Reicher Pöbel: Über die Monster des Kapitalismus
Von Björn Vedder
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Reicher Pöbel - Björn Vedder
Björn Vedder
Reicher Pöbel
Über die Monster des Kapitalismus
ISBN (Print) 978-3-96317-126-0
ISBN (ePDF) 978-3-96317-641-8
ISBN (ePub) 978-3-96317-671-5
Copyright © 2018 Büchner-Verlag eG, Marburg
Bildnachweise Cover: Gesicht – photocase.de | photögraphy.com; brennendes Auto – istockphoto | Nikola Nastasic
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
www.buechner-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1: Der Pöbel brandmarkt den Pöbel – eine Einleitung
Kapitel 2: Der Spekulant als Raubtier
Kapitel 3: Das Band der Not und die Verklärung der Arbeit – über Markt und Sittlichkeit
Hegels reicher Pöbel
Das Wunder des Marktes
Lob der Arbeit
Verrechtlichung des Egoismus
Pöblisieren: eine extreme Form der Wohlstandsverwahrlosung
Der Reiche als das böse Gewissen des Homo oeconomicus
Freie Reiche und behinderte Bürger
Pöblisierung und Proletarisierung
Kapitel 4: Vom spitzen Bleistift zum goldenen Zombie – über den Wandel des Porträts reicher Menschen
La Dolce Vita
Die Luft so hell wie lichte Flammen
Schöne und hässliche Gesichter des Kapitalismus
Kapitel 5: Zucht und Degeneration – über die Affektpolitik des Geldes
Ein Maulkorb für Raubtiere: die zivilisierende Kraft des Geldes
Wie das Geld abtrennt, vereint – und wieder trennt
Großmutters Jukebox
Knappheit und Überfluss: Wie die zivilisierende Kraft des Geldes in Tyrannei umschlägt
Kompensatorischer Humanismus: die halb romantische, halb philiströse Kritik am Kapitalismus
Lebensvorrecht und Brutalität: die Enthemmung der Reichen
Kapitel 6: Freiheit, Kraft und Kooperation oder Moral für Herren und Sklaven
Das Ressentiment in der Kritik an den Reichen und in der Verteidigung dagegen
Berechtigte Empörung
Die Heilung des Ressentiments
Kapitel 7: Abspaltung und Projektion: die Dämonisierung des reichen Pöbels
Die Heuchelei der Kritiker
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Der Pöbel des Nordens
Kapitel 8: Der reiche Pöbel der Weltgesellschaft
Die Füchse im Weinberg
Worin wir Füchse findig sind (z. B. uns die eigenen Taschen zu füllen und von den anderen abzugrenzen, aber die Illusion zu verbreiten, Teil einer Mehrheit zu sein)
Die Legende von der gerechten Bezahlung
Protestantisches Wirtschaftsethos versus Abenteuer-Kapitalismus: Robinson Crusoe
Die moralische Legitimation des Verbrauchs
Selbstverliebtes Moralisieren
Die kulturelle Legitimation des Lebensstils
Kapitel 9: Die Herrschaft des Pöbels oder wie man der neuen Mitte den Garaus macht
Die Denunziation des Gutmenschen
Die Allianzen des Pöbels
Der arme Pöbel
Sorglosigkeit und Sorge
Kapitel 10: Über die Schwierigkeit, das Rad bei seinem Umschwunge auszutauschen
Warum wir auf die Moral nicht hoffen können
Verlust des Gemeinsinns
Der Preis als letzter Wert
Das Ende
Endnoten
Vorwort
Die erste Idee zu diesem Buch liegt schon ein paar Jahre zurück. Wir waren anlässlich meines Geburtstages mit Freunden zum Kloster Andechs gewandert, als mein Freund Wolfram anrief, der gerade als Untermieter in unserer Wohnung lebte, um mir mitzuteilen, dass bei uns im Flur das Wasser die Wände runterlief. Wasserschaden von oben. Wir stiegen sofort vom heiligen Berg runter und gingen heim, einigermaßen verärgert, weil der Nachbar obendrüber unsere Wohnung nicht zum ersten Mal geflutet hatte. Die wohlhabenden Gecken, die sich in den Jahren zuvor in der teuren Mansarde eingemietet hatten, um in München irgendwelchen Geschäften nachzugehen, hatten abwechselnd bereits unser Schlafzimmer, unser Wohnzimmer und unsere Küche unter Wasser gesetzt, weil sie sich, nachdem sie sich in der Bar um die Ecke (»Eat The Rich«) betrunken hatten, noch ein Bad einließen, dann aber doch schlafen gingen, ohne das Wasser wieder abzudrehen, oder weil sie ihre Blumen auf dem Balkon gossen, indem sie mit einem Schlauch von Topf zu Topf gingen und zwischendurch – für ein, zwei Zigarettenlängen – ihre Füße begossen.
Der neue Mieter hatte, wie er mir dann erzählte, nicht auf den Monteur warten, sondern seine Waschmaschine selbst anschließen wollen und einfach irgendwelche Schläuche zusammengesteckt. Ich solle mir keine Sorgen machen, das zahle ja alles die Versicherung, sagte er zu mir, und falls nicht, sei er um ein paar Hunderter nicht verlegen.
Dass wir uns für die nächsten Wochen Besseres hätten vorstellen können, als mit Trocknungsmaschinen und Handwerkern zu leben, kam ihm gar nicht in den Sinn. Mich ärgerte das besonders deshalb, weil meine Frau fürs Wochenende extra von ihrem Forschungsaufenthalt aus Madrid angereist war, um mit mir zu feiern, ich uns aber nun stattdessen die halbe Nacht die Wohnung ausräumen und wischen sah. Zumal ich, kaum dass ich wieder unten war, hörte, wie oben die nächste Maschine lief.
Mir kam anlässlich dieser Unverfrorenheit Michael Naumanns Rede von der »Fuck-you-Politik der Oberschicht« in den Sinn, die in meinem Fall auch ganz konkret eine Fuck-you-Geste des Obergeschosses war – auch wenn mein Nachbar nicht das Format jener Reichen besaß, an das Naumann bei seiner Rede gedacht hatte. Zudem erinnerte ich mich daran, wie ich vor vielen Jahren nach einem Seminar beim Philosophen Michael Wolff, in dem wir Hegels Rechtsphilosophie gelesen und seine Bemerkungen zum Pöbel diskutiert hatten, mit Kommilitonen auf einer Brücke in der Universität Bielefeld stand, und einer von ihnen meinte: »Es gibt ja auch den reichen Pöbel, sagt Hegel.« Vielleicht wäre es an der Zeit, dachte ich mir, während ich den Boden unserer Wohnung wischte, über die Aktualität dieser Bemerkung etwas zu schreiben.
Doch mit der Wut verflog diese Idee. Sie kehrte erst zurück, als ich bemerkte, dass ich mit meiner Empörung nicht alleine war. Die Entrüstung über die Dekadenz, den Egoismus und die Unsittlichkeit sehr reicher Menschen schien mir auch mehrere Jahre nach der Finanzkrise noch stetig zu wachsen. Im Bundestagswahlkampf 2017 waren extremer Reichtum und Asozialität zu Synonymen geworden und die Superreichen zum parteiübergreifenden Feindbild. Das brachte mich dazu, meine alte Idee wieder aufzugreifen. Vielleicht böte der Zugriff mit Hegels Begriff des reichen Pöbels eine Möglichkeit, diese teils diffuse und ressentimentgeladene Kritik zu systematisieren und in eine philosophische Perspektive zu rücken.
Während ich diesen Ansatz verfolgte, fiel mir die Verlogenheit und Doppelmoral auf, die die Kritik an den Reichen trotz all ihrer Berechtigung kennzeichnet. Und diese Selbstverlogenheit empfand ich noch ärgerlicher als die Unverschämtheit meines alten Nachbarn. Denn seine Asozialität ist, genau wie sein Wohlstand, der sie ihm gestattet, weniger das Resultat eigener Anstrengung als der ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben. Die Kritik an den Superreichen ist der Versuch, die negativen Auswirkungen dieser Strukturen auf bestimmte Personen zu projizieren, um von den eigenen Privilegien abzulenken und von diesen Strukturen weiterhin profitieren zu können. Die Diebe rufen: Haltet den Dieb. Der Pöbel brandmarkt den Pöbel.
Dass ich dieses Buch schreiben konnte, verdanke ich der Hilfe meiner Freunde Roland Braun, Wolfram Ette, Sven Hauhart, Hannes Kuch, Kathrin Lange, Jens Poggenpohl und Andreas Reckwitz, meiner Lektorin und Verlegerin Sabine Manke und vor allem meiner Frau Johanna Schumm, die mir alle mit Rat und Tat zur Seite standen. Bei ihnen möchte ich mich herzlich bedanken.
Herrsching am Ammersee, im September 2018.
Kapitel 1: Der Pöbel brandmarkt den Pöbel – eine Einleitung
Mit der Finanzkrise von 2008 ist nicht allein die Hoffnung begraben worden, dass ein stetiges ökonomisches Wachstum auf lange Sicht allen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr Wohlstand beschert. Mit dem Rückgang der Flut, von der John F. Kennedy einst sagte, dass sie alle Boote heben würde, sind auch die massiven ökonomischen Unterschiede sichtbarer geworden, die unsere Gesellschaft prägen.¹ Während ein Großteil der Menschen in den westlichen Industrienationen in den vergangenen Jahren faktisch ärmer geworden ist, ist eine kleine Gruppe von Superreichen immer reicher geworden. Daran hat auch die Finanzkrise nichts geändert, im Gegenteil: Während das durchschnittliche Haushaltsvermögen der US-Amerikaner zwischen 2007 und 2016 um 42.000 Dollar gesunken ist, ist das Vermögen des reichsten Prozents aller Amerikaner im Mittel um 4,9 Millionen Dollar gestiegen. Man kann also den Eindruck gewinnen, dass die 830 Milliarden Dollar, die die amerikanische Regierung seit der Krise ausgegeben hat, um ihre Folgen abzufedern und die Wirtschaft zu unterstützen, in den Taschen der Reichen gelandet sind.²
In vielen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus: Die einen werden immer reicher, die anderen gewinnen zunehmend den Eindruck, sich immer mehr anstrengen zu müssen, um nicht zurückzufallen, wenn das nicht schon längst geschehen ist. Die Löhne sind (inflationsbereinigt) in vielen Bereichen gesunken, die Arbeitsplätze werden unsicherer. Im Zuge einer aggressiven Sparpolitik wurden viele soziale Errungenschaften über Bord geworfen und die Niedrigzinspolitik der Staatsbanken macht die eigene Vorsorge fast unmöglich – es sei denn freilich, man ließe sich auf das Glücksspiel der Spekulation ein. Die Immobilienpreise und Aktienmärkte sind schon wieder auf Rekordniveau. Fast so, wie vor der Krise.
Angesichts dieser Instabilität, Unsicherheit und Ungleichheit kann es nicht verwundern, dass die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen und die Solidarität schwindet. Dabei ist seit der Krise vor allem eine Gruppe in den Fokus der Kritik geraten, für die die Ökonomen Joseph E. Stiglitz und Thomas Piketty uns einen Begriff geschenkt haben, der seither in keiner Gesellschaftskritik fehlen darf: das reichste eine Prozent.³ Wie etabliert diese Kategorie inzwischen ist, zeigt sich auch daran, dass sie bereits persifliert wird. Der Komiker Sacha Baron Cohen spricht in seiner satirischen Dokumentation Who is America (2018) vom »fabelhaften Leben der 0,001 %«.⁴
Im öffentlichen Diskurs geht es jedoch weniger lustig zu. Die Superreichen gelten als unmoralisch und als Feinde der Gesellschaft, als liederlich und bösartig. Sie plündern die Welt und mästen sich an fremder Arbeit. Sie konsumieren zu viel und leisten zu wenig. Sie verspielen unsere Zukunft und zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es fehlt ihnen an sozialer Empathie, sie sind verantwortungslos, gierig, übermächtig und asozial.
So zumindest das Bild, das viele Journalisten verbreiten und Politiker zur Stimmungsmache nutzen – soziologische, ökonomische oder kulturwissenschaftliche Untersuchungen haben es vielfach nachgezeichnet. Die »Fuck-you-Politik der Oberschicht« (Michael Naumann) hat einen »Krieg der Klassen« (Warren Buffett) provoziert, in dem sich die einen Regierungen kaufen und sich die anderen darüber in den Feuilletons empören, wenn sie nicht angesichts der reichen Monster in Film, Fernsehen und Literatur wohlig erschauern.
Für diese Kritik interessiert sich mein Essay. Was macht die Reichen so verhasst? Worin besteht ihre sittlich-moralische Korruption und warum ruft letztere gerade in jüngster Vergangenheit so eine Entrüstung hervor? Und: Was verrät die Kritik über die Kritiker?
Um diese Fragen zu beantworten, untersuche ich, wie Reiche auftreten, wie sie in den Medien, aber auch in Literatur, Film und Fernsehen dargestellt werden. Diese Analyse der kulturellen Imagination des Reichen verknüpfe ich mit philosophischen, soziologischen und ökonomischen Studien. Ich frage nach den Argumenten hinter der Empörung und rücke sie in eine philosophische und historische Perspektive.
Dabei fällt auf, dass die Darstellung der Reichen dem Versuch entspringt, unsere Erfahrungen mit der Ökonomie, die Hoffnungen und Ängste, die wir mir ihr verbinden, in Geschichten über und Bilder von Menschen zu übersetzen. Das Erzählen und Verbildlichen sollen uns helfen, die Ökonomie zu verstehen und vor allem zu bewerten. Denn auch in den Geschichten der Ökonomie geht es letztlich um Gut und Böse.⁵ Das Bild, das wir uns von den Reichen machen, gehört in die Galerie der Bilder, die wir uns vom Kapitalismus machen, um ihn zu verstehen. Da seine Kräfte unsichtbar und seine Verfahren abstrakt sind, können wir sie nur daran erkennen, wie er die Körper der Menschen, die ihm ausgesetzt sind, zurichtet und daran, wie diese Menschen handeln.
Eine ganze Reihe dieser Geschichten und Bilder stelle ich in diesem Buch vor. Sie lassen vermuten, dass die Hoffnungen, die in den Anfangstagen des Kapitalismus in ihn gesetzt worden sind, allesamt enttäuscht wurden. Während die Autoren des Frühkapitalismus glaubten, dass es »für einen Mann wenig Möglichkeiten [gäbe], sich unschuldiger zu betätigen als beim Geldverdienen«, wie etwa der englische Dichter Samuel Johnson (1709–1784) schrieb, treten uns die Reichen in aktuellen Darstellungen als tyrannische Monster gegenüber, deren Seelen von der Habgier zerfressen und deren Leiber von ihrem ausschweifenden Luxus verzehrt worden sind.⁶ Warum, oder unter welchen Umständen, der Kapitalismus seine zivilisierende Kraft verliert und einen tyrannischen Charakter gewinnt, ist eine Frage, die ich mir in diesem Buch stelle (vgl. Kap. 2, 4 und 5).
Eine weitere Frage betrifft den Ursprung der sittlich-moralischen Kritik an den reichen Mitgliedern einer marktwirtschaftlich organisierten, wir können auch sagen: bürgerlichen Gesellschaft. Diese Kritik ist so alt wie das Nachdenken über die bürgerliche Gesellschaft selber. Wir finden sie schon bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der als einer der ersten über die Verbindungen von moderner Wirtschaft und Gesellschaft nachgedacht hat. Er hat den Begriff des »reichen Pöbels« geprägt, um damit jene zu beschreiben, deren Reichtum es ihnen erlaubt, sich aus dem »Band der Not« herauszulösen. Dieses Band der Not, so Hegel, verbindet die meisten Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft miteinander, indem es sie zwingt, zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse auch die Bedürfnisse von anderen und mithin der Allgemeinheit zu befriedigen (vgl. Kap. 3).
Ich greife im Folgenden Hegels Überlegungen auf, um die Kritik an den Reichen zu verstehen. Dieser Rückgriff mag zunächst überraschen. Ist unser schon von der Digitalisierung geprägter Kapitalismus mit dem Band der Not, das die Menschen im frühen 19. Jahrhundert in ihren Bedürfnissen verband, nicht bestenfalls noch lose verbunden? Funktionieren globale Märkte nicht gänzlich anders als die der größtenteils noch agrarischen, sich gerade erst industrialisierenden Gesellschaft, in der Hegel lebte?
Tatsächlich tragen Hegels Überlegungen für das Verständnis aktueller ökonomischer und sozialer Probleme jedoch sehr weit, wie eine kleine Renaissance neuerer Hegel-Lektüren in den vergangenen Jahren gezeigt hat.⁷ Auch im Hinblick auf meine Fragen führt der Rekurs auf Hegel zu überraschenden Ergebnissen. Er kann nämlich nicht nur zeigen, worin die Asozialität der Reichen genau besteht, sondern auch, dass ihre Unsittlichkeit weniger Ausdruck eines persönlichen Fehlverhaltens ist als ein Effekt der ökonomischen und sozialen Strukturen unserer Gesellschaft. Zusammen mit dem Wohlstand, den sie vielen ihrer Mitglieder schenken, bringen diese Strukturen auch den Pöbel hervor – sei er nun reich oder arm.
Dabei machen natürlich weder Armut noch Reichtum jemanden zum Pöbel, sondern sein Verhalten oder, wie Hegel es nannte, seine »Gesinnung«.⁸ Zu pöblisieren, also zu jemandem zu werden, der sich pöbelhaft verhält, ist aber etwas, das dem Reichen zuteil wird. Denn unsere kapitalistische, marktwirtschaftliche Gesellschaft bringt unweigerlich Reiche hervor und entlässt sie aus ihren sozialen und sittlichen Banden. Dadurch werden sie asozial. Es sei denn freilich, die Reichen würden ihrerseits eine große sittliche Anstrengung unternehmen, um dieser extremen Form der Wohlstandsverwahrlosung entgegenzuwirken (vgl. Kap. 3).
Gleichzeitig helfen Hegels Überlegungen auch, die Kritik an den Reichen selbst besser zu verstehen und zu erkennen, was diese Kritik eigentlich über diejenigen aussagt, die sie üben. Dieses Buch beschreibt also nicht nur die Kritik an den Reichen, sondern kritisiert sie auch. Es unternimmt eine Art Metakritik, das heißt eine Unterscheidungsarbeit der Kritik selbst. Damit verbunden ist eine Doppelfigur, die im Folgenden immer wieder auftritt: Ja, es ist viel Wahres an der Kritik an den Reichen. Mehr noch: Die Reichen sind Pöbel. Die Kritik an ihnen wird jedoch oft mit einer gewissen Verlogenheit hervorgebracht. Denn wenn wir den Blick von der Mikroebene auf die Makroebene erweitern – und es gibt eine ganze Reihe von globalen Untersuchungen über Ungleichheit und ihre Folgen, die das tun –, sehen wir sehr deutlich, dass sich weite Teile der Bevölkerung der westlichen Industrienationen dem Rest der Welt gegenüber genauso verhalten, wie sie es dem reichen Pöbel ihrer eigenen Gesellschaft vorwerfen: Sie spielen ihre ökonomische Souveränität rücksichtslos aus, befriedigen hemmungslos ihre Wünsche und lassen andere dafür bezahlen. Es gibt also nicht nur den reichen Pöbel der westlichen Industriegesellschaften, sondern auch den reichen Pöbel der Weltgesellschaft.
Deshalb ist die Kritik an den Superreichen heuchlerisch. Sie spaltet negative Aspekte des ökonomischen Systems ab, projiziert sie auf andere und dämonisiert diese dann, damit dieses System weiterhin bejaht werden kann und die Kritiker sich ungeniert ihrer eigenen Profitgier widmen können. In diesem Sinne schließt die Dämonisierung der Reichen an Strategien an, die wir vom Antisemitismus als Antikapitalismus kennen (vgl. Kap. 7).⁹
Diese Mechanismen der Abspaltung und Projektion sind ein Grundzug der Kritik am reichen Pöbel. Sie zeigen sich auch darin, dass die Ausschweifungen der Reichen als Kennzeichen eines sittlichen Mangels aufgefasst werden, obwohl sich darin nur ein Überschuss jener Freiheit zeigt, die auch die Kritiker für sich selbst beanspruchen. In der kulturellen Imagination der Reichen als Schurken offenbart sich das böse Gewissen des Homo oeconomicus, der nur sittlich ist, wenn er dazu gezwungen wird. Der Bürger ist rechtschaffen nur, weil er gehemmt ist. Deshalb kritisiert er den hemmungslos freien Reichen als pöbelhaft (vgl. Kap. 6).
Mithin handelt es sich bei dieser Form der Kritik also um eine Spielart des »kompensatorischen Humanismus«, wie ihn der Soziologe Kenneth Burke beschrieben hat: die Auslagerung des moralischen Gewissens in die kulturelle Imagination. Dort erfüllt es eine Ersatzfunktion, das heißt es kann zwar zur Geltung kommen, bleibt aber für das eigene Handeln unschädlich.¹⁰ Ich meine, dass auch der moralischen oder sittlichen Kritik an den Reichen solch eine Ersatzfunktion zukommt. Denn die Kritiker versuchen in der Verurteilung der Gier der anderen nicht nur von ihrer eigenen Gier abzulenken und das ökonomische System von jedweder Kritik unangetastet zu lassen, sondern sie wollen es auch guten Gewissens genießen können. Und wenn sich dieses gute Gewissen nicht von selbst einstellt, weil die eigene Habgier doch allzu bewusst ist, soll es wenigstens nachträglich wiederhergestellt werden. Ebendas leistet die Abwertung der Reichen als pöbelhaft (vgl. Kap. 3, 5 und 7).
Moralische Kritik dient in der bürgerlichen Gesellschaft aber weniger der Behauptung oder Verteidigung von Moral als der Behauptung des eigenen Standpunkts. Deshalb sind wir in den Geschichten von Gut und Böse, in die wir unsere Erfahrungen mit der Ökonomie übersetzen, immer die Guten – und die Bösen immer die anderen. Die moralische Kritik an den Reichen gehört mithin zu den Strategien, sich selbst Bedeutung zu verleihen und die eigenen Ansprüche zu legitimieren. Sie steht in einem größeren Kontext der Selbstbehauptung durch Moral, die sich neuerdings verstärkt quer durch alle gesellschaftlichen Schichten