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Gottes falsche Anwälte: Der Verrat am Islam
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eBook332 Seiten5 Stunden

Gottes falsche Anwälte: Der Verrat am Islam

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Über dieses E-Book

Haben Muslime ihre eigene Religion verfälscht? Nichts Geringeres als eine grundlegende Kritik des Islams proklamiert Mouhanad Khorchide in seinem neuen Buch "Gottes falsche Anwälte". Seine provokante Hauptthese lautet: Bei dem Islam, wie er sich heute den meisten Muslimen wie Nichtmuslimen präsentiert und wie er von vielen Gläubigen praktiziert wird, handelt es sich um eine manipulierte Version dieser Religion. Eine Manipulation, die nicht etwa von außen kommt, sondern auf die Muslime selbst zurückgeht. Und, besonders pointiert: Diese Manipulation fand nicht spät und von irgendwelchen modernen Fanatikern statt, sondern bereits in der Frühgeschichte des Islams kurz nach dem Tod Mohammeds.

Diese Manipulation, so zeigt Khorchide weiter, ist keinswegs eine rein historische Angelegenheit, vielmehr prägen ihre Konsequenzen die Gegenwart und betreffen vor allem die heutigen Muslime. Um sie zu überwinden, fordert der Soziologe, islamische Theologe und Professor für Islamische Religionspädagogik ein hohes Maß an Selbstkritik und eine schonungsloser Analyse der aktuellen Situation – genau das liefert sein neues Werk.
Zwei Teile mit jeweils zehn Thesen prägen das Buch: Der erste Teil setzt sich mit dem manipulierten Islam, seinen Hintergründen in der Geschichte und der Gegenwart sowie mit seinen Auswirkungen auf die Muslime weltweit und hier in Deutschland auseinander. Der zweite Teil will die Frage beantworten, wie der Islam zu seinem ursprünglichen Kern zurückfinden und wie es aufgeklärten Sichtweisen des Islams gelingen kann, an Einfluss zu gewinnen.

In diesem ebenso mutigen wie innovativen Buch steht daher nicht die Schuldfrage im Mittelpunkt, sondern ein tiefes Verstehen der Strukturen der Unterdrückung im islamischen Kontext. Aber noch mehr: Khorchide geht es darum, ein Verständnis vom Islam zu entwerfen, das die Befreiungspotenziale dieser Religion zur Entfaltung bringt. Er will den Teufelskreis der Schuldzuweisungen und des daraus resultierenden Opferdiskurses unter vielen Muslimen überwinden. Und Khorchide wagt es, mit einem analytischen Blick in die Vergangenheit und Zukunft zu blicken, um Muslimen Wege aufzuzeigen, wie sie sich von Unterdrückungsstrukturen befreien zu können.
Mutig und ohne Kompromisse beschreibt Mouhanad Khorchide den Verrat des Islams durch seine falschen Anwälte, die vermeintlich im Namen Gottes sprechen. Ein Meilenstein!
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum13. Juli 2020
ISBN9783451822148
Gottes falsche Anwälte: Der Verrat am Islam
Autor

Mouhanad Khorchide

Mouhanad Khorchide, Prof. Dr., geb. 1971, in Beirut, aufgewachsen in Saudi-Arabien, studierte Islamische Theologie und Soziologie in Beirut und Wien. Seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster und dort inzwischen auch Leiter des Zentrums für Islamische Theologie. Khorchide studierte in Beirut Islamische Theologie und in Wien Soziologie, wo er mit einer Studie über islamische Religionslehrer promovierte. Er hat zudem als Imam und Religionslehrer gearbeitet. Seit 2011 ist er Koordinator des Graduiertenkollegs Islamische Theologie der Stiftung Mercator und seit 2013 Principle Investigator des Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne« an der Universität Münster.

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    Buchvorschau

    Gottes falsche Anwälte - Mouhanad Khorchide

    Einleitung

    Die Hauptthese dieses Buches lautet: Bei dem Islam, wie er sich heute den meisten Muslimen wie Nichtmuslimen präsentiert und wie er von vielen Gläubigen praktiziert wird, handelt es sich um eine manipulierte Version dieser Religion. Wir sind mit einer Manipulation konfrontiert, die auf die Muslime selbst zurückgeht und deren Wurzeln tief hinein in die Frühgeschichte des Islams kurz nach dem Tod Mohammeds reichen, in eine Zeit, in der es zu den ersten Machtkämpfen um das Kalifat kam. Doch diese Manipulation ist weit davon entfernt, lediglich eine historische Angelegenheit zu sein. Ihre Konsequenzen prägen unsere Gegenwart und betreffen vor allem die heutigen Muslime. Um diese Manipulation des Islams zu überwinden, muss zuerst das eigentliche Problem mit einem äußersten Maß an Selbstbewusstsein und Mut zur Selbstkritik angesprochen und analysiert werden.

    Was wurde am Islam manipuliert?

    Ich fasse die Antwort auf diese Frage in einigen Aussagen zusammen, deren Ausführung den Kern dieses Buches ausmacht: Die islamische Verkündigung im 7. Jahrhundert in Mekka und Medina fand zu einer Zeit statt, in der die Menschen immer mehr zu Objekten degradiert wurden. Die Hauptintention des Islams lag jedoch darin, die Menschen aus ihrem Status als fremdbestimmte Objekte zu befreien und ihnen den Weg hin zu selbstbestimmten Subjekten zu bieten. Im Koran lassen sich Zeugnisse erster Schritte des Subjektwerdens des Menschen zur Zeit Mohammeds finden. Allerdings führten die politischen Machtkämpfe kurz nach dem Tod Mohammeds zu einer Umkehrbewegung: Wieder wurde der Mensch zum Objekt der Unterwerfung, wieder zwang man ihn zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber despotischen Machthabern. Und es blieb nicht allein bei der politischen Unterwerfung des Menschen, aus ihr erwuchs einegesellschaftliche Mentalität, die tief in die verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen bis hinein in die Köpfe der Menschen und deren Denkstrukturen reichte. Heute können wir von einer Kultur der Unterwerfung sprechen.

    Welche Rolle spielt dabei der Islam?

    Kurz nach dem Tod Mohammeds gelangten Herrscher an die Macht, die das Kalifat in eine Art Monarchie verwandelten. Der Kalif wurde nicht mehr mit dem Einverständnis des Volkes gewählt oder ernannt, wie es bei den ersten vier Kalifen noch der Fall war, das Amt unterlag nun einer Erbfolge oder wurde durch Gewalt und Krieg erkämpft. Diese vom Volk nicht legitimierte Art der Herrschaft benötigte eine besondere Quelle der Rechtfertigung. Und was konnte hierzu besser dienen als Gott selbst? So begann eine andere Geschichte des Islams, die aus einer Religion der Befreiung des Subjekts ein Instrument zur Unterdrückung und zur Behauptung von Ungerechtigkeiten werden ließ. Der Islam diente dazu, eine Unterwerfungsmentalität im Volk zu etablieren. Dafür benötigte man allerdings ein anderes Bild vom Islam, das es gestattete, aus einer Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit eine der Gewalt und des Krieges zu formen, aus der Botschaft der Freiheit und Selbstbestimmung eine der Unterwerfung und Fremdbestimmung und aus der Botschaft der Mündigkeit eine der Bevormundung und letztendlich aus der Subjekt-Werdung des Menschen eine Objekt-Werdung. Und so begann der Verrat am Islam.

    Die Instrumentalisierung eines manipulierten Islambildes zur Festigung politischer Unterdrückungsstrukturen führte bald dazu, dass aus diesen politischen Strukturen gesellschaftliche wurden. Und so entwickelte sich aus einer politischen Unterwerfungsstrategie, die darauf zielte, die Macht des jeweiligen Herrschers zu wahren, eine umfassende Kultur der Unterwerfung. Und diese Kultur der Unterwerfung, die sich bis in unsere Gegenwart gehalten hat, benötigt keine autoritären Herrscher mehr, um sich selbst aufrechtzuerhalten; ihre Machtmechanismen haben sich längst verselbstständigt. Die Kultur der Unterwerfung hat eigene Strukturen geschaffen, die weit reichen: in die Universitäten und Schulen, in die Moscheen und Familien, aber auch in die Köpfe und Herzen der Menschen. Denken wir nur an die patriarchalischen Familienstrukturen in vielen islamischen Gesellschaften, Strukturen, in denen Frauen als gehorsame Objekte der Männer und Kinder als gehorsame Objekte der Eltern angesehen werden; denken wir an das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler in vielen solcher Gesellschaften. Meist ist dieses Verhältnis eines zwischen Subjekten und Objekten. Dies gilt ebenfalls für das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen dem Imam in der Moschee und den Betenden, zwischen den Herrschern und dem Volk und so weiter. Und warum sollte das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen anders verstanden werden? Es wird ebenfalls als eines zwischen einem Subjekt (Gott) und einem Objekt (der Mensch) gesehen.

    Ich habe vom Islam als Instrument der Behauptung einer politischen Unterwerfungsmentalität gesprochen. Aber um welchen Islam handelt es sich dabei? Sicher nicht um den, den Mohammed verkündet hatte, denn Mohammed strebte die Vervollkommnung des Menschen an, sein Ziel war ein Mensch, der als frei begriffen wird und sich von allen politischen wie sozialen und geistigen Abhängigkeiten lösen will, die einer Selbstbestimmung im Wege stehen. Der Islam, der sich für die Etablierung einer Unterwerfungsmentalität instrumentalisieren lässt, ist die Antithese zu diesem von Mohammed verkündeten Islam. Er ist dessen manipulierte Version. Dieser manipulierte Islam versteht sich als Unterwerfungsreligion, die aus den Menschen Objekte des Gehorsams machen will. Nur ungern spricht er von dem liebenden, barmherzigen Gott, in seinem Zentrum steht der strafende, restriktive Gott. Nur ungern spricht er vom Koran als Offenbarung der liebenden Barmherzigkeit Gottes, sein Koran ist nichts weiter als ein Gesetzbuch. Dieser manipulierte Islam suggeriert den Gläubigen, sie seien nicht in der Lage, ihre Religiosität selbst in die Hand zu nehmen, vielmehr seien sie auf Gelehrte angewiesen, die ihnen den Islam erklären und ihnen vorschreiben, was sie tun müssen und was sie nicht tun dürfen. Dieser manipulierte Islam sieht in muslimischen Gelehrten religiöse Autoritäten, die im Namen Gottes als dessen Anwälte sprechen. Daher dürfe man ihnen nicht widersprechen, denn das, was sie über den Islam erzählen, seien unantastbare Wahrheiten.

    Das große Dilemma des Islams heute besteht darin, dass sein Selbstverständnis als Religion der Unterwerfung, die in den Menschen lediglich Objekte des Gehorsams und nicht Subjekte der Liebe sieht, zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Ein Selbstverständnis, das nicht mehr infrage gestellt wird – schon gar nicht von den Gläubigen selbst. Wer dies dennoch wagt, wird schnell als einer gebrandmarkt, der außerhalb des Islams steht. Wir erleben heute in vielen islamischen Ländern, dass korrupte Regime, die ihre Völker ausbeuten und unterdrücken, nur allzu oft die Unterstützung gerade derer genießen, die im Namen der Religion sprechen. Wenn sich aber Gelehrte und religiöse Institutionen nur über solche Entwicklungen ereifern, in denen das Subjekt-Werden (vgl. Subjekt-Sein) des Menschen vorangetrieben werden soll, dann sind sie es, die den größten Verrat am Islam begehen.

    In vielen islamischen Ländern herrschen solche autoritären Strukturen, und zwar sowohl in der Politik wie in der Wirtschaft, im Bildungssystem, in der Familie und in der Moschee – bis hinein in die Köpfe und Herzen vieler Menschen. Und auch wenn das Individuum glaubt, selbstbestimmt zu sein, ist es kaum noch Herr über das eigene Schicksal. Wir können beobachten, dass die Menschen in solchen Ländern viel stärker religiös geprägt sind als die Menschen in den meisten nichtmuslimischen Ländern. Und gerade diese Tatsache sorgt für Irritationen und bringt den Islam als Religion in Verruf. Denn sie wirft die Frage auf, ob und wie der Islam mit autoritären Strukturen zusammenhängt. Zwar beschreiben Muslime den Islam als eine Religion im Dienste des Menschen, im Dienste von Werten wie der Freiheit, der Gerechtigkeit oder der sozialen Solidarität. Allerdings scheint dies mehr der Theorie zu entsprechen als gelebte Praxis zu sein. Denn es gilt in vielen islamischen Ländern zum Beispiel als religiös verboten, gegen soziale Ungerechtigkeiten oder gegen korrupte Regime zu demonstrieren. Und es sind gerade die in diesen Ländern anerkannten Gelehrten und religiösen Institutionen, die solche Verbote aussprechen – im Namen des Islams.

    Wie hat zum Beispiel der Azhar (eine der wichtigsten islamisch-theologischen Institutionen in der islamischen Welt) reagiert, als die Menschen in Ägypten auf die Straße gingen, um gegen das diktatorische Mubarak-Regime zu protestieren? Der Azhar stand mit seinem Großimam hinter dem Mubarak-Regime und versuchte, im Namen des Islams jeglichen Aufstand gegen dieses Regime zu unterbinden. Später musste sich Ahmad al-Tayyeb, der Großimam von Azhar, beim ägyptischen Volk entschuldigen. Er nahm seine Unterstützung Mubaraks zurück, allerdings erst, als sich die Machtverhältnisse im Lande verändert hatten. In anderen arabischen Ländern fielen die Reaktionen auf den sogenannten Arabischen Frühling ähnlich aus. Die meisten religiösen Institutionen stellten sich nicht auf die Seite der Unterdrückten, sondern auf die der Unterdrücker und Korrupten. Solche Reaktionen sind alarmierend. Sie zeigen, wie die islamischen Werte, die Mohammed verkündet hat, gerade von denen, die sich sonst als Anwälte des Islams aufspielen, verraten werden. Sie zeugen davon, dass wir ein ernstes Problem im heutigen Islam haben, wenn es um die Frage nach dem Stellenwert des Menschen, seiner Freiheit, seiner Mündigkeit und seines Rechts auf Selbstbestimmung und auf ein würdiges Leben geht.

    Viele Gelehrte regen sich über muslimische Frauen auf, die kein Kopftuch tragen wollen oder es nicht „korrekt" tragen; und sie ereifern sich darüber, wenn sich Männer und Frauen zur Begrüßung die Hand geben. Welch unglaubliche Vergehen! Aber wieso schweigen sie, wenn Menschen sich gegenseitig wie Dinge behandeln, wenn sie andere zu Objekten degradieren? Sie tun es deswegen, weil sie selbst Teil des Problems sind, sie und ihre bevormundende autoritäre Rhetorik. Für sie sind die Gläubigen nur Objekte der religiösen Bevormundung. Als vor drei Jahren in Tunesien öffentlich über die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Fragen des Erbrechts diskutiert wurde, ereiferten sich viele Gelehrte in und außerhalb Tunesiens (auch der Azhar selbst mischte sich ein) und meinten, der Koran schreibe in Sure 4, Vers 11, vor, den Brüdern das Doppelte des Erbes zu geben wie ihren Schwestern, und dies sei das unveränderliche Gesetz Gottes. Wer dies anders sehe, so sagte man, verfälsche das Wort Gottes. Solche Gelehrte, solche religiösen Institutionen beharren darauf, die Frau als fremdbestimmtes Objekt zu behandeln, sie verweigern ihr das Recht auf finanzielle Unabhängigkeit. Die Frau muss vom Mann abhängig bleiben, dieser allein hat zu entscheiden, was und wie viel er ihr kauft. Und dies alles im Namen des – manipulierten – Islams. Als im Jahr 2005 die bekannte Islamwissenschaftlerin Amina Wadud in New York als Imamin vor Männern und Frauen vorbetete, löste das eine unglaubliche Welle der Empörung unter muslimischen Gelehrten aus. Welche Anmaßung hatte sie begangen! Manche sprachen ihr den Glauben ab, sie erhielt zahlreiche Drohungen und wurde von vielen als Häretikerin abgestempelt. Dabei finden wir in der islamischen Tradition etliche Positionen anerkannter muslimischer Gelehrter, die nichts dabei finden, wenn auch Frauen vor Männern als Vorbeterinnen stehen (mehr dazu im Kapitel 16). Doch die Gefahr ist groß! Denn eine Frau in der Funktion eines Imams – das würde ja bedeuten, dass Frauen als gleichberechtigtes Subjekt auftreten. Keine Frage, das Patriarchat muss dagegen protestieren, schließlich werden Männer in ihrem Gebet abgelenkt, wenn vor ihnen eine Frau betet. Und da das Patriarchat in der Frau nichts anderes sehen will und vielleicht auch nichts anderes sehen kann als ein erotisches Objekt, bestimmen die Männer, wo die Frau während des Gebets zu stehen hat. Man stelle sich zum Beispiel vor, wir würden Muslime in Bussen auf hintere Plätze verweisen, sie müssten immer hinter den Einheimischen sitzen, nie vor ihnen, wie würden sich Muslime dabei fühlen? Aber genau dies machen sie mit ihren Frauen, nur mit dem Unterschied, dass diese Diskriminierung der Frau nicht als solche empfunden wird, auch nicht von den meisten betroffenen Frauen.

    Das eigentliche Dilemma liegt daher darin, dass es meist die Frauen selbst sind, die sich mit dieser Rolle abfinden und sie auch noch verteidigen. Genau das verstehe ich unter dem Begriff der „Unterwerfungskultur". Es handelt sich um etablierte Strukturen der Macht. Die grausamste und am schwersten zu überwindende ist die Struktur der Unterdrückung im Kopf des Menschen. Sie ist es, die ihn am kritischen Hinterfragen hindert, und sie hält ihn in den gewohnten Denkstrukturen gefangen, in denen er sozialisiert ist. Daher sehe ich die Lösung vieler Probleme in der islamischen Welt (und nicht nur dort) keineswegs darin, den einen oder anderen Machthaber zu stürzen. Denn die vorhandenen autoritären Strukturen würden nur einen weiteren Tyrannen hervorbringen. Nicht die Personen, auch nicht die einzelnen Fatwas (religiöse Rechtsprechungen) müssen sich ändern, sondern die Unterdrückungsstruktur muss überwunden und durch eine vom Geist der Freiheit getragene Struktur ausgetauscht werden.

    Die Intention dieses Buches ist es, einen Beitrag dazu zu leisten, mit genau diesen längst etablierten Unterwerfungsstrukturen zu brechen. Ich sehe keine Möglichkeit für Muslime, sich in der Naturwissenschaft, in der Theologie, in der Philosophie, in den Geisteswissenschaften, in der Technologie, in der Spiritualität zu entfalten, es sei denn, sie nehmen selbst den Kampf auf gegen jegliche Ideologie und gegen jegliche Struktur, die sie zu Objekten degradieren, anstatt in ihnen Subjekte zu erkennen. Und zu diesen Strukturen gehört ein manipuliertes Bild vom Islam, das sich derart fest in den Köpfen verankert hat, dass es zu dem eigentlichen Bild geworden ist, auch unter den Muslimen selbst. Daher habe ich großes Verständnis dafür, wenn viele Muslime wie auch Nichtmuslime auf dieses Buch zunächst irritiert reagieren. Mit dieser Irritation hoffe ich, etwas wachzurütteln, das durch Gewohnheit erstarrt ist. Ich lade die Leserinnen und Leser ein, sich auf ein Denken out of the box einzulassen.

    Mir ist die unter Muslimen wie Nichtmuslimen weitverbreitete Rhetorik bekannt, die in gebetsmühlenartigen Wiederholungen alle Schuld dem „Westen zuschreibt. In der Regel sucht man in islamischen Ländern die Ursachen für die Defizite in den eigenen Demokratien und Menschenrechten beim „anderen. Dieses Andere wird meist mit dem Kolonialismus, dem Postkolonialismus, mit den hegemonialen wirtschaftlichen wie politischen Machtansprüchen der USA oder anderer Staaten identifiziert. Und häufig münden solche Diskussionen in Schuldzuweisungen wie: „Der Westen ist daran schuld, dass in den meisten islamischen Ländern Demokratien fehlen, „Die USA und andere Waffenexporteure sind an Kriegen im Nahen Osten interessiert, um ihre Waffenindustrien anzukurbeln, und deshalb entwerfen sie immer wieder militärische Drohszenarien, die den Frieden in der Region verhindern, „Die Welt hat nach dem Fall des Kommunismus 1989 nach einem anderen Feindbild gesucht und dieses im Islam gefunden, daher verschwört sich die Weltgesellschaft gegen die islamische Welt, „Die jüdische Lobby in den USA steckt hinter der ausbeuterischen Politik der USA im Nahen Osten, „Die Kreuzzüge gegen den Islam gehen auch heute weiter, allerdings unter einem anderen Label" und so weiter.

    Als Kind palästinensischer Eltern, die 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden und seitdem als Flüchtlinge in der Welt nach einer neuen Heimat suchen, bin ich persönlich mit diesen Erklärungsmustern aufgewachsen und höre sie noch heute, wenn ich mich auf Reisen in der arabischen Welt befinde. Diese Erklärungsmuster suchen nach einem Schuldigen. Dies ist aber zu wenig, wenn Muslime es ernst damit meinen, ihre Situation verändern zu wollen. Schuldzuweisungen führen in die Irre. Und so geht es auch mir nicht darum, die Schuld bei den Muslimen zu suchen, es geht nicht um die Schuldfrage. Was uns weiterbringt, ist ein tiefes Verstehen der Strukturen der Unterdrückung im islamischen Kontext. Diese Strukturen sind nicht allein in der Religion des Islams zu finden, alle Religionen tragen Potenziale zur Befreiung wie auch zur Unterdrückung in sich. Es hängt letztendlich von den jeweiligen Akteuren ab, welche Potenziale sich besser entfalten können. Als muslimischer Theologe geht es mir in diesem Buch an erster Stelle darum, die religiösen Strukturen der Unterdrückung und Bevormundung von Menschen im Islam zu untersuchen, um in einem zweiten Schritt zu zeigen, wie sie überwunden werden können. Mein Ziel ist es, ein Verständnis vom Islam zu entwerfen, das die Befreiungspotenziale dieser Religion zur Entfaltung bringt. Damit will ich den Diskurs der Schuldzuweisungen und den daraus resultierenden Opferdiskurs unter vielen Muslimen überwinden. Ich möchte mit einem analytischen Blick nach hinten in die Vergangenheit schauen, um mit einem nach Lösung suchenden Blick nach vorne in die Zukunft zu blicken und Muslimen Wege aufzeigen, wie wir uns von, auch latenten, Unterdrückungsstrukturen befreien können.

    Das Buch besteht aus zwei Teilen, jeder präsentiert zehn Thesen: Der erste Teil setzt sich mit dem manipulierten Islam, seinen Hintergründen in der Geschichte und der Gegenwart sowie mit seinen Auswirkungen auf die Muslime hier in Deutschland auseinander. Der zweite Teil setzt sich mit der Frage nach dem Ausweg aus dem manipulierten Islam auseinander und damit, wie sich aufgeklärte Alternativverständnisse des Islams durchsetzen können. Es entwirft das Bild eines aufgeklärten Islams, der die Probleme und die Herausforderungen eines manipulierten Islams überwindet.

    Ich möchte, dass die Botschaft dieses Buches möglichst viele Muslime wie Nichtmuslime erreicht, und vermeide es deshalb, eine Fachsprache zu verwenden, die Vorwissen über den Islam und seine Geschichte voraussetzt.¹ Das kritische Denken, das das Gewohnte und Altbewährte hinterfragen will, setzt kritische Impulse voraus, und genau das versuche ich in dem ersten Teil des Buches (Kapitel 1 bis 10). Im zweiten Teil (Kapitel 11 bis 20) geht es mir um den Entwurf eines Islams, der im Menschen das Subjekt sieht, also ein selbstbestimmtes und freies Wesen.

    Für die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens, die wertvollen auch inhaltlichen Rückmeldungen und die große Geduld danke ich von ganzem Herzen meinem Lektor, Herrn Dr. German Neundorfer vom Verlag Herder, mit dem ich seit acht Jahren eng zusammenarbeite. Nur durch seine professionelle Arbeit und seine große Unterstützung, die ihn manches Mal bis in die frühen Morgenstunden wachgehalten hat, konnte dieses Buch in dieser Form erscheinen.

    Ich danke Herrn Dr. Yassine Yahyaoui und Herrn Dr. Abderrahmane Zaatri für den intensiven inhaltlichen Austausch und für die vielen hilfreichen Anmerkungen sowie Frau Dr. Dina El-Omari, Herrn Dr. Stephan Kokew und Herrn Recep Aktas für ihr kritisches Lesen großer Teile des Manuskripts und für ihre redaktionelle Unterstützung.

    Ich bin Frau Hildegard Mangels-Heine für ihr gewissenhaftes Korrekturlesen des Manuskripts und für ihre große Unterstützung sehr dankbar.

    Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Detlef Pollack für den fruchtbaren Austausch, vor allem im Sommersemester 2019 im Rahmen einer seiner Lehrveranstaltungen, wo sich die Idee für dieses Buch konkretisiert hat.

    Besonderer Dank gebührt Frau Rosemarie Neumann für die vielen anregenden Gespräche sowie für ihre kritischen und mutigen Reflexionen zum Verhältnis von Religion und Macht.

    Ich danke der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die durch die Etablierung des Zentrums für Islamische Theologie optimale Rahmenbedingungen für die Forschung im Bereich der islamischen Theologie geschaffen hat. Ich bin ebenfalls dem Exzellenzcluster „Religion und Politik" der Universität Münster für die vielen Möglichkeiten der interdisziplinären Vernetzung sehr dankbar.

    Danken möchte ich meinen Studierenden am Zentrum für Islamische Theologie der WWU Münster, die mich mit ihren Fragen, Gedanken und Diskussionsbeiträgen immer wieder bereichern. In diesem Dank eingeschlossen sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster.

    Ich bin dem Verlag Herder, der mir ermöglicht hat, auch dieses Buch in seinem Hause zu veröffentlichen, sehr dankbar.

    Münster, 24. 02. 2020

    1. Teil:

    Der Verrat am Islam

    1. Die Anfänge der Manipulation des Islams

    These: Nachdem Mohammed im Jahr 610 damit begonnen hatte, den Islam als Botschaft der Freiheit und der Selbstbestimmung des Menschen zu verkünden, initiierten autoritäre Herrscher bereits ab 661 eine Gegenbewegung: Aus dem selbstbestimmten Menschen sollte nun ein Objekt des Gehorsams und der Unterwerfung werden. Diese Gegenbewegung bestimmte nicht nur damals, wie sich der Islam entwickelt hat, ihre Auswirkungen reichen bis heute tief in die muslimischen Gesellschaften und die Köpfe vieler Muslime.

    In seinem Buch über die Unterdrückungsstrukturen im Islam attestiert Mohammad Khatami, der ehemalige Staatspräsident Irans, für die islamische Welt seit 661: „Trotz allen Unterschieden zwischen den Regierungsformen und den politischen Systemen in den islamischen Gebieten in ihren unterschiedlichsten historischen Phasen, teilen diese dennoch einen einzigen gemeinsamen Nenner, und zwar zu allen Zeiten und an allen Orten: die Tyrannei sowie Gewalt und Manipulation als Grundlage politischer Macht. Man kann mit anderen Worten sagen: Der politische Geist und seine Implikationen konzentrierten sich nur auf den einen Machthaber, daher herrschte zu all diesen Zeiten nur Unterdrückung."¹ Tyrannei und Unterdrückung, so Khatami, seien die Hauptursachen der Dekadenz der islamischen Welt.²

    Dieser Befund Khatamis, der in Iran als großer Reformer galt, sich jedoch gegen die dortigen konservativen Kräfte nicht durchsetzen konnte, wird von den historischen Fakten gestützt. So hart es klingen mag: Khatamis Fazit einer seit dem Jahr 661 in der islamischen Welt vorherrschenden Unterdrückungsstruktur ist richtig. Doch bevor wir dies genauer erklären, müssen wir einen Blick auf die Zeit vor 661 werfen, auf jene Zeit der Verkündigung Mohammeds in den Jahren 610 bis 632 und die Epoche der ersten vier Kalifen zwischen 632 und 661.

    Der Koran fasst die Hauptbotschaft der Verkündigung Mohammeds und damit die Essenz des Islams in einem Satz zusammen: „Gott hat dich, Mohammed, ausschließlich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt." (Q 21:107) Nur wenige Jahre nach dem Tod Mohammeds war davon allerdings kaum noch etwas zu spüren. Aus einer Botschaft der Barmherzigkeit war die Legitimation von Macht und Tyrannei geworden. Die Kalifen und sonstigen islamischen Herrscher hatten damit begonnen, sich mit religiösen Titeln zu schmücken, um damit ihre Macht im Namen des Heiligen zu begründen und dem Volk zu suggerieren, sie seien die Vertreter Gottes auf Erden. In seinem Namen würden sie sprechen, sie seien sein Sprachrohr, weshalb sie darauf Anspruch hätten, dass ihnen bedingungslos gehorcht werde und man sich ihnen unterwerfe – im Namen des Islams. Und noch bis heute verwenden nicht wenige muslimische Herrscher genau diese Rhetorik, um ihre Herrschaft, die meist nicht vom Volk legitimiert ist, durch den Verweis auf das Heilige zu rechtfertigen. Dabei geht es ihnen nicht um den Islam, allein der Erhalt ihrer Macht ist ihr Ziel. Und da diese Instrumentalisierung des Islams schon wenige Jahre nach dem Tod Mohammeds begonnen hatte, waren die Konsequenzen für das damals erst entstehende Selbstverständnis des Islams und der islamischen Theologie gravierend. Denn mit einer Religion der Liebe und Barmherzigkeit, die Spiritualität und ethische Grundsätze sowie Grundsätze der Freiheit und Gleichheit predigt, lassen sich autoritäre Machtstrukturen viel schwieriger begründen als mit einer Religion der Unterwerfung.

    Die kurz nach dem Tod Mohammeds begonnene politische Manipulation des Islams hatte dramatische Konsequenzen für dessen weitere Entwicklung – und zwar in jeglicher Hinsicht. Bis heute ist davon nicht allein das Gottesbild des Islams betroffen, sondern auch sein Menschenbild, betroffen ist der Stellenwert, der der Freiheit des Menschen beigemessen wird, das Verstehen des Korans, das Verhältnis der Religion zur Politik und vieles mehr. Ein Großteil dessen, was wir Muslime heute als islamisch bezeichnen, ist lediglich Produkt einer politischen Manipulation.

    Es ist daher keine Übertreibung, zu behaupten, dass sich der Islam seit der Zeit kurz nach dem Tod Mohammeds in der Geiselhaft autoritärer Herrscher befindet – bis heute.

    Um die Ursprünge dieses Problems verstehen und nachvollziehen zu können, aber auch um das Problem zu überwinden und einen neuen, zukunftsweisenden Entwurf des Islams darzulegen, müssen wir die Geschichte der Geißelung des Islams durch diese Herrscher rekonstruieren. Beginnen wollen wir unsere Reise mit Mohammed selbst, dem Verkünder einer Botschaft der Freiheit.

    Mohammed als kritischer Reformer und Aufklärer

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