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Ein Bauernleben
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eBook253 Seiten3 Stunden

Ein Bauernleben

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Über dieses E-Book

Für die Familie Edelhofer steht der Hof über allem. Stets kommen er und die Gemeinschaft vor dem Schicksal des Einzelnen. Die Menschen, die auf ihm wohnen, erleben persönliche Tragödien, aber auch viel Freude und Liebe. So erzählt Roswitha Gruber von einem Leben voll Arbeit und Pflicht. Auf faszinierende Weise berichtet sie von schweren Aufgaben und Entscheidungen genauso wie von den schönen Erlebnissen. Dem Leser wird ein berührender Einblick in das Leben einer Familie auf ihrem Einödhof gewährt.
Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane nähert sie sich in intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Jan. 2015
ISBN9783475544415
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    Buchvorschau

    Ein Bauernleben - Roswitha Gruber

    Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2015

    © 2015 Ro­sen­hei­mer Ver­lags­haus GmbH & Co. KG, Ro­sen­heim

    www.rosenheimer.com

    Ti­tel­bild: © Bundesarchiv, Bild 183-V00023 / Fotograf: Schaaf

    Lek­to­rat und Be­ar­bei­tung: Christine Weber, Dresden

    Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

    eISBN 978-3-475-54441-5 (epub)

    Worum geht es im Buch?

    Roswitha Gruber

    Ein Bauernleben

    Für die Familie Edelhofer steht der Hof über allem. Stets kommen er und die Gemeinschaft vor dem Schicksal des Einzelnen. Die Menschen, die auf ihm wohnen, erleben persönliche Tragödien, aber auch viel Freude und Liebe. So erzählt Roswitha Gruber von einem Leben voll Arbeit und Pflicht. Auf faszinierende Weise berichtet sie von schweren Aufgaben und Entscheidungen genauso wie von den schönen Erlebnissen. Dem Leser wird ein berührender Einblick in das Leben einer Familie auf ihrem Einödhof gewährt.

    Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane nähert sie sich in intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.

    Inhalt

    Die Vorgeschichte

    Ottilie erzählt

    Das verschenkte Kind

    Kinderzeit

    Ein Brief mit Folgen

    Toni erzählt

    Auf dem Hof der Vorväter

    Die Schulzeit

    Beim Besenbinden

    Die Rauferei

    Der Pfarrermord

    Die Drohung

    Mein tüchtiger Onkel

    Im Zweiten Weltkrieg

    Der Bauer Lenz

    Die Hinrichtung

    Die Beschuldigung

    Der Busfahrer

    Dem Tod nahe

    Wieder daheim!

    Das Leben geht weiter

    Meine Schwester Margret

    Auf Freiersfüßen

    Resi erzählt

    Ein langer Weg zum Glück

    Toni kommt wieder zu Wort

    Im Ehestand

    Mein wunderbarer Vater

    Ottilie berichtet weiter

    Und es wird gut

    Toni blickt noch einmal zurück

    Auf dem Altenteil

    Die Vorgeschichte

    An einem Sonntagnachmittag im Mai 2012 beobachtete ich vom Fenster meines »Dichterstübchens« aus, wie sich ein mir unbekanntes Paar auf unser Haus zubewegte. Da wir so abgeschieden wohnen, kommt es äußerst selten vor, dass sich jemand hierher verirrt. Und weil man die Haustürglocke im ersten Stock nicht hört, eilte ich gleich nach unten, um die Tür zu öffnen. Verlegen lächelnd, standen sie davor: ein älteres Ehepaar, das sich als »Herr und Frau Edelhofer« vorstellte.

    Nach der Begrüßung hielt er mir eine Plastiktüte entgegen, mit den Worten: »Wir haben da mal ein bisschen aus unserem Leben aufgeschrieben. Vielleicht können Sie ein Buch daraus machen.«

    »Das schaue ich mir gern mal an.« Damit bat ich das Ehepaar in meine Küche – den einzigen Raum, der in dieser Jahreszeit um diese Tageszeit beheizt ist. Bevor ich einen Blick in die beschriebenen Seiten warf, stellte ich eine Frage, die ich bisher noch niemandem gestellt hatte, der mir seine Geschichte angeboten hatte: »Warum möchten Sie, dass aus Ihrer Lebensgeschichte ein Buch wird?«

    »Als wir aufs Altenteil gingen, habe ich aus Langeweile angefangen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben«, gestand die Frau. »Nun denke ich, dass sie auch für andere interessant sein könnte.«

    »Ja«, fügte der Mann hinzu, »und ich kam erst auf die Idee, etwas aufzuschreiben, als unsere Enkel immer wieder Fragen nach der Vergangenheit stellten.« Er hielt einen Moment inne und nahm einen Schluck von dem Wasser, das ich mittlerweile vor sie hingestellt hatte. »Noch bin ich da, um so etwas beantworten zu können. Aber wer weiß, wie lange noch.«

    Seine Frau bekräftigte das durch Kopfnicken. »Deshalb möchten wir, dass das alles festgehalten wird. Aber so, wie wir das aufgeschrieben haben, lässt sich das nicht gut lesen.«

    »Ich habe noch einen zweiten Grund«, bekannte der Mann. »Ich denke, dass meine Erlebnisse für junge Menschen eine Warnung sein könnten, nie wieder einen Krieg anzufangen.«

    Meine Neugier war geweckt. Bevor ich aber einen Blick in die handbeschriebenen Blätter warf, wollte ich wissen: »Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?«

    Nun erklärte der Mann, er habe einige von meinen Büchern gelesen, weil ihn die Titel angesprochen hätten. »Die Art, wie Sie schreiben, gefällt mir.«

    Mich interessierte noch, woher diese Leute kamen, denn ihrer Sprache nach stammten sie nicht aus Reit im Winkl. In einem kleinen Ort im Landkreis Mühldorf seien sie zu Hause.

    »Das liegt ja nicht gerade um die Ecke«, stellte ich fest. »Warum haben Sie extra den weiten Weg bis hierher gemacht? Das Manuskript hätten Sie doch auch mit der Post schicken können.«

    »Das stimmt. Aber wir weilen gerade zur Kur in Bad Reichenhall. Von da ist es ja nur ein Katzensprung. Außerdem wollte ich Sie kennenlernen«, er lächelte verlegen.

    Ich blätterte in den dicht beschriebenen Seiten, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Die alten Leutchen saßen schweigend dabei.

    »Da gibt es aber viele Lücken in Ihrer Geschichte«, wandte ich mich endlich an die beiden. »Deshalb werde ich Ihnen, noch bevor ich mit dem Schreiben beginne, viele Fragen stellen müssen.«

    »Das ist kein Problem. Sie können uns gerne für ein paar Tage auf unserem Einödhof besuchen. Dann werden wir alles beantworten«, bot er mir an.

    »Das wird nicht nötig sein, das lässt sich sicherlich alles telefonisch regeln«, wehrte ich ab. »Möglicherweise komme ich aber doch auf Ihr Angebot zurück.«

    Ein Jahr später saß ich mit meinem Mann wirklich in der Stube des alten Einödhofes, und das alte Ehepaar beantwortete mir alles, was ich wissen wollte.

    Einige ihrer Enkelinnen waren rührend um uns bemüht. Sie sorgten für Speise und Trank und bezogen im Gästezimmer die Betten für uns. Auf dem Nachttisch fanden wir ein von ungelenker Kinderhand geschriebenes »Programm« für den folgenden Tag. Darauf war unter anderem vermerkt, wann und wo das Frühstück einzunehmen sei. Am nächsten Morgen nahmen wir ein üppiges Frühstück ein: Noch bevor sie zur Schule aufgebrochen waren, hatten die Mädchen alles liebevoll auf dem Küchentisch aufgebaut.

    Nach dem Frühstück ging das Frage- und Antwortspiel mit »Oma und Opa« weiter.

    Auf einige Fragen aber mussten mir die beiden die Antworten schuldig bleiben, was ihnen sichtlich leidtat, und mir natürlich auch. Plötzlich hatte Toni – mittlerweile waren wir längst per Du, weil sich dabei solch familieninterne Dinge besser besprechen lassen – eine Idee: »Du solltest zu meiner ältesten Schwester gehen, die weiß gewiss einiges mehr als ich.«

    »Wie alt ist deine Schwester?«, fragte ich verblüfft, denn Anton selbst war bereits achtundachtzig.

    »Die Ottilie ist dreiundneunzig.«

    »Und du meinst, die kann mir noch was erzählen?« Er nickte. »Dann sollte ich heute noch zu ihr hin«, war meine spontane Reaktion, »wo ich schon mal in der Gegend bin.«

    Toni rief sogleich bei ihr an, um unseren Besuch anzukündigen.

    Wenig später schon waren wir auf der Suche nach ihrem Einödhof. Dieser lag so versteckt, dass wir trotz Tonis genauer Beschreibung Mühe hatten, ihn zu finden. Nachdem wir an die Tür geklopft hatten, wunderte ich mich, dass sich kurz darauf im Haus tatsächlich etwas regte. Eine hübsche junge Frau öffnete. Es stellte sich heraus, dass sie eine Enkelin der alten Dame war und das Anwesen mit ihrem Mann übernommen hatte. Sie führte uns in die Stube, deren Einrichtung urgemütlich war. Neben dem dunkelgrünen Kachelofen saß Ottilie in ihrem wuchtigen Ohrensessel, wie ich mir immer die Großmutter aus den Märchen vorgestellt hatte. Wir machten es uns auf dem altertümlichen Sofa bequem, und ich begann, meine Fragen zu stellen.

    Ich war überrascht, dass mir die alte Dame noch all das aus ihrer Kindheit berichten konnte, was ihr Bruder – da er ja einige Jahre jünger war als sie – nicht mitbekommen oder gar schon vergessen hatte.

    Ein Jahr nach diesen Besuchen, als es endlich ans Schreiben ging, rief ich Toni und seine Frau Resi sowie seine Schwester Ottilie immer wieder mal an, weil mir noch wichtige Einzelheiten fehlten. Was dabei herausgekommen ist, lege ich Ihnen mit diesem Buch vor.

    Zunächst lasse ich Ottilie von ihrer Kindheit auf dem Einödhof erzählen, danach kommen auch Toni und seine Frau Resi zu Wort.

    Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen

    Roswitha Gruber

    Ottilie erzählt

    Das verschenkte Kind

    Meine Eltern, Therese und Josef, haben im Januar 1920 geheiratet, und nach schicklichen zehn Monaten kam ich auf die Welt. Wenn ich den Aussagen meiner Mutter glauben darf, waren beide nach meiner Geburt ein wenig enttäuscht, weil ich kein Bub geworden war. Die Mutter war vielleicht noch ein bisschen mehr enttäuscht als mein Vater. Er muss nämlich versucht haben, sie zu trösten: »Mach dir nichts draus, Therese«, soll er gesagt haben, »der Bub kommt schon noch. Schau, das Kindermädchen ist schon mal da für den Rest der Kinder, die noch kommen wollen.«

    Im Oktober des folgenden Jahres lag schon wieder ein Mädchen in der Wiege. Verständlicherweise war der Vater darüber traurig, die Mutter aber wesentlich mehr als er. Sie hatte so sehr mit einem Buben gerechnet, dass sie sich gar keinen Mädchennamen überlegt hatte. Weil aber die Hebamme drängte, sagte sie schließlich: »Nimmst halt meinen Namen, weil es eh wurscht is.« Das hat sie mir später erzählt.

    Das Mädel wurde dann Resi gerufen, und die Mutter ließ das arme Kind ziemlich links liegen. Ihre Laune hob sich erst wieder, als am 23. April 1923 endlich der ersehnte Stammhalter in der alten Familienwiege lag. Selbstverständlich bekam er den Namen Josef, nach seinem Vater. Dessen Vater hatte schon Josef geheißen. Davor hatte es eine Reihe von Antons gegeben und davor eine Reihe von Hoferben mit dem Namen Hans, wie man aus unserer Familienchronik ersehen kann. Dass der Vorname des Hofbesitzers von Zeit zu Zeit wechselte, lag daran, dass nicht immer der Erstgeborene seinem Vater auf den Hof folgte. Wenn eine Krankheit oder der Krieg ihn hinweggerafft hatte, kam der Zweit- oder gar der Drittgeborene zum Zug. Aber immer in all den Jahrhunderten, soweit Aufzeichnungen vorhanden sind, hat es auf dem Edelhof einen männlichen Edelhofer gegeben.

    Zurück aber zu meinem kleinen Bruder Josef. Damit man ihn nicht mit dem Vater verwechseln konnte, war sein Rufname bald Sepp. An seine Ankunft in unserer Familie kann ich mich verständlicherweise nicht erinnern, zu der Zeit war ich selbst ja erst zweieinhalb Jahre alt. Als aber knapp zwei Jahre darauf, am 22. Februar 1925, meinen Eltern ein weiterer Sohn geschenkt wurde, ist mir das lebhaft im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich noch an die strahlenden Gesichter meiner Eltern, als mein Vater die kleine Resi und mich an die Wiege führte, mit den stolzen Worten: »Da schaut, Dirndln, das ist unser zweiter Bub.«

    Da der Name des Vaters bereits vergeben war, wurde der Kleine Anton genannt, nach dem jüngeren Bruder meines Vaters, der auch sein Taufpate wurde. Alle riefen den Buben nur Toni.

    Was mir aber noch wesentlich deutlicher in Erinnerung blieb, ist das, was etwa ein Dreivierteljahr später geschah. Es muss ein Samstagabend Anfang November gewesen sein. Mutter und Großmutter hatten noch in der Küche zu tun, während wir Kinder schon alle in unseren Betten lagen. Plötzlich vermisste ich meine Lumpenpuppe. Die musste ich draußen beim Spielen – es war ein sonniger Herbsttag gewesen – liegen gelassen haben, als wir zum Nachtessen gerufen worden waren. Also schlich ich mich leise nach unten, öffnete vorsichtig die Haustür und fand meine Puppe tatsächlich auf der Hausbank, die vor dem Küchenfenster stand, sodass der matte Lichtschein von der Petroleumlampe auf sie fiel. Glücklich klemmte ich sie mir unter den Arm und wollte genauso unbemerkt wieder in mein Bett schleichen. Doch in dem Moment, als ich an der Küchentür vorbeikam, die nur angelehnt war, vernahm ich die besorgte Stimme meiner Großmutter: »Und du willst das Kind wirklich deiner Schwester Anna schenken?«

    »Warum nicht?«, antwortete die Mutter ungerührt. »Ich hab schon vier Kinder, und es können leicht noch ein paar dazukommen. Bei meiner Schwester aber ist der Zug abgefahren.«

    Mehr bekam ich nicht mit, denn ich hörte, dass sich Schritte der Tür näherten. Also huschte ich, so schnell ich konnte, die Treppe hinauf. Im Bett dachte ich dann noch lange über das Gehörte nach. Die Mutter wollte also ein Kind verschenken? Welches? Einen der Buben bestimmt nicht. Dazu hing sie viel zu sehr an ihnen. Also kam nur eine von uns beiden Dirndln infrage. Meinte sie etwa mich? Warum wollte sie das tun? Und welcher Zug war abgefahren?

    Ich kannte Mutters Schwester, die Anna, mochte sie jedoch nicht besonders gern, weil sie nicht sehr nett war. Sie war erst kürzlich bei uns gewesen mit ihrem kleinen Buben, dem Otto. Er war etwas über ein Jahr alt, eigentlich ein herziges Kerlchen. Sollte ich für den etwa die Kindsmagd machen? Wer aber machte dann die Kindsmagd bei meinen beiden Brüdern? Ob sich die Mutter dann die Resi dazu abrichten würde?

    Am anderen Morgen wachte ich munter auf und dachte, das alles sei nur ein böser Traum gewesen.

    Doch nach dem Mittagessen putzte meine Mutter die Resi fein heraus – was man damals halt unter »fein« verstand. Meine Schwester bekam ihr Sonntagsgewand an und sogar Schuhe. Das fand ich sonderbar, denn im Sommer liefen wir Kinder normalerweise barfuß herum und im Winter auf Strümpfen. Noch sonderbarer fand ich es, dass die Mutter Resis Werktagsgewand, ein bisschen Unterwäsche, Wollsocken und Wollstrümpfe in ein großes rot kariertes Tuch packte. Als sie dann der Großmutter zurief: »Du kannst das Wagerl holen, die Resi ist fertig«, überkam mich eine Art Panik. Ich stürzte mich auf meine Schwester, die sich völlig arglos von meiner Mutter hatte zur Haustür führen lassen, und umklammerte sie mit beiden Armen.

    Da nahte die Großmutter auch schon mit dem Wagen, der auf den dicken hellen Kieselsteinen, mit denen der Hof gepflastert war, ganz schön bollerte. Die Mutter legte eine Decke hinein und forderte die Resi auf, einzusteigen. Das ließ sich die nicht zweimal sagen, denn ein Ausflug mit der Großmutter, noch dazu im Wagerl, schien doch sehr verlockend. Ich aber wollte sie nicht loslassen, weinte herzzerreißend und flüsterte ihr zu: »Nicht einsteigen! Bleib hier!«

    Da riss die Mutter mich gewaltsam los und herrschte mich an: »Bist du narrisch geworden, was ist nur mit dir los? Vergönnst du deiner Schwester den kleinen Ausflug nicht? Ein andermal wirst schon du an die Reihe kommen.«

    Nein, nein, schrie es in meinem Innern, ich will nicht auch noch verschenkt werden! In meiner Hilflosigkeit weinte ich weiter. Auf die Fragen meiner Mutter konnte ich doch keine Antworten geben, damit hätte ich mich ja verraten. Dann hätte sie gewusst, dass ich am Vorabend gelauscht hatte. Und Lauschen war uns von klein auf als etwas äußerst Verwerfliches hingestellt worden.

    Den ganzen Tag über konnte ich nicht mehr froh werden. Während ich in der Küche auf meine beiden kleinen Brüder aufpassen musste, lief ich immer wieder zum Fenster, um zu schauen, ob die Großmutter nicht bald zurückkäme. Noch immer hegte ich die stille Hoffnung, dass ich mich vielleicht doch geirrt hatte und die Großmutter meine Schwester wohlbehalten zu uns zurückbrächte.

    Nach Stunden endlich sah ich sie in den Hof einbiegen. Müde zog sie den leeren Handwagen hinter sich her. Da quollen mir erneut die Tränen aus den Augen. Als Großmutter mich weinen sah, tätschelte sie mir hilflos die Wange. Die Mutter aber sagte: »Lass sie nur. In ein paar Tagen wird sie es vergessen haben.«

    Um der Mutter und mir eine weitere Szene zu ersparen, zog ich mich noch vor dem Nachtessen in mein Bett zurück. Mit meiner Schlumpelpuppe im Arm weinte ich mich in den Schlaf.

    Am nächsten Morgen gähnte mich als Erstes Resis leeres Bett an, und ich hatte ein Gefühl in der Brust, als lagere dort ein schwerer Klumpen. Aber nicht nur mein Kummer war es, der mich bedrückte, sondern vor allem auch die Sorge um meine arme Schwester. Wie musste sie sich fühlen? Wie würde es ihr dort ergehen – wehrlos der Tante, dem Onkel, dem fremden Hof ausgeliefert?

    In den folgenden Tagen erledigte ich schweigend meine kleinen Pflichten, stets bemüht, meiner Mutter so wenig wie möglich unter die Augen zu treten. Mir war klar, dass ich auf meine Fragen keine wahrheitsgemäßen Antworten erwarten konnte. Wenn ich etwas über das Schicksal meiner Schwester erfahren wollte, musste ich Geduld haben. Irgendwann, wenn ich mal mit der Großmutter allein war, wollte ich sie fragen. Sie war eine liebe Frau. Mit ihr konnte man nämlich reden. Sie fuhr einem nicht gleich über den Mund, wenn man ihn mal aufmachte. Sie war es auch, die mir von ihrem Mann, meinem Großvater, erzählt hatte. Dieser muss ein schöner und tüchtiger Mann gewesen sein, denn wenn sie von ihm sprach, geriet sie immer ins Schwärmen. Er war bereits ein Jahr vor meiner Geburt gestorben. Allein dieser Tatsache war es zu verdanken, dass meine Eltern endlich hatten heiraten können. Da mein Großvater sich damals nicht dazu durchringen konnte, seinen Hof zu Lebzeiten zu übergeben, wurde mein Vater erst nach dessen Tod Bauer auf dem Edelhof. Erst dann war er in der Lage, eine Familie zu gründen.

    Rückblickend kann ich nicht verstehen, wie es meine Mutter fertigbrachte, einfach ein Kind wegzugeben, wo sie doch so furchtbar fromm war? Nicht nur, dass sie jeden Morgen in die Kirche eilte und uns Kinder am Sonntag mitzerrte, sobald wir in der Lage waren, die etwa zweieinhalb Kilometer zu marschieren – nein, es wurde auch jeden Tag der Rosenkranz gebetet. Nach dem Frühstück ein Gesetz, nach dem Mittagsmahl zwei Gesetze und nach dem Nachtessen ebenfalls zwei. Am Sonntagabend wurden sogar ein ganzer Rosenkranz gebetet und anschließend noch eine Litanei. Außerdem hatte sie zu dem Zeitpunkt,

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