Reportage Armenien. Im Schatten des Ararat
Von Barbara Denscher
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Buchvorschau
Reportage Armenien. Im Schatten des Ararat - Barbara Denscher
Ankunft in Jerewan: Nur Tee gibt es nicht
Natürlich müssen wir auch auf den Frieden in der Welt anstoßen. So wie zuvor schon auf jeden Einzelnen hier in dieser Tischrunde, auch auf all jene Freunde, die heute nicht dabei sind, auf Eltern und Kinder, auf Großeltern, Tanten und Onkel, auf die Helden der Vergangenheit, auf eine gute Zukunft – und auf noch vieles andere mehr. Über all dies lässt sich viel sagen. Zwei oder drei Mal passiert es mir zwischendurch, dass ich eine Redepause für das Signal zum erlösenden »dzer kenatse« – »zum Wohl« – halte: Schon will ich das Glas aus der Trinkspruch-Position – Arm angewinkelt, Glas in Brusthöhe – in die Anstoßposition – Augenhöhe – bringen, aber nein, der Trinkspruch geht noch weiter, viel ist noch zu sagen und ich lasse das Glas wieder sinken. Noch eine Weile Armmuskeltraining, denn armenische Trinksprüche dauern lange, sehr, sehr lange. Dann endlich »dzer kenatse« – und bald darauf der nächste Trinkspruch.
Eigentlich war es eine Einladung zum Tee gewesen. »Für den ersten Tag habe ich noch keine Termine ausgemacht«, hatte mir Robert gesagt, als er mich, nach dem Nachtflug Wien–Jerewan, frühmorgens am Flughafen abholte. Nur für den Nachmittag sei ein kurzer Besuch bei Nune und Norik geplant, einem Ehepaar, das ich bei meinem letzten Armenien-Besuch kennen gelernt hatte. Zur Begrüßung, ganz kurz, nur auf eine Tasse Tee – das sei doch in Ordnung? Natürlich war es in Ordnung – und Robert konnte das Treffen in dem Terminplan, den er auf einem großen Blatt Papier für mich angelegt hatte, als fixiert markieren.
Robert Mirzoyan legt Wert auf Genauigkeit – was auffällt in einem Land, in dem oft ein etwas lockerer Zeitbegriff zu herrschen scheint. Aber schließlich war der zweiundsiebzigjährige Diplomingenieur früher, zu Sowjetzeiten, Leiter eines technischen Forschungsbüros gewesen und hatte sogar eine Zeit lang am Raketenprogramm der UdSSR mitgearbeitet. Daher wohl die eher unarmenische Pünktlichkeit. Sehr armenisch hingegen ist er in seiner Fähigkeit zur Improvisation – aber vielleicht war auch das eine Karrierebedingung für einen Sowjetingenieur gewesen.
Auf jeden Fall ist es für mich bei meinen Besuchen in Armenien immer eine große Erleichterung, wenn mich Robert bei der Vereinbarung von Interviews, der Koordination von Terminen und der Organisation von Exkursionen unterstützt. Denn der Zeitplan bricht meist rasch zusammen: Ein Gesprächspartner kommt vierzig Minuten zu spät, der andere aber ist mit zwanzig Minuten Überzeit fast pünktlich – und schon kommt es zu Kollisionen. »Problem tschka«, meint Robert dann, »kein Problem« – und irgendwie funktioniert doch alles. Typisch armenisch eben.
Kennen gelernt habe ich Robert Mirzoyan vor ein paar Jahren, bei einem Festival des Armenischen Philharmonischen Orchesters. Der immer etwas streng wirkende Intellektuellentyp mit stets sorgfältig gestutztem weißen Kinnbart und Goldrandbrille war damals Orchestermanager. Denn der Zerfall der UdSSR hatte auch das Ende der sowjetarmenischen Forschungseinrichtungen bedeutet und Robert hatte die Branche wechseln müssen. Mittlerweile arbeitet er in der technischen Leitung der Jerewaner Aram-Chatschaturjan-Konzerthalle. Natürlich würde er gerne irgendwann in Pension gehen, meint er, aber das könne er sich finanziell kaum leisten.
Wie ihm geht es auch vielen anderen seiner Landsleute. Denn die Renten sind immer noch sehr gering, und daher versuchen die meisten, so lange wie möglich berufstätig zu bleiben – auch wenn sie dafür ihren Tätigkeitsbereich ändern müssen. Die achtundsechzigjährige Lehrerin arbeitet nun als Museumsaufseherin und der siebzigjährige ehemalige Chemiker meint, dass er sich mit seinem neuen Job als Mietwagenchauffeur eben abfinden müsse. Eine Flexibilität, die sehr armenisch ist und zu der auch eine große Kontaktfreudigkeit gehört. »Ein Armenier hat überall Bekannte, die einem weiterhelfen«, meint Robert – und er hat Recht damit. Hilfsbereitschaft ist eindeutig eine zentrale Kategorie in diesem Land, und jeder scheint in jeder noch so schwierigen Situation jemanden zu kennen, der jemanden kennt, der einem helfen kann – ob es dabei um einen neuen Job oder auch nur um ein wenig Unterstützung im Alltag geht. Robert kennt viele Leute, und da ist es auch kein Problem, dass er kein Auto hat. Immer weiß er jemanden, der mit ihm um vier Uhr früh zum Flughafen fährt, um mich abzuholen.
Fürs Erste solle ich mich ein wenig ausruhen, hatte Robert gemeint, als er mich in der kleinen Wohnung, die er mir für meinen Aufenthalt organisiert hatte, ablieferte. Später würde er mich dann zum Mittagessen bei sich zu Hause abholen, seine Frau Alla hätte natürlich schon spas – armenische Joghurtsuppe, eines meiner Lieblingsgerichte – für mich zubereitet. Danach, wie vereinbart, Tee.
Ich hätte es wissen können! Natürlich wurde der Suppenteller mehrmals nachgefüllt, natürlich hatte Alla nicht nur spas, sondern auch amarajin dolma – mit Hackfleisch gefüllte Tomaten, Paprika und Auberginen – vorbereitet, und nun sitze ich hier, bei Nune und Norik, an einem Tisch, auf dem nicht das kleinste Fleckchen mehr frei ist: da ein großer Teller mit verschiedenen Wurstsorten, dort einer mit Käse, Schüsseln mit Salaten, alle reichlich mit Rahm und Mayonnaise abgeschmeckt, Tomaten, Oliven, Berge von lawasch, dem armenischen Fladenbrot, aber auch Torten, Kekse, süße Cremes, Obst und vieles mehr – alles herrlich und von allem viel zu viel.
»Chndrem, chndrem« – »bitte sehr« – flötet Nune, und schwapp, schon habe ich das nächste honigtriefende Kuchenstück auf dem Teller. Widerstand ist zwecklos. Seitlich, auf einem kleineren Tischchen, stehen die Flaschen mit armenischem Kognak, Rotwein und Wodka. Zur Begrüßung gab es süßen Sekt mit einem Schokoladestück im Glas – »dzer kenatse!«
Nur Tee hat Nune nicht vorbereitet: »Kann ich aber gleich machen, wenn jemand eine Tasse möchte.« Bei Essenseinladungen – noch dazu, wenn ein Gast aus dem Ausland da ist – gilt in Armenien nämlich eine besondere Sprachregelung, erklärt mir Roberts Sohn Aram: »Einladung zum Tee bedeutet großes Abendessen, und Abendessen bedeutet mindestens ein Grillfest.« »Und wann gibt es Tee?« »Nur Tee? Nur Tee gibt es überhaupt nie!«
Armenisches Wohngefühl – oder: Wasser zwischen sechs und neun
Der Tag beginnt mit einer kalten Dusche. Dabei hatte mir Robert am Abend nochmals genau erklärt, was zu tun sei: den einen Hahn zudrehen, den anderen aufdrehen, den Hebel umlegen und schließlich den Schalter betätigen. So oder ähnlich ging es. Ich führte auch alles korrekt durch – nur den Schalter vergaß ich, mit dem aber wird die Heizung in Gang gesetzt. Nun also ist das Wasser eiskalt, aber immerhin ist der Tank gut gefüllt, der Wasservorrat für diesen Tag gesichert. »Wasser gibt es zwischen sechs und neun Uhr morgens, und dann erst wieder zwischen sieben und zehn Uhr abends. Denk also daran, gleich in der Früh die Wasserleitungen aufzudrehen«, hatte mich Robert ermahnt.
Alle Befürchtungen, dass ich den Zeitpunkt für die Tankfüllung verpassen könnte, erwiesen sich als unbegründet. Es ist nicht einmal nötig, den Wecker zu stellen. Denn wenn das Wasser kommt, erwacht das ganze Haus: In den Leitungen beginnt ein Pochen, Glucksen und Gluckern, das Einlaufen des Wassers in die Kessel ist unüberhörbar und aus jenen Wohnungen, in denen es keine Tanks gibt, tönt das Scheppern der Kübel und das Klirren der Flaschen, die an den Wasserhähnen gefüllt werden.
Die Frage nach dem Wasser – »dschur ka?«, »gibt es Wasser?« – bestimmte lange Zeit das armenische Alltagsleben, und sehr oft lautete die Antwort darauf »dschur tschka«, »es gibt kein Wasser«. In den letzten Jahren hat sich die Situation zwar gebessert, und in großen Teilen von Jerewan klappt die Wasserversorgung mittlerweile recht gut. Ganz anders aber ist es in vielen Regionen außerhalb der Hauptstadt. In Vanadzor etwa, rund hundertdreißig Kilometer von Jerewan und mit rund hunderttausend Einwohnern immerhin die drittgrößte Stadt des Landes, fließt nur jeden zweiten Tag – und dann meist nur für zwei bis drei Stunden – Wasser aus den Leitungen. Nicht dass es zu wenig Wasser gäbe, nur: Die Versorgung funktioniert nicht. Das gesamte Leitungssystem ist veraltet, in desolatem Zustand und für einen Dauerbetrieb längst nicht mehr geeignet. Die finanziellen Mittel für eine Sanierung aber fehlen. Mit der vor ein paar Jahren erfolgten Privatisierung der Wasserversorgung – die nunmehr in den Händen einer französischen Gesellschaft liegt – hat man daher auch begonnen, in den Häusern Wasserzähler zu installieren. Der Preis des Wassers wurde dabei kräftig angehoben. Zuvor war lediglich eine vom Verbrauch unabhängige, sehr geringe Monatsgebühr zu zahlen gewesen. »Wenn es wirklich