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Das Schwedengrab: Schwaben Krimi
Das Schwedengrab: Schwaben Krimi
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eBook365 Seiten5 Stunden

Das Schwedengrab: Schwaben Krimi

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Über dieses E-Book

Im winterlichen Faschingstreiben des schwäbischen Städtchens Erbach entführen zwei Dämonen eine Frau, scheinbar im Scherz - tatsächlich aber verschwindet die junge Kurdin für immer.
Sebastian Sailer, Psychiater mit einer Nase für Unheil, trifft am gleichen Tag in Erbach ein, um seine Kur in der Schlossbergklinik anzutreten. Die Begegnung mit einer alten Frau, die ihm wie eine Fastnachtshexe vorkommt und ihm heimlich einen menschlichen Zahn in die Hand gibt, lässt ihn nicht mehr los. Er begibt sich mit diesem Zahn auf eine Spurensuche, die ihn in die geheimnisvolle Schwedenhöhle führt - zurück in die Vergangenheit und schließlich buchstäblich an die Pforte der Hölle.
Unaufdringlich schimmert feiner Humor durch die Zeilen, nur in leisen, sich steigernden Untertönen kündigt sich das Unheil in der scheinbar idyllischen Schwäbischen Alb an. Die Spannung wächst, spitzt sich zu - bis zu einem furiosen Höhepunkt, der durch ein schaurig-schönes Ereignis konterkariert wird. Der Autor legt einen rundum gekonnten Kriminalroman vor.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum29. Feb. 2016
ISBN9783863586751
Das Schwedengrab: Schwaben Krimi
Autor

Meinrad Braun

Meinrad Braun, geboren in Ulm, studierte Völkerkunde, Volkskunde und Paläanthropologie sowie Medizin in Freiburg. Er lebt seit 1986 in Mannheim und ist als ärztlicher Psychotherapeut tätig. Seit 2005 schreibt er Romane und Erzählungen, die in verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurden. www.meinrad-braun.de

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    Buchvorschau

    Das Schwedengrab - Meinrad Braun

    Meinrad Braun, geboren 1953, ist Psychotherapeut. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Mannheim. Er schrieb drei Kriminalromane mit dem Psychiater Sebastian Sailer als Titelfigur.

    2006 erschien der Roman »Winterreise« und 2007 die Erzählung »Die künstliche Demoiselle« im Axel Dielmann Verlag Frankfurt.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

    © 2014 Hermann-Josef Emons Verlag

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-86358-675-1

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    Für Heike

    1

    Das Mädchen trat ins Freie und schloss die schwere Tür hinter sich. Einen Augenblick blieb sie vor dem zwei Meter hohen, stabilen Drahtgeflecht stehen. Der Zaun war ganz neu und frisch verzinkt. Aber es krönten ihn keine Stacheldrahtrollen. Wenigstens das nicht, dachte sie.

    Sie hob ihr Gesicht in die kalte Luft. Der fahle Wintertag legte sich wie ein feuchtes Tuch auf den Ausschnitt ungeschützter Haut, den das Kopftuch freiließ, das ihre Haare, die Stirn und den Hals bedeckte. Sie roch den Schnee. Die Wolken an der Kante der Berge hielten ihn bereit.

    Sie ging los, verließ den Bannkreis des Zaungevierts, in dem die acht Wohncontainer standen. Sie setzte ihre Schritte fest auf die vom Frost harte Erde. Ihre Füße steckten in hochgeschnürten Stiefeln, sorgfältig eingefettet und geputzt, ihre Beine waren warm in den grauen wollenen Strümpfen, die Knie streiften beim Gehen den schweren schwarzen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Darüber trug sie den warmen Wollmantel mit hohem Kragen und das eng anliegende Kopftuch, das ihre schwarzen Haare verbarg.

    Sie hatte sich gerüstet. Mit diesen Kleidern, mit der ganzen Entschlossenheit ihrer neunzehn Jahre. Viel mehr als das, was sie jetzt am Leib trug, besaß sie nicht, abgesehen von dem kleinen Koffer, der in der Blechhütte lag, in der sie jetzt wohnte. Was darin war, glich dem Notgepäck, das alle Flüchtlinge bei sich tragen. Fetische gegen die Einsamkeit, gegen die Angst. Fotos, Papiere, Briefe. Ein Stofftier war dabei, eine kleine gestreifte Katze.

    Eine Rüstung gegen die Kälte. Nicht nur gegen den eisigen Wind, den sie auf ihrem Gesicht spürte, während sie mit langen, kräftigen Schritten dem Ort zustrebte. Eine schmale, dunkle Gestalt, die allein über den grauen Feldweg zwischen den gefrorenen Ackerschollen ging. Diese Rüstung half auch gegen eine andere Art von Kälte.

    Die blaugrauen Wolken glitten von den Kanten der Berge herab, träge Luftwesen, die im Zwielicht schwammen, sich auflösen wollten, um den Schnee, den sie trugen, auszuschütten, hinunter auf die kalte, fremde Erde.

    Sie sehnte sich nach diesem Schnee. Er deckte die Fremde zu, war ein Leintuch, unter dem die Welt einschlief. Er verwandelte alles, er erzählte ihr von zu Hause.

    Als sie die ersten Häuser des Städtchens erreichte, traf sie auf eine Gruppe Maskierter. Junge Männer in Anoraks mit Totenschädelgesichtern. Weiße Gummimasken mit schwarzen Augenhöhlen und Nasenlöchern, die sie über das Gesicht gezogen hatten. Sie hielten Dosen in den Händen. Riefen ihr Worte zu, die sie nicht verstand. Schmutzige Worte. Sie nahm den fuseligen Alkoholgeruch wahr, als sie an ihnen vorüberging. Mit einer jähen Bewegung ihrer Schulter wich sie einer ausgestreckten Hand aus.

    Die Burschen schwenkten die Dosen, als wollten sie ihr Bier anbieten. Ihr Herz schlug schnell, die Halsmuskeln taten weh, sie war hellwach, bereit, loszulaufen. Aber die Gruppe blieb schwankend stehen, grölte, die unverständlichen Worte trieben hinter ihr her, langgezogene, höhnische Geräuschfetzen.

    Sie kam in eine Neubausiedlung, manche Häuser waren noch nicht verputzt. Dazwischen lagen Baustellen mit Betonmischern und Sandhaufen. Die Häuser wirkten verlassen, unbewohnt, hätten nicht hinter manchen Fenstern kleine, elektrisch beleuchtete Sterne gehangen. Was die Sterne bedeuteten, verstand sie nicht.

    Sie schritt rasch aus. Die Autos der Bewohner standen unter separaten Holzhäusern. Teure Autos, sauber gewaschen, der Lack und die Chromteile schimmerten selbst in dem fahlen Winterlicht, das über die kleine Stadt ausgegossen war, als wäre der Himmel ein Lampenschirm und die Sonne dahinter eine viel zu schwache, armselige Glühbirne.

    Fünfzehn Uhr. Sie orientierte sich am Kirchturm, direkt daneben musste es sein. Der Polizeiposten. Leicht zu finden, hatte der Mann am Telefon gesagt.

    Ein Schild, ein blaues Schild. »Polizei« steht darauf.

    Musik drang an ihre Ohren, ein gedämpftes Durcheinander aus Trompeten und Diskomusik. Als sie um die Ecke bog, schallte ihr die Musik unvermittelt lauter entgegen, und sie sah Reihen von Menschen, die die Hauptstraße säumten.

    Sie raffte ihren Mantel mit der behandschuhten Rechten enger um die Brust und durchquerte die Reihen, schnell, mit gesenktem Kopf, ohne Blickkontakt aufzunehmen. Sie sah nur konzentriert auf die Schultern, die Arme und Hände, zwischen denen sie sich hindurchschob. Diesmal griff niemand nach ihr.

    Die Zuschauer hatten sich untergehakt, wiegten sich im Takt der dröhnenden Musik und sangen dazu. Hatten Clownsgesichter, dazwischen ein paar Gummifratzen, die wohl Fernsehmonster darstellen sollten. Einige trugen nur komische Hütchen und Pappnasen, die Kinder hatten die Gesichter bemalt. Die Clowns und Monster wiegten sich, den Elefanten gleich, die sie einmal im Zoo gesehen hatte, stoisch im Takt der Musik hin und her wie in Trance, viele sahen dabei auf den Boden. Es schien, als wäre die Fröhlichkeit etwas, was von ihnen verlangt wurde.

    Aber vielleicht war es nur das fahle Licht, in das sich jetzt feine Flocken zu mischen begannen, die ganz unmerklich in das Bild hineinrieselten. Sie bemerkte sie erst, als sie auf ihrem Gesicht hängen blieben und zu schmelzen begannen. Kalte, kristallfeine Nadeln berührten ihre Nase, ihre Wangen und ihre Lippen.

    Eine Gruppe rot gekleideter Gestalten kam in schnellem Trab die Straße herunter. Sie trugen Holzmasken mit aufgerissenen Glotzaugen und gebleckten Hauern. An den Köpfen Tierfelle, Fuchsschwänze baumelten von den Schultern. Der Trupp bewegte sich anders als die apathisch schaukelnde Menge der Zuschauer. Geduckt, mit dem sichernden Blick einer Jägerhorde, klingelnde Schellen skandierten ihren Trab. Sie kamen rasch näher.

    Plötzlich knatterte ein Knallfrosch in einer Nebenstraße. Sie taumelte, als wäre sie getroffen. Bilderfetzen rutschten ihr vor die Augen. Soldaten, ein Stoßtrupp. Schüsse. Bilder, die sie noch vor Kurzem hatte sehen müssen.

    Der Schreck flutete heiß durch Brust und Hals, fast hätte sie aufgeschrien, aber sie presste die Hand auf den Mund und drängelte durch die Reihe am Straßenrand, die ihr den Fluchtweg zu versperren drohte. Man griff nach ihr, eine rote Plastikmaske rief etwas Unverständliches direkt in ihr Ohr, ein Mondgesicht mit zitterndem Drahtblumenstrauß auf der Glatze und begütigender Stimme schob sie weiter. Ein paar Frauen lachten aufgekratzt.

    Hände legten sich auf ihre Schultern, sie machte sich steif, duckte sich. Es war ihr egal, ob sie höflich war. Mit den Ellbogen verschaffte sie sich freie Bahn. Drehte sich nicht um, rannte weiter im wirbelnden Schnee. Ließ die laute Musik hinter sich.

    In die erste Seitengasse bog sie ein. Die alten Häuser hier schienen bereits zum Stadtkern zu gehören, am Ende war der Kirchturm zu sehen. Die richtige Richtung also. Nach ein paar Schritten wurde sie ruhiger, sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Ihr Herz hämmerte, als poche es auf Holz, sie meinte, die Schläge bis in die Schläfen hinauf zu hören.

    Schneeflocken schmolzen auf ihrem Gesicht, das sich so heiß anfühlte, als hätte sie Fieber.

    Es passiert dir nichts, sagte sie sich. Du erinnerst dich bloß. Es ist alles vorbei. Du bist in Sicherheit. Sie wurde ruhiger, als sie den Kirchturm durch die herabschwebenden Schneeflocken hindurch dicht vor sich sehen konnte.

    Der Kirchplatz war leer bis auf ein paar Leute unter aufgespannten Schirmen am anderen Ende, die sich schemenhaft durch das Schneetreiben bewegten. Es war dunkler geworden. Eine Laterne verschwand zuckend in der Hand eines Kindes hinter dem düsteren Rumpf des Kirchenschiffs.

    Sie blieb stehen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, wischte sich die Schneekristalle aus den Brauen und suchte das Schild, wie man es ihr angewiesen hatte.

    Das Schild war sogar beleuchtet. Ein blaues Schild an einer der alten Fachwerkfassaden. Sie sah auf die Uhr. Die Zeit stimmte genau. Langsam, erleichtert ging sie hinüber. Mit so vielen Schwierigkeiten hatte sie nicht gerechnet. Ausgerechnet an diesem Tag zur Polizei. Wie leicht hätte sie zu spät kommen können.

    Sie sah die beiden Dämonenfratzen nicht, die aus einer Seitengasse glitten. Sich umsahen, einander zunickten, losliefen. Das schnelle Tappen der Turnschuhe hinter ihr und das Klingeln der Schellen schreckte sie erst auf, als der eine bereits die Hände nach ihr ausstreckte. Sie warf sich herum, aber da hatten sie sie schon gepackt.

    Sie schrie. Eines der beiden fellbehangenen Monster nahm sie einfach um die Hüften, trotz ihres Zappelns. Der andere hielt ihr die Hände fest, mit einem schmerzhaften Griff, als sie versuchte, auf den Nacken des Mannes einzuschlagen, der sie sich über die Schulter geworfen hatte wie ein Stück Wild. Ihre Schreie gellten schrill über den Kirchplatz, der durch den Vorhang des dicht herunterfallenden Schnees kaum noch zu erkennen war. Die beiden Dämonen grölten laut im Chor, schwenkten die Arme, verwandelten unter Bocksprüngen das aufbegehrende Schreien ihrer Beute in eine tollpatschige finstere Komödie.

    So trabten sie schneebedeckt, von leisem Klingeln begleitet, unter dem blauen Schild hindurch, das wie eine dezente Reklame durch den fallenden Schnee leuchtete. Die Fenster darunter waren dunkel.

    Ein paar Sekunden später war der Kirchplatz leer.

    Nur der Schnee fiel lautlos weiter und bedeckte mit seinem weißen Pelz die frischen Spuren der beiden Maskenträger, die in eine Seitengasse abgebogen waren.

    2

    Es hatte zu schneien begonnen. Sailer schaltete den Scheibenwischer erst ein, als die feuchten Flocken die Windschutzscheibe mit einem hellgrauen Filz belegt hatten, der allmählich mit dem ebenso grauen Horizont verschmolz.

    Vor Kurzem hatte man noch die Berge erkennen können, die breite Tafel der Alb. Eine alte, von Holzwürmern zerfressene Truhe, in die flache Landschaft hineingestellt. Die Autobahn, ein dünnes Band zwischen den Hügeln, auf dem jetzt Lichterketten unterwegs waren, leitete ihn darauf zu.

    Er hatte den Schnee schon an der Raststätte, beim Einsteigen in den Wagen, gerochen. Bei Pforzheim waren die ersten Flocken an ihm vorbeigetrieben, kleine Eisschüppchen vorerst, winzige Fingernägel, die einen ungeduldigen Wirbel an die Scheibe trommelten, wenn ein Lastwagen sie aus dem Randstreifen hochsaugte, wo sie sich im braunen Wintergras versteckt hielten. Vorboten, die erkundeten, ob die Erde bereit war für das, was auf der Alb aufgetürmt war. Schmutzig graue Federbetten, schwer vom kalten Schnee, schoben sich da heran.

    Ein mit den Scheibenwischern rudernder Bus kam ihm entgegen, für Sekunden verwandelten seine Scheinwerfer das Schneegestöber in Funkenflug, dann summte er, das Motorengeräusch hinter sich herschleppend, vorbei, wurde vom Schnee verschluckt. Immer dunkler wurde es. Sailer wünschte sich, bald anzukommen. Die Klinik war hoffentlich ausgeschildert.

    Er brauchte noch eine Stunde, bis er sein Ziel erreichte. Der Verkehr kroch über die Dörfer, als hätten alle Leute plötzlich Zeit. Frau Holle, die daran schuld war, hatte ihre Federn auf die Giebeldächer, die Obstbäume, das Gitterwerk der Telegrafenmasten und auf jeden Straßenbegrenzungspfosten geschüttelt. Auch das Erbacher Ortsschild hatte sie nicht vergessen. Eine kleine Mütze für den Pfosten, ein weißer Rand aus Daunen entlang der gelb lackierten Kante.

    Kein Hinweisschild für die Klinik. Man konnte jemanden fragen. Genügend Leute waren ja unterwegs. Sailer beugte sich vor und spähte durch die Sektoren, die ihm die Scheibenwischer freizuhalten versuchten.

    Immer mehr Menschen bewegten sich um ihn herum. Merkwürdig angezogen. Ein Fußballklub? Hooligans?

    Er hatte Mühe, keinen von ihnen umzufahren. Zum Teil liefen die Leute mitten auf der Straße. Durch die schlierige Scheibe sahen sie aus wie bunte Fische in einem schlecht geputzten Aquarium.

    Ein rot-weiß gestreiftes Band tauchte auf, daran hing ein Schild: »Achtung …« Den Rest konnte er im dichten Schneegestöber nicht erkennen. Vorsichtig kurvte er um das Hindernis herum.

    Sailer schob seinen Kopf dicht an die Scheibe. Ein großes, faltiges Gesicht mit riesiger Zigarre und zwei winkende Arme daneben tauchten vor dem Wagen auf. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Der Altbundeskanzler wollte ihn zum Anhalten auffordern. Dicht hintereinander bumsten zwei Schneebälle auf das Autodach. Hinter dem Kanzler, der sich jetzt lamentierend am linken Kotflügel vorbeischob, tauchten noch zwei prominente Plastikgesichter auf.

    Sailer erkannte das Vogelgesicht des Ministerpräsidenten und das Mondantlitz der Kanzlerin, beide bewegten ihre Arme synchron mit seinen Scheibenwischern, einen Moment lang sah es so aus, als würde ein monströses Ballett für Politiker und Maschinen gegeben. Keine schlechte Idee, dachte Sailer und nahm den Fuß vom Gas.

    Er verstand nicht, was sie sagten, hörte aber schwäbischen Tonfall heraus und fühlte sich einen Herzschlag lang heimisch, beinahe gerührt.

    Den Plan, weiterzufahren, gab er in dem Moment auf, als ein Polizist an sein Seitenfenster klopfte. Seufzend zog er die Handbremse an und kurbelte das Fenster herunter.

    Der Polizist war echt. Er trug einen grauen Plastikumhang, der geschnitten war wie ein mexikanischer Poncho, mit einer orangefarbenen Bauchbinde, auf die mit heller Leuchtfarbe »Polizei« aufgedruckt war. Ein paar Schneeflocken wirbelten herein und schmolzen sofort auf Sailers Stirn, als er seinen Stoppelschädel ein paar Zentimeter dem Schutzmann entgegenreckte.

    »Da geht nix mehr«, sagte der mit erhobener Stimme, um den Lärm der Menge draußen zu übertönen, und hob schwunglos die Kelle, die er in der linken Hand hielt. In deren Zentrum brannte eine kleine rote Lampe wie ein ewiges Licht auf dem Friedhof.

    »Heile, heile, Gänsche, es wird ja wieder gut …«, sangen die Leute. Erst jetzt hörte Sailer die Musik, eine Blechkapelle, die sich ein paar Straßenzüge weiter befand. Mit wummernden Pauken, schrägen Fanfarenstößen und scheppernden Becken näherte sich die Kapelle wie ein Trupp Kürassiere. Allerdings passte die Musik der Bläser überhaupt nicht zu dem, was die Leute sangen. Deren Begleitung kam aus den Lautsprechern vom Band. Sailer konnte einen öligen Tenor mit rheinischem Tonfall auf gemischter Orchesterbeilage ausmachen.

    An der Nase des Polizisten nahm er einen kleinen, klaren Tropfen wahr, der eben im Begriff war, der Schwerkraft nachzugeben.

    »Es Kätzche hat e Schwänzche, es wird ja wieder gut …!«, brüllten zwei betrunkene Stenze und hielten ihre Bierdosen einen Moment lang über den gebeugten Rücken des Ordnungshüters. Budweiser, las Sailer geistesabwesend. Mit erhobenen Augenbrauen sah er zu dem Polizisten auf, nickte zustimmend und verwandelte sein Gesicht in eine Frage.

    »Sie müsset das Auto stehe lasse.« Der Polizist hielt sich mit seiner behandschuhten Rechten am Wagendach fest, um von den vorbeidrängelnden Leuten, über sich einen Wald von Schirmen, nicht umgeworfen zu werden.

    Entweder setzte sich die Blaskapelle gegen den öligen Sänger durch, oder der Wind hatte gedreht. Der Narhalla-Marsch näherte sich. Einige der Passanten unter den Schirmen nahmen den Schunkelrhythmus der Kapelle auf.

    »Der Umzug hat schon angefangen. Parken Sie da vorn in der Adlerstraße«, sagte der Schutzmann. Die Hand mit der Kelle schwang sich zwischen zwei Schirmen in die Höhe und wies, für Sailer nun unsichtbar, über das Wagendach in eine imaginäre Richtung. »Die nächste rechts«, ergänzte der Polizist.

    Eine gelbe Papierschlange sauste durch das offene Fenster herein und ringelte sich um die Speichen des Lenkrads.

    Sailer bedankte sich und sah noch, wie der Schutzmann an seine Mütze tippte, da tutete es betäubend an seinem linken Ohr, als hätte er es an eine Autohupe gehalten. Er fuhr zurück wie von einer Wespe gestochen und wischte mit der Hand die Papiertröte mit dem Federchen beiseite, die ihn an den Hals stupste, als das höllische Geräusch bereits verklungen war. Wie die Zunge eines Chamäleons rollte sich das Ding wieder ein und verschwand in dem roten, runzligen Gesicht Satans, der mit hohlen Augen, krummer Nase und Bockshörnern ausgestattet in sein Auto hineinstarrte.

    Eine Sekunde später stieß der Teufel ein helles Kinderkichern aus und verschwand vom Wagenfenster, das Sailer im Begriff war, wieder hochzukurbeln, wobei er die Luftschlange einklemmte.

    Die Strophe »Heile, heile, Mausespeck, in hundert Jahr ist alles weg« wurde kurz vor dem letzten Wort von dem inzwischen geschlossenen Fenster gedämpft.

    Sailer legte den ersten Gang ein und fuhr langsam weiter. Die Luftschlange zerriss. Unter dem Beschuss von Schneebällen hielt er Ausschau nach der Adlerstraße. Schulter an Schulter standen die Leute am Straßenrand, versperrten ihm die Sicht.

    Die Dämonen zeigten ihm den Weg. Eine Reihe Leute am Straßenrand wurde von hinten jäh durchbrochen, drei, vier Schirmträger setzten sich in den Schnee. Zwischen ihnen rutschte eine Hexe auf ihrem großen Reiserbesen in die Straße hinein, geschoben von zwei mit Fuchsschwänzen behängten Gestalten in roten Anzügen, die Holzmasken mit großen Eberzähnen trugen. Alle drei stießen ein lautes Gebrüll aus, während ihre Opfer schimpfend in den Schnee rollten. Die Roten hieben mit Stecken auf die Gestürzten ein, an den Stecken hing eine Art Luftballon. Schweinsblasen, erinnerte sich Sailer bei dem lauten Klatschen, mit dem die widerstandsfähigen Instrumente auf die Köpfe der Passanten knallten.

    Die Hexe ritt derweil auf ihrem Besen allein weiter über die Straße und gestaltete mit dem Stiel eine naheliegende obszöne Pantomime, die von den Umstehenden johlend erkannt und begrüßt wurde.

    Die ganze Szene dauerte nur Sekunden. Die drei Masken sprinteten schon wieder davon, auf die gegenüberliegende Menschenkette zu, als die Gestürzten noch nicht wieder auf den Beinen waren. Sailer sah noch, wie die Schweinsblasen durch die Luft sausten und sich die Schirme auf der Gegenseite zu einer Gasse öffneten, dann waren die drei Übeltäter verschwunden.

    Die Hexe tauchte mitten in der Menschenmenge nochmals auf, hob sich, ihren Besen als Reckpfosten benutzend, in die Höhe und machte einen Felgumschwung; die beiden Dämonen dienten als Pfosten. Der Abschwung ließ die Röcke der Hexe fliegen und enthüllte eine weiße Spitzenunterhose mit zwei schlanken Beinen, die in rot-weiß geringelten Strumpfhosen und Turnschuhen steckten.

    Sailer fuhr im Schritt auf die Stelle des Überfalls zu, wo er in der Lücke, die die Gestürzten freigegeben hatten, eine Einfahrt gesehen hatte.

    Er wusste, dass Hexen und Dämonen die sportlichsten Masken der Fasnet waren. Ihre Träger hatten den Anspruch, artistische Leistungen zu vollbringen, und brauchten sich nicht an die Ordnung des Umzuges zu halten. Vielmehr rotteten sie sich zu Gruppen zwischen den Wagen und Musikkapellen zusammen, um sich von den Leuten anfeuern zu lassen und sich zu neuen Schandtaten untereinander abzusprechen.

    Eine Hexe musste in der Lage sein, über die Dachrinne und die Balkone durch die Fenster einzudringen, aus denen die Leute dem Umzug zusahen. Wer nichts anzubieten hatte, wenn sich die Hexe vom Fensterbrett ins Wohnzimmer schwang, dem ging es schlecht. Mädchen, zumal hübsche, mussten gewärtig sein, durchs Treppenhaus hinunter und die Haustür hinaus in den Hexenwagen geschleppt zu werden, wo sie hinter Gittern als Beute dem Zug zu folgen hatten, jedenfalls war das so gewesen, als Sailer noch ein Junge war.

    Er kurbelte das Fenster wieder herunter. »So ein Tag, so wunderschön wie heute«, sangen die Leute draußen.

    »Adlerstraße?«, schrie er dem Nächststehenden zu.

    »Narri!«, antwortete der, schunkelnd bei seinen Nachbarn eingehakt.

    »Ist das die Adlerstraße?«, schrie Sailer nochmals und erhielt zur Antwort ein informierend-warnendes: »Umzug, Umzug.« Darin stimmten immer mehr lachend ein.

    Da wurde es ihm zu dumm, und er fuhr mit seinem Wagen langsam durch die Leute hindurch, die ihm schließlich Platz machten, nicht ohne einen Trommelwirbel auf dem Dach zu veranstalten.

    Drei Jungen in Astronautenkostümen wiesen ihn in die Adlerstraße ein. Sogar bis zu einem Parkplatz, der sich zwar vor einer Ausfahrt befand, die Buben versicherten Sailer aber, der sich erschöpft aus dem Auto ins Freie begeben hatte, dass da »die nächschte zwei Schtund koiner nausfährt«.

    »Also gut«, sagte Sailer und gab den Buben je einen Euro. Dann holte er seinen Hut und die Handschuhe aus dem Wagen. Wenn er schon da war, konnte er sich genauso gut auch den Umzug ansehen.

    Als er sich zwischen die Zuschauer zwängte, die am Ausgang der Adlerstraße standen, marschierte vorn auf der Hauptstraße die erste Kapelle vorbei, blies einen flotten Marsch. Wenn die Blechbläser schwiegen, haute der Mann an der Trommel den Takt weiter auf das Fell, damit man nicht aus dem Tritt kam. Bumm, bumm. Bumm, bumm, bumm.

    Ordentlich verteilt marschierten sie vorbei. Männer im schneebestäubten Dreispitz und schwarzen Gehrock, das Revers mit Münzen behängt. Bundhosen, Kniestrümpfe, alles stilecht, auf der Weste diverse Orden. Links die Reihe der Frauen, wie früher in der Kirche. Trachtenröcke, Flechtmieder, auf dem Kopf ein storchennestartiger Putz.

    Der Schnee ließ alles noch authentischer erscheinen. Die modernen Brillen, die die historischen Erbacher trugen, die hervorblitzenden Armbanduhren, sie störten gar nicht so sehr. Die Vorausabteilung fing wieder an, den Marsch zu schmettern, Tschingdara, Tschingdara, Tschingdarassabumm.

    Das ging den Erbachern in die Beine, die Männer richteten sich auf, und die Frauen hielten den Tritt, wobei sie das Kunststück fertigbrachten, aus dem Korb, den sie am Arm trugen, taktgerecht Bonbons in die Menge zu werfen.

    »Feuer?«

    Sailer schüttelte den Kopf. »Rauche nicht.«

    »Jesses«, war die genervte Antwort. Schon wurde dem verständnislosen Frager ein Feuerzeug über die Köpfe zugereicht.

    Nicht dass es Sailer keinen Spaß gemacht hätte, hier eine Zigarre in die Winterluft zu paffen. Wenn man aber vor einem knappen halben Jahr einen Herzinfarkt überstanden hatte, überlegte man sich das mit dem Rauchen zweimal. Nicht nur, dass er die Zigarren, die er in seinem Leben noch rauchen sollte, gut würde zählen können, vieles mehr würde sich ändern. Die Kur, die er hier antreten würde, stellte er sich wie einen gesunden Urlaub vor. Vernünftiges Essen, keinen Alkohol im Haus, den Haushalt gemacht bekommen. Für einen allein lebenden Mann mit ungesunden Gewohnheiten ein wesentlicher Faktor.

    Einen Infarkt sollte man ernst nehmen. Auch mit achtundfünfzig fand er sich dafür noch zu jung. Fast wäre es ganz vorbei gewesen mit ihm.

    »Geh mal weg, Sebastian«, hatte Karin gesagt, ihr kluges, schmales Gesicht mit den langen graublonden Haaren schräg gelegt, während sie ihn beobachtete, in der Hand, zum Teufel, ja, eine Zigarette. »Steig mal auf einen Berg und sieh dir alles von oben an. Wie der Weg weitergehen soll.«

    Nun, das hier war sein Berg. Man würde sehen. Wenn es nichts war, konnte er gehen, jederzeit.

    Das Johlen um ihn nahm zu. Ein aufgetakelter Traktor tuckerte vorbei, auf der Ladefläche des Anhängers standen Männer in Brokatmänteln und bezipfelten Narrenkappen, die Fliegen umgebunden hatten, sie winkten leutselig in die Menge hinein. Der Elferrat also. Üblicherweise die Großkopfeten am Ort.

    »Narri«, riefen die Herren.

    »Narro!«, brüllte das Volk loyal zurück, nur ein Halbwüchsiger schrie ein paar Meter neben Sailer: »Arschlöcher, blöde!«

    Niemand kümmerte sich um ihn. Sailer hielt ihn beim flüchtigen Hinsehen für kostümiert. Der zweite Blick, den er auf den Jungen warf, zeigte einen Punker in voller Alltagsmontur mit roter Bürste, schwarz bemaltem Totenkopfgesicht und Lederjacke, an der allerlei klingelndes Charivari befestigt war. Der Kälte wegen hatte der Junge den sonst sicher halbnackten Oberkörper mit einem speckigen Pullover verhüllt. Er hatte eine Bierdose in der Hand und hob sie hoch mit der augenscheinlichen Absicht, sie den Honoratioren in den Wagen zu werfen, da reckte sich eine Hand unter den Schirmdächern hervor und nahm ihm die Dose ganz undramatisch ab. Kein Wort wurde gewechselt, der überraschte Junge begann zu fluchen und schob sich durch die Menge weg.

    Hinter dem weitertuckernden Elferrat erschien eine kostümierte Gruppe, die Sailer erkannte. Grettenweiber, die darstellten, wie einst der Sage nach die Weinsberger Frauen ihre Männer während der Belagerung gerettet haben sollen. Sie wollten ihr Liebstes aus der Stadt bringen, hatten sie sich ausbedungen. Nur was sie tragen konnten, war die Antwort des feindlichen Obersten gewesen. Was dabei herausgekommen war, sah man jetzt unter dem Gelächter der Menge die Straße entlangkommen. Im Gretten, dem großen Tragekorb, schienen die dicken Männer zu sitzen, jeder hatte einen Stock in der Hand, mit dem er sein armes Weib antrieb, dessen ausgestopften Oberkörper er sich komplett mit Holzmaske und Kopftuch vor den Bauch gebunden hatte. Die Illusion war perfekt, die Wirkung verblüffend. Es reizte einfach zum Lachen, wie die dicken Männer den Stock schwenkten und mit Trippelschritten das Gestolper der schwer schleppenden Hälften darzustellen suchten.

    Ob Karin darüber auch so unbefangen gelacht hätte wie die beiden Mädchen vor ihm, dachte Sailer. Sicher hätte sie ihm zugeflüstert, den beiden werde das Lachen auch noch vergehen. Vielleicht kam sie mal auf ein Wochenende?

    Sailer wusste sehr gut, dass es auf dem Berg, auf den er sich begab, nicht nur um die Entscheidung gehen würde, was er künftig aß und trank. Da war auch eine Frage offen geblieben zwischen ihnen, ohne dass sie je ausgesprochen worden wäre. Sailer hob seinen Hut, um sich den Hinterkopf zu kratzen. Das ließ sich alles noch eine Weile hinausschieben.

    Amüsiert beobachtete er einen Meister der Pantomime, der gerade in die Knie gebrochen war und nun seinen siamesischen Ehezwilling mit Schlägen und hilflosen, an die Menge gerichteten Gesten scheinbar wieder auf die Beine zu bringen versuchte. »Hau ruck!«, schrien die Leute vergnügt. »Hau ruck!«

    Ganz offensichtlich verstand der dicke Weinsberger den Doppelsinn des »Hau« und verausgabte sich schier mit seiner Patsche, bis das Weiblein wieder auf den Beinen war und hinter den anderen hertrottete.

    »Chauvinistisch-patriarchalische Angstbewältigung«, so etwa würde Karins Kommentar lauten. »Je mehr Angst Männer vor Frauen haben, desto brutaler werden sie.«

    Wie um diese Deutung zu bestätigen, tauchte eine Hexe zwischen den Marschierenden auf. Sie stützte sich einen Moment lang auf ihren Besen wie ein Eishockeytorwart auf seinen Schläger. Mit schief gehaltener Maske fixierte sie die Weinsberger, dann starrte sie das Publikum an. Ihr faltiges dunkelbraunes Holzgesicht wurde von den weißen Glotzaugen beherrscht, die wie zwei Scheinwerfer in der Fratze saßen. Eine mächtige Hakennase und zwei weiße Hauer, die ihr aus dem Mund stachen, machten sie nicht schöner. Eingerahmt wurde das Ganze von einem eckig ausgestellten roten Kopftuch, das bis auf die Schultern der karierten Bluse reichte. Die Schultern schienen ausgestopft wie bei einer Rugbykluft. Mit einem Ruck schwang der Besen nach vorn, und die Hexe rannte los, den Besen schiebend, als wäre er ein Staubsauger. Flink war sie auf der Höhe der letzten Weinsberger angelangt, stieß den Besen auf den Boden und flog wie ein Hochspringer über den Stiel zwischen die zwei letzten Grettenmänner, dass sie in den Schnee purzelten.

    Auf die drohend geschüttelten Fäuste antwortete die Hexe

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