Die Schweiz und ihr Geheimnis: Warum dieses Land anders ist
Von Kurt Beutler
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Über dieses E-Book
Kurt Beutler
Kurt Beutler wurde 1960 in Affoltern am Albis im Kanton Zürich geboren und wuchs in der Stadt Bern auf. Er studierte an der Universität Bern und am «London Bible College» evangelische Theologie. Danach ließ er sich als Theologe im Bund Evangelischer Gemeinden («Newlife») in Bern anstellen. Es folgten Aufenthalte in Japan, Ägypten und im Libanon. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz war er acht Jahre für die Heilsarmee in Zürich tätig; er gründete und leitete dort den Bereich «Open Heart», einen Treffpunkt für Randgruppen im Langstrassenquartier. Heute ist er Mitarbeiter bei MEOS Interkulturelle Dienste in Zürich und arbeitet als interkultureller Berater.
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Buchvorschau
Die Schweiz und ihr Geheimnis - Kurt Beutler
Teil 1
Vier Sterne am Schweizer Himmel
Kapitel 1
Spyris Heidi – die berühmteste Schweizerin
Die berühmteste Schweizerin ist Heidi. Dies jedenfalls erklärte mir jener syrische Asylsuchende, der ebendiesen Namen für seine Tochter ausgewählt hatte. Er erzählte, dass er die Geschichte von Heidi und dem Geißenpeter schon von klein auf geliebt habe und sich darum für seine Tochter keinen anderen Namen hätte vorstellen können. Durch ihn wurde mir bewusst, dass das Mädchen aus den helvetischen Alpen weltweit bekannt und beliebt ist.
Wer «Heidi» googelt, der trifft tatsächlich eine ganze Reihe von Superlativen an. Dieses Buch sei das mit Abstand bekannteste Werk der gesamten Schweizer Literatur, habe es doch eine Gesamtauflage von über fünfzig Millionen Exemplaren erreicht. Es gehöre zu den bekanntesten Kinderbüchern überhaupt und zu den am meisten übersetzten Büchern der Welt (über fünfzig Sprachen).
Als Johanna Spyri 1881 die Geschichte schrieb, soll sie damit sogar eine neuartige Literaturgattung geschaffen haben, kann man da erfahren. Zum ersten Mal in der Geschichte sei ein Buch aus der Perspektive eines Kindes geschrieben worden. Auch der Heimatfilm «Heidi» von 1952 war ein weltweiter Erfolg, die Fortsetzung «Heidi und Peter» von 1955, der erste Schweizer Farbfilm, ein noch größerer. Und das Interesse nimmt keineswegs ab. Die Geschichte soll mehr als ein Dutzend Mal neu verfilmt worden sein.
Während unzählige Kindergeschichten kommen und gehen, gibt es nur wenige Dauerbrenner. Wieso fasziniert gerade diese Geschichte seit Generationen die Welt? Darüber ist viel gerätselt worden. Berührt Heidi die Herzen, weil sie ein schutzloses Waisenkind ist? Oder weil das vermeintlich überflüssige Mädchen zur Hauptperson wird? Trotz ihrer Schwäche wird sie ja zur Heldin der Geschichte. Damit kann sich die Leserschaft offenbar identifizieren.
Das Buch beginnt schon im ersten Kapitel damit, dass Heidis Tante Dete das Kind los sein will. In ihrem Egoismus hört sie nicht auf die Warnungen der Dorfbewohner. Sie bringt es fertig, das Kind auf den lebensfeindlichen Berg ausgerechnet zum Alpöhi zu bringen, vor dem sich sogar die Erwachsenen fürchten. Sie bringt es auch fertig, eines Tages die Kleine völlig überraschend einfach wieder zu holen und in das ferne Frankfurt zur wohlhabenden Familie Sesemann zu verfrachten. Dort soll sie nicht nur lernen, artig zu sein, sondern auch zu lesen und zu schreiben.
Dies sind allerdings nur vorgeschobene Gründe. In Wirklichkeit ist sie geholt worden, um die Einsamkeit der gelähmten Klara erträglicher zu machen. Wenn die Tante auch behauptet, Heidis Wohl im Sinn zu haben, stellt sich doch unweigerlich heraus, dass es ihr wieder einmal nur um den eigenen Vorteil geht.
Heidi erscheint in der Geschichte zweimal als Opfer. Zunächst einmal bei ihrer erzwungenen Ablieferung beim menschenfeindlichen Alpöhi, der sie zuerst nicht haben will. Dies scheint sie aber gar nicht zu bemerken. Sie fühlt sich auf dem Berg sofort wie ein Fisch im Wasser. Umgekehrt wird ihr späterer Aufenthalt im Hause Sesemann in Frankfurt, der eigentlich als die große Chance ihrer Kindheit gesehen werden könnte, für sie zunehmend zum Albtraum.
Nicht nur die Handlungen der Erwachsenen überraschen den Leser, sondern auch Heidis Reaktionen darauf. Diese bleibt aber immer sich selbst treu. Gerade dadurch gewinnt sie die Herzen der Leser. Sie fürchtet sich nicht vor dem gewaltigen Alpenwind und kann mit dem verbitterten Großvater genauso umgehen wie mit dem genauso eigenbrötlerischen Geißenpeter. Dessen Großmutter liebt sie und möchte ihre Armut und ihr Leiden irgendwie lindern.
Mit kindlicher Unschuld sammelt sie in den ersten Tagen im reichen Frankfurter Haus Brötchen, die sie für die blinde Frau aufheben will. Sie sieht diese nämlich nicht nur als die Großmutter des Geißenpeters, sondern auch als ihre eigene. Für derartige Gefühlsduseleien hat aber die Erzieherin Fräulein Rottenmeier kein Verständnis. Damit beginnt eine endlose Serie von Problemen.
Während sie sich vorher an das Leben auf der Alp sofort anpassen konnte, bleibt sie in Frankfurt ein Fremdkörper. Physisch ist sie zwar in Deutschland, aber innerlich lebt sie immer noch in den Bergen. Schrittweise zieht sie sich in sich selbst zurück und wird seelisch krank. Sie isst und freut sich nicht mehr und erschreckt das ganze Haus dadurch, dass sie schlafwandelt.
Der Arzt ist es schließlich, der sie rettet. Er setzt das Undenkbare durch, und Heidi wird wieder auf die Alp geschickt, wo schließlich die gesamte Frankfurter Familie sie besucht. Nun sind sie es, die als Fremdkörper wirken. So wie sie einst über Heidi geredet haben, kommen sie nun ins Gerede der Bergdorf-Bewohner. Doch auf wundersame Weise führt der Besuch der Familie auf der Alp zur Heilung der gelähmten Klara. Zudem versöhnt sich der Alpöhi nicht nur mit Gott und den Menschen, sondern zieht sogar um – zurück in sein Haus im Dorf, das er nun mit dem deutschen Arzt teilt, welcher Heidi sogar als seine Erbin einsetzt.
Johanna Spyri war offensichtlich begabt darin, unterschiedliche Persönlichkeiten zu schildern. Sie malt dem Leser nicht nur die fröhliche Heidi und den verbitterten Großvater Seite um Seite vor Augen, sondern auch den wortkargen, denkfaulen Geißenpeter und dessen mausarme Familie mit der gefühlvollen Großmutter. Die pedantische, von Ängsten geplagte Erzieherin Rottenmeier bringt jeden zum Schmunzeln. Sie wird im Hause Sesemann offensichtlich in Kontrast zur herzensguten Großmutter von Klara gesetzt. Heidis ungewollte Streiche bringen das noble Frankfurter Haus durcheinander, und man kann sich darüber ein ums andere Mal mit der gelähmten Tochter Klara mitfreuen.
Viele Deutungen der Heidi-Geschichte sind versucht worden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sich das Buch gegen die Verstädterung wenden wolle. Es sieht so aus, als wolle Johanna Spyri mit dieser Geschichte gegen die Entwicklung der modernen Welt und gegen die Industrialisierung protestieren. Zu einer Zeit, als man die Berge wegen ihres rauen Klimas gefürchtet habe, werde das Leben auf der Alp in Johanna Spyris Buch geradezu idealisiert. In der Geschichte werde deutlich gezeigt, dass nicht das Leben in der Großstadt, sondern dasjenige auf der Alp lustig und lohnenswert sei.¹
Doch derartige Deutungsversuche sind viel zu weit gegriffen. Sie vergessen, dass es sich um ein Kinderbuch handelt. Darin wird ganz einfach erzählt, wie Heidi die Berge und im Gegensatz dazu die Großstadt empfindet. Nirgends wird behauptet, dass das Leben auf der Alp allen Menschen so leichtfällt und so lustig erscheint wie ihr. Ganz im Gegenteil. So wird in ebendiesem Buch etwa auch berichtet, wie schwer es der Großmutter des Geißenpeters fällt, die in der Nacht nicht schlafen kann, weil sie Angst hat, dass die starken Winde ihr altes Haus einstürzen lassen.
Heidi ist zwar nicht geschaffen für Frankfurt, aber es kommen durchaus Persönlichkeiten in der Geschichte vor, die dorthin besser passen als in die Alpen. Und auch wenn das Kind aus den Bergen in Deutschland nicht glücklich wird, so reift es doch dort. Es lernt nicht nur lesen und schneidern, sondern sammelt Lebenserfahrung, die es bei seiner Rückkehr gewinnbringend einsetzt.
Traurig ist Heidis Misserfolg in Frankfurt. Sie ist nicht anpassungsfähig. Könnten Kinder nicht mehr aus einem Buch lernen, das von Erfolg erzählt? Ist vielleicht die versteckte Aussage der Heidi-Geschichte, dass es zu Hause am schönsten sei, anstatt dass man sich verändern und Neues lernen müsse? Aber wer solches vermutet, hat das Buch missverstanden.
Nachdem die Tante das kleine Mädchen zum Alpöhi bringt, wo es eigentlich gar nicht zu Hause ist, passt es sich sogar unglaublich schnell und gut dem extrem schwierigen Öhi und seinem kargen Alpleben an, obwohl es eigentlich ja zu diesem Zeitpunkt dort noch gar nicht zu Hause ist. Wieso aber kann es sich später in Deutschland nicht zurechtfinden? Weil es einfach nur ein Kind mit seinen Grenzen ist. Es ist durchaus realistisch, dass nicht jeder sich überall zurechtfinden kann – und schon gar nicht ein herumgeschubstes Waisenkind.
Heidi wird zwar als ein aufgewecktes Mädchen geschildert, aber eben gerade nicht als ein Wunderkind. Das macht es umso attraktiver und realitätsnaher. Es kehrt zwar in die Heimat zurück, aber nicht nur, um wieder so zu leben wie früher, sondern um seine Mitmenschen dank der neu gewonnenen Deutschland-Beziehungen und Auslands-Erkenntnisse zu beglücken.
Wer den Sinn des Buches verstehen will, muss im Leben der Autorin suchen. Im Stadthaus von Zürich soll Johanna Spyri 1879 den ersten Teil des Heidi-Romans innerhalb von vier Wochen geschrieben haben.² Er kam direkt aus ihrem Herzen, weil das, was darin steht, ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen ausdrückt.
Sie war zwar kein Waisenkind, aber sie war auch auf dem Land aufgewachsen und hatte zu einem Anwalt mitten in die Stadt Zürich geheiratet. Während ihr Vaterhaus immer voll von Menschen gewesen war, hatte ihr Ehemann keine Zeit für Gäste.
Es geht in der Heidi-Geschichte überhaupt nicht um versteckte Anspielungen auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen, sondern um das Innenleben eines Menschen. Die Autorin hat ja ebenso wie das Heidi eine psychische Krankheit durchgemacht, und zwar eine längere.
Wie viel ihre unglückliche Ehe dazu beigetragen hat, können wir nicht sagen. Jedenfalls gebar sie nur einen einzigen Sohn und wurde während der Schwangerschaft von Depressionen übermannt. Früh schon zeigte sich, dass der Sohn kränklich war und nicht lange leben würde. Aus derart schwierigen Situationen wurde der Glaube geboren, von dem sie in der Heidi-Geschichte erzählt.
Was das Buch so ergreifend macht, ist tatsächlich nicht nur die Erzählung selbst, sondern es sind die feinfühligen Beschreibungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühlen. Nicht nur Landschaftsbeschreibungen, sondern auch Gespräche und Handlungen von Personen werden oft dazu benutzt, um tiefe innerliche Regungen auszudrücken.
Die christliche Seite der Geschichte kommt bei Kritikern offensichtlich schlechter an als bei den Lesern. Von «schwärmerisch-pietistischer Frömmigkeit einer vergangenen Zeit» zeuge das Heidi-Buch, wird da etwa behauptet, und dass die religiöse Ausrichtung von Johanna Spyris Werk ihren Geschichten «etwas Unwirkliches» gebe.
Tatsächlich haben denn auch mehrere Verleger alles, was mit dem Glauben zu tun hat, einfach aus dem Text rausgestrichen. Die Geschichte des Waisenmädchens, das sich verblüffenderweise gerade in den rauen Bergen beim verbitterten Alpöhi zu Hause fühlt, dagegen in der fortgeschrittenen, wohlhabenden Großstadt seelisch krank wird, bleibt bei diesen Verlegern trotzdem erhalten. Aber das, was Johanna Spyri eigentlich mit dem Buch sagen wollte, geht dann verloren.
Darum verstricken sich manche Ausleger der Heidi-Geschichte in politischen Dimensionen und lesen Aussagen in das Buch hinein, die völlig erfunden sind, weil sie das, was offensichtlich dasteht, nicht wahrhaben wollen. Es ging Johanna Spyri offensichtlich in erster Linie darum, zu zeigen, wie der Glaube in den schwierigsten Lebenssituationen helfen kann.
Das Buch enthält keineswegs theoretische, weltfremde Religiosität, sondern zeigt einen Glauben, der erst durch Lebenserfahrung entsteht und ganz praktisch hilft, den Alltag zu bewältigen. Natürlich begegnet Heidi dem Gottvertrauen weder bei der egoistischen Dete noch beim verbitterten Alpöhi oder dem einfältigen Peter, wohl aber bei dessen blinder Großmutter.
Deren Glaube kann nun wirklich nicht als schwärmerisch bezeichnet werden, hat sie doch selber über viele Jahre sogar die Liedertexte vergessen, die sie so gerne singen möchte. In ihrer Blindheit, Armut und Krankheit hätte sie allen Grund, einen verbitterten, unausstehlichen Charakter zu entwickeln. Sie verlangt aber vom Leben nicht mehr, als ihr jemanden zu schicken, der aus dem Gesangbuch vorlesen könnte. Sie, die nicht nur ihren Sohn und ihr Augenlicht, sondern auch sonst so ziemlich alles verloren hat, was anderen Leuten Lebensfreude schenkt, ist keineswegs in Selbstmitleid und Anschuldigungen versunken. Kälte, Hunger, Schmerz, Verlust und Angst sind ihre täglichen Begleiter. Sie empfindet aber trotzdem die Güte Gottes und findet Grund, für die kleinsten Dinge dankbar zu sein. Man kann sie um diesen Glauben nur beneiden!
Auch in Frankfurt begegnet Heidi dem Glauben, und zwar bei Klaras Großmutter, der großen Pädagogin des Buches. Sie vollbringt ein wahres Wunder, indem sie Heidi davon überzeugt, dass sie lesen und schreiben lernen kann. Als Einzige erkennt sie die psychische Not des Kindes und akzeptiert auch, dass dieses sich niemandem mitteilen will. Ganz weise ermutigt sie das Schweizer Mädchen, seine Not stattdessen insgeheim mit Gott zu besprechen, was dieses auch mit Freuden tut. Das ist sicher realistisch, denn Kinder lieben es im Allgemeinen, zu beten.
Später zweifelt sie aber, weil Gott ihre Gebete nicht erhört. Die Großmutter erklärt ihr, dass dies nicht das Ende der Geschichte sein müsse. Gott höre sie sehr wohl, wisse aber besser, wann und wie er die Gebete erhören wolle.
Dieser Satz mag zunächst wie ein billiger Trost erscheinen. Er wird aber für Heidi kostbar. Als sie dann tatsächlich eines Tages völlig überraschend in die Schweiz zurückfahren darf, erkennt sie, dass dies der richtige Moment ist. Wären ihre Gebete früher erhört worden, so hätte sie Frankfurt wieder verlassen, ohne lesen zu lernen. Und gerade diese Fähigkeit wurde später mehrfach wertvoll.
Viele Seiten lang wird Gott im Heidi-Buch gar nicht erwähnt. Und doch wird er mit dem Fortgang der Handlung zunehmend wichtiger. Ohne ihn hätte die Geschichte trotz aller positiven Entwicklungen kein derart tiefgreifendes Happy End.
Überschäumende Freude erlebt Heidi bei ihrer Rückkehr nicht nur beim Anblick der wunderschönen Berge und der im Abendrot aufflammenden Felshörner mit dem Schneefeld, sondern vielmehr noch beim Danken dafür, dass ihre Rückkehr dem Handeln des lieben Gottes zuzuschreiben sei und dass dieser «alles noch viel, viel schöner gemacht habe, als sie es je gewusst» habe.
An zentralen Stellen wird der Glaube eingeflochten. Nachdem man dem Heidi lange Zeit vergeblich das Lesen beizubringen