Philosophie der Bildung und Erziehung: Eine Einführung
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Buchvorschau
Philosophie der Bildung und Erziehung - Roland Reichenbach
Literaturhinweise
Vorbemerkung
Entstanden ist das vorliegende Einführungsbuch im Rahmen der Vorlesungen zur Erziehungsphilosophie, die ich seit 2002 an der Westfälischen Wilhelms-Universität halte. Man hört manchmal, dass es klassische Themen der Erziehungs- und Bildungsphilosophie im Augenblick relativ schwer hätten, u.a. da sich das funktionalistische und ökonomische Denken in fast allen Wissens- und Lebensbereichen in einer Weise habe ausbreiten können, die nicht nur erstaunlich, sondern auch erschreckend sei. Wohl sind auch funktionalistische und ökonomische Deutungen des Lebens und der Welt von fundamentaler Bedeutung und deshalb sicher nicht einfach abzulehnen. Dann wieder ist aber dafür zu sorgen, dass auch andere Deutungsmuster und Perspektiven lebendig bleiben oder gegebenenfalls wieder zu ihrem Recht kommen, damit die Diskurse im akademischen und praktischen Leben der Pädagogik möglichst vielfältig sind und nicht beispielsweise funktionalistisch oder ökonomisch vereinseitigen. Diese Gefahr scheint mir allerdings nicht so groß zu sein, wie gemeinhin befürchtet wird. Jeder Versuch, im politischen, religiösen und vor allem auch im wissenschaftlichen Bereich nur eine oder nur einige wenige Perspektiven zuzulassen, ist bisher grandios gescheitert. Und es gibt m. E. keine guten Gründe für die Annahme, dass sich dies definitiv ändern würde. Gegen »monomythomanische Intermezzi« – sagen wir: einseitige Zwischenspiele –, die man natürlich auch im Feld der Bildungswissenschaften erlebt, kann man sich ja ironisch vergleichgültigen oder sie einfach stoisch ertragen – wenn man das kann. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das ungeliebte, aber vielleicht mächtige Spiel nicht mitzuspielen und dafür andere Spiele zu spielen, die man für bedeutsamer hält. Das möchte ich hiermit vorschlagen.
Es hat mich in den letzten Jahren immer wieder gefreut zu sehen, wie viele Studierende, Lehrende und – auf unterschiedlichste Weise – pädagogisch tätige Menschen sich für erziehungsphilosophische und bildungsphilosophische Fragen und Positionen interessieren. Ich teile die pessimistischen Diagnosen also nicht im Geringsten. Dass man mit dem erziehungsphilosophischen Interesse aber nicht zum Mainstream (der Erziehungswissenschaft) gehört, liegt quasi in der Natur der Sache. Auf der anderen Seite ist es nicht einmal sicher, ob es diesen Mainstream überhaupt gibt. Dann möchte man ja u. U. noch weniger dazu gehören.
Bruce Maxwell hat das Kapitel zur Analytischen Erziehungsphilosophie – als Erstautor – federführend gestaltet. Für seine Unterstützung danke ich ihm herzlich. Iris Pichl danke ich für das sorgfältige Korrekturlesen des Manuskripts. Bei Prof. Jochen Kade habe ich mich für die kritische inhaltliche Durchsicht und für Veränderungsvorschläge zu bedanken. Schließlich danke ich vor allem auch Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth für seine so freundliche wie professionelle und unkomplizierte Unterstützung von Seiten des Kohlhammer Verlags.
Einleitend: Zehn »Ismen«
Für eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie den »X-ismus«- bzw. »X-ismen«-Ansatz zu wählen, bedarf der Erklärung. Insbesondere in den USA war und ist dieser Ansatz auch für einführende Überblickswerke zur Erziehungsphilosophie populär, doch die Lektüre gestaltet sich regelmäßig relativ mühsam, um nicht zu sagen langweilig, und erscheint auch inhaltlich nicht sehr überzeugend. Die Autoren versuchen in der Regel, ein bestimmtes Raster über die verschiedenen Perspektiven bzw. »Ismen« zu legen und hoffen damit eine hilfreiche Systematik zu etablieren, mit welcher klare (und lernbare) Aussagen und Vergleiche möglich sind. Eine solche »Systematik« könnte beispielsweise sein, jedes Kapitel zu einem Ismus wie folgt zu gestalten (vgl. Gutek 1997 oder Ozmon & Craver 2003):
Eine andere, auch nicht sehr überzeugende Möglichkeit der Systematisierung besteht darin, eine kleine Zahl von Ismen – z.B. Idealismus, Realismus, Pragmatismus und Existenzialismus (vgl. Samuelson & Markowitz 1987) – kurz vorzustellen und dann auf alle möglichen, pädagogisch bedeutsamen Thematiken anzuwenden, z.B. die Regeln des sozialen Verhaltens in der Schule, die Gestaltung des Unterrichts, die Inhalte der Lehrbücher, pädagogische Beratungsmodelle oder die Lehrer/innenbildung. Am Kapitel- bzw. Buchende finden sich in solchen Veröffentlichungen dann – z.B. nebst einem nützlichen Glossar – auch die Fragen zur Überprüfung dieses scheinbar klar definierten Wissens (z.B. als »multiple choice«-Test). So formulieren z.B. Samuelson und Markowitz (1987) am Schluss ihrer Einführung 126 Fragen mit je vier Auswahlantworten. Exemplarisch sei hier die 109. Frage wiedergegeben:
»The philosophy of idealism can be traced to such theorists as
Dewey and Lewin
Thorndike and Skinner
Plato and Saint Augustine
Rogers and Green« (S. 169).
Die richtige Antwort lautet »C«. Wenn der Stimulus »Platon« dargeboten wird, sollte im Gehirn des Lernenden also die Assoziation »Idealismus« aktiviert werden. Beim Stimulus »Dewey« hingegen sollte besser »Pragmatismus« aufleuchten. So weit, so gut: Dewey war sicher kein Gründungsvater des Idealismus, aber war er nicht auch in mancher Hinsicht dennoch Idealist? Und Carl Rogers: ist nicht seine Metaphysik des Selbst mindestens so idealistisch wie Platons Idee des Guten? Kurz: ein kritischer Blick in die Ismus-Bücher lässt am Ende meist nicht mehr sehr viel Gutes übrig. Der Ismus-Ansatz erscheint aus mehreren Gründen prekär:
Weil es meist nicht nur einen klar umrissenen »Ismus« (z.B. Realismus) gibt, sondern viele Varianten dieses Ismus, also im Grunde nur immer schon Ismen – im Plural – (z.B. sehr unterschiedliche Realismen).
Weil viele Ismen – auch im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, vor allem aber im Bereich der Politik – einen ideologischen bzw. dogmatischen Beigeschmack aufweisen.
Weil es selten Vertreterinnen und Vertreter gibt, die sich nur einem Ismus verpflichtet sehen bzw. weil solche Vertreter/innen gerade als Symbolfiguren für Borniertheit und vielleicht sogar geistige Beschränktheit stehen würden.
Weil scheinbar klar abgrenzbare Ismen (häufig in Form von Gegensätzen, etwa: Idealismus-Materialismus oder Idealismus-Realismus) in Wirklichkeit auf komplexe historische, ideengeschichtliche, systematische u.a. Weisen verbunden sind, und sich oft nicht auf der gleichen kategorialen Ebene befinden.
Weil jeder Ismus eine Abstraktion darstellt, die von den tatsächlich interessierenden Fragen – z.B. der Erziehung und Bildung – weit entfernt ist. Ismen führen also letztlich nur zu Scheinproblemen, für die sich im Grunde niemand interessiert.
Der Ismus-Ansatz erscheint also höchstens für wenig differenzierte Kurse, Diskurse und Exkurse geeignet zu sein – wenn man böse sein will: letztlich nur für die schnelle Anwendung oder Aneignung von Pseudowissen.
Es gibt sicherlich noch weitere Gründe, die gegen den Ismus-Ansatz sprechen, aber es gibt eben auch ein paar gute Gründe, die für den Ismus-Ansatz sprechen:
Es ist nötig und möglich, Denkströmungen, Weltperspektiven, Einstellungsmuster und dergleichen zusammenzufassen. Nötig ist es aus Gründen der Kommunikation und kognitiven Repräsentation, möglich ist es, weil und wenn sich genügend gemeinsame zentrale Merkmale feststellen lassen. Darüber hinaus kann man sich bemühen, Ismen definitorisch klar zu fassen.
Es »gibt« Ismen; d.h. es gibt Diskursgewohnheiten und bekannte Begrifflichkeiten, denen man nicht einfach aus dem Wege gehen kann und soll und die man also allein deshalb zu respektieren hat, weil es sie gibt.
Manche der Gegensätze zwischen den Ismen bringen schlagwortartig eine Problemstellung auf den Punkt, man denke etwa an Pessimismus-Optimismus, Universalismus-Relativismus, Modernismus-Postmodernismus, Liberalismus-Kommunitarismus, Militarismus-Pazifismus, (amerik.) Konservatismus-Progressismus u.v.a.m. Dennoch lassen sich diese Gegensätze meist nicht sehr lange und konsequent aufrechterhalten, haben aber in der Entstehungsbedingung einer Problemdiagnose diskursentfachende und (intellektuell) motivierende Funktion. Häufig steht Ismus A für eine These, Ismus B für die Antithese und der daraus entstehende Diskurs verliert meist nach Jahren oder Jahrzehnten (in Einzelfällen aber auch Jahrhunderten) seine Dramatik, sei es, weil sich genügend überzeugende Mittelwege und Synthesen gefunden haben, sei es, weil sich der intellektuelle Kampf verlagert hat, oder sei es, weil man gemerkt hat, dass der Widerspruch nur ein Scheinproblem dargestellt hat.
Gerade die Pluralität der Ismen ist eine Chance für Bildung unter modernen, demokratischen und pluralistischen Bedingungen. Mehrperspektivität und die Anerkennung der prinzipiellen Limitiertheit jeder einzelnen Perspektive, wenn sie für sich allein genommen wird, ist vielleicht keine Garantie für eine gesittete und halbwegs gebildete Auseinandersetzung, aber vielleicht doch in der einen oder anderen Weise anti-fundamentalistisch wirksam.
Jeder Ismus ist ein Instrument des Sehens, Denkens und Urteilens, enthält wohl aber auch außerhalb seiner Instrumentalität ein sogenanntes Körnchen Wahrheit, zumindest eine vielleicht berechtigte Sichtweise, die man berücksichtigen könnte und vielleicht auch sollte.
Daraus resultiert: Der Ismus-Ansatz scheint für einführende Überblicksbücher geeignet zu sein.
Die zehn Ismen, um die es im Folgenden gehen wird, sind (Platonischer) Idealismus, (Aristotelischer) Realismus, (Rousseauianischer) Naturalismus, Aufklärung, Deutscher Idealismus, Pragmatismus, Existenzialismus, Analytische Philosophie, Skeptische Philosophie und Postmodernismus. Manche mögen monieren, dass Aufklärung doch kein Ismus darstelle, ebenso wenig die Analytische Philosophie, und die Skeptische Philosophie doch höchstens in ihrer dogmatischen Variante, als Skeptizismus. Solche Einwände sind bedeutsam, doch nicht unbedingt in einem Einführungsbuch. Darüber hinaus transformiert sich jede Perspektive leicht in einen Ismus, was gerade am Beispiel des Aufklärungsdenkens gut gezeigt werden könnte. Es gibt keinen triftigeren Grund, warum es gerade zehn und gerade diese zehn Ismen sind und nicht insgesamt zwölf oder acht, und warum also etwa der Materialismus, der Behaviorismus, der Marxismus, der Spiritualismus, die kritische Theorie, die Phänomenologie o.a. nicht dabei sind, als jenen Grund, dass die hier versammelten Zugänge die sind, mit denen sich der Autor in erziehungsphilosophischer Hinsicht vor allem beschäftigt hat. Das mag nicht gerade überzeugend klingen, aber entspricht der Wahrheit der vorliegenden Selektion. Dieselbe ist deshalb noch lange nicht zufällig oder gar unsinnig; denn es soll ja nicht behauptet werden, dass nur diese behandelten zehn Ismen bedeutsam sind, vielmehr aber, dass diese zehn Ismen bedeutsam sind, wenn es um das pädagogische Denken und Handeln geht.
Bedeutsam sind diese Ismen, weil jeder von ihnen einen Aspekt oder mehrere Aspekte von Erziehung und Bildung oder aber von Erziehungs- und Bildungstheorie hervorhebt, der/die offenbar von genügend vielen Menschen und schon genügend lange als bedeutsam erachtet worden ist/sind. Dieses Argument klingt manchem nun vielleicht etwas zu konsenstheoretisch (bzw. sogar: konsenserheischend) oder aber auch traditionalistisch, doch das Hervorhebenswerte lässt sich kaum logisch-systematisch begründen, sondern vor allem oder sogar nur als Wertung bekunden, d.h. in den diversen Ismen kommt jeweils eine Gewichtung zum Ausdruck, die man kennen darf und über die man nachdenken kann. Diese Gewichtungen nebeneinander zu stellen heißt nicht, sie in jeder Situation und für jeden Belang als gleichbedeutend zu erachten, zu behaupten, dass in jeder Situation mit jeder Perspektive die Sache der Erziehung und Bildung gleichermaßen angemessen in den Blick kommt. Diese Einführung versteht sich nicht eklektizistisch – als lähmende Zusammentragung und Zusammenstellung diverser (altbekannter) Ideen zu einem vermeintlich Ganzen – sondern eher »vieldeutig«, ganz im Wissen darum,
dass man nicht jeder plausiblen oder berechtigten Deutung in jeder Situation gleichzeitig nachkommen kann und sich nicht jede Perspektive in jeder Situation als gleichberechtigt ausweisen oder auszeichnen lässt;
dass sich jede Perspektive (Deutung) fundamentalisieren lässt, »primitivieren« und sogar pervertieren kann, und dass jeder Fokus ein (zumindest kleines) Unrecht mit sich bringt, weil er andere berechtigte Perspektiven u. U. schwächt oder ausblendet;
dass die Eindeutigkeit der Perspektive zwar entschlusskräftig und entscheidungsfreudig, aber manchmal auch ignorant und sogar arrogant machen kann;
dass Eklektizismus meist ein Übel, aber trotzdem nicht immer vermeidbar ist;
dass man für sein Denken und Deuten selbst verantwortlich ist, obwohl man sein Denken nicht immer autonom steuern kann; und schließlich,
dass das Denken und Deuten oft unproduktiv, manchmal auch destruktiv ist, aber man auch die berechtigte Hoffnung haben kann, dass die Folgen des Nicht-Denkens über die eigenen Deutungen noch gravierender sind.
Jede der folgenden zehn Perspektiven – »Ismen« – hat etwas zu sagen, selbst und vielleicht gerade auch dann, wenn sie recht unzeitgemäß erscheint. Aus wissenschaftlicher Sicht ist beispielsweise die Analytische Erziehungsphilosophie oder die Skeptische Pädagogik sicher attraktiver als der Existenzialismus oder der Idealismus, aber für die pädagogische Identität des Einzelnen und die Möglichkeit, Sinn hinter dem eigenen Tun zu erkennen, mögen die beiden letztgenannten Ismen u. U. bedeutsamer sein. Worin also der Gewinn der Beschäftigung mit diesen Ismen liegt, mag von Ismus zu Ismus ganz unterschiedlich zu bewerten sein. Nur eines scheint sicher: jeder Ismus ist als ambivalent zu bewerten, auch jener Ismus, den man möglicherweise am meisten präferiert. Dazu einige Gedanken:
Idealistische Zugänge zu Bildung und Erziehung haben ihre Stärken wie auch ihre Schwächen, genau so wie alle anderen Zugänge. Ideale, auch Bildungs- und Erziehungsideale, sind Produkte menschlicher Einbildungskraft. An Idealen, beispielsweise Erziehungsidealen, wird menschliche Praxis, auch pädagogische Praxis, ausgerichtet; sie ermöglichen Orientierung und geben dem Tun Sinn. Nicht nur das: indem wir uns an ihnen ausrichten, nehmen wir Stellung zur Welt und drücken damit aus, wer wir sind oder sein möchten. Ideale haben, mit anderen Worten, identitätsstiftende Funktion. Es ist leicht, sich über sie und sogenannte Idealisten zu mokieren. Idealisten sind Menschen, die offensichtlich auch dann noch an ihre Ideale glauben, wenn sie schon lange hätten merken müssen, dass sie sie nie erreichen oder verwirklichen werden können. Schwerer ist es schon, ganz ohne Ideale auszukommen. Unmöglich ist es vielleicht, menschliches Leben ohne sie als wünschenswert zu betrachten. Stellt man sich eine Lehrerin vor, die ihren Beruf ganz ohne pädagogische Ideale und ohne jede Leidenschaft (die mit Idealen immer verbunden ist) ausübt, so ist dieses Bild wenig attraktiv. Wer möchte seine Kinder dieser Lehrerin anvertrauen? Wenngleich ein Leben ohne Ideale seicht, sinnlos oder schrecklich erscheinen mag, so heißt dies aber noch lange nicht, dass ein Leben mit Idealen ein gutes Leben ist. Die Erfahrung lehrt, dass das Gegenteil der Fall sein kann. Auf Ideale ausgerichtet zu sein, heißt keineswegs, dass man damit auch zufrieden, glücklich, frei oder dergleichen ist. Sie können das Leben auch so prägen, dass es nur noch schwer zu ertragen ist und anderen kaum zuzumuten ist. Unter den Fahnen politischer und religiöser Ideale, von Bildungsidealen, aber auch ökonomischen Idealen, ist vielleicht mehr Übel und Leid entstanden als anderswie. Ideale sind leicht missbrauchbar, Idealisten deshalb nicht immer bloß lächerliche, sondern manchmal auch gefährliche Figuren, nämlich dann, wenn sie keine Rücksicht auf andere nehmen und sich berechtigt fühlen, andere Sichtweisen nicht zuzulassen. Idealisten erzielen in Wirklichkeit vielmehr Wirkung als ihnen im Allgemeinen zugebilligt wird. Sie mögen weltfremd sein, aber sie verändern die Welt, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Über »gut« und »schlecht« reden Wissenschaftler nicht gerne, aber wie die Idealisten wissen auch (andere) vernünftige Menschen, dass diese beiden Adjektive lebenszentral und unverzichtbar sind. So wäre die pädagogische Praxis und Theorie ohne die Bewertung von Verhaltens- und Handlungsweisen und von Weltzuständen ein sinnloses Unterfangen. Als Erziehungswissenschaftler mag man sich die Hände nicht schmutzig machen und die komplexe Bildungs- und Erziehungswelt scheinbar bloß beschreiben wollen, als Pädagoge aber muss man immer auch bewerten (können). Ideale sind Ausdruck von Werten und Werte sind Auffassungen von Wünschenswertem. Das Denken über Erziehung und Bildung ist in der einen oder anderen Form immer von unseren Wünschen geprägt, von unseren Stellungnahmen zur Welt und auch gegen die Welt.
Um den wenig schmeichelhaften Vorwürfen der Lächerlichkeit (»hoffnungslos idealistisch«) und der Rücksichtslosigkeit (»krankhaft idealistisch«, »fundamentalistisch«) zu entgehen, mit denen man im vielfältigen Geschäft des (pädagogischen) Idealismus – dem geschäftigen Treiben um Entwürfe und Projekte, Skizzen und Richtlinien, Leitbilder und Rahmenlehrpläne, Tugendkataloge, Kompetenzkataloge, Standardkataloge etc – immer zu rechnen hat, mag man sogenannte realistische Positionen beziehen wollen. Realisten sind nicht primär »idealistisch«; dies wäre ihnen vielmehr ein Schimpfwort, während umgekehrt durchaus manche »Idealisten« als realistisch gelten, sofern sie nämlich mit ihren Füßen auf dem Boden der Realität stehen, die sie verändern wollen. Aber gewöhnlich würden wir vor allem den sogenannten Realisten zubilligen, einen Sinn für das Mögliche – und das heißt auch: einen Sinn für das Unmögliche – zu haben. Im Unterschied zum Idealisten interessiert den Realisten die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, und vor allem ist für ihn das Unmögliche nicht attraktiv, sondern ein Bereich, den es zu vermeiden gilt. Regulative Ideen mögen in der Welt der Realisten durchaus anerkannt sein, aber nur sofern ihre Wirkung gewünscht (kontrollierbar) und moderat ist. Doch wie sicher ist das Wissen über unsere Gründe, mit denen wir die Verwirklichung eines wünschenswerten Anliegens – z.B. Bildung für alle Kinder und auch Erwachsenen auf dem Globus – als unmöglich oder als möglich beurteilen. Wie viel Idealismus bzw. wie viele Idealisten sind nötig, damit überhaupt ein moralischer bzw. normativer Horizont entworfen werden kann, vor welchem sich auch Realisten zum Tätigsein aufgefordert begreifen? Es deutet sich an, dass ein »bloßer« Realismus eine in gewisser Hinsicht seichte oder oberflächliche Einstellung sein könnte, nicht falsch, aber mangelhaft. Realisten trauen vor allem der Welt der Erscheinungen, weniger den Idealen, die man sich ausdenken kann. Sie interessieren sich für Tatsachen, wollen die Welt zunächst einmal beschreiben und erklären, wie sie sich zeigt, und sie dort in dem Maße in die gewünschte Richtung zu lenken versuchen, welches eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit verspricht. Diese Haltung ist auch als pädagogische von enormer Bedeutung, wer möchte das leugnen?
Mit manchen Realismen haben naturalistische Einstellungen die Gemeinsamkeit, sich für die Phänomene vor jeder moralischen bzw. normativen Bewertung zu interessieren, zeugen also von einer gewissen Wirklichkeitstreue. Man darf wohl behaupten, dass sich naturalistisch orientierte Pädagoginnen und Pädagogen zu aller erst für die Entwicklung des Kindes interessieren. Zugleich glauben sie, dass die wesentlichen Aspekte des Kindseins und seiner Entwicklung der »Natur« – des Kindes, der Entwicklung – abgelesen werden können. Dieser Fokus macht sie u.U. kritisch gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen und verführt sie in dieser Hinsicht vielleicht manchmal dazu, unrealistisch, ja, romantisch zu werden. Aber die größte Sensibilität für die Beschreibung und Beachtung der pädagogischen Beziehung haben wir möglicherweise dennoch der naturalistischen Perspektive zu verdanken.
Dem Aufklärungsdenken, welches in vielerlei Hinsicht idealistische, dann aber wieder realistische und naturalistische Züge aufweist, ist doch das Erziehungs- und Bildungsideal der personalen Autonomie geschuldet. Insofern hat es das abendländische Verständnis von Erziehung und Bildung stark geprägt, zumindest auf die Zielpunkte hin, aber kaum auf die Mittel, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Dass es eine Pflicht gebe, das Kind zum eigenen Denken anzuleiten, und es gerade darauf ankomme, dass der Einzelne selber denken lerne und von dieser Fähigkeit auch Gebrauch machen soll, gerade auch, wenn es einfacher wäre, sich den offiziellen Meinungen und Doktrinen anzuschließen, heißt, dem Aufklärungsethos verpflichtet zu sein. Doch auch hier: was auf den ersten Blick attraktiv erscheint, ist auf den zweiten Blick dann vielleicht nur noch in einem zweideutigen Licht zu betrachten.
Um die negativen Konsequenzen der Aufklärung dann doch nicht einfach zu tragen, aber gleichzeitig nicht auf ihre Früchte verzichten zu müssen, vollzog sich im Denken der deutschen Idealisten nach Kant eine ästhetische Wende, von welcher die Pädagogik auch heute noch profitiert bzw. unter welcher sie – je nach Standpunkt – heute noch leidet, wenn es etwa um die Frage und das Postulat der »ganzheitlichen« Bildung und Erziehung geht, der Wunschidee, die kulturellen Gegensätze und Widersprüche zu versöhnen. Der Deutsche Idealismus hat die Idee der Bildung maßgeblich geprägt, und darunter leidet die deutsche Erziehungswissenschaft noch heute bzw. dafür wird die deutschsprachige Pädagogik noch an einigen Orten der Welt beneidet.
Oft wird gerade gegen das idealistische Moment im deutschen Erziehungsdiskurs der Pragmatismus als Heilmittel und Abführmittel angepriesen, als ob Idealismen nur negativ zu bewerten wären, Amerika sich überall durchsetzen müsste und das pragmatische Denken in jeder Hinsicht dem idealistischen entgegengesetzt wäre. Trotzdem: der Pragmatismus hat auch die pädagogische Welt und das Denken verändert – oft zum Guten. Er hat etwa mit dem Schwulst idealistischer Erziehungs- und Bildungsphilosophie sozusagen kurzen Prozess gemacht und wo der Sinn für pragmatische Lösungen völlig fehlt, da werden die Entscheidungsprozeduren zu persönlichen Bestrafungen des Lebens. Das weiß jeder, der in einem Milieu zu handeln, entscheiden und leben hat, das sich am liebsten nur Grundsatzdebatten und Prinzipienfragen widmet. Erziehungsphilosophisch gesprochen interessiert sich der Pragmatismus nicht für diese oder jene zu lehrende Doktrin, sondern für den Prozess des individuellen und gesellschaftlichen Lernens selbst, für die Möglichkeiten der sozialen Transformation. Wie die Aufklärungsperspektive, weil natürlich auch er ein Kind der Aufklärung ist, steht sozusagen das Versprechen der Veränderungsmöglichkeit und Erneuerung im Mittelpunkt des Pragmatismus: mit dem Alten kann gebrochen werden, Traditionen sind nicht heilig, so das Credo. Doch dann taucht früher oder später die Frage auf: und was ist dann noch heilig? Und so heftet sich an die Attraktivität des Pragmatismus wie ein Schatten der Vorwurf des Allmachtsglaubens, des überstrapazierten (Selbst-) Wirksamkeitsglaubens, der, wie das Leben dann wieder manchen lehrt, von Naivität oder Selbstverkennung nur so zu strotzen scheint.
In dieser Hinsicht haben es existenzialistische Positionen »leichter«, d.h. der Vorwurf der Allmachtsphantasie trifft auf sie kaum zu. Hier wird zwar an die Möglichkeit der Freiheitspraxis, aber sicher nicht an deren »Erfolg« geglaubt. Darüber wissen wir wenig bis nichts. Dennoch sind Existenzialisten in vielerlei Hinsicht Idealisten. Im Unterschied zu allen anderen Ismen wird im Existenzialismus – auch auf viel radikalere Weise als bei manchen naturalistischen Varianten – der Einzelmensch in den Mittelpunkt gestellt. Nur einzelne Menschen können »existenzialistisch« sein, nicht ganze Gesellschaften, denn es geht um die Freiheitspraxis des Einzelnen gerade meist im Hinblick auf gesellschaftliche Anforderungen und Konformismen. Dem Existenzialismus verdanken wir daher viele Erörterungen zu »kleineren« Phänomenen – etwa der Langeweile, der Ermahnung, der Beratung – und größeren Problemen – wie der Angst, der existenziellen Schuld, der Gefühle der Sinnlosigkeit – wie kaum einer anderen Richtung. Dennoch wird er erziehungswissenschaftlich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum noch rezipiert. Die Erfahrung aber zeigt immer wieder, dass insbesondere praktisch tätige und erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen ein sehr großes Interesse an existenzialistischen Deutungen ihres Tuns haben, wohl weil sie mit der Sinnfrage nur allzu gut vertraut sind.
Vertreter der analytischen Erziehungsphilosophie haben sicher kaum Freude daran, dass ihr Steckenpferd hier als »Ismus« auftaucht, halten sie ihren Zugang – die wissenschaftlich-philosophische Methode der Sprachanalyse – genau für das probate Mittel, sich jedem Ismus zu entziehen bzw. über allen Ismen zu stehen. Gegen diese mittlerweile nicht nur im angelsächsischen Raum weit verbreitete Meinung gibt es ein paar gute Einwände. Richtig ist aber, dass die analytische Erziehungsphilosophie weniger praxis- als vielmehr konzept- und wissenschaftsorientiert ist. Sie geht vor allem auf die Frage ein, wie pädagogische Fragen behandelt werden können und sollen und geht hierbei vornehmlich sprachkritisch vor. Davon konnte die Ismus-Kritik insgesamt sehr profitieren. Insofern unterstützt die analytische Erziehungsphilosophie die oben erwähnte Haltung einer kritischen Mehrperspektivität.
Ähnlich würde sich wohl auch die Skeptische Pädagogik und Philosophie verorten wollen, nämlich weniger als positive Theorie, denn vielmehr als methodischer Zugang zu Fragen von Bildung und Erziehung. Dies mag auch für den Pragmatismus in Teilen zutreffen. Mit der Skepsis haben wir nun aber doch viel mehr als bloß eine kritische Methode, und zwar einen Hinweis auf das wohl älteste und bedeutendste abendländische Bildungsideal, welches uns insbesondere durch Platons Sokrates überliefert wird. Wer in den dauerhaften Kontakt mit dem Universum des Nichtwissens getreten ist, hat gelernt, auch die eigenen Meinungen rückhaltlos zu hinterfragen und, wenn nötig, zu verwerfen. Er wird vielleicht gerade in dieser Haltung eine wichtige anti-fundamentalistische Rolle im politischen und nicht-politischen Zusammenleben spielen können.
Alle diese Perspektiven sind letztlich »aufklärerisch«, ebenso die postmoderne, mit welcher die skeptische Kritik ironisch auf sich selbst angewendet und gerade dadurch ein ethischer Standpunkt ausgedrückt wird, der pädagogisch mehrere Pointen hat. Diese werden bislang noch unterschätzt, wohl weil der postmoderne Teufel gerade in den frühen 80er Jahren im deutschsprachigen Diskurs nachhaltig an die Wand gemalt worden ist. In einem gewissen Sinn schließt sich aber mit der Postmoderne der »Kreis« der hier vorgestellten Perspektiven und es wäre reizend, die Figur des Sokrates postmodern zu rekonstruieren. Dem Philosophen Whitehead wird der Spruch zugeschrieben, wonach die abendländische Philosophie im Grunde nur eine Fußnote zu Platons Werk darstelle. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass Platon im Unterschied zu Aristoteles, der vor allem