Die Erbin und ihr geliebter Verräter
Von Courtney Milan
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Über dieses E-Book
Mr. Oliver Marshall muss alles richtig machen. Er ist der uneheliche Sohn eines Herzogs und stammt aus einfachen Verhältnissen. Er ist aber entschlossen, dem einfachen Volk zu einer Stimme zu verhelfen. Wenn er einen falschen Schritt macht, erhält er vielleicht nie die Gelegenheit, irgendetwas zu erreichen. Bestimmt muss er nicht ausgerechnet der Frau, die völlig falsch für ihn ist, zu Hilfe kommen. Und ganz bestimmt muss er sich nicht auch noch in sie verlieben. Aber Jane hat etwas an sich, dem er nicht widerstehen kann ... auch wenn es ihrer beider Ruin bedeuten würde.
„Die Erbin und ihr geliebter Verräter“ ist der zweite Roman aus der Reihe „Geliebte Widersacher“. Die andere Bücher in der Reihe sind:
Die Gouvernante und ihr geliebtes Ungeheuer
Der Herzog und seine geliebte Feindin
Zärtlicher Winter
Die Erbin und ihr geliebter Verräter
Die Witwe und ihr geliebter Schuft (September 2014)
Der Schurke und sein geliebter Blaustrumpf (2015)
Courtney Milan
Courtney Milan lives in the Pacific Northwest with her husband, an exuberant dog, and an attack cat. Before she started writing historical romance, Courtney experimented with various occupations, none of which stuck. Now, when she's not reading (lots), writing (lots), or sleeping (not enough), she can be found in the vicinity of a classroom. You can learn more about Courtney at http://www.courtneymilan.com.
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Buchvorschau
Die Erbin und ihr geliebter Verräter - Courtney Milan
Danksagungen
Kapitel 1
Cambridgeshire, England, 1867
DIE MEISTEN ZAHLEN, denen Miss Jane Victoria Fairfield im Laufe ihres Lebens begegnet war, hatten sich als harmlos erwiesen. Zum Beispiel hatte die Schneiderin, die gerade ihr Kleid absteckte, sie siebenmal gestochen, während sie die dreiundvierzig Stecknadeln anbrachte – aber der Schmerz war rasch vergangen. Die zwölf Löcher in Janes Korsett waren ein Übel, sicher, aber ein notwendiges, denn ohne sie wäre es ihr nie gelungen, ihre Taille von unmodischen siebenunddreißig Zoll auf eine Weite von immer noch unmodischen dreiunddreißig Zoll zu schnüren.
Zwei war auch keine so schreckliche Ziffer, selbst wenn sie für die Anzahl von Johnson-Schwestern stand, die zuschauten, wie die Näherin das Kleid ihrer alles andere als modischen Figur anpasste.
Nicht einmal, wenn besagte Schwestern in der vergangenen halben Stunde nicht weniger als sechsmal gekichert hatten. Diese Zahlen waren lästig – allerdings nicht mehr als Fliegen, die man mit einer Bewegung des goldverzierten Fächers verscheuchen konnte.
Nein, für Janes Probleme konnte man zwei Zahlen die alleinige Schuld geben. Einhunderttausend war die eine davon, und die war pures Gift.
Jane holte so tief Luft, wie ihr Korsett es zuließ, und wandte den Kopf zu Miss Geraldine und Miss Genevieve Johnson. Die beiden jungen Damen konnten in den Augen der guten Gesellschaft nichts falsch machen. Sie trugen fast identische Tageskleider – das eine aus blassblauem Musselin, das andere aus lindgrünem. Sie bewegten ihre nahezu identischen Fächer, die mit Szenen ländlichen Müßiggangs bemalt waren, im Takt. Sie waren beide auf die klischeehafteste, puppenartigste Weise schön: porzellanblaue Augen und blonde Haare, die in schimmernden Locken ihre Gesichter umrahmten. Ihre Taillenweite lag etwas unter zwanzig Zoll. Die einzige Möglichkeit, die beiden Schwestern voneinander zu unterscheiden, bestand darin, dass Geraldine Johnson ein perfekt geformtes und ebenso perfekt platziertes Muttermal auf der rechten Wange hatte, während es sich bei ihrer Schwester in der gleichen Vollkommenheit auf der linken befand.
Sie waren in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft zu Jane freundlich gewesen.
Sie vermutete, sie waren wirklich nett, wenn man sie nicht bis aufs Blut reizte. Jane hatte, wie sich herausgestellt hatte, ein Talent dafür, selbst die charmantesten jungen Damen zur Herzlosigkeit zu treiben.
Die Schneiderin steckte die letzte Nadel fest. „So, sagte sie. „Werfen Sie bitte einen Blick in den Spiegel, und lassen Sie mich wissen, wenn ich etwas ändern soll – die Spitze an einer anderen Stelle platzieren oder vielleicht einfach weniger davon verwenden.
Die arme Mrs. Sandeston. Sie hatte diese Worte ausgesprochen wie ein Mann, der dazu verurteilt war, noch am gleichen Nachmittag gehängt zu werden, über das Wetter des nächsten Tages reden würde – wehmütig, als ob die Vorstellung von weniger Spitze ein Luxus wäre, etwas, was höchstens als außergewöhnlicher und unwahrscheinlicher Gnadenakt kommen konnte.
Jane trippelte nach vorne zum Spiegel und ließ ihr neues Kleid auf sich wirken. Sie musste nicht so tun, als lächelte sie – ihre Gesichtsmuskeln verzogen sich wie von selbst zu einem hingerissenen Lächeln. Himmel, das Kleid war schrecklich. So furchtbar schrecklich. Nie zuvor war so viel Geld für so wenig Geschmack ausgegeben worden. Erfreut warf sie sich einen verführerischen Blick zu, und ihr Spiegelbild flirtete zurück, dunkelhaarig, dunkeläugig, kokett und geheimnisvoll.
„Was meinen die Damen?, fragte sie und drehte sich zu ihnen um. „Sollte es nicht noch ein wenig mehr Spitze sein?
Der schwer geprüften Mrs. Sandeston zu Janes Füßen entwich ein leises Wimmern.
Berechtigterweise. Das Kleid zierten bereits in verschwenderischer Fülle drei verschiedene Sorten Spitze. Dicke Wellen aus blauem Point-de-Gaze waren Meter um anstößig teuren Meter um den Rock gewunden. Ein zartes Stück Duchessespitze aus Belgien säumte das Dekolleté, und die Schlitze in den Ärmeln waren mit schwarzer Chantillyspitze in einem üppigen Blumenmuster unterfüttert. Der Stoff war wunderschön gemusterte Seide – nicht, dass ihn irgendwer unter dem Ballast an Besatz würde erkennen können.
Dieses Kleid war eine Scheußlichkeit. Jane fand es wunderbar.
Eine echte Freundin, dachte sie, hätte ihr geraten, auf die Spitze zu verzichten, und zwar komplett.
Genevieve nickte. „Ja, eindeutig mehr. Ich finde entschieden, dass da noch etwas fehlt. Vielleicht eine vierte Sorte?"
Gütiger Himmel. Wo da noch Platz für mehr Verzierungen sein sollte, wusste sie nicht.
„Was ist mit einer Schärpe aus Spitze?", schlug Genevieve vor.
Es war eine seltsame Freundschaft, die sie mit den Johnson-Zwillingen verband. Die beiden waren für ihren unfehlbar guten Geschmack bekannt. Daher unterließen sie es nie, Jane in die falsche Richtung zu steuern. Aber das taten sie so liebenswürdig, dass es beinahe Spaß machte, von ihnen ausgelacht zu werden.
Da Jane in die falsche Richtung gelenkt werden wollte, hieß sie ihre Bemühungen aus ganzem Herzen willkommen.
Sie erzählten ihr Lügen genau wie sie ihnen. Da Jane der Lächerlichkeit preisgegeben werden wollte, funktionierte es für alle Beteiligten ganz wunderbar.
Manchmal fragte sie sich allerdings, wie es wohl wäre, wenn sie je aufrichtig zueinander sein könnten. Wenn die Johnson-Zwillinge echte Freundinnen wären statt liebenswürdig-höfliche Feindinnen.
Geraldine musterte Janes Kleid und nickte bekräftigend. „Ich unterstütze den Vorschlag mit der Spitzenschärpe uneingeschränkt. Sie würde diesem Kleid einen Anstrich von Würde verleihen, der ihm momentan noch fehlt."
Mrs. Sandeston gab ein ersticktes Geräusch von sich.
Nur selten fragte sich Jane, ob sie echte Freundinnen hätten werden können. Und gewöhnlich fielen ihr dann nur allzu schnell die Gründe wieder ein, weswegen sie keine echten Freundinnen haben konnte. Alle einhunderttausend.
Daher nickte sie nur zu den schrecklichen Vorschlägen der Johnsons. „Was halten Sie beide von der modischen Malteser Klöppelspitze, die wir uns vorhin angesehen haben? Die goldfarbene mit den Rosetten?"
„Unbedingt, stimmte Geraldine ihr zu und nickte. „Die muss es sein.
Die Schwestern warfen einander über ihre Fächer hinweg Blicke zu – und lächelten einander verschwörerisch an, sagten damit so klar, als hätten sie es ausgesprochen: Lass uns sehen, zu welchen Scheußlichkeiten wir die Feder-Erbin heute verleiten können.
„Miss Fairfield. Mrs. Sandeston legte die Hände aneinander, ahmte unbewusst die Geste des Gebets nach. „Ich flehe Sie an. Berücksichtigen Sie doch bitte, dass man einen wesentlich eleganteren Effekt erzielen kann, indem man weniger Verzierungen wählt. Eine schöne Spitze kann die Krönung eines hübschen Kleides sein, bestechend in ihrer Schlichtheit. Zu viel hingegen …
Sie brach ab und machte eine vielsagende Handbewegung.
„Zu wenig, entgegnete Genevieve ruhig, „und niemand wird ahnen, was Sie zu bieten haben. Geraldine und ich – nun, wir haben jeweils nur lächerliche zehntausend Pfund, und unsere Kleider müssen das widerspiegeln.
Geraldine umfasste ihren Fächer fester. „Leider", merkte sie an.
„Aber Sie, Miss Fairfield, Sie haben eine Mitgift von einhunderttausend Pfund. Sie müssen sichergehen, dass die Leute das auch wissen. Und nichts spricht so klar von Reichtum wie Spitze."
„Und nichts ist ein so deutlicher Hinweis auf Spitze wie mehr Spitze", fügte Geraldine hinzu.
Sie wechselten wieder einen Blick.
Jane lächelte. „Danke, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie beide anfangen würde. Sie sind so gut und freundlich zu mir gewesen, und ich habe so viel von Ihnen gelernt. Ich habe keine Ahnung, was modisch ist, ganz zu schweigen davon, welche Botschaft meine Kleidung aussendet. Wer weiß schon, welch schlimme Fehlgriffe ich mir leisten würde, wenn ich Sie nicht hätte, um mich zu leiten?
Mrs. Sandeston machte ein ersticktes Geräusch, blieb aber stumm.
Einhunderttausend Pfund. Einer der Gründe, weswegen Jane hier war und diese beiden hübschen jungen Damen dabei beobachtete, wie sie listig lächelten und sich dabei einbildeten, Jane verstünde nicht, was das hieß. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten – den Mund sittsam hinter dem Fächer verborgen – und brachen dann nach einem Blick auf sie gemeinsam in Gekicher aus. Sie hielten sie für eine Witzfigur, ohne Geschmack, Verstand und Vernunft.
Es tat nicht weh, kein bisschen.
Es tat nicht weh zu wissen, dass sie sie ins Gesicht Freundin nannten und sich dann daran machten, allen, die sie trafen, zu erzählen, was sie wieder Dummes getan hatte. Es tat nicht weh, dass sie sie zu mehr anstifteten – mehr Spitze, mehr Schmuck, mehr Perlenstickerei – einfach nur, um ihren Spaß haben. Es tat nicht weh, dass ganz Cambridge über sie lachte.
Es durfte nicht wehtun. Schließlich war es das, was sie sich selbst ausgesucht hatte.
Sie lächelte sie an, als sei ihr Gekicher ein aufrichtiges Zeichen der Freundschaft. „Dann also die aus Malta."
Einhunderttausend Pfund. Es gab Dinge, die eine schwerere Bürde waren als einhunderttausend Pfund.
„Sie wollen das Kleid doch sicher nächsten Mittwoch tragen, schlug Geraldine vor. „Sie sind zu dem Dinner des Marquis of Bradenton eingeladen, nicht wahr? Wir haben darauf bestanden.
Die Fächer wurden gehoben und wieder gesenkt, hoch und runter.
Jane lächelte. „Natürlich. Ich würde das um nichts in der Welt missen wollen."
„Es wird dort auch ein neues Gesicht für Sie zu sehen sein, der Sohn eines Herzogs. Zwar leider ein unehelicher, aber er wird trotzdem überall empfangen. Beinahe so gut wie ein echter Herzogssohn."
Verdammt. Jane hasste es, neue Männer kennenzulernen, und der Bastard eines Herzogs klang nach der allergefährlichsten Sorte. Er würde sich auf seine Person und Abstammung etwas einbilden und nichts auf seine chronisch leere Brieftasche geben. Das war genau die Sorte Mann, die nur von Janes hunderttausend Pfund hören musste, um zu dem Schluss zu kommen, dass man ihre vor Spitze überquellenden Kleider übersehen könnte. Ein Mann von dieser Sorte würde über Unmengen Fehler hinwegsehen, wenn dadurch nur ihre Mitgift auf seinem Bankkonto landete.
„Oh?", bemerkte sie unverbindlich.
„Mr. Oliver Marshall, erklärte Genevieve. „Ich habe ihn auf der Straße gesehen. Er …
Ihre Schwester stieß sie sanft an, und Genevieve räusperte sich.
„Ich meine, er sieht sehr elegant aus. Seine Brille ist überaus distinguiert. Und seine Haare sind sehr … glänzend und … kupferfarben."
Jane konnte sich dieses Exemplar verhinderter Herzöglichkeit bildhaft vorstellen. Ein untersetzter Mann in albernen Westen mit einer Taschenuhr, die er ständig zu Rate zog. Außerdem war er bestimmt stolz auf seine Vorurteile und verbittert über das Schicksal, das dafür verantwortlich war, dass er außerehelich geboren war.
„Er wäre einfach perfekt für Sie, Jane, sagte Geraldine. „Natürlich wird er uns angesichts unserer minderwertigen Mitgift reichlich … uninteressant finden.
Jane zwang sich zu einem Lächeln. „Ich weiß nicht, was ich ohne Sie beide nur täte, erklärte sie aufrichtig. „Wenn ich Sie nicht hätte, um mich unter Ihre Fittiche zu nehmen, am Ende würde ich …
Wenn sie die beiden nicht hätte, die sie lächerlich machten, würde sie am Ende doch noch einen Mann beeindrucken – trotz all ihrer entgegengesetzten Bemühungen. Und das wäre eine Katastrophe.
„Ich habe das Gefühl, dass Sie beide wie Schwestern für mich sind, wenn man bedenkt, wie sehr Sie sich um mich kümmern", erklärte sie. Vielleicht wie Stiefschwestern in einem schrecklichen Märchen.
„Wir empfinden ganz genauso. Geraldine lächelte ihr zu. „Als wären Sie unsere Schwester.
In diesem Raum gab es fast so viele Lächeln wie Spitze an ihrem Kleid. Jane bat den Himmel stumm um Verzeihung für ihre Lüge.
Diese beiden Frauen waren ganz bestimmt nicht wie ihre Schwester. So etwas zu behaupten war eine Beleidigung für alle Schwestern. Und wenn Jane eines heilig war, dann die Beziehung unter Schwestern. Sie hatte eine Schwester – eine Schwester, für die sie alles tun würde. Für Emily würde sie lügen, betrügen, ein Kleid mit vier verschiedenen Sorten Spitze kaufen …
Einhunderttausend Pfund waren keine so schlimme Bürde. Aber wenn eine junge Frau unverheiratet bleiben wollte – wenn sie bei ihrer Schwester bleiben musste, bis eben diese Schwester volljährig war und aus dem Haus ihres Vormundes ausziehen konnte –, dann wurde genau diese Zahl ein unüberwindliches Hindernis.
Ein beinahe so unüberwindliches wie vierhundertachtzig – die Zahl an Tagen, die Jane unverheiratet bleiben musste.
Vierhundertachtzig Tage dauerte es noch, bis ihre Schwester volljährig wurde. In vierhundertachtzig Tagen konnte ihre Schwester das Haus ihres Vormund verlassen, und Jane – Jane, der es unter der Bedingung, dass sie den erstbesten Mann heiratete, der um ihre Hand anhielt, gestattet war, in diesem Haus zu wohnen – würde all dieses Theater sein lassen können. Sie und Emily wären endlich frei.
Jane würde lächeln, meterweise Spitze tragen und Napoleon Bonaparte persönlich als ihre Schwester bezeichnen, wenn das nur dazu führte, dass Emily in Sicherheit war.
Stattdessen musste sie in den nächsten vierhundertachtzig Tagen nach einem Ehemann Ausschau halten, und das sehr angestrengt, dabei aber keinesfalls heiraten.
Diese beiden Zahlen umschrieben die Mauern ihres Gefängnisses.
Und daher lächelte Jane Geraldine noch einmal an, dankbar für ihren Ratschlag, dankbar, dass sie einmal mehr fehlgeleitet wurde. Sie lächelte und meinte es vollkommen ernst.
Ein paar Tage danach
MR. OLIVER MARSHALL hätte seinen Mantel am liebsten gar nicht dem Butler überlassen, als er das Haus des Marquis of Bradenton betrat. Er konnte die Kälte durch seine Handschuhe hindurch spüren, den eisigen Winterwind, der an den Fensterläden rüttelte. Das Drahtgestell seiner Brille fühlte sich wie Eis an seinen Ohren an. Aber es war zu spät.
Bradenton, sein Gastgeber, trat vor. „Marshall, sagte er freundlich. „Wie schön, Sie wiederzusehen.
Oliver streifte sich die Handschuhe ab und schlüpfte aus dem dicken Mantel, schüttelte dem Marquis die ausgestreckte Hand.
„Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite, Mylord. Es ist zu lange her."
Bradentons Hände waren ebenfalls kalt. Er war in den vergangenen Jahren um die Mitte voller geworden, und der Ansatz seines dünnen dunklen Haars war weit über die Stirn zurückgewichen, aber das Lächeln, mit dem er Oliver begrüßte, war wie immer: freundlich, aber kühl.
Oliver unterdrückte einen Schauder. Es war egal, wie hoch die Dienstboten die Kohle im Kamin schichteten, wie fröhlich das Feuer brannte, das sie daraus entzündeten. In diesen vornehmen alten Häusern schien der Winter immer die Oberhand zu behalten. Die Decken waren zu hoch, die Marmorböden verströmten Eiseskälte, die selbst durch die Sohlen der Schuhe zu dringen schien. Wohin Oliver auch blickte, überall sah er Spiegel, Metall und Stein – kalte Oberflächen, die dadurch noch kälter wurden, dass sich inmitten von weitem leerem Raum befanden.
Es würde wärmer werden, wenn sie das Vestibül verließen, sagte Oliver sich. Wenn mehr Leute kamen. Für den Augenblick waren außer ihm und Bradenton nur noch zwei weitere junge Männer anwesend. Bradenton winkte sie zu sich.
„Hapford, Whitting, dies ist Oliver Marshall, ein alter Schulfreund. Marshall, dieser junge Herr hier ist mein Neffe John Bloom, der neue Earl of Hapford. Der Marquis of Bradenton deutete auf den Mann auf der einen Seite, ernst und blass. „Und Mr. George Whitting, mein anderer Neffe.
Er machte eine Handbewegung zu dem anderen mit sandfarbenem Haar und langen Koteletten. „Meine Herren, darf ich Ihnen Oliver Marshall vorstellen? Ich habe ihn eingeladen, damit er hilft, Ihren Horizont zu erweitern."
Oliver nickte ihnen grüßend zu.
„Mir ist die Aufgabe zugefallen, Hapford den Weg zu ebnen, erläuterte Bradenton. „Er wird ab nächstem Monat seinen Sitz im Oberhaus einnehmen – etwas, womit keiner von uns rechnen konnte.
Hapford trug eine schwarze Binde um einen Ärmel, seine ganze Kleidung war dunkel. Vielleicht gab es einen Grund für die Kälte und die bedrückte Atmosphäre im Haus.
„Es tut mir leid, von Ihrem Verlust zu hören", sagte Oliver höflich.
Der neue Earl straffte die Schultern und blickte zu Bradenton, bevor er antwortete: „Danke. Ich bin entschlossen, mein Bestes zu geben."
Dieser Blick, diese Ehrerbietung dem anderen Mann gegenüber … Das war der Grund, weshalb Oliver hier war. Nicht um alte Schulfreundschaften wieder aufleben zu lassen, die über die Jahre schal geworden waren. Bradenton gehörte zu den Männern, die Neuzugänge im Parlament unter ihre Fittiche nahmen. Er nahm sie unter seine Fittiche und bemühte sich dann, sie unter seine Anhänger zu scharen. Mittlerweile hatte er ein hübsches Gefolge beisammen.
„Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit gehabt, dich vorzubereiten, aber du machst deine Sache bislang recht ordentlich. Bradenton schlug seinem Neffen anerkennend auf die Schulter. „Und Cambridge ist kein schlechtes Pflaster, um zu üben. Es ist die Welt in Klein, eine Art Mikrokosmos. Und du wirst sehen. Im Parlament ist es gar nicht so viel anders als hier.
„Ein Mikrokosmos der Welt?" Das bezweifelte Oliver. Er hatte jedenfalls in Cambridge noch keinen Grubenarbeiter getroffen.
Aber Bradenton verstand ihn falsch. „Ja, es gibt sogar Gesindel hier." Er schaute zu Oliver.
Oliver sagte darauf nichts. Für einen Mann wie Bradenton zählte auch er zu Gesindel.
„Aber das Gesindel kümmert sich gewöhnlich um sich selbst, fuhr Bradenton fort. „Darum geht es ja bei einer Institution wie Cambridge. Ein Studium in Cambridge steht jedem offen, daher entscheiden sich alle, die etwas aus sich machen wollen, dafür, hier anzufangen. Wenn man es richtig anstellt, sind die Ehrgeizigen, wenn sie ihren Abschluss haben, wie wir geworden. Oder wollen mindestens so dringend zu uns gehören, dass sie ihren Ehrgeiz über kurz oder lang dem Wunsch, dazuzugehören, unterordnen.
Er nickte zu Oliver.
Früher hätte Oliver sich über eine solche Rede geärgert. Die versteckte Anspielung, dass Oliver nicht wirklich dazu gehörte und die subtiler darin enthaltene Andeutung, dass er sich Bradentons Zielen untergeordnet habe, statt ein selbstständig denkendes Wesen zu sein …
Als er dreizehn war, hatte er Bradenton genau dafür zu Boden gesandt. Aber jetzt verstand er es. Bradenton erinnerte ihn an einen alten Bauern, der jeden Tag seinen Besitz ablief, die Zäune prüfte und argwöhnisch zu seinen Nachbarn schaute, dafür sorgte, dass sein Land klar von ihrem abgegrenzt war.
Oliver hatte Jahre benötigt, um seine Lektion zu lernen: Halt den Mund, und lass Leute wie Bradenton ihre Zäune prüfen. Es würde ihnen nicht helfen. Wenn man vorsichtig vorging, würde man eines Tages in der Lage sein, den ganzen verdammten Bauernhof zu kaufen.
Und daher schwieg Oliver und lächelte.
„Die Damen werden gleich eintreffen, stellte Bradenton fest, „falls Sie also gerne einen Brandy hätten …
Er deutete ins Innere des Hauses.
„Brandy", entschied Whitting, und die Herren begaben sich in ein Nebenzimmer.
Bradenton hatte ein ganzes Zimmer, das allein diesem Zweck diente – es gab ein Sideboard mit Gläsern und eine Karaffe mit bernsteinfarbener Flüssigkeit. Aber wenigstens war der Raum kleiner und damit etwas wärmer. Der Marquis schenkte großzügig Brandy in bauchige Gläser. „Sie werden das hier brauchen", erklärte er und reichte erst seinen Neffen ihre Gläser, dann Oliver.
Oliver nahm den Brandy. „Vielen Dank, Bradenton. Da wir gerade von kommendem Februar sprechen, da wäre etwas, worüber ich gerne mit Ihnen reden würde. Das Wahlreformgesetz, das in der nächsten Sitzungsperiode des Parlaments …"
Bradenton lachte und hob sein Glas. „Nein, nein, sagte er. „Wir werden jetzt nicht über Politik diskutieren, Marshall.
„Nun gut. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht später. Morgen oder …"
„Oder übermorgen oder irgendwann anders, beendete Bradenton den Satz für ihn mit einem Funkeln in den Augen. „Wir müssen Hapford beibringen, wie er vorankommt, bevor wir ihm erklären, worum es geht. Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt.
Das war offenbar eine Einstellung, die nicht von allen Anwesenden geteilt wurde. Hapford hatte interessiert aufgeschaut, als Oliver das Thema angesprochen hatte. Bei dieser Antwort seines Onkels runzelte er die Stirn und wandte sich ab.
Oliver hätte Einwände erheben können. Aber …
„Wie Sie möchten, erwiderte er milde. „Später.
Ein Mann wie Bradenton legte Wert darauf, dass man sich nach seinen Wünschen richtete. Er brauchte einen Nachbarn, der fünf Schritt vor dem Zaun stehen blieb, statt den Grenzverlauf anzufechten. Oliver hatte den Mann schon bei früheren Gelegenheiten auf seine Seite gezogen und wusste daher, wie das ging. Bradenton konnte gelenkt werden, solange niemand ihm die Illusion raubte, dass er das Sagen hatte.
Stattdessen ließ Oliver die Unterhaltung ihren Lauf nehmen, man sprach über gemeinsame Freunde, das Befinden von Olivers Bruder und dessen Gattin. Ein paar Momente konnten sie so tun, als ob es nichts als ein gemütliches Beisammensein war. Aber dann hob Bradenton, der am Fenster stand, die Hand.
„Bitte trinken Sie aus, meine Herren, sagte er. „Die erste Dame ist eingetroffen.
Whitting blickte aus dem Fenster. Ihm entfuhr ein Wimmern. „Oh Himmel, bitte nicht. Sagen Sie nicht, dass Sie die Feder-Erbin eingeladen haben."
„Die Schuld trägt Ihr Cousin. Bradenton hob eine Braue. „Hapford möchte ein paar ungestörte Minuten mit seiner Verlobten verbringen. Und aus irgendeinem Grund hat Miss Johnston darauf bestanden, dass Miss Fairfield eingeladen wird.
„Wo wir gerade von ihr sprechen, sagte Hapford mit stiller Würde, die auf seinem jungenhaften Gesicht fehl am Platze wirkte. „Ich ziehe es vor, wenn über eine Freundin meiner Verlobten nicht schlecht geredet würde.
Whitting stieß die angehaltene Luft aus. Angesichts des grimmigen Ausdrucks auf seinem Gesicht konnte man glauben, er sei soeben zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. „Spielverderber, brummte er und trat zu Oliver. „Jemand sollte Sie warnen
, bemerkte er halblaut.
„Wovor?"
Der Mann beugte sich vor und flüsterte laut: „Der Feder-Erbin."
„Ihr Reichtum stammt aus … Gänsedaunen?", riet er.
„Nein. Whitting sah ihn nicht an. „Es stammt ursprünglich aus Ozeandampfern, wenn Sie es wissen wollen. Man nennt sie die Feder-Erbin, weil sich in ihrer Nähe aufzuhalten so ist, als würde man mit Federn erschlagen.
Er wirkte völlig aufrichtig und ernst, aber Oliver schüttelte den Kopf. „Man kann niemanden mit Federn erschlagen."
„Sie sind ein Fachmann, was? Whitting hob das Kinn. „Das zeigt, dass Sie keine Ahnung haben. Stellen Sie sich vor, jemand fängt an, mit einer Feder auf Sie loszugehen. Stellen Sie sich vor, dass derjenige einfach nicht aufhört, bis Sie eines Tages diese ständige Belästigung durch Gänsefedern zu weit treibt. Vor Wut erwürgen Sie die Person, die Sie damit geschlagen hat.
Er veranschaulichte seine Aussage mit einer passenden Handbewegung. „Sie werden zum Tod verurteilt und sind, mein Freund, von Federn erschlagen worden."
Oliver schnaubte belustigt. „Niemand ist so schlimm."
Whitting legte die Hand an den Kopf und rieb sich die Stirn. „Sie ist schlimmer."
„Ah, sagte Bradenton und hob einen Finger. „Sie ist fast da. So macht man das nicht, Gentlemen.
Das letzte Wort betonte er besonders, dann stellte er sein Glas ab. Eine Geste, und seine jungen Neffen gingen mit ihm zurück ins Vestibül. Oliver folgte ihnen langsam.
Ja, Oliver wusste, wie das gemacht wurde. Er war oft genug Adressat dieser versteckten Beleidigungen gewesen. Die Höflichkeit der Oberschicht bemaß Grausamkeit nicht mit den Worten, die gesprochen wurden, sondern in der Länge des Schweigens.
Ein Diener öffnete die Tür, und zwei Damen betraten das Haus. Die eine, in einen voluminösen dunklen Wollmantel gehüllt, auf dem Schneeflocken glitzerten, war eindeutig die Anstandsdame. Sie nahm die schwere Kapuze ab, und darunter kam graues lockiges Haar und ein verkniffener Mund zum Vorschein.
Die andere …
Wenn je eine Frau hatte deutlich machen wollen, dass sie eine Erbin war, dann diese. Sie hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihren Reichtum zu zeigen. Sie trug einen mit Hermelin besetzten Umhang, weich und weiß, dazu Ziegenlederhandschuhe, deren Saum am Arm ebenfalls Hermelinbesatz zierte. Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Schnalle an ihrem Hals – eine Spange, die golden glänzte. Als sie sich bewegte, sah Oliver etwas an ihren Ohren glitzern, Diamanten und Silber.
Wie ein Mann traten die Herren vor, um sie zu begrüßen.
„Miss Fairfield", sagte der Marquis of Bradenton. Er bemühte sich um einen verbindlichen Tonfall, liebenswürdige Freundlichkeit, während er sich vor ihr verbeugte.
„Mylord", erwiderte sie.
Oliver kam mit den beiden anderen näher, blieb aber stehen, während sie sich den Umhang von den Schultern nahm. Sie war …
Er starrte sie an und schüttelte den Kopf. Sie hätte hübsch sein müssen. Ihre Augen waren dunkel und glänzten. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt, nur ein paar Locken waren kunstvoll herausgezogen und hingen auf ihre Schultern. Ihre Lippen, rosa und voll, hatte sie zu einem züchtigen angedeuteten Lächeln verzogen, und ihre Figur – was er davon erkennen konnte – war genau so, wie er es mochte, weich und füllig, mit Kurven, die selbst das entschlossenste Korsett nicht zähmen konnte. Unter anderen Umständen hätte er den ganzen Abend immer wieder heimlich zu ihr hinübersehen müssen.
Aber sie anzuschauen war, als wenn man einen köstlich aussehenden Pfirsich nahm, nur um zu entdecken, dass die andere Hälfte faulig war.
Ihr Kleid war scheußlich. Es gab kein anderes Wort dafür, und selbst dieses wurde dem hilflosen Entsetzen nicht gerecht, das ihn erfasste.
Ein wenig Spitze war modern. Spitzenrüschen am Ärmel vielleicht oder ein paar Zoll am Saum. Aber Miss Fairfields Kleid war Spitze über Spitze – eine Lage um die andere der teuersten, kunstvollsten, handgearbeiteten Spitze, die zu bekommen war. Schwarze Spitze. Blaue Spitze. Golddurchwirkte Spitzenborte. Es war, als habe jemand ein Modegeschäft gestürmt, dreihundert Meter der teuersten Spitze bestellt und jede Elle auf dieses eine Kleid genäht.
Das war kein Fall von zu viel des Guten. Wenn da irgendetwas Gutes unter all dieser Spitze war, war es schon längst erstickt worden.
Als sie den Umhang ablegte, erstarrten alle Anwesenden in wortlosem Staunen angesichts einer Aufmachung, gegen die das Wort „protzig" unschuldig und bescheiden erschien.
Bradenton erholte sich als Erster. „Miss Fairfield", wiederholte er.
„Ja, Sie haben mich schon begrüßt." Sie hatte eine schöne Stimme. Wenn Oliver die Augen schließen würde … oder sie nur oberhalb des Halses anschaute …
Sie machte ein paar Schritte nach vorn, trat zu dicht vor Bradenton, sodass dieser unwillkürlich zurückwich. Ihre Ohrringe – schwere Diamanten in silberner Fassung – hingen nur wenige Fuß vor Olivers Augen.
Mit einem dieser Ohrringe konnte man drei Mal den Hof seiner Eltern kaufen.
„Vielen Dank für die Einladung", sagte sie. Während sie sprach, legte sie ihren Umhang zusammen. Einer der Bediensteten in den grauen Livreen hätte längst kommen, ihr beim Ablegen helfen und ihr das Kleidungsstück abnehmen müssen. Aber sie waren wohl wie alle anderen gebannt vom Anblick ihrer schrecklichen Aufmachung.
Miss Fairfield schien nichts von alldem zu bemerken. Ohne zur Seite zu sehen, ohne Oliver einen Blick zuzuwerfen, reichte sie ihm den Umhang. Seine Hände griffen danach, bevor ihm klar wurde, was sie getan hatte. Sie kehrte ihm den Rücken, wandte sich den anderen beiden Herren zu, grüßte Hapford und Whitting mit ihrer angenehmen Stimme, sodass es ihm überlassen blieb, die kunstvoll arrangierten Löckchen in ihrem Nacken zu betrachten.
Sie hatte ihm ihren Umhang gereicht. Als sei er ein Dienstbote. Ein Lakai kam zu Oliver geeilt und nahm ihm mit einer gemurmelten Entschuldigung das Kleidungsstück ab, doch es war zu spät. Er konnte das entsetzte Lächeln auf Whittings Gesicht sehen, das er offenbar nicht unterdrücken konnte. Bradenton lächelte Oliver ebenfalls belustigt an.
Er stand längst darüber, sich über solch lächerliche Kränkungen zu ärgern, und das hier war ja nicht einmal mit Absicht geschehen. Aber Himmel, sie war eine Katastrophe. Beinahe tat sie ihm leid.
Bradenton deutete auf Oliver. „Miss Fairfield, sagte er, „hier ist ein Herr, dessen Bekanntschaft Sie noch nicht gemacht haben.
„Ach ja? Miss Fairfield drehte sich um und richtete ihren Blick schließlich doch auf ihn. „Meine Güte, ich habe Sie gar nicht gesehen, als ich hereinkam.
Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte nur gedacht, er sei ein Diener. Ein einfacher Irrtum, mehr nicht.
„Miss Fairfield, bemerkte Oliver glatt. „Es ist mir ein Vergnügen.
„Miss Jane Fairfield, darf ich Ihnen Mr. Oliver Marshall vorstellen?", sagte Bradenton.
Sie legte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. Sie war wirklich hübsch. Ein lästiger Teil seines Verstandes konnte nicht umhin, das trotz ihrer entsetzlich protzigen Aufmachung zu bemerken. Hübsch, wenn man Frauen mit dem gesunden, strahlenden Aussehen einer englischen Rose mochte. Gewöhnlich war das bei Oliver der Fall.
Er fragte sich, wann sie ihren Fehler bemerken würde. Sie kniff die Augen vor Konzentration zusammen, und auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte, während sie ihn musterte.
„Aber wir haben uns schon einmal gesehen", erklärte sie.
Damit hatte er bestimmt nicht gerechnet. Oliver schaute sie leicht verunsichert an.
„Ich bin sicher, wir sind uns schon einmal begegnet, fuhr sie fort. „Sie kommen mir bekannt vor. Da ist etwas an Ihnen, etwas …
Miss Fairfield klopfte sich mit dem Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nein, stellte sie schließlich betrübt fest. „Nein, ich irre mich. Es ist nur, dass Sie so gewöhnlich aussehen mit diesem Haar und der Brille, dass ich Sie glatt verwechselt habe.
Er sah gewöhnlich aus?
Jede andere Frau, die eine solch gewaltige Beleidigung austeilte, hätte das Wort leicht betont, um sicherzugehen, dass sie auch richtig verstanden wurde. Miss Fairfield jedoch benahm sich nicht, als erteilte sie eine Abfuhr. Sie klang eher, als würde sie die Zahl der Welpen in einem Körbchen kommentieren.
„Ich bitte um Verzeihung." Er merkte, dass er sich aufrechter hinstellte, sie mit frostiger Miene betrachtete.
„Nein, nein, es besteht keine Notwendigkeit, mich um irgendetwas zu bitten, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Sie können nichts für Ihr Aussehen. Ich würde Ihnen nie einen Vorwurf daraus machen.
Sie nickte ihm zu, so würdevoll wie eine Königin, als erwiese sie ihm eine große Gnade. Dann zog sie die Brauen zusammen. „Es tut mir leid, aber könnten Sie Ihren Namen wiederholen?"
Oliver machte eine steife Verbeugung. „Oliver Marshall, zu Ihren Diensten." Aber nehmen Sie das bloß nicht wörtlich, hätte er fast angefügt.
Ihre Augen weiteten sich. „Oliver. Wurden Sie vielleicht am Ende nach Oliver Cromwell benannt?"
Das war eindeutig kein aufrichtiges Lächeln, zu dem er seine Lippen verzog. „Nein, Miss Fairfield, ganz sicher nicht."
„Sie wurden also nicht nach dem früheren Lordprotektor Englands benannt? Nun, ich hätte gedacht, Ihre Eltern hätten geglaubt, er könnte Ihnen als Beispiel dienen. Schließlich hat er auch wie Sie als einfacher Mann angefangen, nicht wahr?"
„Der Name hat keine besonders großartige Bedeutung, gelang es ihm zu erwidern. „Der Vater meiner Mutter hieß Oliver.
„Oh, aber vielleicht wurde er …"
„Nein, unterbrach Oliver sie. „Ich kann Ihnen versichern, niemand aus meiner Familie hegt den Wunsch nach meiner posthumen Hinrichtung.
Er hatte fast den Eindruck, als lächelte sie darüber, aber das Zucken ihrer Mundwinkel verschwand so rasch wieder, dass er sich nicht sicher sein konnte. Die Unterhaltung war ins Stocken geraten.
Eins, zwei, drei …
Als Junge war Oliver zwischen zwei Welten gewechselt – der der Oberschicht, die so eisig höflich war, und der ungezwungenen Welt der arbeitenden Bevölkerung, zu der seine Eltern gehörten. Es gab eine frostige Stille, die Oliver immer mit diesen peinlichen Momenten in der guten Gesellschaft in Verbindung brachte. Es waren diese Augenblicke, in denen jeder Mann unter Berücksichtigung guter Manieren eine kurze Berechnung anstellte und dann beschloss, seine Gedanken für sich zu behalten, statt sie laut auszusprechen und eine Unhöflichkeit zu riskieren. Als Junge war ihm dieses Schweigen nur allzu zu oft begegnet, wenn er erwähnt hatte, dass sein Vater einmal Faustkämpfer gewesen war … Eigentlich war in diesen ersten Jahren, bis er die Regeln begriffen hatte, immer Schweigen die Antwort gewesen, wann immer er den Mund öffnete.
Denn auch wenn es vermeintlich aus Höflichkeit entstand, konnte dieses Schweigen verletzen. Oliver war oft genug Außenseiter gewesen, um zu wissen, wie tief. Er blickte zu Miss Fairfield.
… vier, fünf, sechs …
Ihre Lippen waren glatt, ihr Lächeln offen und ehrlich. Es gab keinen noch so kleinen Hinweis darauf, dass sie die Anspannung bemerkt hatte.
„Wer wird heute Abend erwartet?, erkundigte sie sich. „Cradford? Wilton?
„Nein, nicht … Hapford schaute sich um. „Nein, Wilton nicht, er ist … unpässlich.
„Ist das eine von diesen … wie nennt man das noch einmal, wenn man etwas sagt, um die Wahrheit zu umgehen? Miss Fairfield schüttelte den Kopf, und ihre Diamantohrringe schaukelten. „Das Wort liegt mir auf der Zunge … Ich kann es spüren. Es ist ein … ein …
Sie hob das Kinn, und ihre Augen strahlten hell. „Euphemismus! Sie schnippte mit den Fingern. „Das war ein Euphemismus, nicht wahr? Sagen Sie, hat er wegen letzter Nacht einen Kater?
Die Männer wechselten einen Blick. „Genau, sagte Hapford langsam. „Miss Fairfield, wenn Sie meinen Arm nehmen wollen …
Er führte sie fort.
„Armer Kerl, bemerkte Whitting. „Er hat Witze über sie gemacht, bis Miss Johnston dem ein Ende bereitet hat. Seit er so vernarrt in seine Verlobte ist, ist er gar nicht mehr amüsant.
Oliver billigte es gewöhnlich nicht, sich hinter dem Rücken anderer Leute über sie lustig zu machen. Es war feige und grausam, und er wusste aus persönlicher Erfahrung, dass es nie so unbemerkt blieb, wie die Spötter glaubten.
Die arme Miss Fairfield. Sie war das Gegenteil von einer angenehmen Gesprächspartnerin, und sie hatte das Gegenteil von Geschmack. Sie würden sie in der Luft zerreißen, und Oliver würde zusehen müssen.
Kapitel 2
DAS DINNER ERWIES sich als noch qualvoller, als Oliver es sich ausgemalt hatte.
Miss Fairfield sprach zu laut, und was sie sagte …
Sie fragte Whitting nach seinen Studien, und als er darauf trocken erwiderte, er ziehe es vor, seine Bemühungen auf das Studium von Flüssigkeiten zu konzentrieren, starrte sie ihn an.
„Wie erstaunlich. Ihre Augen wurden ganz rund. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Physikvorlesungen intellektuell gewachsen sind.
Whitting blickte sie entsetzt an. „Haben Sie gerade … Dem Mann bereitete es sichtlich Schwierigkeiten, seine Verwunderung zu bezwingen. Ein Gentleman würde niemals eine Dame fragen, ob sie ihn soeben der Dummheit bezichtigt hatte. Whitting holte mehrmals tief Luft und setzte erneut zu einer Antwort für Miss Fairfield an. „In der Tat. Ich habe nicht die Persönlichkeit, mich an dem Studium der Physik zu erfreuen. Was meine intellektuellen Fähigkeiten angeht …
Er zuckte die Achseln und schenkte ihr ein erzwungenes Lächeln. „Ich muss Sie falsch verstanden haben."
Im Wörterbuch des englischen Gentlemans – dessen Sprache vor Euphemismen und falscher Höflichkeiten strotzte – war diese Bemerkung eine der schärferen Spitzen. „Ich muss Sie falsch verstanden haben hieß gewöhnlich so viel wie: „Seien Sie still!
Oliver legte seine gespreizten Finger aneinander und versuchte überall anders hinzusehen, nur nicht zu den beiden.
Miss Fairfield schien nicht im Geringsten bekümmert. „Sie haben mich nicht verstanden?, erkundigte sie sich in besorgtem Tonfall. „Das tut mir leid. Mir hätte klar sein müssen, dass die Satzkonstruktion für Ihre Fähigkeiten zu komplex ist.
Sie beugte sich zu ihm und sprach erneut, hob dieses Mal aber die Stimme und zog die Worte in die Länge, als redete sie mit einem alternden Großvater. „Was ich meinte, war, dass ich nicht gedacht hätte, dass Sie sonderlich intelligent sind. Und das würde das Studium der Physik