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Richard Strauss: Betrachtungen und Erinnerungen
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eBook256 Seiten17 Stunden

Richard Strauss: Betrachtungen und Erinnerungen

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Über dieses E-Book

Neben der von Willi Schuh verfassten Strauss-Biographie "Jugend und frühe Meisterjahre" und dem Briefwechsel mit Hofmannsthal sind die "Betrachtungen und Erinnerungen" eines der Standardbücher der Strauss-Literatur. Im Jubiläumsjahr 2014 erscheinen sie nun in einer überarbeiteten Fassung.
SpracheDeutsch
HerausgeberSchott Music
Erscheinungsdatum1. Apr. 2015
ISBN9783795786274
Richard Strauss: Betrachtungen und Erinnerungen

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    Buchvorschau

    Richard Strauss - Richard Strauss

    Schuh

    Vorbemerkung zur zweiten Auflage

    Die erste Auflage der «Betrachtungen und Erinnerungen» ist wenige Monate vor dem Hinscheiden Richard Strauss’ (8. September 1949) erschienen. Das lebhafte Interesse, das dem Bändchen entgegengebracht wurde der deutschen Ausgabe folgte 1951 eine französische, 1953 eine (zur Zeit bereits vergriffene) englische Ausgabe — ermutigen Herausgeber und Verleger, der Neuausgabe eine erweiterte Form zu geben. Es wurden deshalb einige in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen publizierte Abschnitte aus den anfangs der dreißiger Jahre begonnenen und bis in den Juni des Todesjahres fortgeführten Aufzeichnungen aufgenommen «Zum Kapitel Mozart», «Betrachtungen zu Joseph Gregors ‹Weltgeschichte des Theaters›» und die «Letzte Aufzeichnung» —, und die genannten durch zwei weitere Abschnitte aus dem Manuskript ergänzt, nämlich durch die «Bemerkungen zu Richard Wagners ‹Oper und Drama›» und das Gedenkblatt für die Gattin «Pauline Strauss-de Ahna». An bereits veröffentlichten Stücken wurden überdies einbezogen: die Schilderung der «Generalprobe der Oper ‹Die Liebe der Danae›» und das in einem Brief an Dr. Karl Böhm enthaltene «Künstlerische Vermächtnis», sowie, gleichsam als Nachtrag, die 1925 in einer Wiener Zeitung erschienene kleine Huldigung für «Johann Strauß». Als Erstveröffentlichungen aus den Nachlaß-Manuskripten erscheinen schließlich noch die Äußerungen «Über Schubert» und ein «Unveröffentlichtes Vorwort zu ‹Intermezzo›», das Strauss wenig später durch das der Partitur und dem Klavierauszug der Oper mitgegebene ersetzt hat. Möge sich das Büchlein in der neuen Form neue Freunde gewinnen!

    Zürich, im Juli 1957.

    Willi Schuh

    Einleitung zu

    «Die Musik», Sammlung illustrierter

    Einzeldarstellungen

    Kunst ist ein Kulturprodukt. Ihr «Beruf» ist nicht der, nach willkürlich ersonnenen oder der augenblicklichen Not angepaßten, nachträglich als «ewig» proklamierten «Gesetzen» eine selbstgefällig isolierte Existenz zu führen; ihr natürlicher Beruf ist vielmehr: Zeugnis abzulegen von der Kultur der Zeiten und Völker.

    Wenn man die Geschichte der Literatur und der bildenden Künste überblickt, so erscheint diese Auffassung als etwas ganz Selbstverständliches. Bei der Musik ist die Darstellung ihrer Kulturbedeutung deshalb schwieriger, weil sie weniger augenfällige Vergleichsobjekte mit dem Leben hat. Zudem ist die grundlegende kunstmäßige Fassung der Ton-«Sprache» — soweit es sich nicht um eine tote, nur mehr dem Historiker zugängliche, sondern um eine für unsere Zeit gemeinverständliche, lebende Sprache handelt — verhältnismäßig sehr jungen Datums. Die technische Ausbildung ihrer Ausdrucksformen und die mit dem Ausbau der grammatikalischen und stilistischen Elemente stetig wachsende Erweiterung des Sprachschatzes der Musik, die wir dem Genie unserer letzten großen Meister verdanken, ist, streng genommen, auf der Vorarbeit weniger Jahrhunderte aufgebaut. Wie bei der Entwicklung der anderen Künste ist auch in der Geschichte der Tonkunst ein Fortschreiten von der Wiedergabe unbestimmter oder allgemeiner, typischer Vorstellungen zum Ausdruck eines mehr und mehr bestimmten, individuellen und intimen Ideenkreises zu verfolgen. Da der innere Prozeß dieser Entwicklung zum Teil unter der Hülle formalistischer Elemente verborgen ist, konnten manche Ästhetiker, denen nur das Äußerliche, Formalistische eingäuglich war, während sie (kurzsichtig aus Mangel an Produktivität) das Wesentliche entweder gar nicht oder nur sehr oberflächlich wahrnahmen, geraume Zeit einige Verwirrung anrichten. Ihre Lehre war das Unfehlbarkeitsdogma der Form; der lebendige Inhalt der Kunst war ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. In ihrer Kurzsichtigkeit konsequent, glaubten sie immer wieder mit dem stolzen diktatorischen Rufe: «Bis hierher und nicht weiter!» die naturgemäße Entwicklung aufhalten oder irgendeine Epoche bereits als die letzte höchste Blüte jeder überhaupt möglichen Entwicklung bezeichnen zu können. Über die Rückständigkeit einer solchen Ästhetik geht aber das Urteil der Geschichte gelassen zur Tagesordnung über. Jedenfalls darf schon heute der Irrtum derer, die als das eigentliche Wesen der Musik nur einen mehr oder weniger spielerischen Formalismus bezeichnen, als überwunden erklärt werden. Den unmittelbaren Zusammenhang mit dem Leben und der Kultur hat die Geschichte unserer Meister und ihrer größten Kunstwerke unwiderleglich bewiesen.

    Wohl besitzt unsere musikalische Literatur einzelne sehr erfreuliche, von dieser Grundanschauung getragene Dokumente. Doch ist das Verständnis der ganzen Entwicklung durchaus noch nicht allgemein gesichert. Den Entwicklungsgedanken konsequent vertretende Studien über alle Gebiete der Tonkunst fehlen entweder, oder sie sind in streng wissenschaftlich-ästhetischen Werken niedergelegt, in die der große Kreis der Musikfreunde nicht so ohne weiteres einzudringen vermag.

    Es dürfte daher gerechtfertigt sein, in Form gemeinverständlicher Essays alle wesentlichen Gebiete der Tonkunst in der Weise zu bearbeiten, daß der aus der Kulturbedeutung der Kunst naturgemäß sich ergebende Entwicklungsgedanke einheitlich und eindringlich zum Ausdruck gelangt.

    Zur Eröffnung einer solchen Sammlung erscheint eine Monographie über Beethoven am geeignetsten, weil gerade Beethoven derjenige Meister ist, bezüglich dessen Stellung zur allgemeinen Kultur sich heute Freund und Feind wohl am ehesten in Übereinstimmung befinden. Man kann die Hoffnung hegen, daß eine im großen und ganzen allgemeine Einigung über die Auffassung von Beethovens Leben und Wirken die sichere Grundlage für eine Verständigung über weitere, noch mehr umstrittene musikästhetische Fragen bilden werde.

    Charlottenburg, den 1. Dezember 1903.

    Gibt es für die Musik eine Fortschrittspartei?

    Über die Ziele der künstlerischen Betrachtungen und kritischen Ausführungen, die in dieser Wochenschrift [«Der Morgen»] der Musik gewidmet sein sollen, eine Art Programm zu geben, widerstrebt mir gründlich.

    Ich liebe überhaupt Programme nicht. Dem einen versprechen sie zu viel; den anderen beeinflussen sie zu stark; ein Dritter behauptet, in der Betätigung seiner eigenen Phantasie durch das Programm gestört zu sein; ein Vierter denkt lieber gar nichts, als daß er nachzudenken versucht, was ihm ein anderer vorgedacht hat; der Fünfte nörgelt sich mit einer anderen Ausrede hindurch — kurz, Programme sind unzeitgemäß. Nun traut man mir aber einen großen Spürsinn in der Auffindung des Sensationellen zu; ich tue auch wirklich, wie einige kluge Zeitgenossen bereits scharfsinnig herausgefunden haben, den ganzen Tag nichts anderes, als darüber spekulieren, wie ich (also so eine Art Musikschneider) die Methode der nächsten Saison wieder am besten befriedigen könnte — und so wollte ich denn zuerst, als das Allermodernste, den musikalischen Teil dieser Zeitschrift ganz ohne Programm des Herausgebers vom Stapel lassen, zumal ich damit am besten meiner kaum überwindliehen Abneigung gegen schriftstellerische Betätigung frönen konnte.

    Die Herren Verleger ließen jedoch nicht nach: «Wenn Sie, werter Herr Strauss, schon als Herausgeber figurieren, geht es nicht an, daß Sie nur ab und zu als ‹spiritus rector› hinter den Kulissen wirken, sondern Sie müssen als ‹Führer der Moderne›, als ‹Haupt der Fortschrittspartei› unsern musikalischen ‹Morgen› mit einer wenn schon kurzen, aber desto bedeutenderen Kundgebung einleiten.»

    Ich hasse derartige Kundgebungen von ganzem Herzen. Gegen seine beste Absicht kann man es kaum vermeiden, mehr oder minder pro domo zu sprechen, und mein Grundsatz ist nun einmal, daß man für sich selbst nur Taten und Werke, aber nicht Worte reden lassen soll. Jedenfalls ist selbst mit den verwegensten Werken der Künstler noch niemals soviel Konfusion angerichtet worden, wie mit den papierenen Kundgebungen ihrer Gegner, die mit Worten gegen Werke zu kämpfen sich bemühen. Ich überlasse daher solche Kundgebungen auch fernerhin allen denen, die ohne Schlagworte nicht leben mögen, oder die mit dogmatischen Verboten den naturnotwendigen Prozeß des Fortschritts glauben aufhalten zu können, so zum Beispiel den Gegnern der Zukunftsmusik, oder auch solchen Wagnerianern, die — an dem Geist ihres eigenen Meisters sich versündigend — ebenso petrefakt geworden sind, wie seinerzeit die Mozartianer um Franz Lachner, die Mendelssohnianer um Carl Reinecke oder die Lisztianer hinter Draeseke.

    Wie gesagt, ich weigerte mich hartnäckig. Allmählich aber setzten sich die so verlockenden Worte «Führer der Moderne» und «Haupt der Fortschrittspartei», mit denen jetzt ebenso fleißig wie gedankenlos hantiert wird, immer eigensinniger in meinem Kopfe fest, und ich begann, besonders über die Fortschrittspartei, etwas nachzudenken.

    Nachdenken ist immer unangenehm. Diesmal hatte es aber wenigstens zur guten Folge, daß ich mir schließlich die Frage vorlegte: Gibt es denn überhaupt eine Fortschrittspartei? Ich mußte mir diese Frage endlich mit einem strikten: Nein! beantworten.

    Auch die eigentlichen engeren Wagnerianer waren doch nur eine Vereinigung gleichgesinnter Jünger, deren Ziel es war, die Ideen ihres Meisters zu erklären und zu verbreiten, Irrtümer und Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Gutwilligen in ihrem Urteil zu bestärken und die Mißgünstigen zurückzuweisen. Aber schließlich haben doch nicht diese Parteigänger den Fortschritt erzwungen, der treibende und in letzter Instanz entscheidende Faktor, der auch einem Richard Wagner, wie jedem anderen großen Neuschöpfer zu endgültigem Siege verholfen hat, war die große Masse des unbefangen genießenden Publikums, das sich in seiner naiven Empfänglichkeit für jede neue und bedeutende Kunstleistung in der Regel als der zuverlässigste Träger jeglichen Fortschrittsgedankens bewährt hat. Gegenüber der in der Geschichte immer wieder erhärteten Tatsache, daß eine große künstlerische Erscheinung vom großen Publikum sozusagen als ein Naturgegebenes instinktiv richtig erfaßt, wenn auch nicht durch klares Urteil im einzelnen begriffen wird, ist das Wirken eines etwa als Fortschrittspartei zu bezeichnenden engeren fachmännischen Kreises nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Die Hauptsache ist der zwingende Kontakt zwischen dem schaffenden Genie und der über den Rahmen jeder möglichen Partei weit hinausreichenden fortschrittswilligen Masse. Man darf sich nur dadurch nicht verwirren lassen, daß dasselbe große Publikum das mühelos Gefällige, Gemeinverständliche und sogar Banale ebenso — vorübergehend oft noch mehr — bejubelt, wie das künstlerisch Bedeutungsvolle, Neuartige, der Zeit Vorauseilende. Das Publikum hat eben zwei Seelen in seiner Brust. Eine dritte allerdings fehlt ihm: für diejenige Kunst, die weder ohne weiteres eingäuglich noch in hervorragendem Maße zwingend ist, hat das Publikum das wenigste Verständnis und die geringste Zuneigung. Daher so viele Enttäuschungen ernst strebender Künstler, von denen selbst der Gegner nicht schmähen mag, sie seien banal, und selbst der Freund nicht rühmen kann, sie besäßen eine auch die Masse fortreißende suggestive Kraft.

    Carl Maria von Weber sagte einmal vom großen Publikum: «Der Einzelne ist ein Esel und das Ganze ist doch Gottes Stimme.» Und in der Tat, die Seele der tausendköpfigen Menge, die sich da in einem Konzert- oder Theatersaale zu künstlerischem Genießen vereinigt, wird in der Regel instinktiv für den Wert des ihm Gebotenen ein richtiges Empfinden haben, sobald ihm nicht von seiten geschäftiger Kritik oder geschäftlicher Konkurrenz Vorurteile eingepflanzt werden, die seine Unbefangenheit beeinflussen.

    Ein markantes Beispiel für die sonderbare Verwirrung, die äußere Einflüsse auf das erste richtige Urteil des Publikums ausüben können, erzählte mir Alexander Ritter:

    Als Franz Liszt vor etwa 50 Jahren zum ersten Male drei Konzerte in Dresden mit eigenen Orchesterwerken gab, löste die Uraufführung der damals zuerst gehörten, später so viel verlästerten sinfonischen Dichtungen am Konzertabend selbst eine ungeheure Begeisterung bei dem damals diesen Werken noch ganz naiv gegenüberstehenden Publikum aus. Am nächsten Morgen stand im Blättchen, Liszt sei überhaupt kein Komponist, und plötzlich schämten sich alle die guten Leute, die am Abend vorher ihrem schönen Enthusiasmus freien Lauf gelassen hatten, ihrer Begeisterung, keiner wollte schließlich applaudiert haben, und jeder hatte nachträglich tausend Wenn und Aber!

    Alles Große kann jedoch schlimmstenfalls nur eine Zeitlang in seinem siegreichen Zuge gehindert, von den Dunkelmännern nicht endgültig aufgehalten werden: und so hat das große Publikum — Gottes Stimme — auch Franz Liszt gegen die Bosheit und den Unverstand erhoben, wie es Richard Wagner schon 1876 durch seine Begeisterung zu endgültigem Siege über seine Nörgler, Neider und Verleumder verholfen hat.

    Wenn es nun auch im eigentlichen Sinne «keine Fortschrittspartei» gibt und nicht zu geben braucht, so ist es doch notwendig, das natürliche, gesunde Urteil der Unbefangenen zu schützen vor der Partei der ewig Rückständigen, die aus Unverstand, Unfähigkeit, Bequemlichkeit oder Eigennutz stets am Werke ist, den im Publikum lebenden Sinn für den Fortschritt zu ersticken.

    Nach dem Jahre 1876 glaubte man wirklich, der Enthusiasmus des großen Publikums habe die Hetze der Feinde soweit zu Schweigen gebracht, daß sie nurmehr hinter stillen Konservatoriumsmauern, unter Ausschluß der Öffentlichkeit wagen würden, ihr Gift gegen den frechen Neuerer in die unschuldigen Seelen harmloser Klavier- und Kompositionsschüler zu träufeln. Man glaubte schon hoffen zu dürfen, von nun ab könne jeder im Kunstwald auf seine Fasson selig werden, komponieren, wie er Lust und wozu er Talent habe.

    Diese Hoffnung war trügerisch. Zünftige Fachgenossen, die ängstlich besorgt um ihre eigene Wertschätzung, ohne schöpferische Potenz, lediglich im Besitz einer gewissen Kompositionstechnik irgendeiner verflossenen Kunstepoche, eigensinnig und gewalttätig gegen jede Erweiterung der Ausdrucksmittel und gegen jede Ausdehnung künstlerischer Formgebiete sich sträuben, Kritiker, deren Kunstanschauung auf einer erstarrten Ästhetik vergangeuer Zeiten basiert, wagen sich als festgeschlossene «Reaktionspartei» mehr und mehr wieder an die Öffentlichkeit und sind eifriger denn je am Werke, den weiter Strebenden das Leben sauer zu machen.

    Ich kann nun denjenigen noch lange nicht einen Reaktionär nennen, dem Beethovens Eroica lieber ist, als eine schwache moderne sinfonische Dichtung, oder der erklärt, er sehe sich lieber zwölfmal hintereinander den «Freischütz» an, als eine faule moderne Oper. In diesem Sinne wäre ich selbst ein Reaktionär. Reaktionäre im unerträglichen Sinne sind für mich alle diejenigen, welche behaupten, weil Richard Wagner seine Dramenstoffe dem germanischen Mythus entnommen hat, sei es künftig verboten, Stoffe der Bibel zu entnehmen (ich spreche hier natürlich pro domo); diejenigen, die dozieren, daß es ordinär sei, die Ventiltrompete als melodiöses Instrument zu behandeln, bloß deswegen, weil Beethoven seine Naturtrompeten notgedrungen nur mit Tonika und Dominante sich herumschlagen lassen mußte; kurz, alle diejenigen, die mit großen Gesetzestafeln bewaffnet, jeden, der Neues schaffen will und kann, mit einem Anathema sit! in seinen Bestrebungen hindern wollen.

    Richard Wagner hat das bedeutsame Wort gesprochen: «Ich will meinen ‹Siegfried› einmal vor einem aus der ganzen Welt zusammengerufenen Publikum von teilnehmenden Geistern aufführen und dann die Partitur verbrennen.» Gottseidank, sagen wir heute, daß er es nicht getan hat! Denn leider sind die «Siegfriede» so selten, daß wir nicht derartig verschwenderisch mit so kostbaren Geschenken umspringen dürfen. Aber der Gedanke, der in dieser erhabenen Absicht des großen Meisters lag, daß auch ein vollendetes Kunstwerk nur als Glied einer großen, stets lebendigen Entwicklung betrachtet werden soll, als Same in die Seelen der Nachkommen gelegt, fortzeugend stets Höheres und Vollkommeneres zu gebären: diesen herrlichen Gedanken wollen wir pflegen, an der steten Entwicklung unserer Kunst tatkräftig fortarbeiten, und über der Liebe und Bewunderung, die wir den verewigten und schon vollendeten Meistern zollen, nicht vergessen, daß auch die Kunst denselben Gesetzen unterliegt, wie das immer neu sich gestaltende Leben.

    Darum fort mit der Anwendung einer schulmeisterlichen Ästhetik auf Werke, die mit eigenem Maßstabe zu messen sind; fort mit allen Gesetzestafeln, die längst schon von großen Meistern zerbrochen worden sind; fort mit allem Hohepriestertum, das sich einer kraftvollen Weiterentwicklung hindernd entgegenstellen will; fort mit allem, was keine andere Berechtigung für sich aufweisen kann, als daß es gestern schon gewesen ist! Dagegen sei in unserem «Morgen» allen denen ein freimütiges Willkommen geboten, Schutz und Förderung versprochen, die zuviel Respekt vor den großen Meistern haben, als daß sie — aus Bequemlichkeit oder ihres lieben Broterwerbs halber oder zur Befriedigung eines im tiefsten Grunde unkünstlerischen Ehrgeizes — die Werke der Meister durch billige Nachahmung entweihen und verflachen könnten! Willkommen alle, die «strebend sich bemühen», und ein fröhliches Pereat der Reaktionspartei!

    Fontainebleau, Pfingsten 1907.

    Geleitwort zu: Leopold Schmidt

    «Aus dem Musikleben der Gegenwart»

    Der Verfasser dieses Buches hat mit Berufung auf meine Eulenspiegelnatur, die ich wohl nun lebenslänglich auf meinem allerdings ziemlich breiten Buckel herumtragen muß, mich aufgefordert, zu diesem Werke ein paar einleitende Worte zu geben. Dies kam mir allerdings anfangs ebenso spaßig vor, als wenn ich Herrn Dr. Leopold Schmidt bäte, eine Ouvertüre zu meiner «Elektra» zu schreiben. Als ich aber bei näherer Kenntnis seines Buches sah, in wieviel Punkten unsere künstlerischen Entscheidungen divergieren, mußte ich mir eingestehen, daß Dr. Schmidt auf meine Leidenschaftslosigkeit in punkto Kritik richtig gerechnet hatte, und so erfülle ich gerne seinen Wunsch und empfehle sein Buch als Überblick der musikalischen Vorgänge der letzten zehn Jahre allen den Lesern, die sich für die Wandlung des musikalischen Geschmacks an einem, wenn auch allem Neuen gegenüber vielleicht etwas zaghaften, aber sachkundigen und sicher gewissenhaften Mann interessieren. Denn dies scheint mir an seiner Veröffentlichung zeitgemäß, daß Dr. Schmidt sich nicht gescheut hat, hier dokumentarisch zu bekennen, wie sein Verständnis für die einzelnen Erscheinungen sich entwickelt, seine Stellung zu ihnen im Laufe der Jahre sich sogar nicht selten verändert hat.

    Dieses offene Bekenntnis wird jeden einnehmen, der es selbst erlebte, welchen Schwankungen die Wertschätzung der verschiedenen Kulturepochen, ihrer Kunstwerke und im besonderen aller Abschnitte der Musikentwicklung im eigenen Kopfe unterworfen ist.

    Was verlangt man nicht alles von der lieben Kritik! Ich stehe nicht an, zu bekennen, daß ein Berichterstatter seine volle Pflicht getan hat, wenn er, natürlich von vornherein mit allgemein wissenschaftlicher

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