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Tagtraum
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eBook313 Seiten4 Stunden

Tagtraum

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Über dieses E-Book

Das Überschreiten von Grenzen, der Übergang vom Alltäglichen zum Besonderen, vom Wachsein zum Traum, vom scheinbar Normalen zur Manie – dieser manchmal nur schmale Grat beherrscht thematisch die Erzählungen von Michael Mittmann. Dafür werden die unterschiedlichsten Szenarien entworfen: ein Spaziergang durch Dublin, die nächtliche Wache auf einem Segelboot in der Biskaya, der Kampf mit einem neuen Redaktionssystem. Selbst ein Umzug aufs Land gerät völlig außer Kontrolle und sprengt die Grenzen des Vorstellbaren. Die Protagonisten ringen darum, das richtige Maß zu finden; sei es in der Liebe, beim Erinnern, beim Sport, beim Leben überhaupt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Dez. 2019
ISBN9783750473966
Tagtraum
Autor

Michael Mittmann

Michael Mittmann, geboren 1952 in Hannover, studierte ebendort an der Leibniz Universität Politik und Soziologie mit dem Abschluss Magister Artium. Nach einiger Zeit als Promovend entschied er sich gegen eine Hochschultätigkeit und arbeitete zunächst in verschiedenen Jobs wie Dachdecker, Möbelpacker und freier Sportreporter, bevor er ein Volontariat bei der Deister-Leine-Zeitung in Barsinghausen machte. Die Liebe zum Meer zog ihn 1988 nach Leer, dann ins Rheiderland, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2016 Lokalredakteur bei der Ostfriesen-Zeitung war. Parallel dazu hat er an Kurzgeschichten gearbeitet, die in verschiedenen Anthologien erschienen sind. Tagtraum ist sein zweier Erzählband, der postum von seiner Ehefrau Insa Segebade herausgegeben wurde.

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    Buchvorschau

    Tagtraum - Michael Mittmann

    Inhaltsverzeichnis

    St. Michan's Church

    Sauber

    Hundewache

    Wiedersehen

    Ameisenkönig

    Probezeit

    Tagtraum

    Systemfehler

    45 Minuten

    Überraschung

    Der Schrank im Schlafzimmer

    Dunkle Erinnerungen

    Zweifel

    Aufs Land

    Herbstanfang

    Traumschiff

    Entdeckung

    Entdeckung (Variation)

    Rückkehr

    Fliege

    Die Grabbeigabe

    Ehrenamt

    Unter den Ranken

    Das große Los

    Nur eine Geschichte oder: Das Wrack der Pegasus

    Sucht

    Unterbrechung

    Gotcha

    Die weiße Stadt

    St. Michan's Church

    Er wachte vom Geräusch des Regens auf, der aufs Fensterbrett tropfte. Eine Zeitlang gelang es ihm, das Geräusch in einen Traum einzubeziehen, in dem er in rasender Fahrt über Stromschnellen jagte, während am Ufer eine menschenleere Landschaft mit verlassenen Häusern und stillgelegten Fabriken vorbeizog. Dann kenterte sein Boot, er geriet mit dem Kopf unter Wasser, das ihm in Mund und Nase drang. Das Klirren von Tassen und Tellern aus der Küche irgendwo unter ihm weckte ihn und bewahrte ihn vor dem Ertrinken.

    Unten erwartete ihn die geballte Wucht eines irischen Frühstücks. Vorsichtig schob er die Sausages und die kross gebratene Scheibe Blutwurst an den Rand des Tellers, schnitt den Frühstücksspeck in schmale Streifen und teilte das Rührei mit der Gabel in winzige Bissen auf, die er bedächtig wie ein Testesser in einem Drei-Sterne-Restaurant kaute. Dabei spülte er reichlich mit Tee nach, den er so kräftig mit Milch verdünnte, dass er seine Wirtin um ein zweites Kännchen bitten musste.

    Von seiner Bleibe in der Camden Row waren es nur ein paar Schritte bis St. Stephen's Green, den der Reiseführer als einen möglichen Ausgangspunkt für eine Sightseeing-Route vorschlug. Atemholen vor dem Start. Die Schwäne auf dem Teich streckten ihre Hälse, spreizten ihre Federn, stellten sich zum keltischen Reihentanz auf, und die Inschriften auf den Grabsteinen des alten Hugenottenfriedhofs blinzelten ihm träge zu. Es klarte auf, der Regen ging in ein feines Nieseln über, und von der See her kam ein frischer Wind auf. Die Luft tat ihm gut.

    Von St. Stephen's Green war es nur ein Katzensprung bis ins Zentrum. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Leinster House in der Kildare Street mit seinen dorischen Säulen, den hohen, schmiedeeisernen Toren und der prachtvollen Kuppel. Das heutige Parlamentsgebäude war 1745 als das Stadthaus der Herzöge von Leinster erbaut worden, wusste er aus dem Reiseführer. Alle Schätze Dublins, ja Irlands, lagen auf seinem Weg. Die Nationalgalerie mit Bildern von Rembrandt, Tizian, Goya, Michelangelo und Turner. Die National Library mit ihrer Sammlung von Erstdrucken und alten Landkarten. Das Nationalmuseum mit der Tera-Brosche aus dem 8. Jahrhundert und dem Cross of Cong, einem Prozessionskreuz aus Eichenholz, beschlagen mit Tierornamenten aus Silber und vergoldeter Bronze, mit Reliquienschreinen, reich verziert mit Gold, Silber und Edelsteinen. Jede einzelne Station eines mehrstündigen Besuchs würdig, ein Muss für jeden Touristen. Er verschob es auf später.

    Das geschichtsträchtige Trinity College mit der altehrwürdigen Old Library, Ausstellungsort des Books of Kells und zwei der ältesten irischen Harfen, ließ er rechts liegen, als er in die Leinster Street abbog und durch die Nassau Street Richtung Grafton Street zog. Das moderne Dublin. Straßencafés, Boutiquen, Läden mit teurem Schnickschnack. Hand knit wool, Jacketts aus Donegal-Tweed, pompöse Kristall-Leuchter aus Waterford, Aschenbecher aus grünem Connemara-Marmor. Porzellanfiguren, Schäferin und Schäfer, aus Fermanagh, Silberschmuck, Keramik.

    Er schlenderte ziellos von Schaufenster zu Schaufenster. Eine Fußgängerzone wie an jedem anderen beliebigen Ort der Welt. Austauschbar. Vor einer Einkaufspassage ein Straßenmusiker mit Gitarre. Drei oder vier Akkorde zu einer getragenen Melodie. Etwas Irisches, er kannte die Melodie, musste sie erst kürzlich gehört haben. „My young love said to me, my mother won't mind. And my father won't slight you for your lack of kind, formten sich in seinem Kopf die Worte. Als er genauer hinhörte, stellte er allerdings fest, dass er sich geirrt hatte. Das war nichts Irisches, der Musiker da vor den Schaufenstern spielte nur eine schräge Fassung von „Blowin' in the wind.

    Irische Folkmusik, wo gab es die in Dublin? Vage Erinnerung an einen Abend mit Harp und Guinness. Eine Seitenstraße von Templebar, hier irgendwo in der Nähe. „She moved through the fair". Dort hatte er den Song gehört. Begonnen hatte die Musik mit rasend schnell gespielten Reels und Jigs. Eine Tin Whistle, die irische Blechpfeife, begann mit einer hüpfenden, sich ständig wiederholenden Melodie. Ein Bodhran kam dazu, eine Fiedel, zuletzt die Gitarre. Jedes Instrument schien für sich eine eigene Melodie zu spielen. Die Melodien rankten sich umeinander, fielen für ein paar Takte zusammen, trennten sich wieder und endeten in einem langgezogenen gemeinsamen Ton.

    Eine neue Melodie. Wieder machte die Tin Whistle den Anfang, langsam diesmal, der Spieler ließ die Töne kunstvoll ineinander übergehen, indem er die Finger langsam von den Tonlöchern zog und wieder senkte. Eine Frauenstimme setzte ein. Traurige Melodie, den Text konnte er nicht verstehen. Gälisch wahrscheinlich. Nach und nach kamen zu den Tönen die Bilder wieder. Ein Pub, in dem die Gäste in mehreren Reihen hintereinander an der Theke standen. Dahinter fünf oder sechs Bedienstete in schwarzen Polohemden mit einer goldenen Harfe auf der Brust, die ununterbrochen Bier zapften. Guinness, Harp, Smithwicks. Ein alter Mann mit weißen Haaren hob die Tin Whistle an den Mund. Eine blonde Frau hielt mit geschlossenen Augen die Geige unters Kinn geklemmt, strich mit dem Bogen über die Saiten und klopfte mit dem Fuß den Takt dazu. Ein Untersetzter mit Stirnglatze bewegte den Bone, den an beiden Enden verdickten Klöppel, in kreisförmigen Bewegungen aus dem Handgelenk über das Trommelfell des Bodhrans.

    An der Gitarre ein junges Mädchen. Schwarz gefärbte Haare, streichholzkurz, Nietenarmbänder, Lederjacke, zerrissene Jeans. Ein Punkmädchen spielte Folk. Ihre Hände auf den Stahlsaiten der Gitarre waren klein, aber kräftig. Breite, kurze Finger mit wohlgeformten Nägeln. Schwarz lackiert. Jeder Fingernagel ein kleines, perfekt gerundetes Oval, das metallisch schwarz glänzte.

    An den Fingern der rechten Hand trug sie weiße Kunststoffpicks. Sie tanzten in komplizierten Figuren über die Saiten. Mit einem kräftigen Druck des Daumens betonte sie den Bass, auf dem sich ein filigranes Geflecht von Melodietönen aufbaute, das Zeige- und Mittelfinger spielten. Es war, als bewegten sich die Finger zu der Melodie, die sie doch in Wirklichkeit erzeugten. Behäbig wirkten im Vergleich dazu die Finger der linken Hand auf dem Griffbrett. Blieben mehrere lange Takte im Dreieck eines D-Dur-Griffes, hielten einen a-moll-Akkord, sprangen für drei oder vier Takte in einen Barrégriff. Mehrere Male wiederholte sich dieses Muster, ehe es mit einem D-Dur-Akkord endete.

    Das letzte Stück. Einzelne Töne, wie auf der Harfe gespielt, die sich zu einem Akkord zusammenfügten. C-Dur, ganz kurz, dann D-Dur, länger. Dann setzte ihre Stimme ein. Hoch, glasklar, die Instrumente übertönend. „My young love said to me, my mother won't mind. And my father won't slight you for your lack of kind. Merkwürdig, das Lied eines jungen Mannes von einem Mädchen gesungen. Aber die Stimme passte zur Melodie, als wäre das Stück für sie geschrieben worden. „And she stepped away from me, and this she did say, it will not long, love, till our wedding day. Langsam, getragen, fast feierlich. Fremdartig zugleich, weit weg von jedem beliebigen deutschen Volkslied.

    Er schüttelte den Kopf, um die Bilder, um die Melodie und die Worte aus seinen Gedanken zu bekommen und sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es war nur ein kurzes Stück von der Grafton Street mit ihren teuren Boutiquen hinüber nach Templebar, wo nachts das Leben tobte. Jetzt schien es, als ob das Vergnügungsviertel nochmal Atem holte vor der nächsten langen Nacht. Vor der Palace Bar quälten ein Concertina-Spieler und einer mit Banjo eine alte Bob-Dylan-Melodie, schon wieder Dylan: „It ain't no use to sit and wonder why, babe. It don't matter, anyhow."

    Aus dem Messes Maguires am Burgh Quay klangen gedämpfte Saxofontöne, Soundcheck wahrscheinlich für den Abend. Vorbei an der Q-Bar, vor der am Abend zuvor eine wohl hundert Meter lange Warteschlange gestanden hatte, überquerte er die stark befahrene Westmorelandstreet, hielt sich links und bog in die Fleetstreet ein. Aus dem Oliver St. Johns Gogarty kam eine Gruppe Japaner, die sich mit ihren Videokameras vor dem Eingang gegenseitig filmten. Vorbei am Auld Dubliner, der Quay Bar, dem Fitzsimmons. Aus dem Porterhouse die Töne eines Klaviers, das einen Boogie anstimmte.

    Er überquerte den Liffey auf der Half-Penny-Bridge. „And she stepped away from me, and she moved through the fair." Er hielt sich rechts und ging über den Bachelor's Walk zur O'Connell Street. Vorbei am Hauptpostamt, dem Symbol des Osteraufstands von 1916. Eine wuchtige neoklassizistische Fassade, daneben Fast-Food-Läden und Spielhallen. Ein Fußweg, gesäumt von Sitzbänken auf dem breiten, von Bäumen bestandenen Mittelstreifen der Straße, führte zu einem gewaltigen Brunnen mit einer vier Meter langen, tonnenschweren Bronzestatue. Der Brunnen war trocken. Statt Wasser enthielt er bergeweise Hamburger-Pappschachteln und Plastiktüten aus dem gegenüberliegenden Burger King. Und wieder die Mitglieder der japanischen Reisegruppe, die sich vor dem bronzenen Monstrum gegenseitig filmten.

    Parnell Street, Dominick Street, Bolton Street. Die Pubs wurden schäbiger. Frauen, die auf klapprigen Kinderwagen billiges Plastikspielzeug zum Verkauf anboten. Flaschenscherben, leere Zigarettenschachteln und Erbrochenes auf dem Bürgersteig. „And fondly I watched her move here and move there." Aus einer Kneipe torkelte ihm ein Betrunkener entgegen, stellte sich ihm in den Weg und hielt die Hand auf. Er zog seine Geldbörse aus der Tasche und ließ zwei Münzen in die schmutzige Hand fallen. Der Mann knurrte nur, ließ das Geld in der Tasche seiner zerlumpten Jacke verschwinden und hielt wieder die Hand auf. Erst als er zwei weitere Euromünzen herausrückte, zog der Betrunkene ohne ein Wort ab und verschwand wieder in der Kneipe.

    Bolton Street, King Street. Mietskasernen, von deren Fassade der Putz blätterte. Mit Brettern vernagelte Schaufenster. Schornsteine, auf deren bröckelnden Köpfen kränkliches Grün spross. Stinkende Müllhaufen. Auf einem Grünstreifen, der von Brennnesseln überwuchert war, ein rostiges Autowrack. Eine tote Katze lag in einem Hinterhof neben einer zerfetzten Matratze.

    Nachts sollte es hier gefährlich sein. Jugendbanden, die Autos aufbrachen. Überfälle. Besser, man blieb in den hell erleuchteten Straßen von Templebar. „And then she turned homeward with one star awake. Like the swan in the evening moves over the lake." Schwarze, glänzende Haare, mit Gel hochgekämmt. Blaue Augen. Schwarz geschminkter Mund und schwarz lackierte Fingernägel. Schwarz, glänzend und oval schimmerte es auch unter dem kurzen T-Shirt auf der weißen Haut über dem Bauchnabel. Emaille, Glas oder Stein?

    In der Church Street stellte sich ihm der wuchtige, graue Turm von St. Michan's in den Weg. Granit, quadratischer Grundriss, Zinnen über Fenstern mit Rundbögen. Dahinter das unscheinbare Kirchenschiff, nur wenig breiter als der Turm, dann ein geräumiges Querschiff. Auf dem Kirchhof windschiefe Grabsteine und keltische Kreuze. Tschilpende Spatzen störten die Stille. Vor der Kirche ein knappes Dutzend Besucher, die auf Einlass warteten wie eine Büßergesellschaft. „Please, come in. Im Tor ein Mann, vielleicht Ende zwanzig, Pferdeschwanz, Hawaiihemd, Jeans, Ring im Ohr. Drinnen Sonnenlicht hinter Glasfenstern, die bunte Schatten auf die Holzschnitzereien der Orgelempore warfen. Vierundzwanzig Musikinstrumente, aus einem einzigen Holzblock geschnitzt. Händel hatte schon an der Orgel gesessen, den „Messias vollendet vor fast dreihundert Jahren. Ihm blieb der Ruhm, der Tischler hatte für seine Schnitzereien acht Pfund bekommen. Trostlose Kirche. Alt. Verbraucht. Ebenholz und Elfenbein der Orgeltasten abgegriffen, die Manuale verstaubt. Namen und Jahreszahlen des irischen Guide in seinem breiten Englisch. Vorbei, bedeutungslos. Sinnlos. Da draußen, da war das Leben. In den neonerleuchteten Straßen von Templebar.

    Eine Kanzel auf Rollen, die sich schieben ließ. Ein verstaubter, hölzerner Adler. Prächtig geschnitzte Honoratiorenbänke. Auf dem Steinboden davor ein menschlicher Schädel. „Der Kopf von Irlands größtem Feind, Oliver Cromwell", behauptete der mit dem Pferdeschwanz, seine Mundwinkel zuckten dabei. Neben dem Altar ein prächtig geschnitzter breiter Stuhl wie für einen Kirchenfürsten. In Wirklichkeit aber saßen hier früher die armen Sünder, die ihre Beichte öffentlich vor der Gemeinde ablegen mussten.

    Erinnerungen an gedämpftes Licht, den Geruch von kaltem Weihrauch. An Kerzenwachs und feuchte Mauern, auf denen der Salpeter blühte. Wenn er auf der Kniebank stand und sich auf den Zehenspitzen streckte, konnte er gerade über die obere Kante der Bank sehen. Schwarze Gesangbücher mit Goldschnitt. Setz dich hin! Knie dich hin! Steh auf! Sitz ruhig! Es war kalt. Weihrauchduft und der Geruch von nassen Mänteln. Ihm war schwindlig. Übelkeit erlöste ihn vom Warten auf die Wandlung, wenn die Messdiener mit ihren Glöckchen klingelten und pappige Hostien sich in Fleisch verwandelten. Das musst du beichten! Eine Todsünde! Wer am Sonntag nicht zur Kirche geht, begeht eine Todsünde! Ausgenommen sind nur die Kranken. Wer eine Todsünde nicht beichtet und stirbt, kommt in die Hölle! Mit lässlichen Sünden kommst du ins Fegefeuer! Die Erbsünde hat jeder! Kommt von der Schlange aus dem Paradies. Die Versuchung lauerte überall. Am schlimmsten aber waren die Gedanken. Habsucht. Neid. Unkeuschheit. In Gottes Haus suchten sie ihn mit Vorliebe heim. Je mehr er sie bekämpfte, desto stärker wurden sie. Auch heute noch das gleiche erstickende Gefühl wie damals. Gott wohnte im Tabernakel auf dem Altar. Er sah alles. Dunkle, staubige Ecken unterm Altar. Sie griff mit ihren Kinderhänden mit den schwarz lackierten Nägeln nach dem Saum des kurzen T-Shirts und zog es sich über den Kopf. Sie hatte nichts darunter. Der schwarze Stein in ihrem Bauchnabel leuchtete.

    Der Zugang zur Krypta befand sich an der verwitterten Rückfront von St. Michan's. Der böige Wind hatte Wolken vor die Sonne geschoben. Eine Steintreppe führte nach unten. Gerade so breit, dass man ein Guinnessfass hinunterrollen könnte. Hinter der Tür ein schmaler Gang, von dem links und rechts Gewölbe mit Eisengittern abgetrennt waren. Die Dubliner Mumien, die wahre Touristenattraktion von St. Michan's. Was war dagegen Händels Orgel? Der Führer betete die möglichen Erklärungen herunter wie eine Litanei, warum sich die Leichen hier unten frisch hielten. Die immer gleichbleibende Temperatur. Die trockene Luft, verursacht durch die Wände aus Kalkstein. Methan aus einer unterirdischen Müllkippe.

    Im Halbdunkel hinter den Eisengittern eine unübersehbare Zahl von Särgen. Särge jeglicher Größe, jeglichen Alters und in jeglichem Zustand des Verfalls, im Verlauf von Jahrhunderten zu einem wüsten Durcheinander angehäuft. Bram Stokers Familie soll hier unten liegen. Der Freiheitskämpfer Robert Emmet und die Brüder John und Henry Sheares. Sie knüpften 1796 Kontakte zum revolutionären Frankreich. Das unterstützte den Aufstand gegen die englischen Besatzer mit zwei Seelenverkäufern, die irgendwo an der Westküste strandeten. Die Besatzung ergab sich nach kurzem Kampf und wurde über die Planke geschickt. Die beiden Brüder wurden verhaftet und zum Tod durch den Strang verurteilt. Sollte nach dem Hängen noch ein Funken Leben in ihnen sein, sollten sie gevierteilt, der Kopf ihnen abgeschlagen, der Bauch aufgeschlitzt und die Gedärme herausgerissen werden. Der Guide las es ab von einer vergilbten Urkunde, die im Licht einer trüben Funzel an der Kellerwand hing.

    Eine Kleinstadt in Särgen. Särge mit prunkvollen Bronzebeschlägen. Einfache Kisten aus Tannenholz. Kleine, weiße Kindersärge. Hinten in einer Ecke ein mächtiger, steinerner Sarkophag. Der Staub auf ihnen musste Jahrhunderte alt sein. Bei einigen war das Holz morsch, mit breiten Rissen, der Deckel halb offen. Er versuchte, nicht so genau hinzusehen. Hier ein knöchernes Bein, dort ein staubiger Arm.

    Zu viert quälten sie sich mit dem schweren Eichensarg die Treppe hinunter. Nebel, leichter Nieselregen. Mit Guinness und Whisky hatten sie sich Mut angetrunken für die Aufgabe, die ihnen bevorstand. Eine Verbeugung vor dem Toten im Sarg gemacht und sich ein letztes Mal hastig bekreuzigt. Auf der schmalen Treppe konnten nur zwei den Sarg richtig fassen. Einer stand eine Stufe weiter unten und stützte seinem Vordermann den Rücken, damit er nicht von der Last die Treppe nach unten geschoben wurde. Der Vierte stand ganz oben und hielt seinen Vordermann um die Taille, dass er nicht vom Gewicht des Sargs zu schnell hinuntergezogen wurde.

    Die Holzkiste setzte ein paarmal hart auf den Stufen auf und wäre um ein Haar ins Rutschen gekommen. Die Vier hatten Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Im Inneren des Sarges rumpelte es. Der Schlüssel klemmte im Schloss, die Tür zur Gruft ließ sich nur mühsam Stück für Stück aufstoßen. Dann sorgte das Gewicht des Sarges für den nötigen Schwung.

    Kellerluft. Muffig. Feucht. Geruch von feuchter Erde und verfaulten Blättern. Schwach nach Pilzen. Dazu etwas, was er nicht genau bestimmen konnte. Ein kalter Luftzug aus dem Inneren der Katakomben trocknete den Schweiß auf seiner Stirn und ließ ihn frösteln. Der Gang innen war etwas breiter, so dass sie wieder zu viert zufassen konnten. Sie verständigten sich im Flüsterton, als könnte sie jemand hören. Es war dunkel bis auf einen schwachen Widerschein des Mondes, der gerade mal den Ausschnitt der Tür ausfüllte.

    Die ersten beiden Gitter links und rechts des Gangs waren verriegelt. Sie tasteten sich weiter ins Dunkel hinein, wobei sie sich flüsternd verständigten. Bis auf eines waren alle Gitter verschlossen. Offenbar hatte man es für ihre Zwecke geöffnet. Es erforderte eine erhebliche Kraftanstrengung, das Tor aufzustoßen. Zu zweit mussten sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen stemmen, bis sich das störrische Gitter misstönend in seinen Angeln bewegte. Dahinter standen Särge übereinander gestapelt. Nur ein schmaler Gang war frei. Seine Hand fuhr über eine glatte Holzfläche knapp unter Brusthöhe rechts von ihm, auf der fingerdick Staub lag.

    „Hierhin!"

    Auf ein halblautes Kommando hin wuchteten sie den schweren Eichensarg hoch, stemmten ihn auf die Ablage. Sie war zu schmal, der Sarg drohte zu kippen. Zu viert stemmten sie sich dagegen und drückten ihn auf den schmalen Vorsprung. Es war, als ob von der anderen Seite etwas aus dem Dunkel dagegen drückte. Ruckweise versuchten sie, den Widerstand zu überwinden. Nach fünf oder sechs gemeinsamen Stößen ging es leichter, Holz schabte auf Holz, der Sarg passte in die Lücke. Noch ein letzter Ruck, dann saß die Kiste für die Ewigkeit.

    Rumpeln. Krachen. Holz barst. Etwas Schweres fiel auf den Steinboden im Dunkeln hinter dem Sarg. Schweigend drehten sie sich um, hin zum offenen Gitter. Er stolperte, bückte sich und hatte einen Arm- oder Beinknochen in der Hand. Nur knapp überdeckt mit einer straff gespannten Haut, die sich wie Leder anfühlte. Er unterdrückte einen Schrei und hastete den anderen drei hinterher, die am Gitter auf ihn warteten. Er drückte es so hastig zu, als sei jemand hinter ihm her. Eilig verließen sie die Gruft, der Schlüssel drehte sich widerspenstig im Schloss. Jeder murmelte einen kurzen Gruß, dann gingen sie ohne weitere Worte auseinander.

    Das schwarze, glänzende Piercing in ihrem Bauchnabel. Stein? Glas? Emaille? Schwarz wie ihre lackierten Fingernägel. Da lag es. Vor ihm auf dem Steinfußboden. Schmal, oval geformt und glänzend. Dann sah er noch eins. Und noch eins. Kein Schmuckstück aus schwarzem Glas. Kleine, schwarze Käfer, deren Panzer im Licht der Neonröhren glänzten. Es knackte, als er auf einen von ihnen trat.

    Die Besuchergruppe machte vor einer der Katakomben Halt. Er konnte nichts sehen, die Vorderleute versperrten ihm die Sicht auf das, was ihr Guide in seinem harten irischen Englisch wortreich beschrieb. Geradezu marktschreierisch pries er den Zustand der Mumien an, die sich über so viele Jahrhunderte erhalten hatten. „See the details, which are still existing. You still can see the ears, the fingernails." Zwei Frauen in offenen Särgen, die einen Mann in ihre Mitte nahmen. Links eine Nonne, rechts eine alte Frau, dem Mann in der Mitte hatte man die Hand abgeschlagen. Möglicherweise ein bestrafter Dieb. Ein vierter Sarg stand quer hinter den Dreien. Dahinter die riesige Leiche eines weiteren Mannes, dem man die Füße abgehauen hatte, damit er in den Sarg passte. Die Unterschenkel hatte man kreuzweise übereinander gelegt. So habe man es mit Kreuzrittern gemacht, die aus dem Heiligen Land zurückgekehrt waren, erklärte der Führer.

    Die Besucher vor ihm waren weitergezogen, der Blick auf die Nische war nun frei. Er trat näher an das eiserne Gitter heran und erschrak. Diese vier ausgetrockneten Mumien hatten nichts Menschliches an sich, es waren nur noch grässliche Zerrbilder einst lebendiger Menschen. Kein Fleisch, kein Fett, keine Muskeln. Straffe, braune Haut spannte sich lederartig über Knochen, die sich an den Knien und Hüften knotig verdickten. Die Bauchdecke war aufgerissen, darunter traten die bloßen Rippen hervor. Totenköpfe mit leeren Augenhöhlen, keine Nasen, der Unterkiefer heruntergefallen, die Münder weit aufgerissen.

    Wie zum Hohn hatte der Verfall einzelne Körperteile ausgespart, wenn man genau hinguckte. Er blickte auf gerundete Ohrläppchen, denen die Jahrhunderte nichts hatten anhaben können. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Er meinte, die Orgel oben in der Kirche zu hören. Die Melodie, die ihm immer durch den Kopf gegangen war. Einfach, getragen, C-Dur, D-Dur. Der Text der letzten Strophe, jetzt fiel er ihm wieder ein: „Last night she came to me, my dead love came in. So softly she came that her feet made no din. As she laid her hand on me and this she did say. It will not be long, love, till our wedding day." Er sah auf die Nonne. Sein Blick glitt abwärts vom Totenkopf zu den perfekt erhaltenen Fingernägeln, die metallisch und schwarz glänzten.

    Sauber

    Sie fühlte sich gleich zu Hause in ihrer neuen Umgebung. Das Zimmer war einfach, aber sauber. Das Bett Rüster, poliert, mit orangefarbener Tagesdecke. Dazu passend ein heller Schreibtisch mit grauer Schreibunterlage. Aus dunklerem Holz, Eiche, der antike Kleiderschrank. Stühle. Ein Zweiersofa aus beigem Kunstleder auf einem Teppich in hellen Pastelltönen. Zwei dazu passende Sessel. Wenn sie aus dem Fenster sah, blickte sie auf einen Park mit alten Bäumen. Kein Telefon, kein Fernseher, keine Bilder an den Wänden, und zumindest darauf konnte sie verzichten: die obligatorischen billigen Kunstdrucke, van Goghs Brücke von Arles, Monets Sonnenaufgang, Franz Marcs Blaue Pferde, Picasso, Kandinsky, Cezanne, Gauguin. Die Rahmen bloße Staubfänger. Wenn man das Bild nach einem halben Jahr abnahm, blieb ein heller Fleck, eingerahmt von einem schmierigen Schmutzrand. Das Badezimmer war geräumig, weiß gekachelt, hatte außer der Dusche auch eine Badewanne und einen riesigen Spiegel, der die halbe Wand über dem Waschbecken einnahm.

    Sie öffnete ihre Reisetasche und packte ihre Siebensachen in den Kleiderschrank, der in einer Ecke stand. Zuvor hatte sie sich davon überzeugt, dass die Böden trocken und sauber waren. Ins untere Fach kamen die Jeans, drei oder vier Pullover, Socken. Darüber packte sie die Röcke und die T-Shirts, und ganz oben sortierte sie die Blusen und Dessous ein. Besonders die Blusen hatten unter dem Transport in der Reisetasche gelitten und waren arg zerknittert. Sie legte sie auf dem Bett noch einmal neu zusammen. Jetzt wäre ein Reisebügeleisen praktisch gewesen. Noch besser, sie hätte alles in den Koffer packen können statt in die dafür eigentlich viel zu kleine Tasche. Dann hätte sie sie nicht so knautschen müssen. Sie glättete den Stoff mit den Handkanten und schichtete die Blusen vorsichtig in den Schrank. Nach und nach würden die Falten verschwinden, hoffte sie.

    Die leere Reisetasche packte sie zu den Schuhen zuunterst in die Schublade und setzte sich dann für einen Moment aufs Bett. Natürlich hatte sie viel zu viel eingepackt. Aber das gab ihr die Sicherheit, für alle Fälle etwas dabei zu haben. Vom Bett aus sah sie sich im Zimmer um. Keine Staubflusen auf dem Flickenteppich, die Dielen frisch gewischt, und die Raufasertapete wie in der Woche zuvor gestrichen, weiß ohne jeden Schatten.

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