Literacy: Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur
Von Sylvia Näger
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Buchvorschau
Literacy - Sylvia Näger
Sylvia Näger
Literacy
Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur
Herder LogoImpressum
Überarbeitete Neuausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung:
Schwarzwaldmädel, Simonswald
Umschlagfoto: © Fotosearch
Fotos im Innenteil: Hartmut W. Schmidt, Freiburg
ISBN (E-Book) 978-3-451-80020-7
ISBN (Buch) 978-3-451-32438-3
Dieses Buch widme ich meiner Mutter.
Sie war die verlässlichste und liebste Vorleserin meiner Kindheit.
Durch ihre Leselust hat sie mir früh vermittelt,
dass Leben und Abenteuer, Fantasie und Weltwissen
in der Literatur zu finden sind.
Inhalt
Vorwort
1 Was ist Literacy?
Zum Begriff Literacy
Entwicklung früher Literacy-Erfahrungen
Welche Wege führen zu Literacy?
2 Mit offenen Ohren – Zuhören und Wahrnehmen
Sprachverstehen und Sprachbewusstsein
Akustische Wahrnehmungsspiele
3 Reim und Rhythmus – Speichermedien für Sprache
Rhythmus und Klang in Versen, Reimen und Gedichten
Reime in Bewegung
Gedichte in der Kita
4 »Noch eine Geschichte bitte!«
Vorlesen: erste Begegnungen mit Schrift- und Buchkultur
Die Stimme: das Kostüm des Vorlesers
Worauf es beim Vorlesen ankommt
5 Ein Bild vor Augen, eine Geschichte im Ohr
Lernchance Bilderbuch
Bilderbücher dialogisch lesen und betrachten
Bilderbücher als Texterfahrung
Textfreie Bilderbücher
Allererste Bilderbücher für Kinder unter drei Jahren
Wortlos sprachintensiv: Das Wimmelbuch
Sachbücher
Bildwörter-Bücher
Bilderbücher in zwei oder mehreren Sprachen
Illustrierte Liederbücher
6 »Und dann traf der Kobold das kleine Huhn«
Erzählimpulse im Kita-Alltag
Erfahrungen mit dekontextualisierter Sprache sammeln
Die Struktur einer Geschichte erfassen
Exkurs: Die Sprache der Märchen
Sprachanregende Rituale, Aktionen und Spielideen
Methodische Hilfsmittel für kleine Geschichten
7 Bilderbuchkino, auditive Medien, CD-ROM und Apps
Literale Anregungen durch audiovisuelle Medien
Wie Tonträger zum Sprechen motivieren können
CDs und Hörbücher selbst gestalten
Bilderbuchkino
Bilderbuch-Verfilmungen
Ein Film, der zum Erzählen anregt
CD-ROMs
Bilderbuch-Apps
8 »Ich bin der Kasper und du das Krokodil«
Spiel und Theater mit Bilderbuch, Buchstaben und Worten
Szenische Sprach-Spiele
Figurentheater, Finger- und Reimspiele
Ein Gedicht als Drehbuch
Literacy-Aktivitäten im Rollenspiel
9 Logos, Piktogramme, Bilderschriften …
Von Zeichen umgeben
Zeichen entdecken und erforschen
Eigene Zeichensysteme entwickeln
Noten – das Geheimnis schwarzer Punkte
Brailleschrift – Zeichen mit den Fingerspitzen lesen
Bilderschriften alter Kulturen
Experimentieren mit Bliss-Symbolen
Schriftzeichen unterschiedlicher Kulturkreise
10 Buchstaben, Worte und Sätze …
Kinder auf dem Weg zur Schrift
Die Stufen des Schreiblernprozesses
Für eine positive Fehlerkultur
Die Schreibmotorik erproben
Buchstaben entdecken
Den eigenen Namen schreiben
Worte schreiben und lesen
Anders schreiben
Schreibimpulse in Bilderbüchern
Schriftsprache als Thema im Bilderbuch
Comic-Figuren zum Sprechen bringen
Briefkultur
11 Ein literarisierendes Klima in der Kita schaffen
Der Buch- und Medienbestand
Nutzung und Präsentation
Die Rucksackbibliothek
Gemeinsame Rituale
Der Welttag des Buches
Die Buchausstellung
Die öffentliche Bibliothek
Literacy-Projekte
12 Auswahlbibliographie
Bücher und andere Medien für Kinder
Bücher zum Vorlesen
Kommunikativ sprachanregende Bilderbücher
Lyrik im Bilderbuch
Wimmelbücher
Sachbilderbücher
Bildwörter-Bücher
Bilderbücher in zwei oder mehreren Sprachen
Illustrierte Liederbücher
CDs:
Hörspiele – Kino im Kopf
Hörbücher – Vorlesen lassen
Lyrik für Kinder: Anthologien und CDs
Bilderbuchkino
Bilderbuch-DVDs
CD-ROMs – Softwaretitel für Kinder
ABC-Bücher
Brief- und Buchkultur in der erzählenden Kinderliteratur
Fachliteratur
Vorwort
mein ABC
Ich lernte lesen auf Leibnitz Keksen
und fütterte
die Lieblingspuppe
mit warmer
Großbuchstabensuppe.
Ich schrieb deinen Namen
aus Russisch-Brot
und aß dich auf.
Aus Hungersnot.
la_paula
Diese Lyrik, verfasst von einer jungen Frau, vermittelt: Literacy hat ihre Wurzeln tief in den Tagen unserer Kindheit.
Ein literarisches Klima in der Kita weist Kindern den Weg zu Sprache, Schrift und Lesen – das Aufwachsen mit Geschichten, Büchern und intensiver sprachlicher Interaktion trägt maßgeblich dazu bei, Kinder in ihrer Sprach- und Literacy-Kompetenz zu stärken. Erzieherinnen und Erzieher sind die Lotsen auf dem Weg zur Sprache und in die Bücherwelt.
Kinder brauchen anregende Begegnungen mit Schrift und Zeichen, die die Welt bedeuten; sie brauchen alle Arten von Büchern und Printmaterialien. Und vor allem brauchen sie zuverlässige Vorleserinnen und Vorleser, die für sie die schriftliche Sprache in eine mündliche zurückverwandeln und sie motivieren, die Bedeutung von Geschichten gemeinsam sprachlich auszuhandeln.
Kindern frühzeitig eine literarisch anregende Umgebung zu bieten, sie zu Lesefreude und Lesemotivation zu führen bedeutet, ihre Bildungschancen mitzugestalten und stellt einen Beitrag zur Sprach- und Lesekultur unserer Gesellschaft dar.
Vor diesem Hintergrund vermittelt dieses Buch das Wesen des Begriffs Literacy, indem es aufzeigt, dass ein sprachlich reflektiertes und literal geprägtes Klima in der Tageseinrichtung Kinder unterstützt, die Struktur der Sprache zu lernen und erfolgreich anwenden zu können. Es zeigt die Verbindungswege zwischen der gesprochenen Sprache und der geschriebenen Sprache auf und unterstreicht die Bedeutung, Kindern früh den Zugang zur Schrift- und Buchkultur zu eröffnen. Dabei wird deutlich, dass die Ermöglichung einer frühen Begegnung mit Schriftsprache Bestandteil sprachlicher Bildung ist und keine Frühalphabetisierung bedeutet.
Da drei- bis sechsjährige Kinder auf ihre Art großes Interesse an Lesen und Schrift zeigen und der Schriftspracherwerb ein Entwicklungsprozess ist, der bereits lange vor der Einschulung beginnt, ist es wichtig diese frühe Motivation aufzugreifen. Im Vordergrund stehen dabei das individuelle Interesse an Zeichen und Schrift und der kreative und spielerische Zugang zum Schreiben.
Große Bedeutung kommt dabei der entwicklungsgemäßen Gestaltung dieser im Alltag integrierten Bildungsaufgabe zu. Erlernen Kinder Deutsch als Zweitsprache, brauchen sie eine Sprach- und Literacy-Bildung, die ihre Situation mit einbezieht. Wie dabei mit intensiven lyrischen Erlebnissen und erstsprachlichen Literaturerfahrungen eine Wertschätzung der Erstsprachen vermittelt werden kann, wird ebenfalls in den Blick genommen.
Frühe Erfahrungen mit unterschiedlichen Facetten von Lese-, Erzähl- und Schreibkultur fordern Kinder heraus, sich selbst als sprechende, zuhörende, erzählende, lesende und schreibende Person zu erleben. Das Buch vermittelt die Vielfalt der Methoden und die Bedeutung qualitativ hochwertiger Materialien, die Kindern anregende Erlebnisse mit Sprache und Literacy ermöglichen.
Wenn sich Kinder und Erwachsene gemeinsam mit Freude und Forschergeist auf den Weg zu Sprache und Schrift machen, sind dies beste Voraussetzungen dafür, dass sprachliche Bildung und Literacy in allen Bildungsbereichen gelebt und erlebt wird.
Freiburg, im April 2013
Sylvia Näger
AbbildungIn diesem Kapitel erfahren Sie
welche Grundfertigkeiten und Fähigkeiten unter Literacy zu verstehen sind
wie sich frühe Literacy-Erfahrungen entwickeln
welche Aspekte Literacy-Erziehung in Kindertageseinrichtungen beinhaltet
Zum Begriff Literacy
Eine Schlüsselqualifikation, die auch im Zeitalter der elektronischen Medien unverzichtbar ist, ist die Fähigkeit, durch Sprache und Schrift zu kommunizieren. In der aktuellen Diskussion wird diese Kompetenz als »Literacy« bezeichnet.
Der englische Begriff »Literacy« meint im engeren Sinne die Kompetenz, lesen und schreiben zu können. Im weiteren Sinne gebraucht, bezieht er alle Erfahrungen und Grundfertigkeiten rund um Erzähl-, Sprach- und Schriftkultur mit ein. Was sind das für Grundfertigkeiten? Nach Ulich (2008) handelt es sich dabei um Fähigkeiten »wie Textverständnis und Sinnverstehen, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern, die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, die Vertrautheit mit Schriftsprache oder mit ›literarischer‹ Sprache oder sogar Medienkompetenz.«
Diese Fähigkeiten entwickeln sich in den ersten Lebensjahren. Manche Kinder hören schon früh eine Gutenachtgeschichte, leben aber (vielleicht als Einzelkind) in einem relativ schweigsamen Haushalt. Andere Kinder sind stets von Sprache umgeben, Geschichtenerzählen gehört zum familialen Alltag. Schriftsprache hat dagegen allerdings keine Bedeutung –, dass man Botschaften und Nachrichten auf Zetteln oder in Briefen notieren kann, gehört nicht zu ihrer Erfahrungswelt. In anderen Familien kommt täglich eine Zeitung ins Haus, aber über diese Buchstabenseiten wird nicht gesprochen. Ankommende E-Mails oder eine SMS prägen die Stimmung in einigen Familien, ohne dass die Kinder wissen, warum. Wenn ein Kind mit drei Jahren fröhlich das McDonald’s Logo erkennt, sind einige Eltern erfreut, andere nicht. All dies sind Literacy-Erfahrungen, die Kinder in der frühen Kindheit machen. Erfahrungen mit Sprache, Schrift und Bildern – und jede dieser Erfahrungen bildet einen Mosaikstein bei der Entwicklung der Schreib- und Lesefähigkeit.
Entwicklung früher Literacy-Erfahrungen
Kinder lernen lange vor dem Schuleintritt sehr viel über das Schreiben und Lesen, indem sie beobachten, welchen Stellenwert Reden, Schreiben, Lesen, das Festhalten von Informationen in ihrer Umgebung haben. Nach Haug-Schnabel und Bensel (2011, S. 50) handelt es sich dabei um sensible Phasen für bestimmte Entwicklungsvorlieben, in denen Kinder auf der Suche nach Entwicklungsanreizen sind. Es sind vielfältige, frühe Erfahrungen in unterschiedlichsten Bereichen. Bereits im Säuglingsalter sammelt das Baby erste Erfahrungen, z. B. wie die Bezugspersonen auf seine Artikulationen, auf sein Schreien oder Lächeln, reagieren – mit einem Schnuller oder eben mit sprachlicher Zuwendung.
Aus welchem Grund aber werden Schriften und Zeichen im weiteren Entwicklungsverlauf für Kinder so interessant? Haug-Schnabel und Bensel (a.a.O.) verweisen als Antwort auf diese Frage auf den Film »Ins Schreiben hinein« von Donata Elschenbroich. Demnach begeben sich Kinder an vielen Orten auf Spurensuche nach Symbolen und Zeichen:
»Ein Grund wird sein, dass vier bis fünf Jahre Sozialisation dem Kind gezeigt haben, dass es sich lohnt, Informationen festzuhalten, damit sie längerfristig zur Verfügung stehen, auch wenn der Informant gerade nicht präsent ist« (a.a.O., S. 113). Ein weiterer Grund für das starke Interesse an Zeichen und Symbolen besteht darin, dass Kindern die Bedeutung von Schrift, Zeichen und Symbolen als Mittel des Miteinanderkommunizierens deutlich wird. »Schrift wird somit als Möglichkeit verstanden, sich austauschen und etwas weitergeben zu können. Diese Stufe der kindlichen Entwicklung rekapituliert wohl die Entstehung der Schriftlichkeit im Laufe der Menschheitsgeschichte« (a.a.O., S. 51).
Erste schriftliche Begriffe werden von Kindern zunächst bildhaft dargestellt. Zu einem späteren Zeitpunkt wählen sie für ihre Vorstellungen abstrakte Zeichen, die der jeweiligen Kultur entsprechen (a.a.O., S. 50). Die Bezugspersonen sollten in dieser Phase die besonderen Schriftzeichen der Kinder akzeptieren und keine Korrekturen vornehmen, zumal es nicht um starre Lernprogramme oder korrekte Schreibweisen geht, sondern um die Förderung des kindlichen Interesses an Schrift und Sprache. Kinder profitieren von kompetenten Schriftnutzern, die im Alltag selbstverständlich mit Schrift umgehen, die ihnen ermöglichen, ihre Beobachtungen und Feststellungen zu erproben und Gelegenheit geben, die Funktionen und die Struktur der Schrift zu entdecken.
Besonders unterstützend wirken sich auch körperliche Nähe und Zuwendung auf die Lernmotivation des Kindes aus. Das Bilderbuch ist das Medium, bei dem Kinder erste Erfahrungen mit der Lese- und Schriftkultur sammeln, und ermöglicht sensible Zugewandtheit und körperliche Nähe beim Vorlesen und Betrachten der Bilder. Nach Ulich (2003, S. 10) handelt es sich hier um eine besondere Form des Dialogs – vom einfachen Benennen der sichtbaren Gegenstände über Beschreibungen, Umschreibungen, die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Bildern und Textstellen bis hin zu Deutungen und der Darstellung persönlicher Sichtweisen. Diese Form des Dialogs zwischen Kind und Erwachsenem ermöglicht eine spezifische Erzählsituation, in der das Zwiegespräch und die Beziehung im Mittelpunkt stehen: Es geht um das Formulieren und das Nachdenken über Zusammenhänge, das Präzisieren von Gemeintem und nicht zuletzt um den kreativen Umgang mit Sprache. Gemeinsam mit anderen die Bedeutung von Texten und Bildern auszuhandeln ist eine Kommunikationsform, die Kinder im Umgang mit Literatur erfahren. Je selbstverständlicher sie erleben, dass Bücher, Zeitungen und alle Arten von Printmedien genutzt werden, dass Schrift und Sprache als Kommunikationsmittel bedeutsam sind, desto mehr werden sie sich für die Welt der Buchstaben interessieren und ihre eigenen Erfahrungen machen wollen.
Frühe Literacy-Erfahrungen unterstützen Kinder zudem in der Entwicklung ihrer phonologischen Bewusstheit – nach Kammermeyer (2004) eine wichtige Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb in der Grundschule. »Unter phonologischer Bewusstheit versteht man die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit von der Bedeutung einer Mitteilung abzuwenden und auf den formalen Aspekt der Sprache zu lenken. Sie zeigt