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Wolfssteig: Roman
Wolfssteig: Roman
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eBook337 Seiten4 Stunden

Wolfssteig: Roman

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Über dieses E-Book

Als der Truppenübungsplatz in Wolfssteig aufgelassen wird, werden die vielfältigen Hoffnungen der Bewohner zum Leben erweckt. Die Verhandlungen und Streitereien beginnen – wird das Land privatisiert, kommt ein Asylheim oder wird aus dem riesigen Grundstück ein Nationalpark? In diesem tragikomischen Provinzdrama treffen moderne Themen des dörflichen Lebens auf wunderbar intensive und fachkundige Naturschilderungen.

Ein Biologe, Ulrich, streift durch das Gelände und zählt die seltenen Birkhühner, er trägt den Plan für einen wunderbaren Nationalpark im Kopf. Ein ehemaliger Wehrdiener, Christian, versucht den Neustart als Hausmeister in der Kaserne, die bald Flüchtlinge beherbergt. Und die Nachfahren der Enteigneten fordern ihre alte Heimat zurück, die 1939 zum Sperrgebiet wurde, als viele Dörfer geräumt und Menschen vertrieben wurden, um Hitlers Truppenübungsplatz Platz zu machen. Blind verfolgen die Widersacher ihre Ziele, und rasch geraten die Fronten durcheinander. Zuletzt fliegen auf dem Truppenübungsplatz Wolfssteig die Funken.

David Bröderbauer erzählt davon, wie auf der Suche nach einem festen Bezugspunkt die Orientierung verloren geht. Dieser Gegenwartsroman überzeugt durch seine intelligente Handlung und die wunderbaren Naturschilderungen in der Tradition von Henry David Thoreau.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum21. Juni 2019
ISBN9783903184466
Wolfssteig: Roman

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    Buchvorschau

    Wolfssteig - David Bröderbauer

    37

    1

    AN DEN ÜBUNGSFREIEN TAGEN durchstreiften die Tiere das Sperrgebiet ohne Scheu. Dermaßen viele Arten aus den unterschiedlichsten Gattungen und Familien lebten hier, dass man das Militärgelände den heimlichen Nationalpark des Landes nannte. Mit seinen weiten, von bewaldeten Hügeln gesäumten Grasflächen erinnerte das Areal an eine Landschaft aus der Eiszeit. Rehe ästen im hohen Gras, Mufflons bevölkerten die Wälder, Wildschweinrotten zogen durch das Territorium, tauchten immer dort auf, wo kein Gefecht zu erwarten war, als würden sie den Schießplan der Heeresleitung kennen.

    Zahlreiche Vogelarten nutzten das Areal als Rückzugsgebiet. Acht verschiedene Specht-Arten brüteten hier und trommelten gegen den Lärm des Maschinengewehrfeuers an. Gleich zwei Seeadlerhorste fanden sich auf dem Sperrgebiet, die einzigen im Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Sogar Birkhühner gab es. Sie besaßen hier eines ihrer letzten Vorkommen außerhalb der Alpen, wenn auch nur ein bescheidenes. Wurde für längere Zeit nicht geschossen, sah man sie auf den Zweigspitzen der Fichten sitzen, wo sie nach Gefahren Ausschau hielten.

    Manche Tiere lebten geradezu von den Kampfhandlungen, insbesondere vom Einsatz schwerer Artillerie. Wenn sich im Frühjahr das Wasser in den Granattrichtern sammelte, legten Frösche und Schwanzlurche ihren Laich darin ab, gingen Ringelnattern auf die Jagd nach Kaulquappen, vermehrten sich Insekten und Krebstiere in Massen.

    Selbst die Panzer schufen wertvolle Lebensräume. Seltene Pflanzen, so klein und unscheinbar, dass nur erfahrene Botaniker ihre Namen kannten, keimten in ihren Spuren. Sobald es nur ein wenig regnete, blühten und fruchteten sie in solcher Hast, dass sie schon verwittert waren, wenn der nächste Panzer auffuhr. Ihren ausdauernden Samen konnten die Radketten nichts mehr anhaben.

    Ein besonderes Schauspiel boten die Sommernächte, wenn abertausende Glühwurmmännchen auf der Suche nach den Blinksignalen der Weibchen ihre grünen Bahnen zogen. Diejenigen Rekruten, die ihren Präsenzdienst auf dem Truppenübungsplatz Wolfssteig im Sommerhalbjahr absolvierten, vergaßen den Anblick ihr Leben lang nicht.

    Ohne Übertreibung durfte das Sperrgebiet ein Naturjuwel genannt werden, ein Nationalpark. Kein richtiger, aber ein heimlicher. Dabei hätte es nach Ansicht vieler auch bleiben sollen.

    APRIL

    2

    Der Leopard jagte mit Vollgas durch den Kiefernwald. Als er den Waldrand erreichte, sprang er in das freie Feld und stürmte auf die Häuser von Felsbach los. Im Fahren nahm er ein feindliches Objekt ins Visier. Über Funk erteilte Brigadier Nowotny den Schießbefehl. Der Panzer feuerte. Volltreffer. Im Geschützturm war Jubel zu hören. In der Panzerwanne blieb es still. Christian hatte alle Hände voll zu tun, die Spur zu halten.

    Über den Bordfunk wies ihn Kommandant Gattringer an, dem Kurs des Schützenpanzers vor ihnen zu folgen. Christian schwenkte leicht nach rechts. Durch die schmalen Sehschlitze in der Wanne versuchte er, die Geländeunebenheiten so gut wie möglich zu erahnen. Die Besatzung oben im Turm, vor allem der Gattringer, reagierte auf Erschütterungen allergisch. Der Schützenpanzer, ein Marder, setzte am Ortsrand von Felsbach seine Mannschaft ab. Die Männer kletterten aus dem Heck und sprinteten mit Gewehr im Anschlag in den Ort. Der Truppführer manövrierte sie zu einer niedrigen Gartenmauer und wies sie an, in Deckung zu gehen. Ein Rekrut schien sein Handzeichen übersehen zu haben, denn er sprang über die Mauer und rannte weiter. Als er seinen Irrtum bemerkte, erstarrte er. Im selben Augenblick begann an seiner Schulter ein rotes Licht zu blinken. Er drehte sich zu seinem Truppführer um, dann glitt er schlaff wie eine abgezogene Kuhhaut ins Gras.

    Seine Kameraden eröffneten aus der Deckung das Feuer. Zwei Mann hatten eilig ein MG auf der Gartenmauer aufgebaut und nahmen den Gegner unter Beschuss. Christians Leopard wurde ins Ortszentrum beordert. Westlich vom Dorfplatz war das Gefecht besonders heftig. Die feindlichen Einheiten versuchten sich neu zu formieren. Männer rannten durch die Schusslinie, manche blieben auf der Straße liegen, andere fielen hinter den Häuserecken schwer atmend auf die Knie. Sie waren chancenlos. Nach halbstündigem Kampf waren die Truppen von Redland ausgeschaltet.

    »Gratuliere, meine Herren«, rauschte die Stimme des Brigadiers in Christians Kopfhörer. »Sie haben die Übung erfolgreich absolviert. Kehren Sie zum Stützpunkt zurück.«

    Im Hintergrund waren die anschwellenden Bläser der Militärmusikkapelle zu hören. Der Verteidigungsminister ergriff das Wort, lobte den Brigadier für den gelungenen Abschluss und dankte ihm »für die ausgezeichnete Führung des Truppenübungsplatzes bis zum heutigen Tag, an dem wir von diesem Standort aufgrund der nationalen Erfordernisse wenn auch mit schwerem Herzen leider unvermeidbarerweise Abschied nehmen müssen. Aber ich sage …« – harte Gitarrenriffs setzten der Ansprache des Verteidigungsministers ein Ende.

    Roots bloody roots, kreischte es in den Kopfhörern. Der Aigner hatte am Bordcomputer Sepultura aufgelegt – zur Feier des Tages.

    Christian kippte den Lukendeckel hoch, schob den Sitz nach vorne und schlüpfte mit Kopf und Schultern durch die Luke. So hatte er beim Fahren freie Sicht auf die Straße und konnte beim Einzug in die Kaserne dem Brigadier und dem Verteidigungsminister soldatisch angemessen winken. Als der nächste Song mit einem dröhnenden Bass einsetzte, fuhr er los.

    Im Turm zischten die Bierdosen, die Gattringer vor der Übung unter dem Kommandantensitz verstaut hatte. »Auf ex!«, befahl er den beiden Schützen. »Jawohl!«, antworteten Aigner und Katzenschlager im Chor. Gattringer rülpste. Christians Kameraden lachten. »Auf die Zukunft«, sagte einer, »nie mehr Uniform«, der andere. »Nur noch im Fasching«, sagte Gattringer.

    Christian sagte nichts. Nach Monaten des Überlegens wusste er immer noch nicht, was er nach der heutigen Abschlussübung mit seiner Zukunft anfangen sollte. Zurück in die Autowerkstatt? Das wollte er nicht. Eine andere Kaserne kam auf keinen Fall in Frage. Entweder Wolfssteig oder Zivil, das war fix. Vielleicht noch einmal ordentlich Geld scheffeln beim Auslandsdienst? Fahrzeuge überprüfen, die keiner fährt, stundenlang Wüstensand mit dem Hochdruckreiniger ausblasen, und in der freien Zeit Anabolikajause und Krafttraining? Keine Lust. Die Musik brachte ihn auf andere Gedanken. I see the world, OLD, I see the world, DEAD, I’ve no LAND, I’m from NOWHERE, grölte es in seinen Kopfhörern, und er grölte mit. Jetzt war wirklich das Ende gekommen, aus und vorbei. Was wohl aus dem Truppenübungsplatz wurde, wenn hier keine Panzer mehr rollten? Alles würde zuwachsen. Als wäre er nie hier gewesen. Zumindest ein paar Spuren wollte er hinterlassen. Da pflichteten ihm der Gattringer und die Schützen sicher bei. Er drückte das Gaspedal tiefer, schwenkte vom Feldweg ins offene Gelände und mähte einen Busch nach dem anderen nieder. Der Gattringer schrie noch: »Mein Bier!«, und: »Du depperter Sautrottel!«, bevor der Panzer mit vollem Karacho in ein grasbewachsenes Schlammloch preschte. Die Kanone bohrte sich in den Boden, als wollte sie den Leopard wie einen Stabhochspringer über das Hindernis katapultieren, der Panzer wich dem Druck mit einer halben Pirouette aus, stand für einen Sekundenbruchteil in der Luft und fiel dann auf die Seite. Später war nicht mehr zu klären, ob der Aigner auf den Auslöser gefallen war oder ob die Elektronik – wie so oft bei starken Erschütterungen – eine Fehlfunktion gehabt hatte. Jedenfalls wurde die Nebelwurfanlage ausgelöst, Granaten schossen in alle Richtungen und der Leopard verschwand hinter Rauchschwaden.

    Als Christian wieder zu Bewusstsein kam, hatte sich der Rauch noch nicht verzogen. Er lag im Gras. Neben ihm kniete der Gefreite Binder vom Schützenpanzer und wiederholte mehrmals, dass die Rettung sicher gleich da sei. Aber es gab auf dem Truppenübungsplatz ja gar keine richtige Rettung! Christian hob den Kopf. Sein rechtes Bein stand unterhalb des Knies merkwürdig weg. Schwer fühlte es sich an. Es zog an ihm wie ein übergewichtiger Dackel an einer zu kurzen Leine. Er schüttelte probeweise seinen Oberschenkel. Vielleicht konnte er den Dackel ja verscheuchen. »Ruhig, die Rettung kommt sicher gleich«, stotterte der Binder und nestelte mit seinen Streichwurstfingern an Christians Hose herum. Anscheinend versuchte er das Blut zu stoppen, das von Christians Bein zu einer Pfütze mäanderte. Die Pfütze färbte sich rot und es kam ihm so vor, als würde das Wasser brodeln. Das mussten diese Urzeitkrebse sein, die es nur hier gab. Denen hatte es wahrscheinlich die Sicht getrübt. Sein Nacken schmerzte. Er legte den Kopf zurück. Über dem Granatennebel zog der Aprilhimmel Schlieren. Warum hatte der Binder noch mal gesagt, dass er nicht aufstehen durfte? Und wo war überhaupt der Gatti-Dings? Gattinger. Nein, Gattringer. So war’s, ja, Gattlinger. Der erstattete dem Brigadier vermutlich Bericht. Melde gehorsamst: Panzerunfall. Ein depperter Sautrottel, Herr Brigadier!

    Besser wäre gewesen, der Gattringer hätte ihm jetzt auch ein Bier gegeben. Außer ihm hatten alle eines bekommen.

    Das Warten auf die Binder-Rettung machte ihn müde. Merkwürdig, normalerweise war er immer voll da. Vielleicht sollte er ein kleines Nickerchen machen, nur ganz kurz, damit er wieder fit würde. Als er die Lider schloss, hörte er Schreie, zufallende Autotüren, Hubschrauberrotoren. Störende Geräusche. Irgendetwas stimmte nicht, da war er sich jetzt sicher. Die Rauchschwaden, der Binder, der Lärm – das alles war verdächtig. Da ging ihm ein Licht auf, und er musste grinsen. Es war ja keine Überraschung, er hatte es ja sowieso schon vorher gewusst, und bei den ganzen uniformierten Vollpfosten, die hier herumliefen, war es auch nicht anders zu erwarten gewesen: Der Truppenübungsplatz verfiel ins Chaos, noch bevor seine Tore geschlossen hatten. Das war am letzten Tag seines Bestehens natürlich anders geplant gewesen. Jetzt werden sie alle blöd schauen.

    SOMMER

    3

    Dem Wetterbericht zufolge stand heute erneut ein Hitzetag bevor. Mit anschließender Tropennacht. Meteorologisch betrachtet war das zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Die Erde stand im richtigen Winkel zur Sonne, der Himmel war wolkenlos, die Lichtstrahlen konnten die Atmosphäre ungehindert passieren. Die Strahlungsenergie wurde von den Dächern und Straßen der Stadt absorbiert und als Wärme wieder freigesetzt. So war das im Sommer.

    In Ulrichs kleinem Zimmer blieb es trotzdem kühl, der Lichtschacht kappte zwei Stockwerke höher die Strahlen. Selbst an hellen Tagen lag der Raum im Halbdunkel, schimmerte das Weiß der Wände nur schwach. Ulrich besaß nur wenige Möbel – einen Kasten, ein Regal, einen Schreibtisch. Trotzdem wirkte das Zimmer nicht steril, dafür war der Raum zu abgewohnt, und an den Wänden klebten kolorierte Vogelzeichnungen.

    Ein paar gedämpfte Geräusche drangen von draußen an Ulrichs Ohr. Die Stadt lag still, viele Bewohner hatten vor der Hitze die Flucht auf das Land ergriffen. Das Ausbleiben des Lärms rief in Ulrich das Gefühl wach, der einzige Überlebende einer Katastrophe zu sein. Das gefiel ihm.

    Noch einmal las er die E-Mail. Seit er die Universität verlassen hatte, durchkämmte er regelmäßig die Jobportale. Anfangs hatte er noch gewissenhaft jedes Inserat studiert, mittlerweile klickte er sich nur noch gleichgültig durch die Anzeigen. Immerhin hatte er das Ritual beibehalten, einmal die Woche, auch wenn nie eine passende Stelle dabei war. Dass ihm einmal jemand von sich aus einen Job anbieten würde, damit hatte er nicht gerechnet. Aber der Geschäftsführer vom Naturverbund schrieb in der E-Mail, er habe Ulrichs Diplomarbeit gelesen und wolle ihn zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Ulrich glaubte zwar nicht, dass der Geschäftsführer seine Diplomarbeit wirklich gelesen hatte, aber das Angebot wirkte seriös. Gut, die Anstellung wäre nur für zwölf Monate, und als Freier Dienstnehmer hätte er keinen Anspruch auf Krankengeld oder Urlaub, aber trotzdem würden sich Perspektiven auftun. Die Jobs im Feriencamp und im Museum aufzugeben, barg zwar ein Risiko – immerhin konnte er sich damit über Wasser halten –, aber nach so vielen Jahren als Aushilfsbiologe war es an der Zeit für einen Schritt. Und Birkhühner waren absolut faszinierende Tiere. Im Grunde genommen genau sein Thema. Jetzt machte es sich doch bezahlt, dass er seine Diplomarbeit hier geschrieben hatte, anstatt irgendwelchen Kolibris in Südamerika nachzujagen. Über die Populationsgenetik des Auerwilds hatte sonst niemand geforscht. Die monatelange Feldarbeit in den Kalkalpen war vielleicht etwas einsam gewesen, aber im Prinzip hatte ihm das nicht viel ausgemacht. Objektiv betrachtet war das die beste Zeit seines Lebens gewesen.

    Zugegeben, Birkhühner waren nicht ganz dasselbe wie Auerhühner, das durfte man nicht außer Acht lassen. Aber doch nah verwandt. Und soweit er das aus jetziger Sicht beurteilen konnte, im Verhalten durchaus vergleichbar. Darüber hinaus gab es nicht viele Raufußhühner-Experten. Auch wenn er noch ein wenig daran zweifelte, er war vielleicht wirklich der Richtige für den Auftrag. Und wenn dich der Geschäftsführer vom Naturverbund anschreibt, dann sagst du nicht Nein. Außer du kannst es dir leisten. Das konnte er nicht. Ulrich wählte die Nummer aus der E-Mail und räusperte sich noch einmal, während es läutete. Für den Nachmittag hatte er dann schon einen Termin.

    Langsam trat er in die Pedale. Er hatte Angst, zu spät zu kommen, also war er früh gestartet. Jetzt bremste er sich ein, damit er nicht zu früh erschien. Der Geschäftsführer hatte ihm am Telefon erklärt, dass ihnen das Umweltministerium eine Förderung und zwölf Monate Zeit gab, um ein Konzept zu erarbeiten. Ab sofort. Diese Chance dürften sie auf keinen Fall vertun, hatte der Geschäftsführer betont. Zwölf Monate waren nicht viel Zeit, sie müssten Prioritäten setzen, hatte er gesagt. Zuerst einmal einen Fuß in das Gebiet bekommen. Deshalb das Birkhuhn. Es war die auffälligste Art und ließ sich gut vermarkten.

    Die Ampel vor der großen Durchfahrtsstraße stand auf Rot. Fast jeden Tag nahm Ulrich diesen Weg, und immer musste er warten, zwei Minuten hier und zwei Minuten auf der Verkehrsinsel zwischen den Spuren. Er nutzte die Zeit, um nachzudenken, oder er zählte die Personen in den Fahrzeugen – viel zu viele Leute fuhren allein und verpesteten die Luft für fünf. Im Prinzip war es absurd, dass der Umweltminister persönlich grünes Licht für die Planung des Naturschutzgebiets gegeben hatte. Grundsätzlich stand das Ministerium ja der Bauernlobby viel näher, die mit Sicherheit gegen ein Schutzgebiet eintrat. Aber vom Verteidigungsministerium war ein Veto gekommen, hatte der Geschäftsführer gesagt. Aufgrund der ungeklärten Besitzverhältnisse. Man sollte meinen, der Zweite Weltkrieg sei mittlerweile Geschichte, aber anscheinend befürchteten die Militärs tatsächlich, dass die Bauern das enteignete Land ihrer Vorfahren wiederhaben wollten. So gesehen war es nur logisch, dass der Verteidigungsminister auf dem Truppenübungsplatz lieber Naturschützer herumlaufen ließ. Die würde er leichter loswerden als die Bauern, falls das Heer den Übungsbetrieb wieder aufzunehmen gedachte. Etwas heikel schien die Geschichte mit dem Innenministerium. Was da genau lief, hatte Ulrich noch nicht durchschaut. Aber vermutlich waren die Bewohner von Wolfssteig immer noch wütend, weil man die Kaserne in ein Asylheim umgewandelt hatte. Die Leute wollten einfach nicht akzeptieren, dass Österreich ein Zuwanderungsland war. Der Homo sapiens war zwar anpassungsfähig, aber nur soweit es die Umweltbedingungen betraf, Unbekannten der eigenen Spezies gegenüber verhielt er sich weit weniger flexibel.

    Gleich würde die Ampel auf Grün schalten. Auf der Verkehrsinsel hatte die Stadt vor einer Weile eine Grünoase mit Bänken eingerichtet. Jetzt saßen dort Männer, tranken Tetrapakwein und starrten auf die verdreckten Häuserfassaden. Im Moment war es nur einer. Betrunken lag er auf der Radspur. Aber er stand schon wieder auf. Ulrich hatte dem Geschäftsführer gleich gesagt, dass er selbst aus dem Waldviertel komme und sich dort gut auskenne. Eigentlich war er nicht besonders stolz darauf, aber der Eingeborenenbonus könnte helfen, falls es noch andere Bewerber gab. Der Geschäftsführer hatte erwidert, er wisse das natürlich. Das sei – neben Ulrichs Fachexpertise – ein Grund, warum sie ihm den Job anböten, denn für diese Stelle musste man auch mit den Leuten vor Ort reden können. Da ging es nicht nur um die Datenerhebung. Entscheidend war, ob sie einen auch akzeptierten. Dass er die letzten fünfzehn Jahre nur dann ins Waldviertel gefahren war, wenn es sich nicht hatte vermeiden lassen, hatte er dem Geschäftsführer verschwiegen.

    Jetzt war die Ampel grün. Der Betrunkene versuchte noch immer, sich aufzurichten. Das Gesäß steil nach oben gerichtet, stützte er sich mit durchgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden ab. Anscheinend fehlte ihm die Kraft zum Aufstehen. Jetzt steckte er in dieser Pose fest. Man hätte darüber lachen können, aber Ulrich hatte in letzter Zeit zu viele dieser traurigen Figuren gesehen, um es noch lustig zu finden. Er widerstand dem Impuls auszuweichen. Der Radweg war einfach zu schmal, und auf die Straße konnte er bei dem Verkehr unmöglich fahren. Also stieg er vom Rad und schob es knapp an dem Mann vorbei. Präziser gesagt an dem Männchen – es war eine magere Gestalt mit einem schmalen Schnurrbart und dünnen Armen. Solche Exemplare kannte er aus dem Waldviertel. Der Großteil der unverheirateten Männer dort endete so. Im Gegensatz zu den Verheirateten wurden sie nicht dick. Nicht einmal ein Bierbauch, obwohl sie ununterbrochen tranken. Ob das schon einmal jemand untersucht hatte? Jedenfalls konnte man davon ausgehen, dass es seit der Krise noch mehr von ihnen gab, jetzt wo die Region vollkommen bankrott war.

    Ulrich querte die Kreuzung. Auf der Straße ins Zentrum hinunter nahm er Fahrt auf. Hatte der Geschäftsführer nicht auch von Überlebenskampf gesprochen? Oder war es Ideen-Kampf gewesen? Egal. Hauptsache Raufußhühner.

    4

    Obwohl es bereits die vierte Informationsveranstaltung zum Schicksal des Truppenübungsplatzes war, füllten die Wolfssteiger den Burgsaal auch an diesem Samstag wieder bis zum letzten Platz. Die Zuspätgekommenen drängten sich an die Rückwand und in die Fensternischen. Auf dem Podest hantierte jemand nervös mit dem Mikrofon, aber es kam kein Ton heraus. Die Zuhörer unterhielten sich laut. Die meisten schienen sich zu kennen. Ein paar Reihen vor Ulrich, der in der vorletzten Platz genommen hatte, rief jemand: »Hans, jetzt gib doch den Hut runter, wir sehen ja nichts. Wieso hast denn überhaupt den Gamsbart auf, heute gibt’s nichts zum Schießen!«, worauf die Sitznachbarn des Witzboldes lachten und der Hans seinen Hut wie zum Gruß lüftete und auf den Schoß legte. Die Leute beschwerten sich, dass die Luft wieder so stickig sei. Jemand riss ein Fenster auf. Vom Burgberg aus hatte man einen prächtigen Blick über den Truppenübungsplatz, wo in diesem Moment die Sonne unterging.

    Neben Ulrich nahm ein Mann mit dunkler Hautfarbe Platz, der einzige Schwarze im Saal. Er trug ein ziemlich altmodisch geschnittenes Sakko und ein weißes Hemd mit steifem Kragen. Ulrich wunderte sich nicht so sehr über die Aufmachung als über den Mut des Mannes, hierherzukommen. Die Leute im Saal machten allerdings nicht viel Aufhebens um ihn, ein paar Umstehende hoben sogar ihre Augenbrauen zum Gruß. Der Mann bemerkte, dass Ulrich ihn musterte, und sprach ihn an. »Guten Tag, ich bin Stephen Obasi, der Pfarrer von Wolfssteig«, sagte er mit einem englischen Akzent. »Sie leben auch hier?«

    Ulrich fühlte sich überrumpelt. »Nein, das heißt, ja, ein paar Kilometer außerhalb, in Apfelscheid.«

    »Apfelscheid. Sie haben dort ein Haus?«

    »Nein, ich habe eine Wohnung gemietet, bei Adam Kramer, falls Sie den kennen.«

    »Aber natürlich, Kramer, alter Musiker. Ist noch nie bei mir in der Messe gewesen. Nur die alten Marienstatuen hat er sich angeschaut. Aber irgendwann muss er auch zu mir kommen«, sagte er mit einem tiefen Lachen. Plötzlich wieder ganz ernst, fragte er: »Und Sie? Wie ist Ihr Name? Woher kommen Sie?«

    Ulrich war verunsichert. Der Pfarrer registrierte es mit einem schelmischen Lächeln. War er vertrauenswürdig?

    »Mein Name ist Ulrich Bruckner. Ich habe bis vor Kurzem in Wien gelebt, aber ursprünglich komme ich aus …«

    In diesem Moment brachte ein rundlicher Mann mit Schnurrbart und ordentlich über die Glatze gekämmten Haaren das Mikrofon zum Laufen. »Grüß euch, liebe Wolfssteiger. Das heute ist die letzte Versammlung zum Thema Asylantenheim. Ich sage euch gleich, ich habe mich sehr bemüht, den stellvertretenden Landesrat zu bekommen, aber aus terminlichen Gründen musste er leider …« Die Anwesenden unterbrachen den Bürgermeister mit wütenden Rufen. Der Hans ohne Hut hob die Faust und zeterte: »Das ist wieder typisch, wenn wir was brauchen, lassen uns die Politiker im Stich.« Ein anderer drohte: »Bei den nächsten Wahlen werdets schon sehen, was ihr davon habts.« Die kleinen Augen des Bürgermeisters wuselten wie verschreckte Mäuse zwischen den Gesichtern der Zuhörer hin und her. Bei jeder Unmutsäußerung zuckten die pelzigen Brauen. Schließlich unterbrach er die Zwischenrufer. »Bitte, Herrschaften. Ihr müsst doch verstehen: Das Gelände gehört dem Bund. Mir sind doch da die Hände gebunden. Nicht einmal der Landeshauptmann hat ein Zugriffsrecht. Das Heim steht, das können wir jetzt nicht mehr ändern. Aber ich versichere euch, die Partei hat mir ihren vollen Rückhalt versichert, und wir werden dafür Sorge tragen, dass wir das Beste aus der Situation machen.«

    »So ein Blödsinn«, sagte ein Zuhörer in einem groben Karohemd. »Ihr Politiker lügt doch, dass sich die Balken biegen. Die Innenministerin hat dem allen zugestimmt, und die ist von deiner Partei. Die ist froh, dass sie die Asylanten nach Wolfssteig abschieben kann. Bei uns kostet sie das weniger Stimmen, wie wenn sie irgendwo in der Stadt ein Heim hinstellt. Und kosten tut es sie auch nichts, weil die Gebäude vom Bundesheer schon alle da sind. Also erzähl uns keine G’schichten, Toni.« Der Mann hob bestimmt den Zeigefinger. »Uns hauts den Milchpreis zsamm, und den Negern steckts des Geld hinten rein. Da stimmt doch was nicht.«

    Einige Zuhörer klatschten so heftig, dass ihre Hände rot anliefen. Der Pfarrer blickte regungslos geradeaus. Eine rothaarige Frau, Brille mit grünem Rahmen, erhob sich entschlossen. Die Arme verschränkte sie beim Sprechen vor der Brust. »Also jetzt möchte ich bitte auch was sagen. Wolfgang, ich verstehe deine Sorgen. Aber diese Menschen haben noch viel größere Probleme als du. Die brauchen wirklich Hilfe. Wir dürfen jetzt nicht wegschauen.« Sie wurde vom spitzen Lachen eines älteren Herren unterbrochen, der tief in seinen Sessel gesunken war und sich beim Reden nicht aufrichtete: »So viel Zeug, wie ihr denen schon geschenkt habts, haben wir ja selber nicht. Und ihr sammelts noch weiter, und dann gebts ihr denen auch noch Deutschkurse, statt dass ihr euch auf den Schulbeginn vorbereitets.« Seine Nachbarin sekundierte eilig, dass sogar der Bäcker schon mehr Brot für die Ausländer als für die Einheimischen backe. Die roten Hände klatschten wieder.

    Da mischte sich ein junger Mann ein. Er hatte es sich auf einem Fensterbrett bequem gemacht. Mit verschränkten Armen saß er da. Die Unterarme waren ziemlich muskulös. »Jetzt seids doch einmal ehrlich. In dem Bauernnest ist seit dreihundert Jahren nichts Spannendes mehr passiert. Ihr solltet froh sein, dass sich wieder einmal was tut, dann habt ihr wenigstens was zum Reden.« Die Zuhörer starrten ihn ungläubig an. »Neunzig Prozent von euch stehen schon mit einem Fuß im Grab. Was kann dem Ort Besseres passieren, wie wenn da neue Leute herkommen? Ein Haufen neue Arbeitsplätze entstehen durch das Heim auch. Wenn es die nicht gibt, ziehen die letzten Jungen auch noch weg.«

    Für einen Moment blieb es still im Saal, dann rief jemand: »Das ist doch der Moser!«, und der Redner erntete ein paar deftige Beleidigungen. Als er trotzig nachschickte, dass bei der weit verbreiteten Inzucht frisches Blut sowieso dringend nötig sei, brach ein kleiner Tumult aus. Der Pfarrer hatte sich nach vorne gebeugt und hielt sich ein kariertes Stofftaschentuch vor den Mund. Sein Husten klang verdächtig nach einem Kichern. Dem Gerede der Leute um ihn herum entnahm Ulrich, dass der aufmüpfige Blondschopf der Hausmeister des Asylheims war, und davor für das Bundesheer auf dem Truppenübungsplatz gearbeitet hatte. Einige bezeichneten ihn als Schmarotzer und Invaliden. Ulrich betrachtete den jungen Mann. Groß war er nicht gerade, aber kräftig, die klassische Waldviertler Statur. Ein wenig wie ein Cowboy wirkte er, wie er breitbeinig und unbeeindruckt auf dem Fensterbrett saß. Es war bemerkenswert, dass er sich trotz der feindseligen Stimmung kein Blatt vor den Mund nahm. Ulrich gab ihm natürlich recht. Aber in der Praxis hielt man sich im Waldviertel mit seiner Meinung zurück, wenn sie nicht massenkonform war. Ob der beim Heer auch so aufsässig gewesen war? Auf dem Truppenübungsplatz kannte sich dieser Moser vermutlich aus. Er könnte ihm bei der Suche nach den Birkhühnern nützlich sein.

    In der ersten Reihe erhob sich ein Mann in grauem Anzug und grüner Krawatte und rief die Versammlung zur Ruhe. Er strahlte eine kühle Autorität aus, die auf die Leute Eindruck zu machen schien und die auch nicht darunter litt, dass er leise sprach. Wenn Ulrich ihn richtig verstanden

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