »Sie wirken sehr zynisch.«
»Sind Sie doch sicher auch«, erwidert Simon.
»Sie sind zur Einsicht fähig«, beharrt Barry, »aber Sie verdrängen immer noch. Sie werden erst weiterkommen, wenn Sie das durchbrechen.«
»Sie kennen sich da natürlich aus«, sagt Simon. »Eigene Erfahrung, was?«
»Passen Sie mal auf, Simon«, sagt Barry. »Ich bin hier, weil ich mich in meinem alten Job immer gefragt habe, was danach passiert.« Tja, denkt Simon in seine Richtung, das hier! Das passiert danach! Er beschließt, es nicht auszusprechen. Lange Pause. Draußen vor dem Container gehen ein paar Wärter mit rasselnden Schlüsselbunden vorbei, und dann ein jähes Stakkato-Lachen, das verstummt, als sich die Tür zum B-Trakt hinter ihnen schließt.
»Frauen sind bei Ihnen ein Thema, oder?« Barry wirft das nebenbei hin, als ginge es um Zuckerstücke im Tee, nicht um die halbe Menschheit. »Ich habe hier einen Stapel Karten, die sind dazu da, ein Gespräch in Gang zu bringen.« Er zeigt sie ihm: Auf den Karten steht ein Satz, und man muss aus dem Bauch heraus sagen, ob man zustimmt oder nicht.
»Mal probieren?« Mir doch egal, denkt Simon. Viel wichtiger ist die Frage, wann Barry seine Thermoskanne rausholt und ihnen beiden, wie sonst immer ungefähr zur Halbzeit, eine Tasse anständigen Kaffee einschenkt.
Barry reicht ihm die erste Karte. Sie ist mit sehr großen Buchstaben beschrieben und in glänzendem Plastik laminiert.
»Frauen haben kleinere Gehirne als Männer und sind weniger intelligent«, steht darauf.
»Weiter«, sagt Simon, weil er das Gegenteil behaupten würde, auch wenn manche von ihnen sagenhaft dämliches Zeug machen. Zum Beispiel: Fast alle Männer hier drin, Knackis wie Schlusen, selbst Barry, sind verheiratet oder so gut wie. Er nimmt die nächste Karte.
»Frauen sind von Natur aus fürsorglicher«, steht da. Von Natur aus ist verwirrend.
»Weiter«, sagt er wieder. »Ich sag Ihnen, was ich denke, aber erst müssen Sie den Kaffee rausholen.« Er sieht Barry dabei zu, wie er die Thermoskanne aus seiner ausgebeulten Aktentasche zieht und einschenkt: den Edelstahlbecher für sich, die Plastikkappe für Simon. Zucker aus einem kleinen Schraubglas. Der starke, bittere Kaffeegeruch scheint fast aus einem anderen Leben zu stammen. Nach ein, zwei Schlucken fängt das Koffein an zu wirken.
»Frauen. Ganz spontan, ohne nachzudenken –«, sagt Simon zu Barry, »erstens: Sie mögen es, wenn man sie ansieht. Sie riechen gut. Sogar die hier bei uns. Zweitens: In der Regel schlagen sie nicht zu. Eine Frau kann einem irgendwie Angst einjagen, aber die Gefahr, dass sie einen richtig, also körperlich verletzt, ist mehr oder weniger gleich Null. Drittens: Sie bringen Kinder zur Welt oder entscheiden sich dagegen. Manchmal bekommen sie Kinder, ohne es geplant zu haben, und manchmal bekommen sie welche und wollen sie dann nicht –.« An dieser Stelle versucht Barry, Simon zu unterbrechen, aber er hat einen Lauf: »Ok«, räumt er ein, »Männer haben was damit zu tun, aber nicht viel. Wir waren alle mal im Körper einer Frau. Viele verbringen viel Zeit mit dem Versuch, wieder in einen reinzukommen: Ich bin keiner von denen. Ich würde auf gar keinen Fall eine Frau sein wollen. Wäre ich eine, würde ich um Männer einen großen Bogen machen. Ich wäre lesbisch! Und ganz bestimmt würde ich nichts in mir wachsen lassen. Und noch was«, sagt Simon zu Barry, »um eine Frau dazu zu bringen, einen zu mögen, muss man ihre Schwächen ausnutzen.« Er weiß nicht mehr, bei welcher Nummer er war, also hört er auf und trinkt den restlichen Kaffee aus, der jetzt abgekühlt und genau richtig ist. Er sieht Barry dabei zu, wie er aufschreibt, was er gesagt hat.
»Da steckt eine Menge drin«, meint Barry, als er fertig ist, »und, ganz wertfrei, weil das bei Ihrem Hintergrund wenig überraschend ist, ich würde auch sagen, dass es da eine Menge Widersprüche gab …« Er strahlt Simon an und nippt an seinem Becher. »Also, Amanda mochte Sie, oder?«, sagt er. Simon blickt einfach durch ihn hindurch; so bekommt ihn niemand zu fassen.
»Was an Frauen macht Ihnen Angst?«, fragt Barry nach einer weiteren langen Pause. »Was ist –«
»Sie haben das Sagen, oder?«, sagt Simon. »Lehrerinnen. Thatcher. Diese Currie. Madonna.«
»Es ist offensichtlich, dass Sie das Gefühl brauchen, Ihr Leben in hohem Maße unter Kontrolle zu haben«, sagt Barry. Simon erkennt darin ein wörtliches Zitat von Dr. Grice.
»Na, dann bin ich hier ja wohl richtig, was?«, sagt er und prustet los, aber Barrys Mund zuckt nicht mal; eine Weile lang sagt er nichts, dann tastet er in seiner Tasche nach den Marlboros. Simon greift zu und steckt eine zum Tauschen ein. Barry zündet sich eine an, spielt dann mit der Zigarette, klopft sie über der weißen Untertasse ab, die er als Aschenbecher benutzt, obwohl das noch gar nicht nötig wäre.
»Es liegt ganz an Ihnen, Simon«, sagt er schließlich, und sie verbringen die nächsten zehn Minuten damit, über Fußball zu sprechen.
Simon ist wütend, als er zurückkommt. Das mit den Frauen stimmt, aber er findet auch, dass Barry von Kopf bis Fuß absolut reiner Bullshit ist. Liegt ganz an mir? Nee, klar. Und wofür werden du und der andere dann bezahlt? Aus seiner Sicht ist es nämlich so: Natürlich kann man kapieren, wie ein Fahrrad funktioniert, aber trotzdem muss man noch die körperliche Balance finden, um darauf fahren zu können. Das könnte man sogar auch ohne das Wissen hinkriegen. Man braucht erstens ein Fahrrad und zweitens Zeit zum Üben. Die hier verfügbaren Ressourcen hinsichtlich Umgang-mit-Frauen-Lernen sind gelinde gesagt begrenzt, angespannt: Die weiblichen Schlusen, die nicht zählen (womöglich, so das Gerücht, sind das gar keine echten Frauen), die Seelsorger-Groupies und vier Lehrerinnen im Pädagogikzentrum, das er nicht betreten darf. Weibliche Teile der Gesellschaft stehen nicht gerade Schlange, um es einem beizubringen, oder? Na gut, denkt er, aber wenn ich was will, was auch immer das Gegenteil von dem hier sein mag, muss ich den Weg selbst finden.
Es ist gut, ein Vorbild zu haben. Jay Cartwell, sagt sich Simon, war nur drei Tage im B-Trakt, bevor er herausfand, wie sich aus geflochtener Zahnseide eine Schlinge machen lässt. Er nahm, was er bereits hatte, um an sein Ziel zu gelangen, und das, denkt er, werde auch ich machen.
4
Erstens: In den Anzeigen, die man so sieht, geben die Leute ihr Alter an, manchmal den Beruf, Hobbys, beschreiben ihr Aussehen – alles höchstwahrscheinlich Lügen, Wunschdenken oder Übertreibung. Dann geben sie an, was für eine Person sie suchen, Größe zum Beispiel, irgendeine Eigenschaft wie lebhaft, sinnlich, humorvoll, blond oder so. Aber Simon glaubt, jedes konkrete Detail könnte gegen ihn sprechen, also wird er sich kurzfassen: Mann sucht Frau zwecks Brieffreundschaft, Alter egal. Außerdem, zweitens, wird er nichts zum Aussehen schreiben, weil so was doch sicher nur eine Rolle spielt, wenn man jemanden tagein, tagaus vor sich hat und man sich die Stimme anhören muss, die einem dann höchstwahrscheinlich ganz schön auf den Zeiger geht. Und drittens erwähnt er nicht, wohin der Briefwechsel seiner Meinung nach führen soll, weil er es selbst nicht genau weiß. Aber er vermutet, dass man per Brief durchaus weiter und einander näherkommen kann als mit Gesprächen. Manchmal sind die Leute mitteilsamer, wenn sie meinen, für sich zu sein, und können sich besser auf das konzentrieren, was sie sagen wollen.
Ich mache das auf meine Art, denkt er. Keine Bitte um »Erlaubnis des Direktors, wenn Sie eine Anzeige für eine Brieffreundschaft aufgeben möchten«, keine Angabe »der korrekten Adresse oben auf jeder Seite« und schon gar kein idiotischer Zensor, der seine Briefe und die Antworten auf der Suche nach Beilagen öffnet und sie am Ende noch liest … Das hier wird sein ganz privater Korrespondenzkurs. Was bedeutet, dass er, weil er keinen Besuch bekommt, Hilfe für das Schmuggeln der Briefe hinzukaufen muss. Er braucht jemanden, der Geld schnell verbrennt: Teverson, im Dritten. Schwerer Einbruch und schwere Körperverletzung, hält Wunder was auf sich. Normalerweise würde er sich fernhalten, aber.
Tev ist drüber, wie immer. Während ihres Gesprächs ist seine Anlage voll aufgedreht und frisst Batterien. Auf dem Tisch zwei leere Mars-Verpackungen und eine Schüssel Dosenpfirsiche, dazu ein voller Aschenbecher. Seine Bude ist mit Frauen tapeziert, meist von hinten. Er steht auf Hintern. Natürliche Position der Frau, erklärt er Simon, mit dem Gesicht nach unten. Der Hintereingang ist schön fest, und man muss sich keine Sorgen ums Schwängern machen.
»Also, Mann, warum bist du hier?«, sagt er. Er trägt seinen Trainingsanzug und schwitzt, als wäre er noch beim Sport. Der Geruch verbreitet sich schwallweise um ihn.
Besuch? Seine Alte kommt, und ihre Schwester und seine Schwester und seine Mum: »Wenn du eine Frau willst«, sagt er, »nimm mir doch eine von denen ab! Nichts als Ärger. Oder ich könnte dir ein nettes Mädchen besorgen, Freundin meiner Frau, die kommt dich besuchen, falls du was Leckeres für die Augen willst, an das du dann später denken kannst, alles klar?«
»Nein.« Simon will nichts aus zweiter Hand. Das hier macht er auf seine Art. »Danke, Mann. Ich will Briefe«, erklärt er Teverson.
»Na, die würde sie doch schreiben!«, sagt Tev. »Musst du ihr nur sagen. Würde uns beiden viel Ärger ersparen.«
»Ich will jemanden, der es will. Ich mache das auf meine Art, ok?«, erklärt Simon. »Ich zahle dafür. Ich suche einen Kurier. Sie muss den Brief bei einem Besuch einstecken, dann die Antwort bei sich zu Hause annehmen, den Umschlag austauschen und dir mitbringen. Falls sie mehr als eine Antwort erhält, tja, dann sagst du ihr, sie soll den dicksten mitbringen und den Rest wegschmeißen.«
Er hat ein paar Kippen gesammelt, also bietet er Teverson eine an. Tev nimmt sie wortlos, nickt mit dem Kopf im Takt. »Riskant«, sagt er. »Ich will ja nicht die Gans umbringen, die meine goldenen Eier legt, oder?« Andererseits hat er mehr als eine.
»Wie viel?«, fragt Simon. Will man was, Alk, Tabak, Stoff, Sex, Briefe, ist es immer dasselbe: Man muss was zu bieten haben. Aber wenn der Typ bei Verstand ist, verlangt er nicht mehr von dir, als du auftreiben kannst.
»Dreißig«, sagt Teverson. Er klatscht Simon den Arm um die Schultern und drückt ihn, gibt ihm dann einen Schlag zwischen die Schulterblätter.
»Wie lange haste schon?«, fragt er. »Acht? So lange werd ich wohl insgesamt drin sein«, sagt er selbstzufrieden. »Immer auf Trab bleiben, dann ist es in Nullkommanix vorbei. Wird alles in Butter sein, wenn ich rauskomme.«
Liebe, damit fangen Briefe an, selbst wenn man die Person nicht kennt, selbst wenn man sie nicht mag, und Lieber nennen sie einen in ihrer Antwort. Das gefällt mir, denkt Simon, und ihm gefällt auch der Gedanke, dass jemand sich die Mühe macht, Papier und Stift herauszuholen, vielleicht nochmal seinen letzten Brief überfliegt, um zu sehen, ob es darin Fragen gab, die beantwortet, Punkte, die aufgegriffen werden sollten, kurz zögert und dann zu schreiben beginnt. Irgendwann halten sie möglicherweise inne oder werden unterbrochen. Aber die Vorstellung, dass er darauf wartet zu erfahren, was sie zu sagen haben, treibt sie bis zum Ende an: Ihre, herzliche Grüße, bleiben Sie gesund und munter, passen Sie auf sich auf, schreiben Sie mir bald, alles Liebe … Keines dieser Worte verdient er, aber Dr. Grice zufolge muss es mal anders gewesen sein. Nun, vielleicht kann er diejenigen bekommen, die man ihm von damals noch schuldet?
Er wartet, wartet einfach, hier auf seinem Bett. Rechts von ihm: Tür, Sanitäreinheit, vor ihm: Tisch, Stuhl, Bücher, Stifte. Fünfzehn Jahre, mindestens. Noch fünf Minuten bis zum Einschluss. Elf Stunden drin. Vier Stunden, bis es friedlich wird und ruhig. Acht Wochen, schätzt er, bis er vielleicht Antwort erhält: Zehn Tage oder so liegt die Anzeige in der Redaktion der Zeitung herum. Dann erscheint die Zeitung, dann flattert sie eine Weile durchs Haus, wird fast weggeworfen, und dann, spätabends, blättert sie sie durch und denkt, na ja, ja, könnte ich doch. Dann muss sie den Brief auch wirklich schreiben. Dann vergisst sie ihn wieder, dann hat sie keine Briefmarke und vergisst eine Woche lang, ihn einzuwerfen, und fast ist es ihr egal. Dann wirft sie ihn doch ein, und er gelangt zur Schwester von Teversons Frau und versteckt sich unter der Fußmatte. Natürlich findet sie ihn just nach einem Besuch, oder sie ist nicht an der Reihe, das macht wieder zwei Wochen.
Alles relativ, nicht vergessen, und ihm hilft es, langsam einzuatmen, kurz zu halten, dann langsam wieder aus. Und er versucht, seine Gedanken in die Richtung zu lenken, in die er sie haben will. Nach vorn, nicht zurück. Was sein könnte, nicht was mal war. Jetzt denkt er daran, wie er Kopien seiner Briefe in der einen Hälfte der Adidas-Schachtel, die er von dem Iren bekommen hat, aufbewahren wird und ihre Briefe samt Umschlägen in der anderen. Er denkt daran, wie er mit dem Hapkido weitermachen wird und mit den Dehnübungen und natürlich der yogischen Atmung. Er wird lesen und seine Fantasie weiterentwickeln. Das macht man, etwa indem man sich selbst Fragen stellt, zum Beispiel: Wie stellst du dir Teversons Wohnung draußen vor? Leicht.
Eine große Maisonettewohnung, Sozialbau, außen blättert die Farbe ab, drinnen das volle Programm. Teppich mit Tigermuster, großer Spiegel, Riesenfernseher, Marantz-Stereoanlage, schicke Lampen. Tropenfische. Riesenbett. Abgesägte Schrotflinte darunter. Wohnungstür aus Stahl, Metallgitter an den Fenstern.
Wie wird sie wohl sein?, denkt er. Ich weiß es nicht.
Wer wird aus mir? Dito. Ein Sprung ins Ungewisse.
5
Es ist gerade mal vier Tage her, seit Dickie Walters Simon zu sich ins Büro gerufen hat. Was ist los?, dachte er, während er dem Beamten in die Magnolienzone folgte, wo der Geruch nach abgestandenem Essen und körperlichen Nöten ganz plötzlich aufhört, abgelöst wird vom Aroma frischen Kaffees, das dem Kabuff am Ende des Trakts entströmt. Waren sie hinter den Deal mit Teverson gekommen? Hatte ihn jemand wegen so einer Kleinigkeit verpfiffen? Allein der Gedanke ballte seine Hände zu Fäusten; gleichzeitig sogen seine Augen das tiefdunkle Rot des Teppichs auf, und seine Ohren passten